I. Drei Konzepte auf der Suche nach Realität
Europa wird immer unwilliger über die Teilung, die ihm vor mehr als zwanzig Jahren aufgezwungen worden ist. Die Teilung zu beenden und damit einen Schritt vorwärts zu tun in Richtung auf eine größere Gemeinschaft der entwickelten Länder — diese Aufgabe erfordert Ausdauer und Phantasie, zwei Tugenden, die oft einander widerstreiten. Sie erfordert auch, klar und deutlich zu fragen: Was kann in den nächsten zwanzig Jahren getan werden, um diesen Zustand zu ändern — und zwar auf eine Weise zu ändern, die vereinbar ist mit den historischen Entwicklungstendenzen und den unmittelbaren Erfordernissen der politischen Wirklichkeit?
Auf diese Fragen bieten sich heute mehrere Konzepte als Antwort an. Drei besonders hervorstechende verdienen nähere Untersuchung: die atlantische Konzeption, die gaullistische Vision von einem „europäischen Europa" und die sowjetische Idee eines europäischen Sicherheitsabkommens. Sagen wir gleich, daß sie alle drei, wenn auch auf verschiedene Art, unzulänglich oder nur teilweise zufriedenstellend sind. Das erste entstammt der vergänglichen Konstellation des Kallen Krieges und berücksichtigt nicht die wachsenden politischen Sorgen Europas, mag es auch im großen und ganzen mit der geschichtlichen Hauptströmung übereinstimmen; das zweite spiegelt politische Stimmungen des Augenblicks wider, ignoriert aber die historischen Tendenzen; das dritte versagt in beiderlei Hinsicht.
Das atlantische Konzept drückt so, wie es gewöhnlich gebraucht wird, nicht nur eine bestehende Tatsache aus, nämlich, daß Amerika und Europa eine besondere Affinität zueinander haben, sondern auch den Wunsch nach einem ganz bestimmten Verhältnis zwischen ihnen. Das Spektrum reicht dabei von der Vorstellung einer eng integrierten atlantischen Gemeinschaft, in der die Vereinigten Staaten und einzelne europäische Länder zu einem Ganzen verschmolzen sind, bis zu dem berühmten Konzept der Partnerschaft zwischen Amerika und einem geeinten Westeuropa. Eine solche Partnerschaft — so wird behauptet — würde eine unwiderstehliche magnetische Anziehungskraft auf den Osten ausüben, und so würde schließlich das europäische Problem, vor allem das Problem der Teilung Deutschlands, irgendwie gelöst werden. Solch ein Europa würde auch mit Amerika gewisse globale Verantwortungen teilen — eine Hoffnung, die öfter von amerikanischen als von europäischen Sprechern geäußert wird.
Wie die europäische Regelung mal aussehen und mit welchen Mitteln sie erreicht werden soll, erklären die Atlantiker meist nicht im Detail. Das ist nicht verwunderlich, weil das Konzept der atlantischen Partnerschaft die Schaffung eines vereinigten (oder integrierten) Westeuropas voraussetzt. Es wird aber lange dauern, bis das erreicht ist — sicherlich länger, als ursprünglich angenommen wurde. Bis da-hin muß nach der Prioritätenliste der Atlantiker das Problem der anderen Hälfte Europas in der Schwebe bleiben. Verfrühte Verbindungen mit dem Osten würden die westlichen Institutionen verwässern und fremde Ideologien und Systeme in das familiäre Milieu hineinbringen. Dadurch würde sich das Erscheinen „des Partners“ in der atlantischen Partnerschaft verzögern.
Eine besondere Komplikation kommt noch durch die deutsche Frage hinzu. Ein unabdingbarer Bestandteil des atlantischen Konzepts ist der Gedanke, daß der westeuropäische Partner nur dann bestehen und gedeihen kann, wenn alle seine Mitgliedsstaaten in jeder Hinsicht gleichgestellt sind. Das Sinnlose und Tragische einer Deutschland-Lösung vom Typ „Versailles" ist oft als Grund dafür angeführt worden, daß jede Regelung vermieden werden muß, die die Bundesrepublik diskriminiert. Voraussichtlich würde der vereinigte europäi3 sehe Partner der atlantischen Gemeinschaft zugleich Partner atlantischer Sicherheitsvorkehrungen sein, und zwar auch auf nuklearem Gebiet. Daraus folgt logisch, daß Deutschland das Recht haben müßte, sich gleichberechtigt an einer europäischen nuklearen Verteidigungsstreitmacht zu beteiligen.
Die rein atlantische Einstellung zum ungelösten Problem der Teilung Europas bringt also zwei grundlegende Dilemmas ins Spiel. Die Ost-West-Beziehungen werden vorerst als zweitrangig behandelt; der Akzent liegt auf der Schaffung eines unverwässerten Westeuropas. Man ist sogar dagegen, daß Staaten des Ostens bestehenden westlichen Organisationen wie der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) beitreten oder sich ihnen assoziieren, weil das verfrüht sei oder dem eigentlichen Zweck der multilateralen Zusammenarbeit des Westens abträglich werden könne. Gleichzeitig wird der europäische Widerstand gegen die Partnerschaft versteift durch die Befürchtung (oder den Verdacht) einiger westeuropäischer Staaten, das atlantische Konzept ziele im Grunde nur darauf ab, die amerikanische Hegemonie in Europa aufrechtzuerhalten und Amerikas Bürde in der Dritten Welt zu erleichtern. Der Augenblick, wo sich der Westen ernsthaft dem unbewältigten Erbe des Zweiten Weltkriegs zuwenden kann, wird damit auf unabsehbare Zeit hinausgeschoben.
Und ferner: Wenn man immer wieder den Akzent auf vollkommene Uniformität innerhalb der europäischen Komponente der atlantischen Partnerschaft legt, und zwar einschließlich des Gebiets der nuklearen Sicherheit, so bringt man damit einen unrealistischen Zug in die Diskussion der deutschen Frage. Kein Wortführer der atlantischen Idee hat bisher zeigen können, wie — und warum — der Osten den Gedanken der deutschen Wiedervereinigung akzeptieren soll, wenn das Resultat ein automatischer Machtzuwachs für eine westliche Allianz ist, zu der ein deutscher Finger am nuklearen Abzug gehört. Man will keinen Unterschied sehen zwischen Ungleichheit — die tatsächlich keine solide Grundlage für eine Gemeinschaft von Nationen abgibt — und einer von den politischen Realitäten und dem Wunsch, diese Realitäten friedlich zu ändern, diktierten Sonderstellung. Deshalb ist eine atlantische Position zur deutschen Wiedervereinigung formuliert worden, die die Fortdauer der deutschen und damit auch der europäischen Spaltung garantiert.
