überarbeiteter Text eines Vortrags, der am 4. August 1967 auf der 13.deutsch-französischen Historiker-und Geschichtslehrertagung in Königswinter gehalten wurde. Eine gekürzte Fassung erscheint gemeinsam mit den übrigen in Königswinter vorgetragenen Referaten in einem von Oswald Hauser herausgegebenen Sammelband beim Franz Steiner Verlag, Wiesbaden.
In einer charakteristischen Koinzidenz sind die Anfangs-und Enddaten einer Epoche der jüngeren deutschen Geschichte identisch mit den Daten der Gründung und des Untergangs der Deutschen Zentrumspartei. 1870 im Zeichen der kleindeutschen Einigung unter der protestantischen Kaisermacht als politische Interessenvertretung des deutschen Katholizismus gebildet und im harten innenpolitischen Konflikt mit Bismarck geprägt, sollte das Zentrum auch die innere Zerstörung des Bismarckschen Werkes im Jahre 1933 nicht überleben. Damit verschwand der markanteste Exponent jener „in sich geschlossenen Sondergesellschaft“
Die Geschichte des Zentrums zwischen 1918 und 1933 kann daher nicht als eine gleichsam hermetisch abgrenzbare Phase betrachtet werden. Insofern sie im Rahmen der nationalen Gesamt-wie der partikularen Parteigeschichte seit Bismarck in eminentem Sinne „Nachgeschichte" (D. Gerhard) darstellt, wird sie sich immer nur im Rückblick auf die voraufgegangenen sechs Jahrzehnte deutscher Geschichte historisch erschließen. Dies sei hier kurz vermerkt und für die kommende Betrachtung einiger Grundprobleme der Zentrumspartei während der 14 Jahre der ersten deutschen Republik festgehalten. Ich wende mich dabei zunächst den Problemkreisen von Wählerschaft und Parteistruktur, das heißt den Aspekten des Zentrums als einer konfessionellen Interessenvertretung und einer Volkspartei zu. Danach werde ich den Fragenkomplex „das Zentrum als Verfassungspartei und Mittelpartei", das heißt seine Stellung zur Republik und in der parlamentarischen Demokratie erörtern. Eine Antwort auf die immer wieder anklingende Frage nach potentiellen Alternativen in der Parteientwicklung zwischen 1918 und 1933 und ihren realen Chancen will ich abschließend zu geben versuchen
I. Partei, Konfession, Kirche
in das Zentrum wurde man hineingeboren". Einer der prominentesten Zentrumsparlamentarier der zwanziger Jahre beantwortete gelegentlich die Frage nach dem Datum seines Eintritts in die Zentrumspartei mit der Feststellung: „In das Zentrum trat man nicht ein, Diese Bemerkung ist für das Selbstverständnis der Partei in doppelter Hinsicht aufschlußreich. Sie macht einerseits schlagartig den Anspruch deutlich, die (wie eine geläufige Selbstcharakteristik lautete) „politische Vertretung des katholischen Volksteils'1 darzustellen, und weist andererseits darauf hin, daß sich das Zentrum als eine Partei sui generis begriff: Geht man von der beanspruchten Rekrutierungsart ihrer Wähler und Mitglieder aus, so weist sie eher Ähnlichkeit auf mit den Institutionen Staat und Kirche, in die man (in der Regel) ebenfalls hineingeboren wird, als mit jenen auf mehr oder weniger freier Werbung, gemeinsamen Sozialinteressen und politischen Zielvorstellungen beruhenden Kampforganisationen, als welche sich Parteien grob definieren lassen. Wenden wir uns zunächst dem Anspruch zu, die politische Repräsentanz jener rund 20 Millionen deutscher Staatsbürger darzustellen, welche in den Grenzen der Weimarer Republik als Mitglieder der katholischen Kirche registriert waren und etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Reiches ausmachten.
Im Zeichen des Kulturkampfes hatte die alte Zentrumspartei im Jahre 1881 mit 86, 3 % aller wählenden Katholiken den größten Anteil ihrer geborenen Wähler für sich mobilisieren können. Nach einer kontinuierlichen Abnahme seit dem Abflauen der Auseinandersetzungen zwischen Staat und katholischer Kirche konnte das Zentrum in den Jahren nach 1919 noch auf rund 60 °/o der votierenden Katholiken rechnen. Diese Höhe war allerdings nur dank der Einführung des Frauenstimmrechts zu erreichen und — bei fortlaufend schwacher prozentualer Abnahme — in etwa zu halten. Mehr als ein Drittel aller wählenden Katholiken gab demnach sein Votum nicht dem Zentrum, sondern andern politischen Richtungen. Unter ihnen erhielten 1932 (bezogen auf die Gesamtzahl der katholischen Stimmberechtigten) die SPD 15 %, KPD und Nationalsozialisten je 10 % und die Deutschnationalen 4 %
Trotz dieses langjährigen Prozesses einer allmählichen Desintegration der relativen politischen Einheit des deutschen Katholizismus boten die 61 bis 69 % der bekenntnistreuen Katholiken, welche im Reichsdurchschnitt bis 1933 Zentrum wählten der Partei eine noch bis zur ersten Wahl nach der nationalsozialistischen Machtergreifung nicht entscheidend erschütterte feste Basis. Von 3, 5 Millionen Wählern im Jahr 1920 stieg die Stimmenzahl des Zentrums — mit einer wichtigen Zäsur 1928 — im Sommer 1932 auf die absoluteHöhe von 4, 5 Mil-honen, was 75 Reichstagsmandaten entsprach. Bei der Märzwahl 1933 gingen die Stimmen der Zentrumspartei nur um 200 000 zurück, so daß ihre parlamentarische Repräsentanz auch jetzt lediglich um 2% unter dem langjährigen Durchschnitt von etwa 13 % des Plenums sank.
