Dieser Beitrag ist die Einleitung des vom Verfasser gemeinsam mit W. Krawietz herausgegebenen Bandes „Deutsche Schulgesetzgebung“ (= „Kleine Pädagogische Texte“, Band 37), der in Kürze im Verlag Julius Beltz, Weinheim und Berlin, erscheint. Der Vorabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Schulrecht, Schulpolitik, Schulreform
Recht und Erziehung, uralte Attribute menschlicher Sozietät, gehen mit der Institutionalisierung der Bildung eine Ehe ein. Seitdem es Schule als planmäßige Veranstaltung des Unterrichts gibt, entsteht das Problem einer sinnvollen Organisation des Bildungswesens, das schulrechtlich verankert werden muß. Der prinzipielle „Kampf ums Recht" konkretisiert sich zum Kampf ums Schulrecht, als die gesellschaftlichen Mächte erkennen, daß Schule ein Politikum ist. In dieser Auseinandersetzung um das mächtige und richtige Schulrecht geht es um die Konkurrenz zweier sich widerstreitender und anscheinend einander ausschließender Prinzipien: des Sozialrechtes aul Schule und des Individualrechtes auf Bildung. Kirche und Staat, Wirtschaft und Gesellschaft trachten, seitdem es die von ihnen gegründeten und geförderten Schulen gibt, sich dieser rechtlich und damit faktisch zu bemächtigen, um sie für ihnen zu-und untergeordnete Funktionen nutzbar zu machen. Ob es um den Kirchen- oder Staatsbürger geht, immer geht es um eine bestimmte Form und Inhaltlichkeit der Subordination. Dem widerspricht und widerstreitet das Prinzip des „Menschenrechts auf Bildung", das zuerst und vor allem danach fragt, ob und wie dieses Recht diesem Menschen zu seiner Bildung verhelfe. Schule wird das eine Mal eingerichtet als Instrument ihres Gründers und Trägers; sie wird das andere Mal gegründet und verwendet als Institution der „Bildungssuchenden" selbst. Diese beiden Möglichkeiten kennzeichnen die subjektive und objektive Intention und Funktion des Schulrechts.
Was theoretisch geschieden werden muß und historisch je und je unterschieden werden kann, stellt realiter zwei Seiten des einen Sachverhalts und in der konkreten Situation ein Ganzes dar. Es ist zwar nicht unwichtig, zu erkennen und festzustellen, wann und wo Schule ins Leben gerufen wird, um sie für bestimmte Zwecke zu gebrauchen oder auch zu mißbrauchen. Aber von den Kloster-und Ritterschulen des Mittelalters bis zu den Konfes-sions-und Kadettenanstalten unserer Zeit ist in solchen eindeutig und einseitig zweckbestimmten Bildungs-und Erziehungsstätten immer zugleich auch personale, will sagen relativ zweckfreie, autonome Erziehung und Bildung vermittelt worden. Umgekehrt ist aus Geschichte und Gegenwart des In-und Auslandes kein Beispiel bekannt, daß Schule zum alleinigen Zwecke eingerichtet und ausgerichtet worden wäre, dem subjektiven Bildungsbedürfnis ihrer Eleven Genüge zu tun. Auch dort, wo sich eine Bildungsinstitution, wie etwa die deutsche Universität, so definiert, ist sie weder in der Lage noch willens auszuschließen, daß sie anderen Zwecken dient oder gar für diese nutzbar gemacht wird. Interessant ist für die Erziehungswissenschaft vor allem die Frage der Dominanz, und zum Problem wird in der Erziehungspraxis lediglich die Prävalenz der einen oder anderen Eigenschaft der Schule, wofür die Historische und Vergleichende Pädagogik reiches Anschauungsmaterial bereit hält. Wir haben es hier weder mit einer prinzipiellen Antinomie noch mit einer faktischen Alternative, sondern mit einem jener Polaritätsverhältnisse zu tun, die dem Phänomen des Pädagogischen an sich eigen sind. Obgleich sie einander zu widerstreiten oder gar auszuschließen scheinen, bestimmen und komplementieren sie einander. Dem für den Problemzusammenhang besonders wichtigen Verhältnis von Kultur und Erziehung, Kulturpolitik und Schule wohnt gleichfalls eine solche polare Struktur inne
Individuelle und lokale pädagogische Reform-bestrebungen mögen sich damit begnügen, allein das Gesicht einer bestimmten Bildungsinstitution zu ändern. Pädagogische Reformbewegungen bleiben nie im engeren Raum der Schule verhaftet, sondern greifen in ihrer Wirkung unwillkürlich hinüber in Staat und Gesellschaft. Am stärksten gewiß durch die Erziehung der kommenden Generationen in den erneuerten Schulen. Daneben wirkt die Schule als öffentliche Institution unmittelbar ein auf die sozio-kulturelle Verfassung der derzeitigen Gesellschaft. Man denke nur an die Bedeutung der Gymnasien und Universitäten für die Hervorbringung des Bildungsbürgertums in Deutschland. Schließlich kann eine pädagogische Bewegung schon in der Selbstdarstellung ihrer Ideen einen direkten Einfluß auf den Geist einer Zeit nicht verfehlen. Damit ist die umgekehrte Einwirkung der Lebens-mächte auf die Schule keineswegs bestritten;
auch nicht, daß der außerpädagogische Einfluß zeitweise, namentlich in Perioden der Reaktion, überwiegt.
Bedeutender als der Nachweis, daß das Bildungswesen nicht der gesamten Kulturentwicklung „nachhinkt", wie Friedrich Paulsen meinte
Ursprung der Schule
Das Selbstbewußtsein der abendländischen Kultur, mit der Selbstherrlichkeit und -genügsamkeit gepaart, sich auf sich selber zurückzuführen und aus sich selber zu verstehen, übersetzt „Schule" zurück als schola und s'chole. Die Anerkennung dieser Traduktion bedeutet die Übernahme einer bestimmten Tradition. Auch wenn die Etymologie des Wortes eindeutig ausmachen läßt, daß die griechische Bedeutung etwas mit Muße, Ruhe, Innehalten, dann aber auch mit gelehrter Muße zu tun hat und schließlich mit der Anstalt, wo man die Lehre pflegt, so erfaßt man damit jedoch lediglich eine ihrer Wurzeln und somit Sinnbestimmungen. Die lateinische Wortbedeutung, auf das „klösterliche Lehnwort" Schule unmittelbar zurückgehend, betont bereits stärker ihre ältere Funktion und Bestimmung: nämlich Ort des Unterrichts, des Lehrers und seiner Schüler zu sein. Sie hält fest, was die im Hellenismus zur Institution gewordene alteuropäische Schule faktisch darstellte. Der ideelle Ursprung „und institutionelle Anfang von Schule ist wesentlich älter. Er ist bei den großen präantiken Kulturvölkern auf-und nachweisbar. Denn so wie Kulturtradition der Bildung bedarf, um sich vermitteln zu können, bedarf die Bildung besonderer Lehrstätten und -weisen, um diese übermitteln zu können. Es gibt bis ins
Sämtliche abendländische Kulturen und alle modernen europäischen Völker entwickelten und unterhalten Schulen in diesem Sinne. Sie erfüllten und erfüllen aber bis heute ihrem wissenschaftlichen, pädagogischen und sozialen Rang nach sehr unterschiedliche Funktionen. Und bis in unsere Tage gibt es in allen Staaten — eine kultursoziologisch feststellbare und kulturpolitisch anklagbare Tatsache — schulisches Niemandsland, pädagogische Exklaven regionaler, ethnischer, sozialer und hereditärer Art, die der Entwicklungsund Bildungshilfe bedürfen. Die Höhe der Kultur, der Fortschritt der Wissenschaft und das Ansehen der Bildung einer Nation können im umgekehrten Verhältnis zu ihrem sozial-pädagogischem Rückschritt stehen. Spricht man nicht vom Rang der Schulen, sondern des gesamten Erziehungsund Schulwesens eines Landes, so können die Antworten sehr verschieden ausfallen.