Schließlich gehört zum atlantischen Konzept unausgesprochen der Gedanke, daß Europa eigentlich nur Westeuropa sei. (Tatsächlich sagen die Atlantiker gewähnlich „Europa", wenn sie seine westliche Hälfte meinen.) Damit ignoriert dieses Konzept das in Europa weitverbreitete Gefühl, daß die aus dem Kalten Krieg stammende Teilung des Kontinents in eine amerikanisch und eine sowjetisch beherrschte Hälfte nicht mehr irgendwelchen politischen oder Sicherheitsbedürfnissen entspricht und daß es an der Zeit ist, die europäische Spaltung zu beenden. Das atlantische Konzept in seiner ursprünglichen Form ist auf diesen Zustand nicht anwendbar. Das ist ein Hauptgrund dafür, daß es den Vereinigten Staaten so schwer fällt, sich auf die neuen Ost-West-Beziehungen einzustellen, obwohl sie bei der Entwicklung dieser Beziehungen als Pioniere vorangegangen sind
Von den amerikanischen Initiativen an der Ost-West-Front, die in Wirklichkeit weitblikkend, phantasievoll und im großen und ganzen konstruktiv waren, ist ein verzerrtes Bild entstanden, weil versäumt wurde, das atlantische Konzept der Ära „nach dem Kalten Krieg" in Europa anzupassen. Diese Initiativen wurden von den Vereinigten Staaten im Kontext eines Konzepts entwickelt, das manche gleichsetzen mit amerikanischer Hegemonie, andere mit amerikanischer Vorliebe für den Status quo (einschließlich Teilung). Deshalb verstärkte unser Handeln den Argwohn der Europäer, daß Amerika einen Kuhhandel mit Rußland machen möchte — auf Kosten Europas. Zweifel an dieser Art Entspannung blieben nicht auf Westeuropa beschränkt; auch im Osten gab man zu verstehen, nicht das sei es, was man erhofft habe. Die Anziehungskraft de Gaulles wuchs in dem Maße, wie Amerika seine Bemühungen um eine Aussöhnung zwischen Ost und West intensivierte.
In gewissem Sinne versuchte Präsident Johnson in seiner bahnbrechenden Rede vom 7. Oktober 1966, dieser Schwierigkeit beizukommen. Er betonte, es bestehe eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen der Festigung der atlantischen Allianz und der Verstärkung der Bande zwischen Ost und West. Die grundlegende begriffliche Schwierigkeit wurde damit jedoch nicht überwunden; der schwelende Widerspruch zwischen westlicher Einheit und Entspannung blieb bestehen. Diese Lage wurde verschlimmert durch den Vietnam-Krieg, der den gegenseitigen Argwohn quer über den Atlantik hinweg verstärkte, und durch de Gaulles peremptorische Schritte, die der Sowjetunion Gelegenheit zu diplomatischen Störmanövern gaben. Beides zusammen bewirkte, daß die Deutschen (wie in den Reden Kiesingers und Brandts im Juni—Juli 1967 angedeutet) ihr Interesse an engen atlantischen Bindungen grundsätzlich zu überdenken begannen und wachsende Neigung zeigten, es einmal mit bilateralen Verhandlungen mit Rußland zu versuchen. Im Zug dieser Ereignisse ging die unmittelbare Bedeutung der Vereinigten Staaten für Westund Osteuropa zurück.
Diesen Rückgang und die begriffliche Unzulänglichkeit des atlantischen Konzepts nutzte de Gaulle aus. Weit entfernt, ein wiedervereinigtes Deutschland zu wünschen (gelegentliche Bekenntnisse dazu waren rein rituell), strebte er danach, ein neues europäisches Gleichgewicht zu schaffen. De Gaulle hat seine Ideen niemals so systematisch dargelegt, wie das atlantische Konzept formuliert worden ist, aber sein zentrales Ziel war und ist es, die Präsenz der beiden äußeren „Hegemonial" -mächte in Europa zu verringern. Zu diesem Zweck sollte zunächst ein westeuropäischer harter Kern unter Führung Frankreichs entstehen, herausgelöst aus der atlantischen Integration, aber weiterhin unter dem nuklearen Schutz der Vereinigten Staaten. Dieser Kern würde dann ans Werk gehen, ein „europäisches Europa bis zum Ural" zu schaffen, das heißt die europäische Ost-West-dtente schließlich in eine entente zu verwandeln.
Die Einzelheiten des Plans blieben nebelhaft; aber so viel ist offenkundig, daß de Gaulle, um seine Ziele zu erreichen, geschickt die Unzufriedenheit der Europäer und die asiatischen Schwierigkeiten seiner beiden mächtigen Gegner ausbeutete. Er baute darauf, daß der chinesisch-sowjetische Konflikt Rußland nach Europa treiben werde, und er machte sich das amerikanische Engagement in Vietnam zunutze, um ein Bewußtsein spezifisch europäischer Interessen zu erzeugen. Obzwar darauf bedacht, den amerikanischen nuklearen Schutz nicht zu verlieren, deutete er an, die Teilung Europas werde dereinst überwunden werden durch Auflösung der sich feindlich gegenüberstehenden Bündnisse NATO und Warschauer Pakt, die beide de facto Agenturen der Hegemonialmächte seien. Ein Europa, das sich auf bilaterale Beziehungen stütze, den Primat der nationalen Souveränität anerkenne, aber zu enger wirtschaftlicher Zusammenarbeit bereit sei, wenn immer dies zweckmäßig erscheine (besonders für Frankreich) — solch ein Europa werde ein gesundes, ja ein aufsteigendes Europa sein.
Auf den ersten Blick erscheint das Konzept des Generals einleuchtend. Seine Hochschätzung des Nationalstaats entspricht dem traditionellen nationalistischen Denken Europas. Die antihegemonialen Bestandteile seines Konzepts sind eine nützliche Zugabe; sie ziehen besonders Teile der jüngeren Generation an, die der — wie sie es sehen — Vormachtstellung der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion in Europa müde sind.
Es ist jedoch mehr als zweifelhaft, ob de Gaulles Konzept der Gegenwart Europas — von der Zukunft ganz zu schweigen — besser gerecht wird als die Ideen, die er ablehnt. Die Auflösung der beiden Allianzen könnte vielleicht das Problem der Konfrontation lösen, würde aber bestimmt neue Probleme schaffen. Das Argument, der Kalte Krieg könne aus der Welt geschafft werden, indem man die Blöcke beseitige, ist nicht nur trügerisch attraktiv, es ist auch gefährlich falsch.
Wenn nämlich ein locker organisiertes Westeuropa sich um Entspannung gegenüber dem Osten bemühte, könnte das Resultat nur sein, daß der Westen den Status quo hinnähme, insbesondere die permanente Existenz zweier deutscher Staaten. Ein politisch zerstückeltes Westeuropa wäre unfähig, in die gleiche Richtung auf ein gemeinsames Ziel hinzusteuern;
der einzige gemeinsame Nenner wäre Entspannung um der Entspannung willen. Das würde unvermeidlich dazu führen, daß sich die westlichen Staaten in der Verbesserung der zweiseitigen Beziehungen und der Entwicklung des Handels mit dem Osten gegenseitig Konkurrenz machten.
Soviel ist wahrscheinlich richtig: Ein locker organisiertes Westeuropa ohne integrierte politische und militärische Struktur, ohne enge Bindung an die Vereinigten Staaten, also bestenfalls ein Freihandelsgebiet, könnte eine Entspannung gegenüber der Sowjetunion und Osteuropa leichter erreichen. Für den Osten würde die Verständigung mit solch einem Westeuropa keine wesentliche Weiterentwicklung der Ideologie erfordern, zumal keine besonderen Zugeständnisse oder Anpassungen in der östlichen Position nötig wären. Die kommunistischen Eliten, die von einem Europa dieser Art nichts zu fürchten hätten, wären wahrscheinlich für westliche Offerten recht aufgeschlossen, weil sie auf diese Weise ihren Kuchen aufessen und doch behalten könnten:
Sie könnten die greifbaren Vorteile engerer Wirtschaftsbeziehungen zum Westen genießen, ohne eine wesentliche Änderung der politischen Gesamtlage in Kauf nehmen zu müssen.