Diese vielbeschworene Stabilität des „Zentrumsturms", die allerdings keineswegs mit einer monolithischen Einheit gleichgesetzt werden kann, machen vor allem folgende Faktoren verständlich:
1. das durch die Bismarcksche Reichsgründung und ausschlaggebend durch den Kultur-kampf geprägte konfessionelle Minderheitenbewußtsein; 2. die von Klerus und kirchlichen Organisationen (trotz des Rückgangs der traditionellen „Kaplanokratie") nach wie vor gewährte Unterstützung in der Parteiarbeit und 3. die vom Episkopat vor allem anläßlich der Wahlen wiederholt ausgesprochene faktische Anerkennung der kirchen-, konfessionsund kulturpolitischen Monopolstellung des Zentrums.
In der Situation nach 1918 kam dieser faktischen Anerkennung des Zentrums als der politischen Vertretung des deutschen Katholizismus durch die Amtskirche eine um so größere Bedeutung zu, als jetzt erstmals diese Repräsentanz ernsthaft bestritten werden konnte. Unmittelbar nach dem Novemberumsturz hatte sich in der Auseinandersetzung um den unitarisch-republikanischen Linkskurs Erzbergers die monarchistisch-konservative Bayerische Volkspartei vom Zentrum abgespalten. Ihr folgten — ausgehend vom linken Parteiflügel — die Gründung einer Christlich-sozialen Bewegung und, weit bedeutsamer, die Bildung eines Deutschnationalen Katholikenausschusses. Die Rechtskatholiken, deren wichtigster Vertreter zunächst der frühere Straßburger Historiker Martin Spahn, später Franz von Papen war, stellten weniger ihrer Zahl nach die intendierte und prätendierte politische Einheit der deutschen Katholiken in Frage. Von Gewicht war ihre Existenz durch die vorwiegende Herkunft ihrer Anhänger aus Adel, höherem Bürgertum und Akademikerschaft sowie . — nicht zuletzt — durch die Beziehungen zum hohen Klerus und zur römischen Kurie. In ihrer Frontstellung gegen die parlamentarisch-demokratische Republik brandmarkten sie in einer massiven propagandistischen Tätigkeit das politische Zweckbündnis des Zentrums mit der SPD als einen Verrat an den politischen, vor allen an den kulturpolitischen Idealen des deutschen Katholizismus. In einem bis 1933 in den Reihen des Zentrums nicht völlig überwundenen „Verfassungsstreit" (E. Deuerlein) bezichtigten sie das Zentrum, es habe mit seiner Zustimmung zur Weimarer Reichsverfas-sung den widerchristlichen Grundsatz der Volkssouveränität gebilligt und so die Prinzipien christlicher Staatsauffassung verleugnet. Damit war die Legitimation der Partei, als politischer Sprecher des deutschen Katholizismus aufzutreten, prinzipiell bestritten und — was erschwerend hinzu kam — die kirchen-politische Monopolstellung in Frage gestellt von einer Gruppe bekenntnistreuer Katholiken, die ihren politischen Standort in einer als konservativ geltenden Partei außerhalb des Zentrums hatten
Der politische Alleinvertretungsanspruch des Zentrums für den deutschen Katholizismus und die kirchenpolitische Monopolstellung der Partei wurden aber nicht nui durch die Abspaltung aut dem rechten und linken Parteiflügel gefährdet. Zusätzlich fragwürdig machte sie der verfassungspolitische Wandel in Deutschland seit 1918. Das Weimarer Verfassungswerk beseitigte die letzten Reste einer imparitätischen Behandlung der Kirchen im gesamten Reichsgebiet und gewährte ihnen das Höchstmaß einer dem Staat noch irgendwie eingeordneten Autonomie. Auf dem kirchenpolitischen Feld konnte jetzt die Verfassungsgarantie an die Stelle der Schutzfunktion der Partei treten. Ähnlich wurde mit der Sicherung der staatsbürgerlichen Parität in der Verfassungspraxis dem konfessionspolitischen Moment sein grundsätzliches Gewicht entzogen: Die Partei wandelte sich aus einer defensiven konfessionspolitischen Kampforganisation zu einem konfessionspolitischen Patronageinstrument (mit beschränkter Effektivität
Hier ist zunächst noch ein letztes Moment zu erwähnen, das die Stellung des Zentrums als politische Vertretung des katholischen Volks-teils berührte. Es sind die Rückwirkungen, die von der Neuorientierung der römisch-kurialen Kirchenpolitik im Zeichen der „Katholischen Aktion" ausgingen. Mit ihr suchte die römische Kirche jenen politischen Desintegrationsprozeß im Bereich des Katholizismus aufzufangen, der symptomatisch beim Problem des „Ralliement" im Frankreich der dritten Republik deutlich geworden war. Angesichts der durch die staatlichen und sozialen Umwälzungen im Gefolge des Ersten Weltkrieges weiter vorangetriebenen Aufsplitterung der Katholiken in Monarchisten und Republikaner, Konservative und Sozialisten, Demokraten und Faschisten schien das zuletzt noch von Leo XIII. aufgestellte Postulat der politischen Einheit der jeweiligen nationalen „Katholizismen" nur mehr auf der weltanschaulichen Ebene und kraft einer weitgehenden Entpolitisierung möglich. Dies war der Zweck der „Katholischen Aktion". Ihm entsprach als Korrelat und Bedingung eine „Generalauseinandersetzung mit dem modernen religiös-neutralen Staat" (Ludwig Kaas), wie er mit den Konkordaten der zwanziger und dreißiger Jahre unternommen wurde. Völkerrechtliche Garantien sollten jetzt die Sicherung kirchlicher Rechte durch konfessionell fundierte Parteien ablösen, deren Schutzfunktion in der weltweiten Krise des liberalen Parlamentarismus zunehmend in Frage gestellt wurde. Die Preisgabe der Democristiani Don Sturzos ist die bekannteste Konsequenz dieser kirchenpolitischen Konzeption.