Nicht nur von ihrem ideellen Ursprung und institutioneilen Anfang als solchem, sondern auch in den einzelnen geokulturellen Räumen eignet dem Institut Schule zunächst einmal Singularität. Bekannte, im Raum unseres Interesses wirksam gewordene historische Beispiele dieser Art sind die philosophischen Schulen der Athener, die religiösen Schulen der Israeliten, die rhetorischen Schulen der Römer und die altchristlichen Katechumenenschulen. Die Katecheten- und Katechumenenschulendes christlichen Altertums bilden zwei der im Mittelalter und dann darüber hinaus entwickelten Grundstrukturen der europäischen und deutschen Schule. Aus den Konvertitenschulen des 2. nachchristlichen Jahrhunderts sind die Pfarrschulen, die christlichen Volksschulen des Mittelalters, hervorgegangen. Die gelehrten Katechetenschulen, deren beühmteste im 2. und 3. Jahrhundert diejenige in Alexandria mit Origines als Lehrer ist, haben nicht nur auf die Kloster-, Kathedral- bzw. Dom- und Stiftsschulen, sondern auch auf die
Universitäten des Mittelalters eingewirkt. Wie groß auch der inspirierende und stimulierende Einfluß des immer wieder von neuem entdeckten lateinischen und vor allem griechischen Beispiels, ja Vorbilds zu veranschlagen ist — man denke bloß an die Schule zu Athen —, die populären und wissenschaftlichen Lehranstalten des Mittelalters und dann der Neuzeit sind in dieser Form ohne Vermittlung durch das christliche Schulbeispiel nicht denkbar. Man darf dabei allerdings nicht übersehen, daß zur gleichen Zeit „heidnische" Schulen des gleichen Typus bestanden: die lateinischen Trivial- und Grammalikschulen. Die in der Merowinger-und Karolingerzeit bekannten Hofschulen, deren ältere historische Vorläufer die ägyptischen Kaufmannsschulen sind, können in Parallele zum dritten lateinischen Schultypus, den Rhetorenschulen, gedacht werden.
Schulverordnungen unter Karl dem Großen
Als Karl der Große, der selber eine schola Palatino unterhielt und dort seine Kinder durch Alkuin unterweisen ließ, daran ging, ein elementares Bildungswesen zu entwickeln. fand er auf deutschem Boden nur wenige Schulen vor. Das durch irische und angelsächsische Missionare den deutschen Stämmen übermittelte Christentum konnte nur erste und wenige Keimzellen der Bildung aufweisen: die Benedektinerklöster. Immerhin entwickelten die Klosterschulen bereits zwei für das Mittelalter überhaupt charakteristische Formen; die eine für den eigenen Nachwuchs (schola interna), die andere für einen weiteren Interessentenkreis (schola externa). Die späteren Domschulen waren gleichfalls nicht nur den Geistlichen und Mönchen, vielmehr auch den Söhnen der Edlen zugänglich. Karl erläßt 786/87 die erste kaiserliche Bildungsanordnung auf deutschem Gebiet (Epistola de litteris Colendis
Dieser frühe fruchtbare „Bildungswettstreit" zwischen Kirche und „Staat" zeitigt, schulrechtlich und bis zu einem gewissen Grade auch schulfaktisch betrachtet, bereits unter Karl dem Großen einen beachtlichen historischen Auftakt. Es entstehen zwei schulpolitische Rechtsakte, die man als konstitutiv für die Entwicklung und Verbreitung des Bildungswesens im Mittelalter ansehen kann. 789 faßt die Synode zu Aachen den Beschluß, nicht nur an den Klöstern, sondern auch an Kathedralen und Domstiften priesterliche Knabenschulen zu errichten, die in Lesen und Schreiben, Psalmen und Kirchengesang, Grammatik und Computus (Berechnung der Kirchenfeste) unterwiesen werden sollen. Es handelt sich um die Stiftungsurkunde der Stifts-schulen. Die kaiserliche Verordnung des Jahres 809 kann demgegenüber als eine solche der Piarrschulen, der mittelalterlichen Vorläufer der neuzeitlichen Volksschulen, betrachtet* werden. Zwar waren Pfarrschulen schon in den Synodalbeschlüssen der Kirchen gefordert und auch hier und dort begründet worden, aber erst diese Schulverordnung Karls des Großen schafft die rechtliche Handhabe, diese über das Land auszubreiten. Noch zwei weitere für die Ausbreitung der Volksbildung relevante Verordnungen Karls des Großen bedürfen der Erwähnung. Die eine aus dem Jahre 804 verfügt eine kirchliche Unterweisungspflicht: „Zum Lernen des Glaubensbekenntnisses, des Vaterunsers wie der Taufformel sollen alle angehalten werden. Und wer sie doch nicht behält, soll Schläge erhalten, oder es soll ihm alles Getränk außer dem Wasser entzogen werden, bis er sie vollständig gelernt hat. Und daß dies durchgesetzt werde, dafür sollen unsere Sendboten in Gemeinschaft mit den Bischöfen sorgen, -desgleichen werden die Grafen, wenn sie Unseren Dank verdienen wollen, die Bischöfe unterstützen, daß sie das Volk zwingen, jenes zu lernen."
Der Mainzer Beschluß von 813 schließlich kann als erste Schulpflichtverordnung auf deutschem Boden angesehen werden. Bestimmt sie doch bereits, daß alle Untertanen, das heißt Erwachsene und Kinder, Männer und Frauen, Edl und Gemeine, allgemeinen Elementarunterricht — sei es lateinischen, sei es muttersprachlichen — erhalten sollten.