In diesem Zusammenhang muß man sich eines vor Augen führen: Die gegenwärtigen kommunistischen Eliten, besonders in Osteuropa, befinden sich im ersten Stadium des politischen Erwachens nach dem Heraustreten aus bäuerlichen Lebensformen. Ihre politische Einstellung ist im großen und ganzen ein seltsames Gemisch aus kommunistischen Formeln und einem ziemlich primitiven, intensiven Nationalismus. Ihre Anschauungen sind im Grunde provinziell und konservativ. Eine Entspannung, die ihre Diktatur im eigenen Land verewigte und die europäische Landkarte unverändert ließe, wäre für sie die ideale Lösung.
Eine andere Frage ist, ob eine derartige Entspannung stabil wäre. Es gibt starke Gründe zur Skepsis. Auf diese Weise würde nämlich wieder ein Europa entstehen, das sich auf das alte Prinzip der Staatssouveränität gründete, wobei aber eine große europäische Nation — die deutsche — zur Teilung verurteilt wäre. Unter diesen Umständen würden sich in Westdeutschland fast sicher Enttäuschung und Unruhe ausbreiten. Man müßte damit rechnen, daß die Deutschen, die weder ihre nationale Einheit erlangt noch Erfüllung in einer größeren europäischen Gemeinschaft gefunden hätten, eine Verständigung mit der Sowjetunion suchen würden. Die Versuchung, die deutschen Befürchtungen auszubeuten, könnte für Moskau unwiderstehlich sein, selbst wenn man annimmt, daß die Sowjets aufrichtig eine stabile Entspannung in Europa wünschen. Das Ergebnis könnte eine neue Phase der europäischen Spannungen sein. Die Stabilität des Kontinents im allgemeinen und die osteuropäische Sicherheit im besonderen wären die ersten Opfer.
Aber gerade darauf scheint de Gaulle hinzuarbeiten — nicht nur, indem er das Engagement der Vereinigten Staaten in Asien und das Ende der atlantischen Orientierung in Bonn ausnutzt (letzteres wurde deutlich markiert durch den Machtantritt der Regierung Kiesinger-Brandt), sondern auch durch seine augenscheinliche Entschlossenheit, die NATO ganz zu verlassen. Vielleicht war es wohlerwogene Absicht, als der französische Präsident in seiner Rede vom 10. August 1967 der Welt seine Gründe für die Ablehnung der Allianz offenbarte: „Indem sich Frankreich aus der NATO zurückzog, hat es sich für seinen Teil freigemacht von der Unterwerfung [unter die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion], Auf diese Weise würde es gegebenenfalls in keine Auseinandersetzung hineingezogen werden, die nicht die seine wäre, und in keine kriegerische Handlung, die es nicht selbst wollte. Auf diese Weise ist es fähig, von einem Ende Europas zum anderen — wie es das für richtig hält — Einvernehmen und Zusammenarbeit zu praktizieren, die einzigen Mittel, die Sicherheit unseres Kontinents zu gewährleisten. Auf diese Weise kann es seiner Berufung gemäß in einer Welt, die durch viele alte und neue Mißbräuche in einem Zustand der Gärung ist, das Recht eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung hochhalten, ein Recht, das heute das notwendige Fundament jeder Konföderation ist, die unentbehrliche Grundlage einer wirklichen Organisation des Friedens."
Solche Worte de Gaulles mögen dazu beitragen, daß bald ein deutscher Staatsmann eine ähnliche Erklärung abgibt.
Auch die Sowjetunion nimmt am Wettbewerb um die beste europäische Lösung teil. Die sowjetische Formel hat sich allmählich herausgebildet — in der Reaktion auf äußere günstige Gelegenheiten im Westen und auf innere politische Wirren im Osten. Unter Chruschtschow hatte die Sowjetunion eigentlich gar keine Europapolitik; sie war zu sehr damit beschäftigt, einer globalen Schimäre nachzujagen. In dem Bestreben, mit den Vereinigten Staaten gleichzuziehen und sie dann sogar als Weltmacht Nummer Eins zu entthronen, gab sich Chruschtschow bald werbend, bald herausfordernd. Beides ging tragisch aus: Die Werbung erstarb im Mai 1960 auf einer Wiese bei Swerdlowsk unter den Trümmern einer abgeschossenen U-2; die Herausforderung nahm ein rühmloses Ende, als sowjetische Schiffe, die sowjetische Raketen von Kuba zurück in sowjetische Fläfen transportierten, sich einer bewaffneten Inspektion durch die Vereinigten Staaten unterwarfen.
Von da an ging die Sowjetunion allmählich zu einer mehr regional orientierten Außenpolitik über. Diese Außenpolitik gewann klarere Umrisse nach Chruschtschows Sturz. Dazu trugen auch die Chancen bei, die sich aus dem wachsenden amerikanischen Engagement in Vietnam ergaben. Die Sowjetführer nahmen diese Chancen wahr und machten sich auch de Gaulle in einer Weise zunutze, die etwas an die frühere amerikanische Unterstützung Titos erinnerte. So schickten sie sich an, in Worten und Taten eine neue Europapolitik zu prägen. Sie tauschten Besuche mit ihren NATO-europäischen Nachbarn in bisher nicht dagewesener Zahl aus und wurden beredte Wortführer der Sonderart und der Sonderinteressen Europas. In das Vokabular der reiB senden Sowjetführer fanden sogar Begriffe wie „technological gop" (technische Lücke) und „brain drain" (Talent-Abwanderung [in die Vereinigten Staaten]) Eingang. Zwar wurde nicht gezeigt, wie die halbentwickelte Sowjetunion in dieser Hinsicht Westeuropa eine große Stütze sein könnte; doch kann man annehmen, daß solche Fragen nicht aufgeworfen wurden, um eine gemeinsame praktische Reaktion auf die amerikanische Herausforderung herbeizuführen, sondern um an gemeinsame Emotionen angesichts der angeblichen amerikanischen Drohung zu appellieren.
Wichtiger war die sowjetische Reaktion auf die in Europa immer mehr an Boden gewinnende Überzeugung, daß sich eine allmähliche Verbesserung der Ost-West-Beziehungen nicht auf das wirtschaftliche und das politische Gebiet beschränken kann. In der westlichen öffentlichen Meinung setzt sich mehr und mehr der Gedanke durch, daß es an der Zeit ist, etwas für die Lösung des europäischen Sicherheitsproblems zu tun. Von 1966 an sprachen die kommunistischen Führer davon, daß zur Behandlung dieser Fragen eine europäische Sicherheitskonferenz einberufen werden müsse; allerdings vermieden sie es sorgfältig, genauer auszuführen, wie sie sich ein europäisches Sicherheitsabkommen vorstellten, über die Teilnahme der Vereinigten Staaten an einer solchen Konferenz ließen sie nichts verlauten; sie schlossen sie nicht geradezu aus, hofften aber offensichtlich, daß einige westliche Staaten bereit wären, die Frage zu diskutieren, und damit einen Trennungsstrich zögen zwischen europäischen Mächten einschließlich der Sowjetunion einerseits und nichteuropäischen Eindringlingen andererseits.
