Seit der Verabschiedung des neuen Parteiprogramms der KPdSU auf dem XXII. Parteitag (1961) ist es in der Sowjetunion zu einer lebhaften Diskussion um die verschiedenen Aspekte der nationalen Frage gekommen. Ganz im Sinne der im Parteiprogramm verkündeten „neuen Etappe" in der Entwicklung der nationalen Beziehungen in der UdSSR
Die Tendenz zu einer umfassenden Behandlung des Nationsbegriffs im Sinne einer „neuen, zeitgemäßen Begriffsbildung" war von Anfang an mit der Kritik an Stalins Definition aus dem Jahre 1913 verbunden, die bis zu diesem Zeitpunkt unbestritten galt. Schon bald nach dem Erscheinen des neuen Parteiprogramms, im Dezember 1961, forderte das Akademiemitglied E. M. Zukov die Historiker in „Voprosy istorii" auf, die Stalinschen Äußerungen zu diesem Thema gründlich zu überprüfen: „Die seinerzeit'von Stalin formulierten vier Merkmale der Nation können unserer Meinung nach nicht ohne wesentliche Vorbehalte auf die heutigen sozialistischen Nationen ----------------• in der Sowjetunion angewandt werden."
Ob die Partei selbst ein echtes Interesse an der öffentlichen Behandlung eines so zentralen und im innenpolitischen Bereich so heiklen Themas hat, oder ob man darin vor allem ein Entgegenkommen gegenüber einer an der nationalen Frage zunehmend interessierten Öffentlichkeit zu sehen hat, ist schwer zu ermessen
Bemerkenswert und für die Situation in der Sowjetunion bezeichnend ist schließlich auch, daß von der Diskussion keine einheitliche Meinungsbildung erwartet wird. Im Bericht über eine die Diskussion vorbereitende Redaktionssitzung vom Mai 1965, auf der der als Diskussionsgrundlage vorgesehene gemeinsame Aufsatz von P. M. Rogacev und M. A. Sverdlin erörtert wurde, heißt es dazu: „Der verantwortliche Sekretär der Zeitschrift, E. I. Trjapicyn, unterstützte die Auffassung verschiedener Genossen, daß es nicht unbedingt Ziel der Diskussion sei, eine endgültige Bilanz zu ziehen. Wenn sich zwei oder drei Meinungen herauskristallisieren würden, könnte man sie in einem abschließenden Aufsatz darlegen. Das wäre schon ein gewisser Fortschritt."
I. Versuch einer zeitgemäßen Definition
Fast ein halbes Jahrhundert galt diejenige Definition des Nationsbegriffs im Kreise der Bolschewik! und dann in der Sowjetunion unbestritten, die Stalin in seiner Schrift „Nationale Frage und Sozialdemokratie" formuliert hat.
In dieser auf Anregung Lenins 1912/13 entstandenen Arbeit, die Lenin — sehr zum Mißvergnügen der heutigen Kritiker Stalins — mehrfach lobend erwähnt hat, definiert Stalin folgendermaßen: „Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, die durch Gemeinsamkeit der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinsamkeit der Kultur offenbarenden psychischen Eigenart geeint werden. ... Es muß hervorgehoben werden, daß keines der angeführten Merkmale allein zur Begriffsbestimmung der Nation ausreicht. Mehr noch. Fehlt nur eines dieser Merkmale, so hört die Nation auf, Nation zu sein."
Den Versuch, eine solch zeitgemäße Definition zu geben, haben die durch frühere Arbeiten auf diesem Gebiet ausgewiesenen Kandidaten der Philosophie P. M. Rogacev und M. A. Sverdlin (beide an der Hochschule für Kom-* munalwirtschaft in Volgograd) in ihrem Aufsatz „über den Begriff . Nation'" unternommen, der in „Voprosy istorii", Heft 1, 1966, abgedruckt wurde
Demgegenüber wollen Rogacev und Sverdlin einen Nationsbegriff zur Diskussion stellen, der sich auf die „grundlegenden Thesen W. I. Lenins" und die Erfahrungen sowjetischer Wissenschaftler stützt. Ihrer Meinung nach ist vor allem eine Definition des Begriffs Nation in seiner ganzen Spannweite erforderlich, von dem aus dann im Prozeß der Konkretisierung fortgefahren werden kann. Es kommt ihnen also auf diejenigen Merkmale an, „die erstens alle oder fast alle Menschen einer Nation einen und die zweitens in ihrer Gesamtheit die Grundlage für die Unterscheidung der Nationen voneinander wie auch der Nationen von den vornationalen ethnischen Formen der Gemeinschaft bilden". 1. Die Merkmale der Nation An erster Stelle nennen sie die Gemeinsamkeit des wirtschaftlichen Lebens, die sie zugleich zum wichtigsten Unterscheidungsmerkmal der Nation von der ihr geschichtlich vorangehenden Völkerschaft erklären: „Die Nation unterscheidet sich nicht nur dadurch von der Völkerschaft, daß bestimmte Merkmale deutlicher ausgeprägt sind, sondern vor allem durch einen qualitativ anderen Charakter der wirtschaftlichen Gemeinschaft. . . . Damit sich eine Völkerschaft in eine Nation verwandeln kann, müssen sich unbedingt industrielle und auf ihrer Basis kulturelle Zentren bilden, vor allem aber muß eine nationale Arbeiterklasse und Intelligenz entstehen, die die Hauptkräfte für den Zusammenschluß der Nation und für die Entwicklung der Nationalkultur sind."