Auf der anderen Seite sind zur selben Zeit kirchenpolitische Rechtsakte mit eindeutig regressiver Tendenz feststellbar. Als ein Dokument dafür kann man den Beschluß der Aachener Reichssynode von 817 bezeichnen. Es verfügt nämlich der Ausschluß der Laien von den klerikalen Bildungsstätten. Die Unterweisung und Erziehung sollte sich auf die pueri oblati der Klosterschulen und scholares canonici der Dom-und Stiftsschulen beschränken. Auch wenn dieser, von der Sache her „unhaltbare"
Beschluß bereits fünf Jahre später revidiert werden mußte, ist nach Karls Abgang erneut eine jahrhundertelange Stagnation für den Bereich der Volksbildung zu verzeichnen. Die Entfaltung einer „höheren" und „hohen" Bildung, insbesondere auch unter den Ottonen, förderte zwar jenen unaufhaltbaren Säkularisierungsprozeß, der in der Neuzeit zur öffentlichen Schule für alle und jedermann führt. Aber in der politisch-sozialen Situation dieser Zeit und dieses Raumes ist die gehobene ständische Laienbildung eher geeignet, die Entwicklung der Elementarbildung zu hemmen als zu fördern. Bildung ist und bleibt im Mittelalter — und bedingt die Neuzeit hindurch — ein Standesprivileg. War es bisher allein der Berufsstand der Kleriker, der dieses Vorrecht genoß, so sind es jetzt auch die „Träger" weltlicher Berufe, die sich dafür auserwählt glauben. Hierher gehört auch das Kapitel der „Ritterbildung", bei der es sich eigentlich nicht um Bildung, jedenfalls nicht um gelehrte Bildung, sondern um Erziehung auf jenes Ideal hin handelt, das dann Castiglione zur Gestalt des „Hofmannes" verdichtet. Mit dem Niedergang des Rittertums und dem Aufkommen der Städte ergeben sich gesellschaftliche Bedingungen, die einen neuen Impuls zur Verbreitung der Volksbildung sowohl ermöglichen als auch erfordern.
Die Rechtshistorie weist eine Reihe interessanter Dokumente auf, die nicht nur als rechtlich-ideelle Wegmarken Erwähnung beanspruchen. Sie bilden zugleich den äußeren Rahmen oder die mittelbaren Voraussetzungen für den in Schüben vor sich gehenden Prozeß der Verselbständigung des Bildungswesens. Im Unterschied zur Römischen Zeit und zu Italien war das Machtverhältnis von Kirche und Staat in bezug auf die Schule im germanisch-deutschen Raum völlig ungeklärt. Das Vorrecht, welches die Kirche hier beanspruchte, kam ihr gleichsam von Hause aus nicht zu. In Rom gab es ursprünglich nur private und öffentliche Schulen. Die christlichen Kirchen griffen sowohl formal wie inhaltlich auf diese hellenistische säkularpädagogische Tradition der Grammatikei und Rhetoren zurück, als sie daran gingen, an Klöstern, Domen und Kathedralen klerikalpädagogische Anstalten zu errichten. Auf diese ihre eigene, vor allem im 4. und 5. Jahrhundert begründete Bildungstradition griff Karl d. Gr. zurück, als er sich anschickte, nicht allein dem Bildungsrückgang im 7. und 8. Jahrhundert ein Ende zu setzen, vielmehr Bildung zu verbreitern und vertiefen.
Mit der Entwicklung der politischen Position der Städte tritt ein neuer gesellschaftlicher Faktor im Kräftespiel um die Schule auf die Szene. Das im 12. und 13. Jahrhundert ausgebildete Gewohnheitsrecht der Kirchen auf die Schulen wird durch das wohlhabend und einflußreich werdende Bürgertum zunächst in vorsichtiger Form angetastet und dann in eindeutiger Form in Frage gestellt. Das Geburtsdatum der Stadtschulen ist nicht genau auszumachen; denn sie entstanden zunächst einmal innerhalb der Kirchen-, insbesondere der Pfarrbzw. Parochialschulen, später wohl die Grund-stufe dieser Schulen bildend. Sie erwuchsen zum anderen aus solchen kirchlichen Schulen, die in finanzielle, ökonomische und pädagogische Schwierigkeiten geraten waren oder in solche politischer Art gerieten. Mit Energie und Eifer nahmen sich nun die Städte ihrer an, um sie zu erneuern, zu erweitern, aber auch zu erhalten und zu verwalten. Schließlich kommt es zu selbständigen Neugründungen von Stadt-schulen auf Initiative und unter Vorherrschaft der Räte; so schon im 13. Jahrhundert in Lübeck, Breslau, Helmstedt, Wismar, Hannover, Hamburg und an anderen Orten. Die vom Rat der Stadt gegründeten Schulen hießen Rats-schulen (scholae senatoriae). Daß es in vielen dieser Fälle zu örtlichen Streitigkeiten zwischen Kirche und Stadt kam, ist aus der Situation heraus verständlich. Einen gesicherten Rechtsanspruch besaß die Kirche selbst dort nicht, wo sie alleiniger Besitzer und Beherrscher von Schulen am Orte war. Im 14. und 15. Jahrhundert gehen Recht und Macht über die Schule mehr und mehr auf die Städte über.
Wenn in der Geschichte des Bildungswesens von Stadt-oder Ratsschulen die Rede ist, so denkt man an Schulen, welche sich in der Hand der Städte befanden und von deren Räten verwaltet wurden. Ihr entscheidendes schulrechtliches Kennzeichen ist ihr öffentlicher Status auf kommunaler Basis. Fragt man nach dem pädagogischen Charakter dieser Schulen, so stellten sie, wenigstens zur Zeit ihrer Gründung, nichts anderes als Kopien der Kirchen-schulen dar. Das zeigt sich insbesondere auch in der lateinischen Unterrichtssprache. Insofern werden sie in der Literatur mit Recht als „lateinische Schulen" bezeichnet. Sie verdienen nur insofern „deutsche" Schulen genannt zu werden, als es eben Schulen auf deutschem Territorium sind. Bedenkt man, daß es zugleich Schulen waren, welche zumeist nur in die Anfangsgründe der Schulbildung einführten, so ist es wiederum sinnvoll, ihnen mit den Pfarrschulen den Namen „Trivialschulen" (scholae triviales) zu geben. Wer eine weiterführende Schule besuchen wollte, war auf die kirchliche Dom-oder Stiftsschule angewiesen. Für die Schulrechtshistorie relevant ist ausschließlich das Faktum, daß in der zweiten Hälfte des Mittelalters im Reichsgebiet öffentliche Anfangsschulen in Gestalt der Stadtschulen entstehen. Es sind Schulen, für die der Rat der Stadt seit dem 14. Jahrhundert eine Rahmen-ordnung festlegt, für den Unterhalt aufkommt, die Lehrer beruft, das Schulgeld bestimmt und Schulaufsicht ausübt. Erwähnt werden müssen schließlich die mittelalterlichen Landschulen, die bereits im 14. Jahrhundert in den Quellen genannt werden, über ihre Verbreitung und Bedeutung gehen die Meinungen in der Literatur auseinander; desgleichen über die Funktion des allgemeinbildenden Schulwesens sowie den Umfang der allgemeinen Bildung in dieser Zeit.
Schulplan und Schulordnung der Reformationszeit
Sieht man von den schulreformerischen und -stiftenden Einzelaktionen ab, wie sie von den Hieronymianern, den Humanisten und den Orden mit Erfolg vorgenommen wurden, so beanspruchen erst wieder die nachreformatorischen Maßnahmen der Landesherren schulhistorisches Interesse. Diese leiten zugleich einen neuen Abschnitt in der Entwicklung des deutschen Schulrechts ein. Es ist die Periode der Verselbständigung wie der Herauslösung der Schulordnungen aus den Kirchenordnungen. Es ist zugleich die Phase der allgemein-wie schulpolitisch bedeutsamen Herausbildung der Territorien, die ein eigenes Schulrecht sowohl bedingen als auch ermöglichen. Neben der Rechts-und Machtinstitution der Kirche und Gemeinde tritt das Land auf den Plan. Die Stadt erhält den Staat zum Kondominaten und Konkurrenten. Die im Mittelalter für die einzelnen Dom-und Stadtrayons erlassenen Schulbestimmungen und -Ordnungen werden nun „aufgehoben" in einem Schulrecht territorialen Geltungsbereichs. Es entsteht ein von Kirche und Gemeinde relativ unabhängiges, nun durch ein übergeordnetes Recht vereinheitlichtes Schulwesen der deutschen Länder.