Die sowjetischen Motive waren unschwer zu erkennen. Rein taktisch gesehen, konnte schon ein gedämpfter Dialog mit westeuropäischen Staatskanzleien über das Thema einer Sicherheitskonferenz nicht verfehlen, die westeuropäische Öffentlichkeit zu beeinflussen, dadurch zur Isolierung Bonns beitragen und damit wiederum westdeutsche Befürchtungen zu erwek-ken. Eine Schwächung der europäisch-amerikanischen Bande war gleichfalls nicht unwillkommen, obwohl Moskau vermutlich erkannte, daß ein totaler Bruch im atlantischen Bündnis den deutschen Einfluß in Westeuropa verstärken könnte. Aber wenn es nicht gerade zu solch einem scharfen Bruch kam — was der Kreml wohl ohnehin für unwahrscheinlich hielt —, war jede Verschärfung der atlantischen „Widersprüche" wünschenswert. Schließlich war es einfach taktisch lohnend, Vorschläge zu machen, die vernünftig schienen und Menschen guten Willens ansprachen.
Auf weitere Sicht hoffte die Sowjetunion zweifellos, daß eine breitangelegte Sicherheitsdiskussion zwischen Ost und West den Status quo in Mitteleuropa und vor allem die Existenz der beiden deutschen Staaten legitimieren werde. Wenn es außerdem gelänge, Westeuropa vom Gedanken der atlantischen Interdependenz in Sicherheitsfragen abzubringen, könnte eine Entwicklung eingeleitet werden, die schließlich zur Neutralisierung Westeuropas führen würde. Vielleicht ist es eine Übertreibung zu sagen, die Sowjetunion wolle Westeuropa in ein großes Finnland verwandeln; jedenfalls können sich aber die Sowjetlührer nicht darüber im unklaren sein, daß sie über ein Westeuropa, das in Sicherheitsfragen weniger eng mit den Vereinigten Staaten verbunden wäre, bedeutend mehr politischen Einfluß gewinnen würden.
Das sowjetische Konzept hat ernste Mängel, selbst wenn man es für bare Münze nimmt und darin ein aufrichtiges Bemühen sieht, eine Lösung für die Probleme Europas zu finden. Es läßt einfach die Tatsache außer acht, daß man die unbewältigte Hinterlassenschaft des Zweiten Weltkriegs nicht durch einen Zauberspruch in eine allseits anerkannte, dauerhafte Ordnung verwandeln kann. Die Sowjet-führer wollen nicht unterscheiden zwischen solchen Aspekten des Status quo, die als Folgen der traumatischen Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs vielleicht bestehen bleiben können — in einigen Fällen sogar müssen —, und solchen, die lediglich vorübergehende Manifestationen des Kalten Krieges sind. Sie haben deshalb eine Lösung angeboten, die in Wirklichkeit überhaupt keine Lösung ist, sondern ein Mittel, die Bestätigung der sowjetischen Maximalziele zu erlangen.
Es ist daher mehr als zweifelhaft, ob das bloße Zusammentreten einer europäischen Sicherheitskonferenz überhaupt etwas klären würde.
Vermutlich würde Ostdeutschland teilnehmen, was an sich schon ein großer sowjetischer Erfolg wäre, und auch die Vereinigten Staaten, was einige leichtgläubige Westeuropäer natürlich als großzügiges Entgegenkommen der Sowjetunion deuten würden. Eine Konferenz, die das Problem der deutschen Teilung ignorierte, würde nur die Unzufriedenheit und Enttäuschung der Westdeutschen verstärken.
Ganz allgemein lassen sich die für den Westen unangenehmen Konsequenzen der sowjetischen Initiative leicht aufzählen, während es schwer ist, ähnliche Passivposten für den Osten zu finden. Diese Asymmetrie nimmt dem sowjetischen Vorschlag einfach die politische Bedeutung.
II. Formen und Stufen der Aussöhnung
Im Hinblick auf die Ost-West-Beziehungen ist es das langfristige Ziel der Vereinigten Staaten, die gegenwärtige Feindseligkeit, deren Ursache und Symptom die europäische Teilung ist, in eine immer stabiler werdende Zusammenarbeit zwischen Ost und West zu verwandeln, die schließlich diese Teilung beendet. Das bedeutet, neue Formen der Beziehungen zu fördern und dabei allmählich jene Faktoren auszuschalten, die der Stabilität hinderlich sind. Der Status quo darf nicht Selbstzweck, sondern muß Ausgangspunkt eines allmählichen Wandels sein; während wir die beiden starren Blöcke auflockern, die sich an der Elbe gegenüberstehen, müssen wir vermeiden, daß sich die zwei bestehenden Bündnisse in das traditionelle Vielstaatensystem auflösen.
Eine stabilere europäische Lösung, die mehr als die bisher erörterten drei Konzepte den gegenwärtigen Trends und den historischen Entwicklungstendenzen entspräche, müßte meiner persönlichen Meinung nach auf einer Struktur beruhen, in der vier Einheiten miteinander verflochten wären. Amerika und Rußland wären die peripheren Teilnehmer, Westeuropa und Osteuropa die beiden Hälften des inneren Kerns (die im Laufe der Zeit vielleicht noch eine engere Verbindung eingehen würden). Der Grad der inneren Homogenität wäre bei allen verschieden, und jeder würde mit den anderen Beziehungen von unterschiedlicher Intimität und Intensität unterhalten.
Das atlantische Konzept würde also beibehalten, aber (in etwas verdünnter Form) zu einem Aspekt des größeren Ganzen gemacht. In ähnlicher Weise würden die „europäischen" Elemente und die Sicherheitsakzente der beiden anderen Konzepte umgeformt. So entstünde ein symmetrischeres Konzept, das den wirklichen Interessen der beteiligten Parteien und den Bedürfnissen der europäischen Stabilität besser gerecht würde.
Es ist so gut wie sicher, daß Westeuropa im Laufe des nächsten Jahrzehnts weitere Fortschritte in Richtung auf eine integrierte Wirtschaftsgemeinschaft machen wird; politische Konsultationen wird es wohl immerhin in Ansätzen geben. Wahrscheinlich werden auch einige gemeinsame Verteidigungsmaßnahmen getroffen werden, besonders nach dem Abtreten de Gaulles. Westeuropa wird mithin eine immer stärkere Kraft mit zunehmender eigener Identität werden. Wahrscheinlich wird es jedoch zögern, sich an der globalen Verantwortung der Vereinigten Staaten Zu beteiligen. Osteuropa, das in bezug auf politische Entwicklung und soziale Modernisierung relativ rückständig ist, wird sicherlich weniger homogen organisiert sein. Trotzdem macht es ebenfalls schon Fortschritte in Richtung auf eine subregionale Zusammenarbeit unter Ausschluß der Sowjetunion. Es ist zu erwarten, daß sich dieser Trend fortsetzen wird, allerdings wohl mehr auf der Basis eines Netzes zweiseitiger wirtschaftlicher und politischer Abmachungen. Schließlich mag sich eine Art Konföderation entwickeln, so daß Osteuropa um die Mitte der achtziger Jahre eine locker gefügte Gemeinschaft von 130 Millionen Menschen mit einem Bruttosozialprodukt von etwa 215 Milliarden Dollar bilden wird. Auf jeden Fall sollte eine stärkere Kooperation innerhalb Osteuropas gefördert werden, denn ohne sie wird diese Region weiterhin eine Quelle der Unstabilität und ein politisches Vakuum sein, das von Außenseitern ausgefüllt wird. Wenn zum Beispiel die osteuropäischen Staaten ihre Volkswirtschaften dezentralisieren, wäre westliche Hilfe zur Herstellung der Konvertibilität ihrer Währungen sehr sinnvollB). Andere nützliche Möglichkeiten wären eine Balkan-Zollunion, bestehend aus Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien und Griechenland, sowie eine weitere Zollunion, die Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und vielleicht auch Ostdeutschland umfassen würde.