So seien etwa die Völker in der Sowjetunion, die es vor der Revolution noch nicht zu einer Nation gebracht hatten, in erster Linie vom Gesichtspunkt des ökonomischen Merkmals her in Nationen verwandelt worden. Als Beispiel verweisen die Autoren auf die Kirgisen, die vor der Revolution nicht über eine eigene Großindustrie und nationale Arbeiterklasse verfügt hätten und infolge ihrer wirtschaftlichen Zersplitterung eine Völkerschaft geblieben seien. Erst als der Sozialismus ihnen eine Großindustrie und infolgedessen eine nationale Arbeiterklasse beschert habe, hätten sich nationale Kulturzentren gebildet, und daraufhin seien die Kirgisen zur Nation geworden. Dazu ist allerdings zu bemerken, daß im Zuge des Aufbaus der Industrie der russische Bevölkerungsanteil Kirgisiens (bei einer gegenwärtigen Gesamtbevölkerung von gut 2 Millionen) von 116 000 im Jahre 1926 auf 624 000 im Jahre 1959 angestiegen ist
An zweiter Stelle steht bei Rogacev und Sverdlin die „stabile territoriale Gemeinschaft", das heißt: ohne einheitliches Territorium kann es keine Nation geben. Im Zusammenhang mit diesem Punkt haben die Verfasser einige Bemerkungen über das Verhältnis von Territorium, Staat und Nation gemacht, die in ihrem Aufsatz zwar nur einen Absatz ausmachen, die aber in der folgenden Diskussion in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gerückt sind. Schon im Entwurf zu ihrem Aufsatz, der im Mai 1965 auf einer Sitzung der Redaktion der „Voprosy istorii" dis-kutiert worden war, hatten Rogaev und Sverdlin von der „territorialen Gemeinsamkeit in den Grenzen eines Staates" gesprochen, was heftig kritisiert worden war
An dritter und nicht wie bei Stalin an erster Stelle rangiert die Gemeinsamkeit der Sprache. Zwar wird eingeräumt, daß die Gemeinsamkeit der Sprache auch schon ein Merkmal der vor-nationalen ethnischen Gemeinschaften gewesen sei; aber hier bestehe doch ein wesentlicher Unterschied: „In der Nation hat die National-sprache in der Regel das Übergewicht gegenüber den Dialekten, wobei es unbedingt eine Literatursprache gibt. Für die Völkerschaft ist das nicht in dem Maße charakteristisch." Während es die Merkmale Wirtschaft, Territorium und Sprache auch bei Stalin gab, wird als viertes Merkmal das „Bewußtsein der ethnischen Zugehörigkeit" neu eingeführt. Dieser neue Begriff wird sofort gegen das „Nationalbewußtsein" abgegrenzt, dem „der Marxismus-Leninismus als einem Element der Ideologie zwar große Bedeutung beimißt", das aber in der Definition des Nationsbegriffs deshalb unangebracht ist, weil es nach marxistischer Auffassung in den in Klassen gespaltenen bürgerlichen Nationen kein gesamtnationales Bewußtsein, keine „Nationalideologie", sondern nur „Klassenideologien" gibt. Um aber das „elementare Bewußtsein, einer bestimmten Gemeinschaft anzugehören", in der Definition des Nationsbegriffs zu berücksichtigen, sich gleichzeitig aber gegen die bürgerliche Auffassung der Nation abzugrenzen, soll das „Bewußtsein der ethnischen Zugehörigkeit" als Merkmal der Nation gelten. Dies jedoch nur, „wenn es im untrennbaren Zusammenhang mit der wirtschaftlichen, territorialen und sprachlichen Gemeinsamkeit sowie mit anderen Merkmalen betrachtet wird". Denn für sich genommen, so wird richtig bemerkt, ist dieses Bewußtsein auch schon ein Merkmal aller vor-nationalen „ethnischen Gemeinschaften".
Die im Zusammenhang mit dem Nationalbewußtsein bereits angedeuteten Klassengegensätze innerhalb der bürgerlichen Nation wirken sich nach Meinung der Autoren in erster Linie auf die geistige Physiognomie aus, da hier besonders deutlich „die nationale Gemeinsamkeit hinter der Klassengemeinsamkeit zurücktritt". Angesichts der auf Lenin zurückgehenden Lehre von den zwei Kulturen innerhalb der bürgerlichen Nation kann es etwa die als fünftes Merkmal genannte „Gemeinsamkeit der geistigen Physiognomie" (duchovnyj oblik) in echter Form nur bei „sozialgleichartigen", das heißt bei sozialistischen Nationen geben, da das Wichtigste an der geistigen Physiognomie angeblich die Klassen-charakter tragende Weltanschauung ist. In eine allgemeine Definition des Nationsbegriffs kann dieses Merkmal also nur mit Vorbehalten ausgenommen werden. Auch hinsichtlich der „psychischen Eigenart", von der Stalin sprach, verhalten sich Rogacev und Sverdlin sehr zurückhaltend. Sie ziehen es vor, hier noch vorsichtiger von „gewissen nationalen Besonderheiten des Charakters" zu sprechen, „die im Prinzip faßbar sind und sich außerdem nicht nur in der Kultur nachweisen lassen". Hier wird also expressis verbis vom National-charakter gesprochen, wenn auch das Wort als „zu vage" (!) abgelehnt wird. Im übrigen wird versichert, daß die psychischen Besonderheiten zwar erwähnt werden sollten, im Leben einer Nation aber keine entscheidene Rolle spielten.
Als letztes Merkmal, das bei der Definition des Nationsbegriffs angeblich nicht fehlen darf, wird schließlich der Begriff der Tradition genannt, von dem es heißt: „Mit Hilfe dieses Begriffs läßt sich der Unterschied zwischen den wahrhaft nationalen, dauerhaften Zügen des geistigen Lebens und allem, was zeitlich bedingt, vorübergehend, mit einem Wort für die nationale Gemeinschaft nicht charakteristisch ist, unterstreichen. . . . Unter nationalen Traditionen, die die nationale Gemeinschaft festigen, sind progressive Traditionen zu verstehen, auf die sich alle gesunden Kräfte der Nation stützen." Solche Traditionen, die ohne Rücksicht auf die Klassengegensätze dem ganzen Volk gemeinsam sind, hat man im Bereich der Traditionen der Lebensweise (byt), der Kultur und des Befreiungskampfes zu suchen. Bei den letzteren ist offenbar ebensosehr an den „Großen vaterländischen Krieg" gedacht, der heute als die bedeutende gemeinsame Befreiungstat des Sowjetvolkes gilt, wie an die jungen Staaten Asiens und Afrikas, bei denen der gemeinsame Befreiungskampf oft eines der wenigen einigenden Momente darstellt.