Für Deutschland wurde die „Katholische Aktion" auf dem Magdeburger Katholikentag im Herbst 1928 verkündet. Obwohl oder gerade weil die Partei (von Teilen des Klerus unterstützt) sich mit der Feststellung beeilte, die „Katholische Aktion" finde in Deutschland die gegebenen Formen ihrer Realisierung bereits in den katholischen Verbänden und der Zentrumspartei vor, war es offensichtlich, daß die „Katholische Aktion" sofort als eine potentielle Gefährdung des kirchenpolitischen Alleinvertretungsanspruchs verstanden wurde.
In ganz ähnlicher Weise war die Resonanz auf die römische Konkordatspolitik in weiten Teilen der Partei auf eine kritische Skepsis eingestellt. Das Argument „Qui trop embrasse, mal etreint", mit welchem der badische Parteivorsitzende Prälat Schöfer für sein Land auf die Konkordatsinitiative von Nuntius Pacelli negativ reagierte, mag hierfür charakteristisch sein. Diese Ablehnung zielte zwar zunächst auf die erwarteten negativen Konsequenzen für die in Baden bislang so erfolgreiche Links-koalition, umschloß aber auch die Überzeugung, daß die Basis des Zentrums durch einen konkordatären Vertragsabschluß weiter be-schnitten und so die Existenz der Partei als der einzig effektiven Garantie des Bestandes der kirchlich-konfessionellen Rechte berührt werde.
Die veränderten Voraussetzungen für das traditionelle Verhältnis des Zentrums zum deutschen Katholizismus hätten kein so exzeptionelles Gewicht besessen, wenn für die Partei das kirchenpolitische Moment von sekundärem Rang gewesen wäre. Nun war aber, wie es ein katholischer Publizist Mitte der zwanziger Jahre formulierte, der „unbedingte Primat der Kirchenpolitik ... im deutschen Katholizismus so stark, daß . . . die Existenz des Zentrums überhaupt gefährdet erschien, weil ihm die kirchenpolitische Monopolstellung abgesprochen wurde"
Indessen wäre es verfehlt, die Entscheidung des Kölner Parteitags zugunsten der Parteiführung durch einen Kleriker allein mit der bislang dargestellten Problematik der Beziehungen von Partei und „katholischem Volks-teil", von Partei und Kirche erklären zu wollen. Diese Problematik ist nicht geeignet, die ausschlaggebende, ja nicht einmal die primäre Begründung für die Wahl des Prälaten Kaas zu liefern. Diese Wahl hat ihre entscheidenden Voraussetzungen und Bedingungen in der sozialen Struktur der Partei, in dem Charakter des Zentrums als einer Volkspartei.
II. Die Volkspartei und ihre soziale Strukturproblematik
Edmond Vermeil hat Anfang der dreißiger Jahre in einem Aufsatz zum Thema „Demokratie und Partei in Deutschland" das Zentrum als das „vielleicht . . . soziologisch verwickelt-ste Gebilde" unter den deutschen Parteien bezeichnet
Für die Wählerschaft des Zentrums läßt sich eine der Sozialstruktur des deutschen Katholizismus im großen und ganzen analoge Struktur unterstellen, zumal, da die Zahl der nicht-katholischen Zentrumswähler immer verschwindend gering blieb und auch bei der Reichstagswahl unmittelbar nach dem Sturze Brünings im Sommer 1932, als ihr Anteil am stärksten anstieg, kein wirklich erhebliches Gewicht erreichte. Die breite Basis der Sozial-pyramide des deutschen Katholizismus bildeten am Ausgang des Kaiserreichs Industrie-arbeiterschaft und Kleinbauerntum
In dieser Sozialpyramide fehlten also weitgehend die Elemente, welche die „bürgerliche Gesellschaft" des 19. Jahrhunderts konstituierten und Vorkämpfer der nationalstaatlichen Bewegung wie des industriellen Kapitalismus waren. Dies sei hier nur beiläufig notiert. Wichtig in unserem Zusammenhang ist zunächst, daß der deutsche Katholizismus und damit die Wählerbasis des Zentrums in ihrer Sozialstruktur die nationale Gesellschaft mit der erwähnten Einschränkung noch einmal abbildeten. Mit Recht konnte daher die Partei den Anspruch erheben, daß sie im Unterschied zu den anderen deutschen Parteien einen „Staat im kleinen", einen „politischen Mikrokosmos" darstelle.