Das amerikanisch-westeuropäische Verhältnis wird voraussichtlich auch künftig ein Sicherheitsabkommen einschließen. Doch wird die größere Einheit Westeuropas es nötig machen, das derzeitige integrierte NATO-Kommando, das aus einem Riesen und vierzehn „Nichtriesen" besteht, umzuwandeln in etwas wie ein bilaterales amerikanisch-westeuropäisches Organ für Sicherheitsplanung und -koordinie-rung. Die westeuropäische Integration, zu der ein Verteidigungsvertrag zwischen den europäischen NATO-Mitgliedern gehört, wird es vielleicht ermöglichen, die NATO zu einem gleichgewichtigeren — und bilateralen — atlantischen Verteidigungsabkommen umzubilden. Amerikanische Hilfe bei der Entwicklung eines europäischen Raketenabwehrsystems, das technisch offenkundig defensiv wäre, könnte die Bewegung in dieser Richtung beschleunigen; sie würde gleichzeitig die Be-deutung kleiner nationaler Nuklearstreitkräfte verringern und in Osteuropa keine Befürchtungen vor deutschem Offensivpotential erwecken.
Wichtiger als die NATO werden für die Förderung einer engen atlantischen Kooperation die unaufhaltsam wachsenden wirtschaftlichen, technischen und monetären Verbindungen zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa sein. Zoll-und Finanzabkommen, die mögliche Entstehung einer technischen atlantischen Gemeinschaft, zunehmend koordinierte Bemühungen, der Dritten Welt zu helfen —-all das wird wahrscheinlich zur Entwicklung neuer Institutionen der Zusammenarbeit beitragen. Zugleich ist mit einer Zunahme der Ost-West-Abkommen innerhalb Europas zu rechnen. Die wachsende westeuropäische Integration wird unvermeidlich wie ein Magnet auf Osteuropa wirken, das immer selbstbewußter wird und eifrig danach strebt, an dem europäischen Abenteuer teilzunehmen. Diese zunehmende Ost-West-Kooperation wird sich nicht auf zweiseitige Abmachungen beschränken; noch wichtiger werden die vielen neuen multilateralen Bindungen sein, weil die osteuropäischen Staaten immer stärker den Wunsch haben werden, sich gesamteuropäischen Institutionen und Unternehmungen anzuschließen. Es wird sich praktisch eine lockere gesamteuropäische Wirtschaftsgemeinschaft mit Westeuropa als ihrem homogenen harten Kern herausbilden.
In mancher Hinsicht werden die Ost-West-Beziehungen rein europäisch sein; in anderer Hinsicht werden sie auch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion einschließen. Das wird wahrscheinlich vor allem für Sicherheitsabkommen gelten. Osteuropas Furcht vor einem vereinigten Westeuropa, das angeblich leicht der Herrschaft der Bundesrepublik anheimfallen kann, wird nachlassen, wenn die Zusammenarbeit zwischen Ost und West auch einige Sicherheitsabmachungen zwischen den beiden in loserer Form fortbestehenden Allianzen umfaßt. Die alte dichotomische Konfrontation wird verschwinden, aber es ist unwahrscheinlich, daß West-und Osteuropäer einander ohne eine gewisse Rückendeckung durch die jeweilige Supermacht werden gegenübertreten wollen. Wie de Gaulle in Warschau erfuhr und wie auch die Tschechen zu verstehen gegeben haben, sind die Osteuropäer nicht geneigt, allein einem Deutschland gegenüberzustehen, das so viel mächtiger ist als sie; das wird wohl auch dann der Fall bleiben, wenn Westdeutschland stärker in eine integrierte europäische Gemeinschaft absorbiert ist. Die Befürchtungen werden nicht ganz verschwinden; sowjetischer Schutz und sogar auch amerikanisches Engagement werden weiterhin erwünscht sein
Da sowjetisch-osteuropäische Sicherheitsverbindungen automatisch das delikate europäische Gleichgewicht zugunsten des Ostens verschieben würden, ist zu erwarten, daß die Westeuropäer ebensoviel Wert darauf legen werden, die Verpflichtungen der Vereinigten Staaten aufrechtzuerhalten. Daher wird man wahrscheinlich, trotz der gegenwärtigen Haltung Frankreichs und Rumäniens, Sicherheitsabkommen vorziehen, die alle Beteiligten miteinander verbinden. Wenn das Ziel eine größere Gemeinschaft der entwickelten Länder ist, dann sind auch solche umfassenderen Sicherheitsabkommen wünschenswert. Ein Ost und West überwölbendes Sicherheitssystem, ruhend auf den vier Pfeilern, die zur Erhaltung des Friedens notwendig sind, würde systematischere politische Konsultationen erfordern, an denen nicht nur die Europäer, sondern auch Amerikaner und Russen teilnähmen. Darüber hinaus würden Organisationen wie die OECD und die ECE (Wirtschaftskommission für Europa) den Rahmen für intensivere wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit untereinander und gegenüber der Dritten Welt abgeben. Die wirtschaftlichen, politischen und Sicherheitsverbindungen würden somit einen institutionellen Rahmen für die vier Einheiten bilden.
Es ist möglich, daß einige osteuropäische Staaten wünschen werden, außer den Sicherheitsverbindungen auch ideologische Bande zur Sowjetunion aufrechtzuerhalten; doch scheint es fast sicher, daß diese mit der Zeit an Bedeutung verlieren werden. Was aus dem War-schauer Pakt werden wird, soweit es um seine reale Substanz geht, ist schwer vorauszusagen. Mindestens wird er wohl ein politischer Vertrag bleiben, der das Engagement und den politischen Einfluß der Sowjetunion in Osteuropa legitimiert. Wenn die gegenwärtigen Entwicklungstrends anhalten, ist nicht damit zu rechnen, daß die militärische Integration der kommunistischen Staaten weitere Fortschritte macht. In dem Maße, wie sich der Charakter der NATO ändert, werden sich die beiden Militärbündnisse etwas ähnlicher werden. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Osteuropa und der Sowjetunion werden wahrscheinlich mehr den Charakter bilateraler Beziehungen oder spezialisierter, begrenzter Formen der multilateralen Kooperation annehmen. Der RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe), eine in erster Linie politisch-ideologische Organisation, dem unter anderen der Wirtschaftsriese Sowjetunion und der Wirtschaftsdäumling Mongolei angehören (etwa als wären die Vereinigten Staaten und Haiti Mitglieder des Gemeinsamen Marktes), wird vermutlich keine so erfolgreiche wirtschaftliche Integration zustande bringen wie die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft). Eher wird er wohl ein kommunistisches Äquivalent zur OECD werden, was ihn schon recht wichtig und nützlich machen würde. (Eine Zusammenarbeit zwischen OECD und RGW könnte demgemäß durchaus konstruktiv sein.)