Alle diese Erklärungen zusammenfassend, stellen Rogacev und Sverdlin schließlich folgende Definition des Nationsbegriffs zur Diskussion: „Die Nation ist eine historisch entstandene Gemeinschaft von Menschen, die durch stabile Gemeinsamkeit des wirtschaftlichen Lebens (bei Existenz einer Arbeiterklasse), des Territoriums, der Sprache (insbesondere der Literatursprache), des Bewußtseins der ethnischen Zugehörigkeit wie auch gewisser Besonderheiten der Psyche und der Traditionen der Lebensweise, der Kultur sowie des Befreiungskampfes charakterisiert wird.“ Und erklärend wird hinzugefügt: „Jedes Merkmal stellt sich in der Regel für die gesamte Nation einheitlich dar. Eine Nation muß sich in dem jeweiligen Merkmal nicht unbedingt von einer anderen Nation oder von vornationalen Gemeinschaften unterscheiden. Die Gesamtheit der Merkmale macht die Nation jedoch unbedingt in diesem oder jenem Maße zu einer spezifischen, relativ gesonderten Einheit."
Persönlichkeitskults eine kleine Interpolation vorgenommen hat. Darauf deutet auch die Tatsache hin, daß etwa der politische Bericht des Zentralkomitees auf dem XVI. Parteitag (1930) in der Fassung, in der er 1949 im XII. Band der Werke Stalins abgedruckt wurde, um einen die sozialistischen Nationen betreffenden Satz bereichert wurde, der in der ursprünglichen Fassung nicht enthalten war
Abgesehen von diesen Feinheiten sowjetischer Begriffsgeschichte wurden die beiden Typen zur Stalinzeit folgendermaßen unterschieden: Die ökonomische Grundlage der bürgerlichen Nation ist das kapitalistische Wirtschaftssystem, das auf Ausbeutung beruht und den Klassenkampf zur Folge hat, der dafür sorgt, daß die bürgerlichen Nationen keine innerlich geschlossenen Nationen sind. Die herrschenden Kreise suchen von den inneren Gegensätzen durch Aggressivität nach außen abzulenken; daher die Feindschaft zwischen den bürgerlichen Nationen. Die ökonomische Grundlage der sozialistischen Nation ist das sozialistische Eigentum und das sozialistische Wirtschaftssystem, das die Klassengegensätze beseitigt und zur Interessengemeinschaft der Arbeiterschaft, der Kolchosbauernschaft und der werktätigen Intelligenz und somit zur innerlichen Geschlossenheit der sozialistischen Nation führt. Die innere Einigkeit bedingt die Einigkeit zwischen den verschiedenen sozialistischen Nationen, die in voller Gleichberechtigung zusammenleben
Diese einfache Gegenüberstellung von bürgerlich-kapitalistischen und sozialistischen Nationen, die vielleicht noch den politischen Verhältnissen der letzten Jahre Stalins angemes-sen war, hat siqh indessen angesichts der Auflösung der ehemaligen Kolonialreiche und der Entstehung zahlreicher neuer Staaten und Nationen als unbrauchbar erwiesen. Die neuen Verhältnisse zwangen dazu, das vorhandene Schema flexibler zu gestalten, und dieser Aufgabe haben sich Rogacev und Sverdlin mit besonderer Sorgfalt unterzogen. Sie schlagen folgende Differenzierung vor: „Den einen Typ bilden die sozial-ungleichartigen Nationen unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus, den anderen die sozial-gleichartigen Nationen, die sich im Sozialismus entwickeln. Die Nationen, die dort entstehen, wo das imperialistische Kolonialsystem zusammengebrochen ist, kann man zu einem eigenartigen Übergangstyp rechnen."
Interessanter aber ist für uns, wie die Übergangsnationen charakterisiert werden, die sich „unter den Bedingungen des Befreiungskampfes formieren". Ihre Klassendifferenzierung ist noch so schwach ausgebildet und ihre Produktionsverhältnisse sind so verschiedenartig, daß sie keinem der beiden Grundtypen zugerechnet werden können. Wichtig ist deshalb der Hinweis, daß „der Begriff . Übergangsnation'nicht nur etwas über das Entwicklungsniveau aussagt, sondern auch die Tatsache bezeichnet, daß der weitere Weg noch nicht klar bestimmt ist. Nachdem der Weg feststeht, verwandelt sich die Übergangsnation in eine Nation einer der beiden Grundtypen." Das heißt aber, daß eine Grundsatzentscheidung der jeweiligen Führer der betreffenden Nation bereits genügt, sie in eine sozialistische oder bürgerliche Nation zu verwandeln. Diese Theorie ermöglicht es den Sowjets, etwa arabische Nationen wie die Ägypter auch dann schon als sozialistische zu bezeichnen und damit in ein engeres Verhältnis zur Sowjetunion zu bringen, wenn diese noch meilenweit vom Sozialismus entfernt sind und das dort praktizierte Wirtschaftssystem nur schwerlich als sozialistisch identifiziert werden kann.
Da schließlich außer der wirtschaftlichen auch die sprachliche Gemeinsamkeit, ja gelegentlich selbst eine einheitliche ethnische Zusammensetzung bei den Übergangsnationen fehlt, kommt auch in der sowjetischen Theorie an dieser Stelle das so verpönte Nationalbewußtsein als nahezu einziges Merkmal dieser Nationen zu Ehren: „Hierbei handelt es sich nicht, nur um das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu der betreffenden Nation, sondern auch um das Bewußtsein, daß die Mehrheit der Nation im Befreiungskampf weitgehend gemeinsame Interessen besitzt. Für die Übergangsnationen ist die Tatsache entscheidend, daß sich der Haupt-feind außerhalb der Nation befindet. Unter diesen Bedingungen dient das Nationalbewußtsein, das einen stark ausgeprägten antikolonialen, antiimperialistischen Charakter annimmt, als ein Mittel, das die Nation zusammenschweißt."