Damit wird aber auch die eigentliche Existenzfrage des Zentrums deutlich: nämlich das Problem der Integration der politischen und sozialen Interessen aller Gruppen und Schichten des deutschen Katholizismus auf der Basis und mit dem Mittel eines einheitlichen kirchen-, konfessions-und kulturpolitischen Programms. Dieses Problem hatte seit den neunziger Jahren, das heißt seit dem Ende des Kulturkampfes, zunächst auf dem agrarischen Sektor zunehmend an Bedeutung gewonnen. Volle Aktualität erlangte es in dem Augenblick, da die Zentrumspartei nach dem Novemberumsturz von 1918 in die parlamentarische Regierungsverantwortung trat und nun vorwiegend verfassungs-und staatspolitische, sozial-und wirtschaftspolitische Aufgaben zu entscheiden und die kontroversen Lösungen vor einer heterogenen Wählerschaft zu vertreten hatte. In all diesen Fragen war aber entsprechend den divergierenden Partikularinteressen ein Konsensus in Partei und Wählerschaft viel schwieriger herzustellen als auf den Gebieten von Kirchen-, Konfessions-und Kulturpolitik, wo der allgemeine Konsensus (sieht man von den integralistischen Extremen ab) guasi a priori gegeben war. In dieser Situation wurde ein Grundgesetz des Zentrums als einer Weltanschauungspartei auf konfessioneller Grundlage deutlich: Der wachsenden Konfrontierung mit genuin politischen Aufgaben und damit der steigenden Politisierung der Partei entsprach ein rapider Schwund an innerer Kohärenz. Ausschließlich mit den gegebenen Mitteln der Parteiorganisation diesen Desintegrationsprozeß aufzufangen, erwies sich als unmöglich. Zwar paßten sich die Fraktionen des Zentrums in ihrer Struktur den veränderten Verhältnissen nach 1918 an. Der (sich vielfach den Deutschnationalen anschließende) Adel schied definitiv aus den Führungspositionen in der Partei aus, womit ein in die letzten Jahrzehnte vor dem Weltkrieg zurückreichender Vorgang abgeschlossen wurde. In der Zusammensetzung der Reichstagsfraktion fand dies darin seine Entsprechung, daß die Vertretung des Großgrundbesitzes, die im letzten Reichstag von 1912 rd. 5% der Zentrumsabgeordneten ausmachte, bis zur dritten Wahlperiode 1924 völlig verschwand. Im gleichen Zeitraum zwischen 1912 und 1924 reduzierte sich der Anteil des landwirtschaftlichen Mittelbesitzes von etwa 13 % auf rd. 2 %, während der agrarische Kleinbesitz seinen Vertretungsanteil von rund 5% auf ca. 14 % erhöhte. Noch auffallender ist naturgemäß der Wandel in der Vertretung der Arbeiter und Gewerbetreibenden: Während sie 1912 annähernd 4 % der Reichstags-fraktion ausmachten, waren sie 1928 vor allem durch Gewerkschaftssekretäre mit rd. 26 % vertreten. Mit gewissen symptomatischen Schwankungen (z. B. nach der Reichstagswahl von 1928) einigermaßen konstant blieb der hohe Anteil von über 30 %, den die Beamten kraft ihres Sozialprestiges und als bislang relativ interessenunabhängig geltende Berufsgruppe innehatten
Was man auf der Ebene der parlamentarischen Vertretungen durch die Anpassung ihrer Sozialstruktur an jene der Wählerschaft zu erreichen unternahm, suchte man auf partei-organisatorischem Gebiet durch die Bildung berufsständischer Gremien zu erreichen. Vor 1914 war es eine Art geheiligter Parteigrundsatz, das Aufkommen wirtschaftlicher und beruflicher Interessenverbindungen innerhalb der Partei zu verhindern. Nach 1918 entstanden in rascher Folge Handels-und Industrie-beiräte, Beiräte für Landwirtschaft, Mittelstand, Arbeiterschaft, Beamte und Angestellte. Die hierin manifest werdende tendenzielle Entwicklung zur berufsständischen Auffächerung der Partei nahm unter dem Einfluß des alle zentrifugalen Kräfte entfesselnden Verhältnis-wahlrechts gerade in der Periode einer relativen Stabilisierung der Republik nach 1923 zu, als die unmittelbare außenpolitische Bedrohung der Reichseinheit gebannt war und innere soziale und wirtschaftliche Probleme in den Vordergrund traten. Um die Mitte der zwanziger Jahre konnte ein prominenter Zentrumspolitiker mit einer pointierenden Formulierung die Partei empirisch als eine „Masse von Menschen" beschreiben, „die lediglich durch die gemeinsame Abwehr antikatholischer Instinkte zusammengehalten werden und in der jede Interessengruppe ... für sich selbst einen möglichst großen Vorteil herauszuschlagen versucht"
Kennzeichnendstes Indiz für die -soziale Struk turkrise der Partei waren die im Zusammenhang mit der Wahlniederlage 1928 immer wieder auftauchenden Vorschläge, die Wahlkämpfe in Zukunft mit mehreren Standes-listen — einer Arbeiter-, Bauern-und Mittelstandsliste — zu bestreiten. Damit war aber jene Funktion des Zentrums gefährdet, welcher die Republik in nicht geringem Maße ihre relative Stabilisierung auf innenpolitischem Gebiet verdankte: nämlich den parteiinternen Interessenausgleich als gleichsam nationalen Interessenausgleich im verkleinerten Maßstab zur tragfähigen Kompromißbasis für alle politischen Richtungen und sozialen Schichten zu machen. Die heftigen sozial-und wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen, die — nach dem Wort eines Zentrums-abgeordneten — alle in der Zentrumsfraktion als einem „Parlament im Parlament" (Friedrich Naumann) geführt wurden, noch bevor sie im Plenum des Reichstags auf der Tagesordnung standen, drohten Mitte der zwanziger Jah” die Integrationsfähigkeit der Partei zu überfordern
Die Verschärfung dieser Grundlagenkrise sollte das Zentrum durch die summierende Interferenzwirkung einer politischen Orientierungsund Führungskrise vor den Reichstags-wahlen 1928 an den Rand einer Existenzkrise führen. Den Anlaß gaben die Bürgerblockkoalition des Jahres 1927/28 mit den Deutsch-nationalen und eine während ihrer Dauer durchgeführte Beamtenbesoldungsreform, für die ein dem Zentrum angehörender Reichs-finanzminister verantwortlich zeichnete. Diese Besoldungsreform geriet sofort in das Kreuz-feuer einer heftigen Kritik der christlichen Gewerkschaftler unter der Führung von Stegerwald. Die in aller Öffentlichkeit ausgetragenen ungewöhnlich scharfen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf sowohl von Seiten der Arbeiter wie der Bauern mit der Gründung eigener Parteien gedroht wurde, machten auch vor dem damaligen Parteivorsitzenden und Reichskanzler Marx nicht halt. Marx, ein ehemaliger Richter, war der Prototyp einer sozial wie politisch ausgleichenden Persönlichkeit, die es bislang gut verstanden hatte, die vermittelnden Diagonalen in dem Parallelogramm der Parteikräfte zu finden. Selbst diesem idealtypischen Repräsentanten der traditionellen Honoratiorenführung gelang es nicht mehr, die tief verwurzelten sozialen Differenzen auszugleichen und die gleichzeitig von Joseph Wirth geführte politische Fronde gegen die Rechtskoalition rechtzeitig unter Kontrolle zu bringen. Marx war wohl der erste Parteivorsitzende, gegen den der — wie er es selbst empfand — für einen Zentrumspolitiker „stärkste" Vorwurf des mangelnden sozialen Bewußtseins erhoben wurde. Er sollte auch — und dies war ein Novum in der Parteigeschichte — als erster Zentrumsvorsitzender sein Amt wegen einer Parteikrise zur Verfügung stellen. 1928 übergab er es an den Trierer Prälaten Kaas.