Im Gefolge der Reformation wie des Bauern-krieges schwand zugleich mit dem Ansehen der Kirche und ihrer Lehrer die Wertschätzung des Lateinischen und damit der humanistischen Wissenschaften. Sowohl dieser Niedergang des Bildungswesens im 16. Jahrhundert wie der vorgefundene Tiefstand der Stadt-und insbesondere Landschulen als Erbe des 15. Jahrhunderts veranlaßten Martin Luther zu dem berühmten Sendschreiben „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen" (1524). Ihm folgt „Ein Sermon oder Predigt, daß man sollte Kinder zur Schule halten" (1530). Ihnen voraus ging bekanntlich der Appell „An den christlichen Adel Deutscher Nation. Von des christlichen Standes Besserung"(1520). Dieses Traktat mit der Luther-Forschung darf man als eine der wichtigsten Reformationsschriften ansehen; man wird darin — gerade auch im vorliegenden Zusammenhang — mit Ranke „ein paar Bogen von welt-historischem, zukünftige Entwicklungen zugleich vorbereitendem und voraussagendem Inhalt" erkennen müssen.
Unter den pädagogischen Schriften Luthers ist schließlich sein 1524 Spalatin übersandter „Schulplan" von Interesse, der nicht erhalten, vermutlich jedoch in Melanchthons „Visitationsbüchlein" (1528) auf-und eingegangen ist. Man kann, einem Hinweis Räumers zufolge, darauf aus einem Brief Melanchthons an Camerarius schließen. Der Plan, der dem kur-fürstlichen Landesherren vorgelegt werden sollte und in der Melanchthonschen Fassung auch von ihm sanktioniert wurde, war für die kursächsischen Schulen gedacht.
Melanchthons schulreformerische Wirksamkeit fällt in die Zeit der ersten reformpädagogischen Mahnrufe Luthers. Dem sehr früh — weniger in Abhängigkeit, eher im Gegensatz zu Luthers weltmännisch-christlichem Erziehungsziel — entwickelten Bildungsideal eines christlichen Humanismus zeitlebens verpflichtet, wirkt Melanchthon bereits in den Jahren 1521— 1526 aktiv an der Gründung neuer Gelehrtenschulen in Magdeburg, Eisleben und Nürnberg mit. Seit 1527 ist er an den Kirchen-und Schulvisitationen beteiligt. Es folgt 1528 seine bedeutsamste schulpolitische und schulrechtliche Leistung: Die anscheinend auf einen Entwurf Luthers zurückgehende Sächsische Schulordnung — Vorläufer und Vorbild jener vorpreußischen Entwicklung und Verbreitung von Schulordnungen in „deutschen Landen", die ihre eigene Geschichte und ihren ersten Höhepunkt im Allgemeinen Landrecht (1794) hat.
Dieses „Visitationsbüchlein" Melanchthons ist die primäre und originäre Initiation für die Herausbildung eigenständiger Schulordnungen in Deutschland; sie ist jedoch nicht die einzige Quelle. Man wird daneben als zweiten Grundtyp die Straßburger Ordnung von Johannes Sturm aus dem Jahre 1538 bzw. 1539 nenB nen müssen. Obgleich der Kursächsischen Ordnung von 1528 und somit Melanchthon und Luther verpflichtet, kann sie zugleich als ein Element der „Süddeutsch-schweizerischen Reformation" (Fr. Paulsen) verstanden werden. Es bleibt das historische Verdienst des Johannes Sturm, mit seiner Straßburger Anstalt, die dann in eine Akademie umgewandelt wurde, in den 45 Jahren seines Rektorats den Prototypus eines deutschen Gymnasiums geschaffen zu haben. Sturms humanistische Prinzipien, sein bildungstheoretisches Programm sowie sein Schulorganisationsplan umschließen ein bündiges Konzept, an dem die folgenden gymnasialpädagogischen Auseinandersetzungen nicht vorübergehen konnten. Selbst und gerade auch die neuhumanistische Gymnasialreform sind von der Sturmschen Konzeption inspiriert und beeinflußt worden — bis hin zu Humboldt. Es ging um die Frage, ob man seinem oder dem Melanchthonschen Modell folgen solle.
Die Schulgeschichte des Reformationszeitalters sowie die Schulrechtsgeschichte im besonderen wären unvollständig, wollte man bei den zwei bereits von Spranger erkannten Grundformen Stehenbleiben. Es gilt — neben dem lutherischen und „reiormierten" — als dritten Typus der Zeit den von der Societas Jesu entwickelten Schulplan und die ihm folgende katholische Schulreform zu erkennen.
Diese Rolle und dieses Verdienst fallen vor allem der von Ignatius von Loyola inszenierten „Compania de Jesus" und des 1540 offiziell inaugurierten Ordens ^Societas Jesu“ zu. Die Jesuiten dürfen mit als die eigentlichen Träger des „Katholischen Hutnanismus" (Th. Ziegler) angesehen werden. Bereits in den Konstitutionsentwürfen des Ignatius finden sich die Grundelemente jener Studienordnung der Gesellschaft, die in einer rund fünfzigjährigen Entwicklung zu ihrer gültigen Form fand.
Die drei skizzierten Grundformen reformpädagogischen Wirkens im Reformationsjahrhundert korrespondieren mit schulrechtlichen und -politischen Maßnahmen und Entwicklungen, die weit über diese Zeit hinausweisen. Es ist angezeigt, im Melanchthonschen Schulplan den eigentlichen Ursprung der deutschen protestantischen Gelehrtenschule zu erblicken, die dann durch die Wirksamkeit Sturms, Neanders, Trot- zendorfs u. a. zur Entwicklung des höheren Schulwesens in Deutschland führt. Der Me-lanchthonsche Schulplan fand durch Vermittlung von Bugenhagen, Jonas, Regius u. a. Verbreitung und Verwirklichung im nördlichen, durch Brucer, Brenz, Schnepf u. a. im südlichen Deutschland. Johannes Bugenhagen, der mit Luther und Melanchthon zu den namhaften „Wittenberger Reformatoren" zählt, trägt maßgeblich zur Entwicklung und Verbreitung protestantischer Kirchen-und Schulordnungen bei. Die ihm zu verdankenden und seit 1528 entstehenden Ordnungen für die Städte Braunschweig, Lübeck, Hamburg wie auch für Pommern, Dänemark, Holstein und Braunschweig-Wolfenbüttel, lehnen sich gleichfalls an den Melanchthon-Plan an, wenn auch nicht so eng wie die meisten übrigen protestantischen Schulordnungen der Zeit. Es ist für die Schulrechtsentwicklung der Zeit charakteristisch, daß einige unter ihnen wiederum zum Vorbild für nachfolgende Kirchen-bzw. Schulordnungen werden. So hat die beispielsweise auf den „Sächsischen Schulplan" zurückgehende Braunschweiger Kirchenordnung Pate gestanden bei den Kirchenordnungen von Göttingen, Wittenberg, Bremen und anderen.