Ein ähnliches Beispiel bietet etwa die These vom nichtkapitalistischen Entwicklungsweg, der direkt vom Feudalismus in den Sozialismus führt. Galt dieser nichtkapitalistische Entwicklungsweg zunächst als auf die Sowjetunion beschränkte Ausnahmeerscheinung, so wurde er zu Beginn der sechziger Jahre zur allgemein geltenden Theorie erhoben, wobei man zugunsten der Erleichterung der sowjetischen Einflußnahme auf die Entwicklungsländer mit der bis dahin geltenden sowjetischen Formationstheorie brach
II. Die Diskussion
Vergleicht man nun diesen Versuch zu einer neuen Begriffsbildung mit der Definition Stalins, so ergibt sich, daß Rogacev und Sverdlin zwar verschiedene wichtige Ergänzungen bringen, in den wesentlichen Punkten aber kaum von Stalin abweichen. Dies ist auch in der folgenden Diskussion immer wieder unterstrichen worden, wobei solche Teilnehmer, die mit Stalins Definition nach wie vor zufrieden sind, hinzuzufügen pflegen, daß das auch gar nicht anders sein könne, da sich Stalin bei der Formulierung seines Nationsbegriffs ja ganz von den Hinweisen Marx', Engels'und Lenins habe leiten lassen
Von den weiteren von Rogacev und Sverdlin vorgeschlagenen Merkmalen ist das „Bewußtsein der ethnischen Zugehörigkeit" fast allgemein akzeptiert worden. Allein Professor I. P. Camerjan, Mitarbeiter des Philosophischen Instituts der Akademie der Wissenschaften, der die Stalinsche Definition von 1913 am nachdrücklichsten verteidigt, lehnt diese Ergänzung mit der Begründung ab, daß es sich bei dem „Bewußtsein der ethnischen Zugehörigkeit" nur um eine subjektive Widerspiegelung der objektiven Existenz der nationalen Gemeinschaft im Bewußtsein des Menschen handele, „eine subjektive Widerspiegelung (ein Element des Bewußtseins) aber nicht in eines der Grundmerkmale des widergespiegelten Objekts (der Nation) verwandelt werden kann
Bis auf den Dozenten an der philosophischen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität, S. T. Kaltachcjan, sind sich aber alle Diskussionsteilnehmer darin einig, daß diese Merkmale in irgendeiner Form in der Definition des Begriffes Nation angesprochen werden müssen. Kaltachcjan seinerseits will in einer allgemeinen Definition des Nationsbegriffs überhaupt nur die schon bei Stalin vorhandenen Merkmale (Sprache, Territorium, Wirtschaft) sowie das neu hinzukommende „Bewußtsein der ethnischen Zugehörigkeit" gelten lassen und lehnt alle anderen Merkmale, besonders „die sich in der Gemeinsamkeit der Kultur offenbarende psychische Eigenart"
Da aber Sprache, ethnisches Territorium und ethnisches Selbstbewußtsein als Merkmale der ethnischen Gemeinschaft bei deren Entwicklung von der Stammesgemeinschaft über die Völkerschaft bis zu ihrer letzten Stufe, der Nation, nicht verlorengehen, liegen die entscheidenden Unterschiede zwischen diesen Typen auf sozialökonomischem Gebiet
Als einer der ersten hat. im November 1965 der Leiter des Lehrstuhls für Literatur der Völker der UdSSR an der Dagestanischen Universität, A. G. Agaev, dieses Problem aufgegriffen
Der entscheidende Unterschied zu den sowjetischen Nationen besteht also darin, daß die sowjetischen Völkerschaften es nicht zu einer eigenen Industrie und damit verbundenen „Kulturzentren", also Städten, gebracht haben, was allerdings auch im Zeichen des Sozialismus keineswegs immer in ihrem Belieben stand. Bekanntlich hat die sowjetische Nationalitätenpolitik noch nie die Tendenz gezeigt, mehr Zugeständnisse als unbedingt nötig zu machen, und nötig waren sie gegenüber den sowjetischen Völkerschaften schon deshalb nicht, weil diese zahlenmäßig zu gering sind.
In der Sowjetunion, so bemerkt auch Agaev, gibt es keine, ein zusammenhängendes Territorium bewohnende Gruppe, die es bei einer Bevölkerung von 300 000— 400 000 nicht zur Nation gebracht hätte. Die größte sowjetische Völkerschaft bilden heute die Avarcen mit 270 000 Personen. Der Hinweis auf die mangelnde zahlenmäßige Stärke der sowjetischen Völkerschaften als Hinderungsgrund für ihre Nationswerdung scheint jedenfalls plausibler als der Hinweis auf die ihnen fehlende Industrie und eine ihr entsprechende Wirtschaftsform. Der schon erwähnte Dunusov geht nun in der gegenwärtigen Diskussion noch einen Schritt weiter und fordert unter Hinweis auf die Existenz von Völkerschaften auch im Sozialismus eine stärkere Berücksichtigung der Selbständigkeit ethnischer Prozesse:'„Die Erfahrung, daß sich im Sozialismus Völkerschaften weiterentwickeln, hat allen Anlaß zur Revidierung der Vorstellung gegeben, wonach mit dem Ende der vorkapitalistischen Formen der Klassengesellschaft auch alle vornationalen Typen ethnischer Gemeinschaften von Menschen verschwinden. Diese Vorstellung rechnete nicht mit der Tatsache, daß die ethnischen Prozesse zwar unter Einwirkung der sozialökonomischen Entwicklung stehen, aber doch, wie bereits bemerkt wurde, relative Selbständigkeit besitzen."
Dzunusov ist daher der Meinung, daß die Ursache dafür, daß viele Völkerschaften in der UdSSR auch in der Periode des Übergangs zum Kommunismus bestehenbleiben, „in Erscheinungen zu suchen ist, die nichts mit dem Wesen des Sozialismus zu tun haben: . . . Wenn wir die Ursachen dafür erforschen, daß die Völkerschaften unter den Bedingungen des Sozialismus bestehenbleiben, treten bald die geringe Zahl von Angehörigen dieser ethnischen Gebilde, bald die natürlichen und geographischen Bedingungen in den Vordergrund, bald wirken diese Ursachen zusammen, wie etwa bei den Völkerschaften des Nordens in der UdSSR.