Wie in dem Kulminationspunkt der mehrjährigen Parteikrise 1927/28 die überkommene Honoratiorenführung versagte, so sollte sich auch die kulturpolitische Parole als unwirksam erweisen. Sie hatte sich im Umbruch von Monarchie zu Republik — im Zusammenhang mit der radikal-kulturkämpferischen Schulpolitik des Linkssozialisten Adolf Hoffmann in Preußen — als eine der wenigen politischen Klam-mern der Partei erwiesen. 1927/28 ging das Zentrum das Risiko des Scheiterns eines sehr bekenntnisschulfreundlichen Reichsschulgesetzes des deutschnationalen Innenministers ein, um auf der kulturpolitischen Ebene die über der Sozial-und Wirtschaftspolitik verlorene Parteieinheit und für die bevorstehenden Reichstagswahlen eine zugkräftige Parole zu finden. Die kulturpolitische Parole als „tradiditionelle Einigungsformel" (R. Morsey) blieb indessen gegenüber der Wählerschaft ohne größeren Effekt: Die Maiwahlen von 1928 brachten dem Zentrum mit einem Minus von 11, 4% den stärksten prozentualen Stimmenrückgang zwischen zwei Weimarer Wahlperioden und die niedrigste Mandatsziffer zwischen 1871 und 1933 überhaupt.
Darüber, daß die Hauptursachen dieser Wahl-niederlage in der sozialen Strukturkrise der Partei zu suchen seien, bestand Übereinstimmung zwischen parteiinternen Kritikern und außenstehenden Beobachtern. Und auch über die notwendigen Reformmaßnahmen sollte es relativ rasch zu einer einmütigen Auffassung innerhalb des Zentrums kommen. Bereits kurz nach der Wahlniederlage tauchte die Forderung auf, der „Krankheit des katholischen Parteiwesens" mit einer Rückbesinnung auf die religiös-weltanschaulichen Grundlagen und einem stärkeren Engagement des Klerus in der „politischen Wegweisung" der Katholiken zu begegnen. Joseph Joos, einer der bekanntesten Arbeitervertreter, machte sich zu ihrem prominentesten Sprecher. Auf dem ganz im Zeichen der Wahlniederlage und der Partei-krise stehenden Kölner „Parteitag der Einheit und Besinnung" im Spätjahr 1928 setzte sich diese Forderung mit der Wahl von Kaas praktisch durch.
Diese Wahl bestätigte, was seit 1918 in den politisch-sozialen Richtungskämpfen der Partei deutlich geworden war: nicht mehr die Beamten, speziell die Richter, die bislang als akademische Honoratioren und quasi interessenunabhängige Berufsgruppe eine Art tra-ditonellen Anspruch auf den Parteivorsitz hatten, waren weiterhin in der Lage, die Einheit und Schlagkraft des Zentrums zu sichern. Bereits für den ersten Parteitag 1920 hat Rudolf Morsey jüngst als charakteristisch festgestellt, däß nur mehr Geistliche in der Lage waren, den verschiedenen Interessengruppen mit Erfolg ins Gewissen zu reden. 1927/28 waren sie, wie es ein früherer Mitarbeiter Brünings damals formulierte, die einzigen, welche das Ringen der Stände in den eigenen Reihen vor der letzten Verschärfung zum Klassenkampf bewahrten. Die Wahl eines Geistlichen an die Spitze der Partei entsprach in der Situation von 1928 einem elementaren Selbsterhaltungstrieb der Volkspartei. Nur mehr einem über den sozialen Gegensätzen stehenden Geistlichen konnte es gelingen, innerhalb des Zentrums die Klassen auf den Nenner der Konfession zu bringen und den hypothetisch klassenlosen Charakter der katholischen Gesellschaft in die politische Einheit einer Partei zu übersetzen
Indem sich das Zentrum so auf dem Höhepunkt einer strukturellen Dauerkrise, wieder als Weltanschauungspartei zu formieren suchte und Klerus wie Episkopat ihre verstärkte Unterstützung nicht versagten, wurde die Voraussetzung für die bewundernswerte äußere Stabilität in der Agonie der Weimarer Republik geschaffen. Ohne die Entscheidung des Kölner Parteitags ist der wesentliche Beitrag schwer vorstellbar, welchen das Zentrum zur Rettung einer demokratischen Substanz bis 1932 leistete. Die zutiefst problematische Bedeutung dieser Restauration des Zentrums von 1928 sollte erst 1933 voll deutlich werden. Sie wird abschließend noch kurz zuerörtern sein.
III. Verfassungspartei und demokratische Republik
Wie für alle anderen deutschen Parteien, mit Ausnahme der extremen Linken, waren auch für das Zentrum der Sturz der Monarchie und die Gründung der Republik nichtgewollte Früchte einer bitteren, letztlich als unverdient angesehenen militärischen Niederlage. Selbst Wirth, der sich später gerne einen entschiedenen Republikaner nannte, lehnte noch kurz vor Kriegsende die grundsätzliche Forderung nach der Einführung der Republik ab. Kraft der geschichtlichen Tradition in ihrer Mentalität konservativ-monarchistisch und in einem relativ raschen Assimilierungsprozeß seit dem Ende der achtziger Jahre an die politische Wirklichkeit des Wilhelminischen Kaiserreichs weitgehend akkommodiert, erfuhren die Partei und ihre Anhänger das Verschwinden der Mo-narchie als einen nur schwer zu überwindenden Schock. In dem Bewußtsein, nur dadurch die gemeinsamen Interessen der Nation und die partikularen der Partei schützen zu können, stellte sich das Zentrum (mit einem viel-zitierten Topos) „auf den Boden der gegebenen Tatsachen".