Ob nun Luther, Melanchthon oder Bugenhagen, ob Sturm, Trotzendorf oder Neander, ob von Loyola, de Aquaviva oder Canisius — sie alle haben maßgeblich an der Entstehung eines territorialen Unterrichtswesens auf deutschem Boden mitgewirkt und somit den Grundstein für die Entwicklung eines deutschen Bildungswesens im Reiormationsjahrhundert gelegt. Es ist ein Produkt der Reformation wie Gegenreformation!Es beginnt im und mit dem lutherischen Protestantismus, greift auf den Calvinismus
Weimarer und Gothaer Schulordnung
Wie verdienstvoll aus historischer Retrospektion auch diese Schulgründungen gleichsam aus Staatshand für die Entfaltung eines deutschen Bildungswesens sein mögen, deren Etati-sierung, Säkularisierung und Nationalisierung vermag sich in der Breite erst durchzusetzen, sobald sie durch rechtskräftige und rechtswirksame Bestimmungen komplementiert werden. Die Schulrechtshistorie registriert in der Weimarer Schulordnung von 1619 zwei gleichermaßen bedeutsame Initiativen: Weimar führt als erste deutsche Provinz die allgemeine staatliche Schulpflicht ein und läßt erstmals ihre Schulordnung getrennt von der Kirchen-ordnungerscheinen. Zwar hatten bereits die Anhalt-Bernburger (1607) und die landgräflichhessischen (1518) Schulordnungen den Schulzwang eingeführt, aber dieser stellt noch kein staatliches Reglement wie wenig später im Fürstentum Weimar dar. In dieser, wie in einer großen Zahl nachfolgender Schulordnungen, sind die schulpädagogischen Vorstellungen Ratkes und dann auch Comenius' nachweisbar, namentlich in den sächsischen Herzogtümern. Was hier in der Weimarer Schulordnung ihr Verfasser, der Hofprediger Johannes Kromayer, im Geiste Ratkes und des Herzogs Johann Ernst ausdrückt, darf mit Recht als die Besiegelung der durch Karl den Großen und Martin Luther vergeblich angestrengten Bemühungen gelten, den allgemeinen Schulbesuch sozusagen durch den staatlichen „Zwang zum Glück" durchzusetzen: „Sollen demnach hin-führo die Pfarrherrn und Schulmeister an einem jeden Ort über alle Knaben und Mägdlein, die vom 6. Jahr an biss ins 12. Jahr, bey jhrer Christlichen Gemeinde gefunden werden, fleissige Verzeichniss und Register halten, auff das mit denen Eltern, welche jhre Kinder nicht wollen zur Schule halten, könne geredet werden, auch auffe bedarf durch zwang der weltlichenObrigkeit dieselben in diesem Fall jhre schuldige Pflicht in acht zunnemen, angehalten werden mögen."
Weimar stiftet das Beispiel für eine Serie weiterer fortschrittlicher Schulordnungen, die von Herzog Ernst I. durch die noch bedeutsamere Gothaer Ordnung von 1642 ergänzt werden. Nachdem Herzog der Fromme von Sachsen 1640 neben anderen Gebieten Gotha erworben hatte, erließ er den im wesentlichen von Andreas Reyer verfaßten „Spezial-und sonderbahren Bericht, wie nechst göttlicher Verleyhung die Knaben und Mägdlein auff den Dorfschaften und in den Städten die unter dem untersten Haussen der Jugend begriffene Kinder im Fürstenthum Gotha kurtz-und nützlich unterrichtet werden können und sollen". Nachdrücklicher noch als in der Weimarer Ordnung schon wird in der Gothaer die allgemeine Schulptlicht unterstrichen: „Die Kinder sollen jedes Orths alle, keines ausgenommen, Knaben und Mägdlein, das gantze Jahr stets nacheinander in die Schule gehen . . . Wenn ein Kind fünf Jahre alt ist, so soll es zur Schule geschickt werden . .. Die Kinder sollen keine Stunde verseumen..." usw.
Vorgang und Vorbild Weimars und Gothas folgt namentlich Herzog Johann Ernst II., der die progressiven Grundideen in seine Kirchen-ordnung von 1664 aufnahm, sie somit auf Thüringen ausdehnend. Vergleicht man die Wirkung des „Schulmethodus" Reyers mit der Bugenhagenschen Schulordnung, so verdienen die folgenden Ordnungen besondere Erwähnung: Braunschweig-Wolfenbüttel (1647 bzw. 1651), Braunschweig-Lüneburg (1649), Württemberg (1649), Hessen (1656), Magdeburg (1658), später auch solche aus den kur-sächsischen Ländern, Preußens, Altbayerns und Badens. In den katholischen Gebieten, den verbliebenen und zurückgewonnenen, sind an Maßnahmen der Zeit hervorzuheben: die Synodalund Visitationsdekrete für die Bistümer Konstanz (1609 bzw. 1665) und Augsburg (1693), die Constitutio Bernardina des Stifts Münster (1655), die Schulordnungen in Kurköln (1656) und im Stift Paderborn (1663). Hinzu kommen der kurerzbischöfliche Erlaß für die Gebiete Mainz und Worms, der eine allgemeine Schulpflicht vom 6. bis zum 12. Lebensjahr, allerdings nur für die Winterschule, verfügt (1682), und die Würzburger Vorschrift über Errichtung und Unterhaltung „absonderlicher Rechen-und Schreibschulen" (1693). Da diese neben den Pfarrschulen bestehen, kann man davon sprechen, daß sich somit auch in den katholischen Landesteilen die Idee einer gleichwertigen nichtgeistlichen Schule auszuwirken beginnt. Mag es vielleicht auch zu weit gehen, wenn man im Schulmethodus „die gemeinsame Wurzel der Organisation des deutschen Schulwesens" erblickt
Schuledikte Brandenburg-Preußens
Die Schulrechtsgeschichte Brandenburg-Preußens, zunächst rückschrittlicher als diejenige anderer mitteldeutscher und protestantischer Territorien, erfährt ihre entscheidende Zäsur durch den Sieg des aufgeklärten Absolutismus. Hinkt es zunächst hinter jener progressiven Entwicklung, die sich zuerst innerhalb der mitteldeutschen Fürstentümer entfaltet und dann sowohl innerhalb der größeren nord-wie süddeutschen Territorien fortpflanzt, übernimmt jetzt Preußen die beispielgebende Rolle. Im 16. und 17. Jahrhundert konnte sich das „Volksbildungswesen" Brandenburg-Preußens mit Ländern wie Kursachsen, Württemberg, Weimar und Gotha keineswegs messen. Auch den bekannten Kirchen-bzw. Schulordnungen kommt keine den schulisch fortgeschritteneren Territorien vergleichbare Bedeutung zu. So beschränkt sich beispielsweise eine Visitationsund Konsistorial-Ordnung von 1573 noch darauf, die Küster anzuhalten, „alle Sonntage des Nachmittags oder in der Woche einmal" die Kinder im Katechismus und in deutschen Psalmen zu unterweisen. Man stelle dem die wenige Jahre vorher oder nachher verkündeten großen Kirchenordnungen von Württemberg und Kursachsen gegenüber, die bereits „für alle Dörfer und Flecken die Errichtung von deutschen Schulen“ vorschreiben. Soweit sich die Anfänge eines Elementarschulwesens herausgebildet hatten, wurden diese durch den Dreißigjährigen Krieg zerstört, von dem Bran-denburg bekanntlich besonders hart getroffen worden war. Vor diesem Hintergrund nimmt sich die Tatsache positiver aus, daß der Große Kurfürst in seinem Bemühen um den Wiederaufbau in etwa zur gleichen Zeit in der reformierten Kirchenordnung (1662) und der lutherischen Schulordnung (1687) für Kleve und die Mark anordnete, „allen Fleiß anzuwenden, daß hin und wieder sowohl in Dörfern als Flecken und Städten wohlbestellte Schulen" eingerichtet und unterhalten werden. Mit ihm kündigt sich bereits jene „aufgeklärte" Bildungspolitik an, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts in entscheidendem Maße dazu beiträgt, daß man das Aufklärungsjahrhundert später „pädagogisches Jahrhundert" (Niethammer) nennt.