Neben den Beziehungen, die Europa miteinbegreifen, werden schließlich auch die speziellen Verbindungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vielfältigere Formen annehmen. Die beiden nuklearen Supermächte werden entweder im Weltmaßstab konkurrieren oder kooperieren oder, was das Wahr-scheinlichste ist, beides zugleich tun, sei es in der Raumfahrt, sei es in der Dritten Welt, sei es in bezug auf neue Waffensysteme. Die ständige Rivalität und die wachsende Kooperation werden sie vielleicht zu einer klareren Erkenntnis ihrer gemeinsamen weltpolitischen Verantwortung bringen und — auch ohne daß es formalen Ausdruck findet — ein spezifisch politisches Verhältnis zwischen ihnen schaffen. Beide werden jedoch sorgsam den Anschein vermeiden müssen, als wollten sie ein Kondominium ausüben; in dieser Hinsicht sind die Interessen West-und Osteuropas identisch, und sie werden wahrscheinlich den Beziehungen zwischen den Supermächten starke Beschränkungen auferlegen.
Trotz alledem bleibt die Zusammenarbeit zwischen ihnen und unter den europäischen Nationen der Schlüssel zu einer Lösung auf lange Sicht. Diese Lehre zog Willy Brandt schon 1946, als er schrieb: „Hitlerdeutschland wurde durch eine Koalition der großen alliierten Mächte geschlagen. Deutschland ist durch die großen Mächte okkupiert. Es kann aus dieser Krise nur dann als einheitlicher Staat hervorgehen, wenn der Neuaufbau im Einvernehmen und in Zusammenarbeit mit . sowohl dem Osten wie dem Westen'vollzogen wird."
III. Die Mittel zur Aussöhnung
Damit all dies geschehe, müssen sich in Europa weitreichende Wandlungen vollziehen, besonders im Osten, der den Schlüssel zur Zukunft Ostdeutschlands in seinen Händen hält. Da Politik die Kunst ist, das, was man gern geschehen sähe, wahr zu machen, geht die folgende Erörterung von den gegenwärtigen Trends aus und sucht sie — in dem Maße, wie die europäische Dynamik Einflüssen von außen zugänglich ist — in Verbindung zu bringen mit solchen politischen Konzeptionen, die mit dem oben skizzierten langfristigen Ziel vereinbar sind. Trotz der augenblicklich verschärft feindseligen Haltung der Sowjetunion ist es ein bewußt optimistischer Entwurf. Eine plötzliche Wiederzunahme der internationalen Spannungen oder der sowjetischen Aggressivität könnte die hier erörterten Strömungen zum Stehen bringen oder gar umkehren.
Dennoch spricht einiges für die Annahme, daß im nächsten Jahrzehnt die militanteren Züge des Marxismus-Leninismus ständig weiter abbröckeln werden. Der chinesisch-sowjetische Konflikt und der innenpolitische Druck in der Sowjetunion wirken beide auf einen solchen Wandel der Perspektive hin. Der ideologische Wandel seinerseits wird helfen, politische Veränderungen herbeizuführen. Natürlich werden die Sowjetunion und die meisten osteuropäischen Staaten noch lange Einparteiendiktaturen bleiben. Die herrschenden Bürokratien werden mehr und mehr nationalistisch, und zusammen mit ihren etatistischen und sozialistischen Tendenzen gibt ihnen das einige Ähnlichkeit mit sozialfaschistischen Bewegungen im Osteuropa der Vorkriegszeit.
Nichtsdestoweniger werden diese Staaten in dem Maße, wie ihnen ihre wachsende soziale und ökonomische Komplexität zu Bewußtsein kommt, wahrscheinlich mehr Toleranz gegenüber politischen und intellektuellen Abweichungen zeigen. Die fortschreitende Dezentralisierung der kommunistischen Volkswirtschaften wird die internationale ökonomische Zusammenarbeit erleichtern, die bisher durch die zentralisierte nationale Planung behindert war. Sie wird auch die Herausbildung selbständigerer, mehr technisch orientierter Eliten erleichtern, die an wirtschaftlicher Kooperation mit Westeuropa und den Vereinigten Staaten interessiert sein werden.
Tatsächlich erkennen schon jetzt einige kommunistische Länder, daß sie zumindest ein wirtschaftliches Interesse an der Einheit des Westens haben
Es liegen bereits beachtliche Anhaltspunkte dafür vor, daß nicht alle Osteuropäer eine kommunistische Politik begrüßen, die darauf abzielt, den Westen zu spalten und Europa von den Vereinigten Staaten zu trennen. In Polen, der Tschechoslowakei und Jugoslawien ist wiederholt die Meinung laut geworden, eine solche Politik sei kurzsichtig und werde die Wiederbelebung des deutschen Nationalismus zur Folge haben. Vielleicht werden die kommunistischen Eliten eines Tages zu der Auffassung kommen, daß ein integriertes Westeuropa, das die deutschen Energien und Ambitionen absorbiert, auch in ihrem Interesse liegt.
In diesem Zusammenhang wäre für die Osteuropäer eine westliche Einladung besonders anziehend, an gemeinsamen Bemühungen zur Vermeidung einer „technischen Lücke" zwischen Europa und Amerika teilzunehmen. Den Osteuropäern ist dieses Problem erst kürzlich aufgegangen, aber ihre Sorge wird verstärkt durch die unausgesprochene Befürchtung, sie könnten nicht nur gegenüber dem Westen, sondern auch gegenüber der Sowjetunion technisch rückständig werden. Daher ihr außerordentliches Interesse an solchen Initiativen wie Fanfanis Vorschlag, eine auch kommunistischen Staaten offenstehende transatlantische technische Gemeinschaft zu schaffen; daher die vielen Äußerungen in ihrer Presse, wie wünschenswert eine umfassendere internationale Zusammenarbeit sei.
Die Teilnahme der kommunistischen Staaten an einem umfassenderen multilateralen System der Ost-West-Kooperation hätte einen europäisierenden Einfluß auf die kommunistischen Eliten selbst. Sie könnte dazu beitragen, daß sich im Osten eine europäisch denkende technische und wirtschaftliche Elite herausbilden würde; schließlich könnte sie auch bei der politischen Elite eine großzügigere, weniger provinzielle Denkweise fördern. Da außerdem multilaterale Kooperation unvereinbar ist mit hochgradig zentralisierter, staatlich kontrollierter Planung im Innern, würde sich der Druck in Richtung auf eine innenpolitische Liberalisierung verstärken. Die stärkere Beteiligung der osteuropäischen Staaten an institutioneilen und multilateralen Formen der Kooperation mit einer integrierten westlichen Gemeinschaft würde also die Prozesse der inneren Evolution im Osten unterstützen, die alle zusammen die Herausbildung einer neuen politischen Haltung fördern würden.
Mit der Zeit würden die kommunistischen Eliten von der Auffassung abkommen, daß ihre Sicherheit ausschließlich von der Aufrechterhaltung des Status quo abhänge. Wenn einmal die Deutschland-Frage nicht mehr so akut sein würde und es nicht mehr so wichtig wäre, die doktrinäre Starre Ostdeutschlands aufrechtzuerhalten, so würde das Problem der Teilung Europas einer Lösung durch friedlichen Wandel eher zugänglich werden.