Ihre theoretische Legitimation fand diese Haltung zum einen durch die neuscholastische Staatslehre und ihren Grundsatz „gouvernement constitue" = „gouvernement legitime“, wie Leo XIII. 1892 die französischen Kardinäle im Streit um das „Ralliement“ an die dritte Republik belehrt hatte
Das Zitat stammt aus den ersten Apriltagen 1933 und stand in einem Presseartikel, mit dem Prälat Kaas die Zustimmung seiner Partei zum Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 motivierte
Im Alltag der Parteiarbeit hat damals und danach das Zentrum den Vorwurf opportunistischen Prinzipienverrats angesichts der Alternative Monarchie oder Republik durch die Berufung auf seinen traditionellen Charakter als „Verfassungspartei" abzuwehren gesucht. In der Praxis bot dieser Begriff eine sehr dehnbare Formel, mit der sowohl dem immer eine Minorität bildenden linken Parteiflügel der „entschiedenen Republikaner" wie der Partei-rechten und ihren traditionalistischen Monarchisten eine gemeinsame Basis vermittelt werden konnte. Es kam denn auch während der ganzen Weimarer Republik nie zu einem programmatischen Bekenntnis zur Republik. „Wir sind eine Verfassungspartei . . .", so definierte Marx auf dem Kasseler Parteitag von 1925;
„wir sind keine monarchische Partei und wir sind keine republikanische Partei, aber wir halten zur Republik, weil sie in der Verfassung begründet ist, weil sie die gegebene Staatsform ist und in absehbarer Zeit nicht geändert werden kann"
Wirth hat seiner Partei nicht zu Unrecht vorgeworfen, daß mit einer solchen Kompromißformel „ein politischer Bekenntnisverzicht"
Im übrigen waren, wie die Haltung des Zentrums in der Endkrise der Republik bewies, Sinn und Inhalt des Begriffs Verfassungspartei in ihren Wirkungen ambivalent. Sie machten einerseits das Zentrum auf der Grundlage seiner Weltanschauung und seines rechtsstaatlichen Traditionsguts zum entschiedenen Gegner jedes verfassungswidrigen Umsturzes von oben oder unten, ohne seinem Kanzler Brüning und der Parteiführung die Möglichkeit zu nehmen, als Ausweg vor einer Machtergreifung durch die NSDAP eine verfassungskonforme Restauration der Monarchie zu erwägen. Insoweit die Kompromißformel der Verfassungspartei im Sinne Wirths einen politischen Bekenntnisverzicht und damit einen komplementären Ausdruck seines Wesens als einer letzlich im Religiösen verankerten Weltanschauungspartei darstellte, bestand prinzipiell die Gefahr einer primär legalistischen Verfassungstreue und einer Relativierung der Konstitution. Bök-kenförde hat gerade auf diese Gefahr in sei-nen bekannten „Hochland" -Aufsätzen mit Nachdruck hingewiesen
IV. Mittelpartei und parlamentarisches System
Wie die Selbstcharakteristik als Verfassungspartei, so spiegelte auch das Selbstverständnis als Mittelpartei den Kompromiß der sozial heterogenen und politisch divergierenden Gruppen wider, die sich im Zentrum zusammenfanden. Das Zentrum war — und insofern erfüllte es den programmatischen Anspruch seines Parteinamens — die klassische Mittel-partei der Weimarer Republik. Sie bildete zwischen 1919 und 1932 das Scharnier aller als praktikabel denkbaren politischen Koalitionen und gewann auf Grund dieser parlamentarischen Schlüsselstellung mit einem Drittel aller Reichsminister und 9 von
Für das Zentrum war jede parteipolitische Kombination nach der Linken bis zur SPD und nach der Rechten bis zur DNVP, ja bis zur NSDAP möglich. Leitbild war dabei die Idee der Volksgemeinschaft. Sie spielte in der Parteiideologie als Gegenbild gegen Klassen-gesellschaft wie Obrigkeitsstaat eine zentrale Rolle, lange bevor der Begriff von den Nationalsozialisten als Schlagwort usurpiert und monopolisiert wurde. Ihre Funktion als Zentralbegriff einer Ausgleichsideologie war Ausdruck der starken Spannung zwischen dem auf Parteienkonkurrenz und sozialem Pluralismus beruhenden parlamentarischen System und der theoretischen Forderung nach Synthese und Integration in einer christlich bestimmten Politik
Wie sehr auch bei der Verkündung dieser „Ganz großen Koalition" in der konkreten innenpolitischen Konstellation taktische Überlegungen mitspielten, so war dieser Griff nach der „Regierung der Volksgemeinschaft" doch symptomatisch für die Spannungen in der politisch-sozialen Struktur des Zentrums und für die harte Notwendigkeit, den Anspruch, ein Spiegelbild dieser Volksgemeinschaft darzustellen, auch in der Praxis der Koalitionspolitik zu bewahren. Es ist evident, daß dieses Koalitionsideal dem klassischen Typus des Parlamentarismus mit seinem Widerspiel und Wechsel von Regierungsparteien und Oppositionsparteien ein aparlamentarisches oder — genauer — präparlamentarisches Wunschbild entgegensetzte. Wie sehr dabei das Handicap der Partei mit im Spiele war, daß sie auf Grund ihrer heterogenen Wählerschaft und weltanschaulichen Fixierung Opposition mit Aussicht auf Erfolg und ohne das Risiko der Spaltung nur um kirchen-und kulturpolitischer Ziele willen treiben konnte, liegt auf der Hand. Die allgemeineren Voraussetzungen dieses koalitionspolitischen Idealbildes sind ebenfalls unschwer freizulegen: sie reichen einerseits zurück in das den Weimarer Parteien noch so nahe vorparlamentarische System des deutschen Konstitutionalismus. Sie haben andererseits ihre Wurzeln in den Ganzheitsmodellen der scholastischen Sozialphilosophie. Unschwer konnten sie mit jenen die Stellung der deutschen Parteien belastenden Traditionen der Hegeischen Staatslehre in Verbindung gebracht werden, nach welchen die Partei als das „besondere, zufällige Interesse" dem Staat als dem „sittlichen Ganzen" gegenüberstand