Diese über 20 Völkerschaften des Nordens bilden nur 0, 06 Prozent der Bevölkerung der UdSSR. In Dagestan, wo mehr als ein Drittel aller ethnischen Gebilde unseres Landes konzentriert ist, leben nur 0, 45 Prozent der Gesamtbevölkerung." Vergleichsweise sei darauf hingewiesen, daß die 21 größeren Nationen der UdSSR zusammen 94, 3 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Das sozialistische System aber bietet -nach Dzunusovs Auffassung allen Völkerschaften die Möglichkeit, in Nationen hinüberzuwachsen, wofür etwa die Bildung so kleiner Nationen wie die der Burjäten (253 000), der* Jakuten (273 000), der Kabardiner (204 000), der Karakalpaken (172 000), der Kalmyken (106 000) und der Tuwinen (100 000) Zeugnis ablegten. Diese unterschieden sich ebenso wie die großen Nationen von den Völkerschaften, aber „nicht durch Charakter und Entwicklungsniveau der sozialistischen Gesellschaftsbeziehungen, sondern durch das ethnische Entwicklungsniveau". Allerdings ist Dzunusov zuversichtlich, daß diese und alle anderen Unterschiede in zunehmendem Maße in einer neuen, höheren menschlichen Gemeinschaft aufgehoben werden — im alle sowjetischen Nationen und Völkerschaften umfassenden Sowjetvolk.
Uber den Weg der „sozialistischen Völkerschaften" zu diesem Endziel hat der bereits genannte A. G. Agaev in einem besonderen Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion einige interessante Angaben gemacht
Als erster griff der Mitarbeiter des Instituts für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, P. G. Semenov, dieses Thema auf: „Nach unserer Ansicht verdient die Frage nach dem Verhältnis von Nation und nationaler Staatlichkeit besonders ernsthafte Beachtung, vor allem hinsichtlich der UdSSR, wo es gegenwärtig 53 Nationalstaaten und nationalstaatliche Gebilde gibt, und zwar 15 Unionsrepubliken, 20 autonome Republiken, 8 autonome Gebiete und 10 nationale Kreise."
Trotz der auch für die nächste Zukunft zu erwartenden aufsteigenden Entwicklung der sowjetischen Nationen ist Semenov aber der Meinung, daß sich ihre nationale Staatlichkeit nicht wie bisher in der gleichen Richtung entwickeln und sich mithin nicht als Merkmal der sozialistischen Nation erweisen werde: „Ungeachtet dessen, daß alle in geschlossenen Räumen lebenden Nationen in der UdSSR ihre eigene nationale Staatlichkeit besitzen, ist die Existenz einer sozialistischen Nation prinzipiell auch ohne nationale Staatlichkeit möglich." Zwar sei der Aufbau der staatlichen Ordnung in der ersten Entwicklungsperiode des Sowjetstaates in bedeutendem Maße von der nationalen Frage beeinflußt worden, der vollständige und endgültige Sieg des Sozialismus aber habe diesen Einfluß stark abgeschwächt. Semenov ist davon überzeugt, daß die neuen Erfolge der sowjetischen Nationalitätenpolitik diesen Einfluß völlig beseitigen werden: „Diese Tendenz wird auch die zukünftige Entwicklung der nationalen Staatlichkeit in der UdSSR bestimmen, die sich in Form einer erlöschenden Kurve vollziehen wird, im Unterschied zur Entwicklung der sowjetischen Nationen, denen auch im vollentwickelten Kommunismus ein langer Weg bis zur Verschmelzung bevorsteht. . . . Die Nationen werden weiterbestehen, die nationale Staatlichkeit in der UdSSR aber wird absterben. ... Es kann sich nur noch um die Formen und das Tempo ihres Absterbens handeln."
Eine solche „Provokation" konnten die Vertreter der Nationalitäten nicht auf sich sitzen lassen. Schon im nächsten Diskussionsbeitrag hielt der Dozent für Philosophie und Geschichte der KPdSU, M. O. Mnacakanjan, offenbar ein Armenier, Semenov entgegen, man könne aus Äußerungen von Marx, Engels und Lenin entnehmen, daß der Nationalstaat erstens ein wichtiger Faktor für die normale Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsbeziehungen und zweitens ein „wichtiges konstituierendes Element, ein Kennzeichen der Nation" sei. Das beweise im übrigen auch die Geschichte, denn „die Analyse der Entwicklung der geschichtlichen Ereignisse von der Entstehungsperiode des Kapitalismus bis in unsere Tage erlaubt es festzustellen, daß keine Nation der Welt auf lange Sicht ihrer Staatlichkeit beraubt werden konnte. Nationen, die bereits ihre eigene Staatlichkeit besessen und diese durch Aggressionskriege verloren hatten, führten einen zähen nationalen Befreiungskampf, um ihre Staatlichkeit wiederzuerlangen." Mnacakanjan sieht im übrigen in der nationalen Staatlichkeit geradezu die Voraussetzung für die Herausbildung der Nationen, die diesem Prozeß erst „seinen bewußten, planmäßigen Charakter" verleiht.