Eine sehr wichtige Einschränkung ist jedoch zu machen. Die Sowjetunion wird Ostdeutschland nicht einfach in eine westliche Gemeinschaft hinübergleiten lassen, die, vom sowjetischen Standpunkt gesehen, leicht unter die Herrschaft eines mächtigen, wiederbewaffneten Deutschlands geraten könnte. Ein solcher Übertritt würde eine fundamentale Verschiebung im Gleichgewicht der Kräfte bewirken, ganz zu schweigen davon, daß die Sowjetunion die Kontrolle über die sehr bedeutenden wirtschaftlichen Ressourcen Ostdeutschlands verlöre. Der Zugang Westdeutschlands zu nuklearen Offensivwaffen würde die sowjetischen Befürchtungen und Phobien unweigerlich verstärken. Noch mehr gilt das für die Osteuropäer. Es gibt schlechterdings kein realistisches, überzeugendes Argument dafür, daß die Sowjetunion bereit wäre, Ostdeutschland von einem politisch, wirtschaftlich und militärisch integrierten Westeuropa absorbieren zu lassen.
Wahrscheinlich wären die sowjetischen Besorgnisse etwas geringer und die sowjetische Bereitschaft, der deutschen Wiedervereinigung in irgendeiner Form zuzustimmen, größer, wenn es ein spezielles Sicherheitsabkommen gäbe, das die Beteiligung Westdeutschlands an einer europäischen nuklearen Streitmacht ausschlösse, und wenn umfassendere Sicherheitsabmachungen zwischen Ost und West getroffen würden. Ebenso muß anerkannt werden, daß Ostdeutschland, wie immer seine Verbindungen mit Westdeutschland aussehen mögen, nicht daran gehindert werden kann, ein besonderes Verhältnis zur Sowjetunion und zu dem, was dann noch vom RGW übrig sein wird, zu unterhalten.
Aus alledem folgt, daß die Aussöhnung zwischen Ost und West nicht durch einen einmaligen Akt der Verständigung erreicht werden wird, ebensowenig wird die Lösung des deutschen Problems ein einziges, isoliertes Ereignis sein. Ost und West müssen allmählich zusammenwachsen, und auf andere Weise auch beide Teile Deutschlands. Dieser Prozeß wird wirtschaftliche, kulturelle, politische und Sicherheitsaspekte haben, er wird auf längere Sicht einen institutionalisierten multilateralen Rahmen brauchen.
Eine extensive Entwicklung der bilateralen Ost-West-Beziehungen begann in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren. Es ist zu erwarten, daß Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre diese bilateralen Beziehungen sich weiter ausdehnen werden und daß sich auch die multilaterale wirtschaftliche Kooperation zwischen Ost und West beträchtlich entwickeln wird. Die ECE wird wahrscheinlich in den nächsten Jahren eine aktivere Rolle bei der Entwicklung der wirtschaftlichen und technischen Zusammenarbeit zwischen Ost und West spielen. Vielleicht wird auch die OECD beim Zustandekommen der wissenschaftlichen und technischen Zusammenarbeit helfen und sich damit aufgeschlossen zeigen für die großen osteuropäischen Sorgen wegen der „technischen Lücke".
Es ist nicht unsinnig, damit zu rechnen, daß in den siebziger Jahren — vielleicht unter der Patenschaft von OECD, ECE und RGW — eine Art Ost-West-Wirtschaftsparlament entstehen wird. Es könnte Gemeinschaftsunternehmungen, den Informationsaustausch und die technische Zusammenarbeit fördern; es könnte Studien anstellen, wie man mit dem schwierigen Problem der multilateralen Kooperation von Markt-und Staatswirtschaften fertig wird; es könnte gesamteuropäische Projekte entwickeln, zum Beispiel das einer Autobahn Lissabon—Moskau. Man kann auch die Erwartung hegen, daß der Osten im Laufe der nächsten fünf Jahre seinen überschüssigen Arbeitskräften gestatten wird, nach dem Westen zu gehen. Das könnte beträchtliche soziale und kulturelle Auswirkungen haben, wenn die Arbeiter wieder nach Hause kämen.
In der gleichen Periode werden sich wahrscheinlich die meisten osteuropäischen Staaten und die Sowjetunion dem GATT und dem Internationalen Währungsfonds assoziieren;
außerdem werden sie vielleicht Abkommen über Vorzugszölle mit der EWG schließen, und Jugoslawien wird möglicherweise nach Erreichung der vollen Konvertierbarkeit assoziiertes Mitglied der EWG. Eine umfassendere Ost-West-Konvertibilität dürfte etwa 1975 möglich werden, aber wohl nicht früher.
Eine andere Möglichkeit für die nächsten Jahre wären Schritte zur Schaffung einer west-östlichen Politischen Versammlung, in der direkte und ständige Diskussionen stattfinden könnten. Für den Anfang wäre dabei wohl eher an ein ziemlich informelles Gremium mit nichtöffentlichen Diskussionen zu denken, etwa den Bilderberg-Treffen vergleichbar. (Man könnte ja probeweise einige Jugoslawen zu einem Bilderberg-Treifen einladen.) Mit der Zeit könnte eine solche Versammlung auch ein Forum für die gemeinsame Erarbeitung von Standpunkten zu den Problemen der Dritten Welt werden. Noch rascher ginge vielleicht die allmähliche Einbeziehung der kommunistischen Staaten in die spezialisierten Funktionen des Europarates. Möglicherweise könnte der Europarat eines Tages in eine Ost-West-
Versammlung umgewandelt werden.
Wenn die gegenwärtige starre Trennung zwischen beiden Teilen Deutschland aufgehoben werden kann, dann sind voraussichtlich von Bonn stärkere Zusicherungen zu erwarten, daß es die Oder-Neiße-Linie als Deutschlands ständige Ostgrenze anerkennt. Das würde das polnische und tschechische Interesse an der Existenz zweier deutscher Staaten stark reduzieren. Eines Tages werden die europäischen Grenzen unwichtig werden; zunächst jedoch ist es nötig, sie als permanent anzuerkennen.
Die härteste Nuß bleibt die Sicherheitsfrage; aber wenn erst einmal die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen verbessert sind, scheinen auch hier Fortschritte möglich. Diese Ansicht gewinnt auch in Osteuropa an Boden. So plädiert der schon zitierte tschechische Autor in einem bemerkenswert offenen und abgewogenen Artikel, der indirekt die Sowjetunion wegen „unkluger Versuche, die deutsche Frage zu Kraftproben zu benutzen“, kritisiert, für einen „Prozeß der europäischen Einigung" in zwei Phasen: die erste Phase soll sich auf dem Gebiet der wachsenden wirt-B schaftlichen Zusammenarbeit abspielen, die zweite auf dem Gebiet der Sicherheit.
Bei hinreichender westlicher Initiative und nach vorherigen Konsultationen unter den Alliierten müßte es möglich sein, in Kürze Diskussionen ohne festen Zeitplan über mitteleuropäische Sicherheitslragen einzuleiten. Diskussionspartner könnten die beiden Allianzen sein, womit das Problem der direkten Teilnahme Ostdeutschlands umgangen würde. Die Diskussionen müßten permanent geführt werden, zunächst unterhalb der Ministerebene (nach dem Muster der langwierigen Gespräche vor dem Abschluß des österreichischen Staatsvertrags). Ihr Ergebnis könnte, vielleicht Anfang der siebziger Jahre, die Schaffung einer auf den beiden Allianzen basierenden Europäischen Sicherheitskommission sein. Die spezifische Aufgabe der Kommission wäre es, Truppenbewegungen in Mitteleuropa zu überwachen und periodisch Truppenpositionen zu überprüfen. Darüber hinaus könnte sie auch andere Maßnahmen zur Milderung der militärischen Konfrontation fördern, wie sie Präsident Johnson in seiner Rede vom 7. Oktober 1966 angeregt hat. Zu einem beiderseitigen Truppenabzug aus Deutschland kann es sogar schon vorher kommen.