Angesichts jener Kontinuität, welche die Weimarer Republik im ganzen und ihre Parteien im besonderen mit der Wilhelminischen Ara verband, konnte allerdings keine vorbehaltlose Übernahme des Parlamentarismus durch das Zentrum erwartet werden. Die Furcht der konfessionellen Minderheitenvertretung vor einer parlamentarischen Majorisierung und damit vor einer Gefährdung der als sakrosankt geltenden kirchen-und kulturpolitischen Ziele ließ das Zentrum bis zur innenpolitischen Wende während des Ersten Weltkrieges die Parlamentarisierung des Reichs ablehnen. Die parlamentarische Schlüsselstellung, welche die Partei dann nach 1918 im Reich innehatte, nahm diesen Bedenken gegen den Parlamentarismus viel von ihrer Schärfe. Die dauernd krisenerschütterte Wirklichkeit des Weimarer Parlamentarismus hat allerdings die anfängliche Skepsis und Reserve gegen die — wie man sagte — parlamentarische Formaldemokratie nach französischem Muster nur verstärkt. Es nimmt daher nicht wunder, daß Lösungsmöglichkeiten, wie sie mit dem Hindenburg-Kabinett Brünings versucht wurden, bereits 1920 erörtert
Daß in diese Kritik am Parlamentarismus auch Überlegungen zu einer ständestaatlichen Ordnung einflossen (berufsständische Gliederung der Gesellschaft war ein Postulat des Parteiprogramms), überrascht um so weniger, wenn man sich an die entsprechenden antikapitalistischen und antiliberalen Traditionen der katholisch-sozialen Bewegung und an den großen Anteil erinnert, welchen der neue Mittelstand an der Anhängerschaft des Zentrums hatte. Schon um der eigenen Selbsteinschätzung willen tendierte diese soziale Gruppe in schroffer Ablehnung des Klassenkampfgedankens zum Rückgriff auf die ständischen Ideen. Indessen erlangten diese sozialromantischen antiparlamentarischen Vorstellungen für die praktische Politik des Zentrums selbst in der Schlußphase der Weimarer Republik kein erhebliches Gewicht. Brüning wußte, wie seine katholischen Gegner auf der Rechten ihm vorwarfen, mit den ständestaatlichen Ideen nichts anzufangen. Ihm ging es mit der „Erziehungsdiktatur" des Notverordnungsartikels der Weimarer Verfassung um eine Selbstreform des plebiszitär mißverstandenen deutschen Parlamentarismus nach dem Vorbild des repräsentativen Parlamentarismus britischer Provenienz
V. Der Parteiuntergang und das Problem der Alternativen in der Parteientwicklung
Seitdem Julius Bachem im Jahre 1906 in einem aufsehenerregenden „Hochland" -Aufsatz die Parole ausgegeben hatte, „Wir müssen aus dem Turm heraus!", sind die offenen Diskussionen im Zentrum nicht mehr verstummt, ob die Wandlungen in Gesellschaft und Staat nicht zur Preisgabe der konfessionellen Grundlagen zugunsten einer interkonfessionellen christlichen Volkspartei zwängen. In ihr entscheidendes Stadium trat diese Diskussion mit dem Novemberumsturz 1918; sie dauerte mit Unterbrechungen bis zum Spätjähr 1920. Protagonisten einer Umwandlung des Zentrums in eine neue rechtsorientierte Sammelpartei, in welcher sich die partei-und sozialpolitischen Richtungen Ketteier, Naumann und Stöcker vereinigen sollten, waren der Gewerkschaftsführer Stegerwald und der langjährige geistliche Direktor des Volksvereins für das katholische Deutschland und Reichsarbeitsminister Brauns. Beide gingen von der Überzeugung aus, daß eine Partei auf konfessioneller Grundlage, auch wenn sie, wie das Zentrum programmatisch beanspruchte, eine politische, keine konfessionelle Partei zu sein, den Aufgaben in einem parlamentarischen Regime nicht mehr gewachsen sei. Bedeutsamstes Manifest dieser Reformversuche wurde das Essener Programm, das Stegerwald im Spätjahr 1920 auf einem Kongreß seiner christlichen Gewerkschaften vortrug. Mitverfasser dieses Programms war der damalige Sekretär Stegerwalds, Heinrich Brüning. Es rief zur Bildung einer christlich-nationalen und sozialen Volkspartei als Gegengewicht gegen die sozialistischen Parteien auf. Trotz eines zunächst erstaunlich starken öffentlichen Echos blieb das Essener Programm ein „gescheiterter Vorgriff" (Morsey) auf die Zukunft. Weder war Stegerwald der Mann, um seinem Programm zum Sieg zu verhelfen, noch ließ sich die bereits eingetretene Verfestigung der Parteifronten wieder überwinden. Für die Masse der Zentrumsanhänger war die Absicht, die im Kulturkampf bewährte Partei preiszugeben, nicht nachvollziehbar. Zu sehr war das Zentrum zu einem unentbehrlichen Institut der Selbstbestätigung geworden für die von fest verwurzelten politisch-kulturellen Inferioritätskomplexen belastete konfessionelle Minderheit. Die von einer grundlegenden Parteireform befürchtete Gefährdung der „geheiligten" kulturpolitischen Programmatik der Partei kam als ein weiterer Faktor hinzu, um die Reform-ansätze Brauns’ und Stegerwalds wie ihrer jüngeren Mitstreiter gleich Brüning nicht zur Entfaltung kommen zu lassen.