Vor allem aber wendet sich Mnacakanjan gegen die verschiedentlich von Semenov vertretene These, „daß gegenwärtig eine Denationalisierung'der autonomen, ja sogar der Unionsrepubliken vor sich gehe, daß , das Interesse der Nationen an der Form ihrer nationalstaatlichen Organisation notwendigerweise immer schwächer werden müsse'und daß die völlige staatsrechtliche Verschmelzung der Nationen eine Frage der absehbaren Zukunft sei"
Mnacakanjan beschließt seine Polemik mit einem für die innersowjetischen nationalen Beziehungen bezeichnenden Aufruf an die Großrussen vom Schlage Semenovs: „Die* Herabsetzung der Rolle der nationalen Staatlichkeit im allgemeinen und der sowjetischen im besonderen ist nicht dazu angetan, die weitere Festigung der Freundschaft unter den Völkern der UdSSR, die Festigung der Einheit des sozialistischen Systems und die ideologisch-politische Eroberung der Massen sowohl in den entwickelten kapitalistischen Staaten als auch in den jungen Ländern, die sich von der kolonialen Unterdrückung befreit haben, zu fördern. Sogar die allgemeine Charakteristik der nationalen Staatlichkeit'zeigt, daß sie ein nicht wegzudenkendes Element der sozialistischen Nationen ist, daß diese beiden Begriffe nicht voneinander zu trennen sind und daß sie voneinander zu trennen bedeuten würde, das Wesen dieser Nationen zu entstellen."
Wir haben es hier also mit sehr verschiedenen Auffassungen zu tun: einmal die Auffassung, daß der Nationalstaat überhaupt kein Merkmal der Nation ist, zum anderen, daß der Nationalstaat ein Merkmal der sozialistischen Nation ist, und schließlich, daß der Nationalstaat ein Merkmal jeder Nation ist, wie es bei Mnacakanjan anklingt. Für uns dürfte in diesem Zusammenhang jedoch der Standpunkt eines anderen sowjetischen Wissenschaftlers, des Mitarbeiters des ethnographischen Instituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, V. I. Kozlov, von besonderem Interesse sein, der auf Grund einer Untersuchung über die Entstehung der europäischen, amerikanischen, afrikanischen und asiatischen Nationen zu dem vorsichtig formulierten Schluß kommt, daß die politischen bzw. staatlichen Verhältnisse für die Herausbildung der Nationen möglicherweise viel wichtiger waren als wirtschaftliche Faktoren
Kozlov fährt fort: „Eine Analyse des Begriffs wirtschaftliche Gemeinsamkeit führt zu dem Schluß, daß diese Gemeinsamkeit nicht so sehr der Nation als vielmehr dem Staat eigen ist, und daß sie nicht durch nationale, sondern durch politische Grenzen bestimmt wird .. . Der spezifische Charakter der Formierung von Nationen in verschiedenen Ländern der Welt. . . wird hauptsächlich von der Wechselwirkung sprachlich-territorialer und staatlich-politischer Elemente bestimmt."
Nach Meinung Kozlovs gilt dies in noch stärkerem Maße für die in der Sowjetunion vereinten Nationen: „Es wäre doch seltsam, wenn man heute irgendeine tatarische oder sagen wir baschkirische wirtschaftliche Gemeinsamkeit suchen würde, die sich von der wirtschaftlichen Gemeinsamkeit der russischen Bevölkerung des gleichen Gebiets unterscheiden würde." Wohl besäßen die Unions-und autonomen Republiken noch eine gewisse wirtschaftliche Gemeinsamkeit, doch beziehe sich diese nicht auf eine Nation allein, sondern auf alle in ihrem Gebiet wohnenden Völker, und im übrigen trete sie hinter der wirtschaftlichen Gemeinschaft im Unionsmaßstab immer mehr zurück. Aus diesen Gründen ist Kozlov der Meinung, daß die wirtschaftliche Gemeinsamkeit nicht ein Merkmal aller Nationen sei und folglich nicht in eine allgemeine wissenschaftliche Definition des Nationsbegriffs gehöre.
Seine Stellungnahme zum Verhältnis von Staat und Nation formuliert er, offenbar um im Zusammenhang mit seiner Ablehnung des wirtschaftlichen Merkmals nicht mißverstanden zu werden, sehr vorsichtig: „Das Vorhandensein eines eigenen Staates oder einer bestimmten Form der Autonomie ist anscheinend auch kein unbedingt notwendiges Kennzeichen der Nation, doch die Rolle des Faktors Staat bei der Herausbildung der Nationen und das Streben der Nationen nach einer politisch-territorialen Formgebung ist so groß, daß in der Praxis bei der Beantwortung der Frage, ob ein bestimmtes Volk eine Nation ist, gewöhnlich gerade das Vorhandensein solcher staatlichen Gebilde oder auf territoriale Autonomie ausgehender national-politischen Bewegungen als Zeichen dafür gelten, daß wir es mit einer entstehenden oder schon konstituierten Nation zu tun haben."
Zum gleiche Ergebnis kommt der Ethnograph B. V. Andrianov in einer sehr gründlichen Untersuchung der afrikanischen Verhältnisse: „Es ist unzweifelhaft, daß im Verlauf der antikolonialen Revolution, die Völker ohne Unterschied der Stammeszugehörigkeit, der Sprache und der Kultur vereinigte, die Grundlagen für ein einheitliches Staats-und Nationalbewußtsein gelegt und die Konturen nationalpolitischer Gemeinschaften — zukünftiger Nationen — sichtbar wurden."