Der erste preußische König, Friedrich I., zweifelsfrei dem absolutistischen Staatsmodell Ludwigs XIV. verpflichtet, erkennt in Wissenschaft, Kunst und Bildung nicht nur ein Element „staatlicher Macht und höfischen Glanzes" (Spranger), vielmehr zugleich einen der Ausklärungsidee als solcher innewohnenden Auftrag. Unter ihm gewinnt der phantastische Entwurf seines Vorgängers in der Akademie bzw. Gesellschaft der Wissenschaften zu Berlin(1700) eine bescheidenere, aber um so wirkungsvollere Gestalt. Dieser voraus geht die nicht weniger bedeutsame Gründung der UniversitätHalle (1694). Nicht nur Leibniz und Thomasius, die bei diesen Gründungen Pate standen, auch A. H. Francke und mit ihm der Pietismus gewannen Einfluß auf das Königshaus. Franckes Einfluß sind nicht nur sozialpädagogische Maßnahmen zu verdanken, wie er in der Errichtung des Pädagogiums in Halle (1696) zum Ausdruck kommt. Er zeigt sich insbesondere in jener entscheidenden Hinwendung zur Unterweisung der „niederen" Schichten, die es fortan erlaubt, von einer preußischenVolksbildungspolitik zu sprechen. Dieser politische Wille findet rechtskräftigen Niederschlag im Preußischen Generalvisitationsedikt vom 16. April 1710.
Das Edikt, das Präambelcharakter für das große bildungspolitische Engagement Preußens hat, scheint auf den ersten Blick ganz in die Reformationszeit zu gehören, die nichts weniger als eben das, was hier gefordert wird, anstrebte. Der Eindruck täuscht insofern nicht, als in Brandenburg-Preußen die Volksbildungsgeschichte in der Tat 150 Jahre, nämlich seit der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540, stillgestanden zu sein scheint. Im Edikt fällt jene eigentümliche, im Grunde widersprüchliche Mischung von pietistischer Frömmigkeit und preußischem Pflichtbewußtsein auf, welche den Grundstein des jungen preußischen Staates bildet.
Unter Friedrich Wilhelm 1., dem „eine epoche-machende Stellung in der Geschichte des Unterrichtswesens" Preußens (Heubaum) zugesprochen wird, wächst sich der pietistische Einfluß zu einer Dominante aus, die sich bis hin zu den unglückseligen Stiehlschen Regulativen auf die preußische Bildungspolitik auswirken sollte. Spranger erblickt sicherlich zu Recht darin eine späte Nachwirkung des theokratischen Slaatsgedankens. Die Reform beginnt folgerichtig am 10. Juli 1713 mit der Errichtung eines evangelisch-reformierten Kirchendirektoriums für das ganze Land; wenige Monate später, am 24. Oktober 1713, folgt die „Gymnasien- und Schulordnung".
In dieser ersten selbständigen preußischen Schulordnung sind schon jene wegweisenden Elemente enthalten bzw. kündigen sie sich an, die dann das weitere bildungspolitische Programm Friedrich Wilhelms I. und seiner Nachfolger bestimmen: die Kategorisierung des Lehrerberufs bzw. -Standes mit angemessener Besoldung und Ausbildung, des Lehrstoffes mit einheitlichen Lehrbüchern und -plänen sowie des Gymnasialexamens als Zäsur gegenüber dem Universitätsstudium. Man muß die Verordnung über die studierende Jugend von 1718 sowie den Generalschulenplan für das Land-schulwesen von 1736 hinzunehmen, um diese Entwicklungsschritte zu erkennen.
Wenn jedoch Friedrich Wilhelm I. als „Vater der preußischen Volksschule" bezeichnet wird, denkt man nicht nur an diese und andere damit verbundene schulpolitische Maßnahmen. Man denkt auch nicht vornehmlich an jene Stiftung, die, aus dem sozialpädagogischen Geist pietistischer und namentlich Franckescher Pädagogik erwachsen, ihn zum Gründer mehrerer Waisenhäuser werden ließ. Man denkt wohl auch kaum an jene der Entwicklung weit vorauseilenden Erwägungen, den Schulunterricht unentgeltlich zu machen, wie es sich im Pommerschen Edikt vom 19. Dezember 1716 ankündigt. Man denkt primär und letztlich an zwei Dekrete: die General-Edikte von 1717 bzw. 1736.
Preußisches Generallandschul-Reglement und Allgemeines Landrecht
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tritt der preußische Staat als unbestrittener Beherrscher des Schulwesens auf. Im Bericht des Oberkonsistoriums von 1799 heißt es: „Es ist unleugbar, daß die Schulen als Institute des Staates und nicht als Anstalten einzelner Konfessionen zu betrachten sind."
An relevanten schulpolitischen Maßnahmen bzw. Ereignissen in den vierziger und fünfziger Jahren sind zu erwähnen: Gründung und Förderung des von J. J. Hecker in Verbindung mit seiner Realschule ins Leben gerufenen dritten Volksschullehrerseminars in Berlin (1748), die Einrichtung eines Lutherischen Oberkonsistoriums zur Beaufsichtigung sämtlicher Schulen dieser Konfession in Preußen sowie der Erlaß einer neuen Landschulordnung für Minden und Ravensberg (1754) und die Verfügung über die Besetzung von Schulmeister-und Küsterämtern (1758). Diesen folgt die bedeutsamste bildungspolitische Maßnahme Friedrich des Großen, die Preußen eindeutig dem avantgardistischen pädagogischen Geist der Zeit verpflichtet: das General-Landschul- Reglement von 1763. Der bahnbrechenden, Schulordnung für die protestantischen Schulen folgt — im wesentlichen in Rücksicht auf das seit 1742 besetzte Schlesien, wie auch für Glatz — eine analoge Ordnung für die katholischen Schulen von 1765.
Die zenlrale Bedeutung des allgemeinen Generallandschulreglements von 1763 und der ihm folgenden Maßnahmen und Bestimmungen ist die dadurch vollzogene bildungspolitische und bildungsrechtliche Weichenstellung. In ihm spricht sich nicht nur der große Seckendorfsehe Gedanke aus von der Volksschule als Staats-anstalt, vielmehr damit zugleich die Idee vom ölientlichkeitscharakter des gesamten Bildungswesens als einer „der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung gleichmäßig unterworfenen Staatsangelegenheit".