Profiliertester Gegner dieser Reformpläne innerhalb des Zentrums war Joseph Wirth. Seine Opposition richtete sich allerdings nicht gegen das Prinzip einer Umgestaltung seiner Partei, sondern gegen deren konservative Orientierung. In den schweren Richtungskämpfen, die Wirth Mitte der zwanziger Jahre bis zur Wahl des Prälaten Kaas entfesselte, ging der ehemalige Reichskanzler von der gleichen Grundvoraussetzung aus wie die konservativen Reformer. Seine Bemühungen zielten indessen auf die Bildung einer linksdemokratischen Volkspartei, die in der „Republikanischen Union" mit SPD und Demokraten eine feste Basis für die Republik hätte abgeben sollen.
In seinem Buch „Le Catholicisme Politique en Allemagne", das vielfach die ersten Diskussionen über das Zentrum in den vergangenen Jahren beeinflußt hat, kommt Joseph Rovan zu dem Urteil: pour pas suivi „C'est n'avoir Joseph Wirth dans sa tentative de reformisme radical que le catholicisme politique allemand, au Heu de devenir democratie chretienne, au sens plein du terme, sera ineluctablement amene ... a voter les pleins pouvoirs d Hitler"
Hierin liegt der positive Effekt der Kölner Prälatenwahl von 1928. Ihre zutiefst problematischen Konsequenzen sollten sich in vollem Umfang erst zeigen, nachdem über den Untergang der Weimarer Republik entschieden war. Denn in der Tat war mit der Entscheidung des Kölner Parteitags von 1928 die Abstimmung vom 23. März 1933 zugunsten des Ermächtigungsgesetzes für Hitler in gewisser Weise vorgezeichnet und legitimiert. Indem sich das Zentrum 1928 in seiner überkommenen Form regenerierte, blieb es endgültig auf dem halben Wege von einer konfessionell-kirchlichen Interessenpartei zu einer rein politischen Partei stehen, in welcher die kirchen-, konfessions-und kulturpolitischen Ziele einer umfassenden staats-, sozial-und wirtschaftspoliti- sehen Konzeption hätten eingegliedert sein müssen. Hitler hat am 23. März 1933 im Reichstag genau das getan, was dem Zentrum ermöglichte, die für die Partei vor allem essentiellen particula veri in dem neuen Regime, dem „gouvernement constitue" der „Nationalen Revolution", zu finden: Hitler gab Garantien für die bona particularia der Partei auf dem Gebiet der Kirchenpolitik für die bestehenden Länderkonkordate und die Kirchen-artikel der Weimarer Verfassung, auf dem Sektor der Konfessionspolitik zugunsten der katholischen Beamten und Vereine und auf dem Felde der Kulturpolitik für die Erhaltung der katholischen Bekenntnisschulen. Damit schien der Totalitätsanspruch der Partei auf einem wesentlichen Gebiet autoritativ desavouiert. Und als Hitler (kurz nach dem Erlaß des Ermächtigungsgesetzes) durch Papen die Initiative zum Reichskonkordat ergriff
Damit wird — auch dies muß gegen Rovans Urteil eingewendet werden — allerdings nur eine Seite in dem Drama des rühmlosen Untergangs der Zentrumspartei deutlich. Die Parteiführung konnte zwar nach den kirchen-und kulturpolitischen (Schein-) Garantien in Hitlers Regierungserklärung vom 23. März 1933 und nach den für die „Verfassungspartei" erstrangigen Versicherungen über die institutioneile Garantie des Amtes des Reichspräsidenten und des Reichstags den Fraktionszwang für die Abstimmung zugunsten von Hitlers Ermächtigungsgesetz (gegen eine oppositionelle Minderheit mit Brüning an der Spitze) proklamieren und durchsetzen. Ein eventueller Versuch, beim Ausbleiben der geforderten Garantien den Fraktionszwang für ein Votum gegen das Ermächtigungsgesetz zu erklären, wäre aber (wie in anderen nichtsozialistischen Parteien) von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Erklärung hierfür ist nicht nur in der herrschenden Atmosphäre der Gewalt und des politischen Drucks, nicht allein in der Rücksicht der Abgeordneten auf die eigene berufliche Existenz und persönliche Sicherheit, auf Parteiorganisation und konfessionelle Verbände zu suchen. Wirth gab seine Unterwerfung unter den Mehrheitsbeschluß der Fraktion bekannt, nachdem Vertreter der Arbeiterschaft für ein positives Votum plädiert und dabei erklärt hatten, „man solle wieder sagen, daß in der Stunde der Gefahr der ärmste Sohn der getreueste war"
Die parteispezifischen Begleitumstände des Untergangs des Zentrums 1933 bedeuteten eine letzte Bestätigung für die Notwendigkeit der Versuche, eine volle Politisierung der Partei herbeizuführen. Brünings Bestreben, mit einer konservativen Reform an die ursprüngliche interkonfessionelle Konzeption Windt-B horsts anzuknüpfen (und seiner Hoffnung, durch dieaußenpolitischen Erfolge seiner Kanzlerschaft die definitive Eingliederung des deutschen Katholizismus in die Nation in die Wege zu leiten), kamen dabei angesichts der innenpolitischen Kräfteverteilung im Reich wie in der Partei größere Chancen zu als Wirths Kampf um das Aufgehen des Zentrums in einer republikanischen Linken. Innere und äußere Gründe führten mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zum Scheitern dieser Versuche. Die „unvollendete" Entwicklung des Zentrums zu einer rein politischen Partei hat danach symptomatisch die unvollendete Integration des deutschen Katholizismus in die Nation bezeichnet Sie war Teilaspekt jenes grundlegenden Faktums des „unvollendeten Nationalstaats“ (Th. Schieder) der Bismarckschen Reichsschöpfung, deren Strukturschwächen nicht zuletzt jene der Weimarer Republik waren.