Hier ist an eine wichtige Tatsache zu erinnern: In der Vergangenheit waren Allianzen dazu da, Krieg zu führen; in jüngerer Zeit halfen sie, vom Krieg abzuschrecken; in den nächsten Jahren müssen sie sich vor allem damit befassen, den Frieden zu fördern. Die NATO könnte somit eine konstruktive Rolle spielen, indem sie sich aktiv für Sicherheitsund Abrüstungsabkommen zwischen Ost und West einsetzte. Ein Sonderausschuß, der jene Anstöße zum Nachdenken über Abrüstung und Ost-West-Sicherheitsfragen gäbe, die jetzt nur von ein paar nationalen Regierungen kommen, könnte der NATO neues Zielbewußtsein und neuen politischen Sinn geben.
Eine kontinuierliche Ausweitung der gesamtdeutschen Verbindungen ist zu erwarten, besonders nach dem Tode Ulbrichts. Zu denken ist an gemischte Kommissionen, Wirtschaftsverbindungen, gemeinsame Entwicklungen auf dem Gebiet der Post, des Telefonverkehrs und des Fernsehens, Schaffung eines elektrischen Verbundnetzes, Erweiterung der invididuellen Freizügigkeit und so fort.
All das wird allmählich ein günstiges Klima für offiziellere, systematischere gesamtdeutsche Wirtschaftsbeziehungen schaffen. Vielleicht nehmen sie die Form einer Wirtschaftsgemeinschaft an, die es Ostdeutschland erlaubt, in ein formelles Verhältnis zur EWG zu treten und gleichzeitig seine Bindungen an den RGW sowie einige seiner bestehenden Verpflichtungen gegenüber dem Osten aufrechtzuerhalten. (Jugoslawiens offizielle Zusammenarbeit mit dem RGW hat es nicht daran gehindert, seine Beziehungen zur EFTA und zur EWG auszubauen.) Vorausgesetzt, daß die Entwicklung auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Politik und der Sicherheit positiv verläuft; vorausgesetzt ferner, daß diese Prozesse getrennt gehalten werden von den westdeutschen Bemühungen, normale diplomatische Beziehungen zu osteuropäischen Staaten herzustellen; vorausgesetzt schließlich, daß sich keine anderen nichtkommunistischen Staaten zu einer offiziellen Anerkennung der beiden Teile Deutschlands verleiten lassen, wird die Entwicklung gesamtdeutscher Verbindungen dazu beitragen, die Teilung allmählich politisch zu überbrücken. Mitte oder Ende der siebziger Jahre kann der Prozeß der deutschen Reassoziierung im Rahmen zunehmender Aussöhnung zwischen Ost und West schon ein ganzes Stück vorangekommen sein.
IV. Eine Akzentverschiebung
Ein langfristiges Ziel ist wie ein Leuchtfeuer. Es zeigt nicht nur an, wohin man will, es weist auch den besten Weg dorthin. Jede wirksame Politik beginnt mit der Aufstellung und Artikulierung eines zweckentsprechenden Konzepts.
Das hier vorgeschlagene Verhalten brächte die Politik der Vereinigten Staaten in Einklang mit den sehnlichsten Wünschen der Europäer — im Westen wie im Osten. Diese Wünsche zeichnen sich jetzt um so klarer ab, als die Grenzen von de Gaulles Konzept nach seiner Warschau-Reise im September 1967 schärfer hervorgetreten sind und der taktische Charakter der sowjetischen Position durch Moskaus Verhalten in der Nahost-Krise unterstrichen wurde.
Das seit langem geltende amerikanische Bekenntnis zu einer engeren westeuropäischen Integration und zur atlantischen Zusammenarbeit würde durch dieses breitere Konzept nicht berührt. Die atlantische Idee würde nicht aufgegeben, aber sie wäre nicht mehr der zentrale (für manche sogar ausschließliche) Inhalt der amerikanischen Politik in Europa. Sie würde auch nicht durch den Versuch er-13 setzt, ein amerikanisch-sowjetisches Arrangement zu treffen — die traditionelle Alternative derjenigen Amerikaner, die sich gegen Amerikas hergebrachte Politik gewandt haben. Begräbnis des Kalten Krieges heißt nicht und soll nicht heißen Auferstehung Jaltas.
Die Voraussage, daß der Kalte Krieg allmählich abklingen und an seine Stelle ein mehr kooperatives Verhältnis treten wird, geht von der Annahme aus, daß im bestehenden strategischen Gleichgewicht keine wesentliche Änderung eintritt. Während die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten in Europa kooperative Beziehungen entwickeln, werden sie wahrscheinlich in der Dritten Welt Rivalen bleiben. Gerade aus diesem Grund ist es wichtig, daß die Vereinigten Staaten ihren augenblicklichen Sicherheitsvorsprung halten. Sonst könnten Konflikte in der Dritten Welt auf das europäische Verhältnis zurückwirken und die Sowjetunion in Versuchung führen, den europäischen Status quo durch militärische Erpressung ändern zu wollen.
Die Verfolgung der. hier vorgeschlagenen Politik des friedlichen Engagements würde einige Akzentverschiebungen und Methodenänderungen nach sich ziehen. Im Einklang mit einem bedeutsamen Wandel in der westdeutschen Haltung
Es ist ja in der Tat eine Ironie, daß ausgerechnet dasjenige Land, das der NATO für seine eigene Sicherheit am wenigsten bedarf, am eifrigsten bestrebt erscheint, sie zu erhalten; mehr noch, es ist schädlich, denn es nährt bei den Europäern den Argwohn, daß die Allianz ein Werkzeug der Amerikaner für die Herrschaft über ihre Verbündeten sei. Es wäre besser, die Vereinigten Staaten bezögen den Standpunkt, daß sie der NATO in eben dem Maße verpflichtet bleiben wollen wie die Europäer selbst, aber nicht mehr, Und daß die NATO eines Tages die westliche Komponente eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems werden könnte. Alte Allianzen, denen kein neues Ziel gegeben wird, sterben nicht; sie schwinden einfach dahin.
Eines erscheint sicher: Wenn die Vereinigten Staaten in der Inaktivität verharren (die manche als den besseren Teil der Weisheit empfehlen) oder wenn sie sich bloß auf das amerikanisch-sowjetische Verhältnis konzentrieren, werden sie sich Europa mehr und mehr entfremden, und die meisten Europäer werden danach streben, ihr Schicksal außerhalb der Allianz ins reine zu bringen. Wenn Amerika seine Konzepte mit den Europäern diskutiert und Vorschläge für gemeinsame Initiativen macht, wird es die atlantischen Verbindungen wieder aktivieren und das Gefühl gegenseitiger Abhängigkeit neu beleben. Dabei sollten die USA nicht fürchten, gelegentlich eine lebhafte Kontroverse zu provozieren. Ein hitziger Dialog ist besser als eine ruhige Scheidung.