Mit Recht erblickt Lorenz von Stein darin die Vorwegnahme der Vorstellung und Verwirklichung eines „Ministeriums des Unterrichts", wie sie dann im 19. Jahrhundert wahr wurde: „Es ist die geschichtliche Tat des General-Landschul-Reglements von 1763, diesem Verwaltungsprinzip für das Volksbildungswesen den Weg gebahnt zu haben; erst von ihm aus entwickelt sich der Gedanke, daß Schulpflicht und Schulrecht der Volksschule allen Teilen • des öffentlichen Bildungswesens ebenbürtig seien und daß es künftig kein Bildungswesen mehr ohne ein Volksschulwesen geben könne." Dem überkommenen Recht „des örtlichen Schulwesens und der provinziellen und grund-herrlichen Herrschaft der ständischen Classen" tritt damit ein entschlossener und geschlossener Staatswille entgegen, der neben dem Militär einen neuen Stand sein eigen nennt: „Es ist der Schullehrer, der von nun an eine der großen Grundlagen des preußischen Staatsgedankens wird."
Johannes Hallers Kennzeichnung Preußens, der sich nach 1945 viele kongeniale Interpretationen hinzugesellten, bedarf einer entscheidenden Ergänzung, wenn er sagt: „Der preußische Staat hat etwas Neues in die deutsche Geschichte nicht nur durch die völlige Verschiebung der Machtverhältnisse gebracht, die sich aus seiner Vergrößerung ergab, er ist selbst etwas Neues in seiner Wesensart. Er ist ein Militärstaat."
Höhepunkt und zugleich krönender Abschluß der preußischen Schulrechtspolitik ist das AllgemeineLandrecht von 1794. Dieses wohl interessanteste Rechtsdokument des preußischen Absolutismus, das bereits den Charakter einer Art Verfassung hat, faßt alle bisherigen Bestrebungen, das Bildungswesen zu verstaatlichen,zusammen, indem es bündig feststellt: „Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen des Staates ..." Fortan dürfen diese Lehranstalten nur mit „Vorwissen und Genehmigung des Staates" errichtet werden. Neben-schulen bzw. Winkelschulen sollen nicht mehr geduldet werden, schulische Unordnungen und Mißbräuche sind anzuzeigen, Privaterziehungsanstalten müssen der lokalen Schulaufsichtsbehörde unterstellt werden. Für die einzelnen Gemeinden wie Bürger gilt die Rechtsnorm der allgemeinen Schulpflicht.
Die Schulartikel des Allgemeinen Landrechts unterstreichen die utilitaristisch-politischen wie -ökonomischen Erziehungsund Bildungsintentionen des preußischen Staates und seines Herrschers, der sich mit ihm identifiziert, folglich auch seine „Unterthanen" diesem wie sich selber verpflichten möchte. In der testamentarisch verbürgten Äußerung Friedrichs II., glücklich sei derjenige Staatsbürger, welcher in „völliger Übereinstimmung" mit der Obrigkeit lebe, kommt sehr deutlich der politische, in der Ausrichtung auf die Seidenraupenzucht kommt plastisch der merkantilistische „Hintergedanke" dieses pädagogischen Engagements des „aufgeklärten" Preußen zum Ausdruck. Es wird kodifiziert im zweiten Teil des grundlegenden ersten Satzes: Die öffentlichen Schulen und Universitäten haben „den Unterricht der Jugend in nützlichen Kenntnissen und Wissenschaften zur Absicht"!
• Der Süvernsche Unterrichtsgesetz-Entwurf
Was immer auch für oder gegen die preußisch-deutsche Bildungspolitik im 19. Jahrhundert vorgebracht werden mag — ob in den Extremen traditioneller Glorifizierung oder aktua-listischer „Diabolisierung" —, die von Friedrich Paulsen am Ende dieser Epoche vorgenommene Periodisierung ist unseres Wissens bis heute nicht grundsätzlich und ausdrücklich angefochten worden. Sie gilt jedoch, wie sich zeigen wird, nur mit erheblichen Einschränkungen
Als Paulsen kurz nach der Jahrhundertwende (1906) diese Sätze schrieb, war er selbst noch erfüllt vom Vertrauen auf die allgemeine Volksbildung als einem Mittel zugleich auch der Sozialrelorm. Es ist die Zeit der großen reformpädagogischen Bewegungen, welche glauben, aus eigener Kraft und gegebenenfalls im Gegensatz zu Politik, Staat und Gesellschaft sich durchsetzen und das gesamte Bildungswesen umgestalten zu können. Etwas von diesem, wenngleich weniger utopischen Reformelan spürt man auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als in Preußen im Zeichen der Befreiungskriege der Versuch unternommen wird, das politisch-gesellschaftliche Leben insgesamt zu reformieren. Hier kann man nun sagen: Ebenso bedeutsam wie die bekannten
Reformen eines 1 Stein, Hardenberg und Scharnhorstunter realgeschichtlichem Aspekt sind unter geistesgeschichtlichem Blickwinkel die Bildungsreformversuche eines Humboldt, Sü-vern und Nikolovius.
Vergleicht man die staatsphilosophischen Grundvorstellungen der aufklärerisch-absolutistischen Herrscher mit denjenigen der liberal-idealistischen Reformer Preußens, so scheint es keinen größeren Gegensatz zu geben. Zeigt sich darin bereits der grundlegende Wandel im Übergang vom Preußen des 18. zum Preußen des 19. Jahrhunderts an? Vordergründig betrachtet, beantwortet sich diese Frage von selbst. Man übersieht dann jedoch, daß jener absolutistische Herrschaftsanspruch auf den Staat („Der Staat bin ich!") und dieser liberalistische Verzichtsanspruch auf jede Herrschaftsfunktion des Staates (Der Staat als „Vikar der Nation"!) zur gemeinsamen Wurzel die Aufklärung haben. Diese wußte die Prinzipien von Freiheit und Ordnung, die einander auszuschließen scheinen, dialektisch so zu verzahnen, daß sie den Machtanspruch des Staates und den Freiheitsanspruch des Bürgers zugleich garantieren. Es ist nicht die freiheitlich-herrschaftliche Gesinnung Friedrichs des Großen, es ist der Geist der Intoleranz des Preußens der Jahrhundertwende mit dem konfessionalistischen Gesinnungszwang eines Wöllner, der die Reformer nach dem Niedergang Preußens von 1806/07 auf den Plan ruft.
Insbesondere in der Kultur-und Bildungspolitik wird der gemeinsame „Staats-Nenner" deutlich. Zwar übernimmt der Staat jetzt vorrangig die Rolle eines Kulturmäzens, an seiner Vormachtstellung wird jedoch eben dadurch keineswegs gerüttelt. Insofern ist auch der Interpretation G. Gieses zuzustimmen, der in der Humboldtschen Bildungsreform — „trotz ihrer völlig anderen Geistesart" — eine zweifache Anknüpfung an die durch das „Allgemeine Landrecht" vorgenommene Weichenstellung für die preußisch-deutsche Bildungspolitik erkennt: „Es bildet einerseits rein rechtlich die Voraussetzung für Humboldts Reformwerk und wird andererseits hinsichtlich des staatlichen Charakters der Schule durch diese Reform erst eigentlich verwirklicht"
Im Zentrum dieser „neuhumanistischen" Reformbestrebungen steht der von Humboldt inspirierte Unterrichtsgesetz-Entwurf, den sein ehemaliger Mitarbeiter in der preußischen „Sektion für Kultur und Unterricht", der Staatsrat Fr. W. Süvern, ausgearbeitet hatte.