Da das „Bewußtsein der ethnischen Zugehörigkeit" auf die Dauer dem internationalistischen Bewußtsein, ein Sowjetmensch zu sein, Platz macht
Immerhin ist es interessant festzustellen, daß die gleichen Merkmale, die eben noch die Nation charakterisierten, nun auch für ein Volk, das im Entstehen begriffene Sowjetvolk, gelten. Man ist unwillkürlich geneigt zu fragen, ob es sich beim sowjetischen Nationsbegriff, wenigstens bei den bisherigen konkreten Versuchen, ihn zu definieren, nicht doch in erster Linie um die Definition eines Volksbegriffs handelt, namentlich dann, wenn der Nationalstaat nicht als Merkmal der Nation anerkannt wird. Andernfalls müßte man im Sowjetvolk der Zukunft ja eine Art Super-nation, etwa nach amerikanischem Vorbild, sehen. Diese und ähnliche Probleme und Schwierigkeiten haben auch in der Sowjetunion gelegentlich die Frage laut werden lassen, ob es denn überhaupt sinnvoll sei, einer allgemeinen Definition des Nationsbegriffs nachzujagen, deren wissenschaftlicher Wert ohnehin umstritten sei, und ob man nicht besser gleich „differenzierte Definitionen" des Begriffs „Nation" suchen sollte
III. Der sowjetische Nationsbegriff und die Entwicklungsländer
An diesem Punkt setzt auch die innersowjetische Kritik am bisherigen Verlauf der Diskussion und ihren Ergebnissen ein, die bezeichnenderweise aus dem Kreis jener Fachleute kommt, die sich mit den Problemen der sogenannten Entwicklungsländer, insbesondere mit den Völkern Asiens und Afrikas beschäftigen. Wie wir bereits im Kapitel „Nation und Nationalstaat" gesehen haben, sahen sich die Ethnographen V. I. Kozlov und B. V. Andrianov gezwungen, angesichts der afrikanischen Verhältnisse die besondere Rolle des Staates bei der Entstehung der Nationen auf diesem Kontinent zu unterstreichen, neben dem Andrianov nur noch den Antikolonialismus, daß heißt den Befreiungskampf, der die verschiedenen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppen eint, als formendes Element gelten lassen will
(Völker Asiens und Afrikas) zu dem wesentlich radikaleren Schluß, daß man im Grunde zwischen der Definition des Begriffs Nation und echter Erkenntnis der Wirklichkeit zu wählen habe
Semenov ist der Meinung, daß die Diskussion solange nur wirklichkeitsferne Varianten des traditionellen Nationsbegriffs hervorbringen werde, solange die Teilnehmer der Diskussion die Nationstheorie auf die Formulierung des Begriffs Nation reduzierten und zu dessen Bestimmung eine kleinere oder größere Anzahl von Merkmalen aufzählten, die der Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht standhielten. So habe man sich etwa angewöhnt, von einer guineischen, malischen, ghanaischen, kongolesischen oder indonesischen Nation zu sprechen, obwohl die in diesen Ländern wohnenden Bevölkerungsgruppen keinerlei sprachliche oder kulturelle Gemeinsamkeit besitzen und mithin keine der bisher vorgebrachten Definitionsvarianten auf sie anwendbar ist. Trotzdem wage niemand zu erklären, daß es sich hier nicht um Nationen handele, wofür Semenov vor allem politische Gründe verantwortlich macht: „Wenn man nämlich nicht von einer guineischen, malischen oder anderen ähnlichen Nationen sprechen kann, dann kann man auch nicht den Kampf der Bevölkerung dieser Länder als nationalen Befreiungskampf charakterisieren. Daß es sich hier aber um einen nationalen Befreiungskampf handelt, gilt ja als unumstößliche Tatsache." Jedoch nicht nur hinsichtlich Afrikas und Asiens fühlt sich Semenov von den verschiedenen Varianten des sowjetischen Nationsbegriffs im Stich gelassen: Er fragt etwa nach der polnischen Nation zur Zeit der Teilungen, nach den 5, 5 Millionen Italienern und den 800 000 Franzosen, die in den USA leben, nach den 800 000 Deutschen und 480 000 Ukrainern, die in Kanada leben usf. Und Semenov schließt den Katalog der ungelösten Probleme mit der lapidaren Feststellung: „Unserer Meinung nach ist nicht eine Berichtigung und Modernisierung der bestehenden Definition des Begriffes Nation, sondern eine entschiedene Absage an alle Definitionen dieser Art notwendig, weil sie scholastischen Charakter tragen." Semenov geht es also nicht um eine generelle Begriffsbildung, sondern um die Erkenntnis jener Prozesse, die zur Entstehung der Nationen in ihrer verschiedenartigen Gestalt führen. Dabei erscheint ihm zunächst einmal die Einsicht wichtig, daß die offenbar allenthalben akzeptierte These, wonach die Begriffe Nation und ethnische Gemeinschaft mehr oder weniger identisch seien, falsch ist
Da die Nation nach Semenovs Auffassung also in erster Linie eine politische Größe ist, sieht er den Schlüssel zum Verständnis ihrer Entstehung in der Kategorie „sozialer Organismus". Unter einem sozialen Organismus versteht er eine „gesonderte, konkrete Gemeinschaft, die sich mehr oder weniger unabhängig von anderen ähnlichen Gemeinschaften entwickelt. Soziale Organismen gehören gewöhnlich in vergleichsweise große Systeme, die man ihrerseits als Systeme höherer Ordnung bezeichnen kann." Als Beispiel führt Semenov u. a. das mittelalterliche Deutschland an, das kein sozialer Organismus, sondern eine Art Föderation sozialer Organismen wie etwa Bayerns, Sachsens, Thüringens usf. war. Eine solche Föderation sozialer Organismen kommt dann zustande, wenn sich innerhalb dieses oder jenes Systems sozialer Organismen Kräfte entfalten, die auf seine Umwandlung in einen einheitlichen sozialen Organismus hinwirken: „Von dem Augenblick an, da die Tendenz zur Vereinigung für die Dauer die Oberhand über die Tendenz zur Absonderung gewinnt, haben wir es schon nicht mehr mit einer Föderation sozialer Organismen, sondern mit einem einzigen sozialen Organismus zu tun, wenn dieser auch zunächst noch föderativ ist und aus Suborganis-men besteht. Mit dem völligen Verschwinden der Tendenz zur Absonderung verwandelt sich der föderative soziale Organismus in einen unitarischen sozialen Organismus."
In wiederum besonderer Weise vollzieht sich in den Augen Semenovs die Entwicklung in Afrika südlich der Sahara. Hier hätten die Kolonialherren zwar vom ethnischen Standpunkt aus völlig unsinnige Grenzen gezogen, doch hätten diese Grenzen heute hervorragende Bedeutung erlangt. Denn im Bereich aller sich innerhalb dieser Grenzen formierenden sozialen Organismen sei es schließlich zu einer politischen Bewegung gekommen, die diesen Organismus als ihr Vaterland betrachtet und nach seiner Befreiung gestrebt habe, wobei nicht die ethnische Zugehörigkeit, sondern die Zugehörigkeit zur „Stammbevölkerung" des jeweiligen Gebiets das wichtigste Kriterium gewesen sei: „Als Ergebnis entstanden Nationen, die aus Menschen bestehen, die den allerverschiedensten ethnischen Gemeinschaften angehören. Ihre Zukunft hängt davon ab, inwieweit die Rechtsgleichheit der, Angehörigen der verschiedenen ethnischen Gemeinschaften auf die Dauer gesichert wird. Wenn sich die Praxis einer Diskriminierung auf ethnischer Grundlage entwickeln wird, wird das innerhalb des sozialen Organismus unausweichlich die Bildung mehrerer Nationen auf ethnischer Grundlage zur Folge haben."
In diesem Zusammenhang weist Semenov schließlich noch auf solche ethnischen Gemeinschaften hin, die in anderen ethnischen Gemeinschaften verstreut leben, wie etwa die Juden außerhalb Israels, die Semenov aber nicht ausdrücklich erwähnt. Insofern Angehörige solcher ethnischen Gemeinschaften diskriminiert und unterdrückt werden, formieren sie sich auf der Grundlage ethnischer Zugehörigkeit zum Widerstand. Dennoch sind sie nach Meinung Semenovs keine Nation im eigentlichen Sinne, da sie nicht nach der Bildung eines selbständigen sozialen Organismus streben und auf Grund ihrer Zerstreutheit auch nicht streben können. Ihr Kampf hat also nicht ein eigenes Vaterland, sondern die Rechtsgleichheit mit den übrigen Angehörigen des existierenden sozialen Organismus zum Ziel. Als Beispiel für eine solche Bewegung nennt Semenov die Bewegung der Neger in den USA. Zwar wäre es zu einer Zeit, als die Masse der Neger noch im Süden der USA lebte, nicht ausgeschlossen gewesen, daß sie eine eigene und von der amerikanischen Nation verschiedene Nation gebildet hätten, doch sei eine solche Möglichkeit heute, da die Neger über das ganze Land verstreut leben, nicht mehr denkbar: „Die amerikanischen Neger haben kein anderes Vaterland als die USA, und in diesem Sinne muß man von ihnen als von einem Teil der amerikanischen Nation sprechen." Solange sie aber diskriminiert würden, bildeten sie eine Bewegung, die ihre eigenen Interessen hat, die sich von den Interessen der übrigen amerikanischen Nation unterschieden. Immerhin schließt Semenov seine Ausführungen zur Negerfrage in den USA mit der bemerkenswerten Feststellung, daß die Neger nur um Rechtsgleichheit und endgültige Aufnahme in die amerikanische Nation kämpfen und nicht den Wunsch haben, in Zukunft eine besondere politische Kraft, bzw. eine besondere ethnische Gemeinschaft zu bilden.
Die Bilanz der Untersuchung Semenovs ist sicher besser als die Definitionsversuche der Diskussionsteilnehmer in „Voprosy istorii" dazu geeignet, den Realitäten der Gegenwart — und nicht nur der Gegenwart — gerecht zu werden: „Zieht man Bilanz, dann kann man sagen, daß die Nation immer eine politische Kraft besonderer Art ist, die sich im Kampf um die Umgestaltung eines bestehenden oder die Schaffung eines neuen sozialen Organismus formiert, wobei dieser Kampf als Kampf für die Interessen des Vaterlands oder für die Befreiung des Vaterlands von fremder Unterdrückung begriffen wird. Im weiteren erweist sich die Nation als eine politische Kraft, die die Interessen eines bestimmten sozialen Organismus vertritt, die sie als ihre eigenen, als die Interessen des Vaterlands versteht. Der soziale Organismus ist immer eng mit einem bestimmten Territorium verbunden und kann ohne dieses nicht existieren. Deshalb setzt die Existenz der Nation die Existenz des Territoriums voraus, das sie für ihr eigenes hält, das sie für ihr von anderen nationalen Vaterländern deutlich unterschiedenes Vaterland hält."
Dieser Versuch Semenovs zur Beschreibung des Phänomens Nation unterscheidet sich von allen früheren Definitionsversuchen besonders durch seine aus der Geschichte der Nation gewonnene Anerkennung des Staates — denn „sozialer Organismus" bedeutet ja zumindest hinsichtlich der Neueren Geschichte nichts anderes als Staat — als des entscheidenden formenden Elements und Merkmals der Nation. Zum anderen sucht Semenov mit seiner Beschreibung möglichst vielen Erscheinungsformen des Phänomens Nation gerecht zu werden, wodurch sein „Nationsbegriff" eine Flexibilität erhält, die auch den Führern der sowjetischen Politik auf die Dauer wünschenswert erscheinen mag. Der bisherige sowjetische Nationsbegriff (und seine in der Diskussion aufgetauchten modifizierten Versionen) erlaubt es beispielsweise nicht, die Bewohner zahlreicher afrikanischer Staaten als Nation zu bezeichnen, ja er hätte in diesen Gebieten, würde er von den Sowjets konsequent propagiert und von den afrikanischen Führern beherzigt, zu einem vollständigen Chaos führen müssen.
Im Gegensatz dazu erlaubt es die Formulierung Semenovs durchaus, hier von Nationen zu sprechen und damit den konservativen Zug der sowjetischen Politik in diesem Gebiet, die hier ganz deutlich an der Erhaltung der bestehenden Staatsgrenzen interessiert ist, zu rechtfertigen. Dieser Vorteil auf außenpolitischem Gebiet würde allerdings möglicherweise im innenpolitischen Bereich dadurch aufgehoben, daß eine solch starke Betonung des Faktors Nationalstaat der politischen Führung angesichts der innersowjetischen Verhältnisse kaum recht sein kann. Aber abgesehen von allen möglichen politischen Konsequenzen verdient Semenovs Aufsatz schon deshalb besondere Beachtung, weil er von den bisherigen Schemata am weitesten wegführt und für die Diskussion wichtige Anregungen gegeben hat.
Auf die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen einigermaßen adäquater Wiedergabe der Wirklichkeit und dem für den Marxismus typischen Streben nach genereller Begriffsbildung darf man gespannt sein.