In diesem Entwurf eines allgemeinen Gesetzes im preußischen Staate vom 27. Juni 1819 wird die aufklärerisch-absolutistische Zielsetzung der Erziehung zum „nützlichen Staatsbürger" modifiziert: Sie erscheint jetzt, eingebettet in ein christlich-humanistisches Bildungsideal, im neuen Gewand der Nationalerziehung und Allgemeinbildung. Daß bei diesem Entwurf neben Humboldt der Lehrer Süverns, Fichte, Pate stand, verrät nicht nur die Idee der Verklammerung der allgemeinen Menschenbildung und besonderen Nationalerziehung; es zeigt sich auffälliger noch in der Diktion der „Promemoria“ zum Süvernschen Gesetzentwurf, die an Geist und Sprache der „Reden an die deutsche Nation" (1807/08) erinnert. Das erzieherische Wirken des Staates — so meint man im erneuerten Preußen, das ein Erziehungsstaat bleibt — sei um so erfolgreicher und überzeugender, je mehr es sich frei mache von den Zwecken „einseitiger mechanischer Einzwän-gung und Abrichtung" und je mehr es auf freie Entfaltung der Nationalkräfte gerichtet sei; diese wiederum stellten nichts anderes als „allgemein menschliche Kräfte unter der besonderen Form der Nationalität" (Promemoria, 1819) dar. Man betrachtet zwar die Schulen als die Basis der gesamten staatlich-nationalen Erziehung; sie sollen jedoch „die allgemeine Bildung des Menschen an sich“, nicht eine unmittelbare professionelle Ausbildung, das heißt Berufsvorbereitung, bezwecken.
Die negative „Verabschiedung" des Süvernschen Gesetzentwurfes 1820 auf dem Kongreß zu Troppau ist das Spiegelbild jenes Schicksals, welches den liberal-humanistischen Reformeifer auch in späterer Zeit ereilen sollte. Es war der Nachfolger Süverns, Ludolph Bek-kedorlf, der der nun einsetzenden ersten schulpolitischen Reaktion wider Willen das schlechteste Zeugnis ausstellte, wenn er gegen den Entwurf Süverns einwandte: „Für Republiken mit demokratischer Verfassung mag dergleichen (ein stufenartig gegliederter Schulaufbau) vielleicht passen, allein mit monarchischen Institutionen verträgt er sich gewiß nicht."
Reaktion und Revolution
Die Furcht vor den Ideen des Rationalismus und Liberalismus in Kirche und Staat und die Flucht in die Restauration und Reaktion unter Friedrich Wilhelm 111. hat die Revolutionen von 1830 und 1848 zur Folge. Was davor bzw. dazwischen im Zeichen der Volksschul-, Gymnasial-und Universitätsreform im Geiste eines Pestalozzi, Humboldt und Fichte erreicht worden war — die neuen Universitätsgründungen (Berlin 1810, Breslau 1811, Bonn 1818), die Einführung der Prüfung für das höhere Lehramt sowie des Abiturs als Hochschulreifeprüfung (1810 und 1834) und die Gymnasialreform (seit 1817), die Einführung der Volksschule nach Pestalozzischen Vorstellungen sowie die Gründung von Lehrerseminaren in Königsberg, Breslau und Weißenfels —, blieb hinter den Vorstellungen der Reformer sowie den Forderungen der Volksschullehrerschaft zurück. Angeführt von Adolph Diesterweg fordern diese ein selbständiges Volksbillungsministerium, die unabhängige Staats-und Einheitsschule, den besser ausgebildeten und besser gestellten Volksschullehrer. Zwar atmet die Rede Friedrich Wilhelms IV. vor den Direktoren der Lehrerseminare im Januar 1849 schon den Geist der „trübsten" preußischen Reaktionszeit, der mit dem Namen seines Referenten für Seminar-und Volksschulangelegenheiten, Ferdinand Stiehl, verbunden ist; der König vermag jedoch nicht zu verhindern, daß in den Entwurf zur Verfassung von 1848 sowie in die Verfassung von 1849 liberal-demokratisches bzw. liberal-soziales Gedankengut eingeht. Die Schulartikel der Reichsverfassung vom 28. März 1849 unterstellen das gesamte Unterrichts-und Erziehungswesen mit Ausnahme des Religionsunterrichts der „Oberaufsicht" des Staates und sprechen den öffentlichen Lehrern die „Rechte der Staatsdiener" zu. Sie erklären den Unterricht in den Volks-und niederen Gewerbeschulen für alle, denjenigen auf öffentlichen Bildungsanstalten für Unbemittelte als schulgeld-frei. Sie proklamieren: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei" (§ 152) — ein Grundsatz, der seither zu den „essentials" deutscher Verfassungsgebung gehört! Ein Jahr später (1850) legt der im Revolutionsjahr berufene Kultusminister Ladenberg einen neuen Unterrichtsgesetzentwurf vor, der die positiven schulrechtlichen Impulse des Allgemeinen Land-rechts, des Süvernschen Entwurfs sowie der Reichsverfassung zusammenzufassen sucht. Er tritt jedoch gegenüber diesen letzteren bereits einen gewissen Rückzug in Richtung auf die bald folgenden Stiehlschen Regulative an, indem er den Kirchen wiederum größere Rechte im Schulwesen einräumt: Aufgabe der „Volksschule" sei es, „durch Unterricht, Übung, Zucht und Ordnung die Grundlagen der für das Le-ben im Staat und in der Kirche, sowie der für das Berufsleben erforderlichen Bildung" zu schaffen (§ 2); neben der Volksschule als Simultanschule bleibt die Konfessionsschule, soweit vorhanden oder erwünscht, bestehen (§ 11 u. 12); das Berufungsrecht der Lehrkräfte wird zwischen Gemeinde, Staat und Kirche, die ein Vetorecht hat, geteilt (§ 51 ff.).
Die Regulative über die Einrichtung des evangelischen Seminar-, Präparandenund Elementarunterrichts vom 1., 2. und 3. Oktober 1854 werden in der pädagogischen Geschichtsschreibung irreführenderweise als „Stiehlsche Regulative" bezeichnet. Tatsächlich sind sie nichts anderes als Bestandteil jener offiziellen preußischen Kulturpolitik, die sich in der Revolution deutlich ankündigt und dann in den „Preußischen Regulativen" niederschlägt. Obgleich nicht nachgewiesen werden kann, daß sie auf königliches „Geheiß" zustande kamen, sind sie jedoch unmittelbarer Ausdruck der „allerhöchst" angestrengten Kulturpolitik, deren Exponent der neuberufene Kultusminister von Raumer ist. War von Ladenberg ausdrücklich bemüht, die Volksschule „nicht als ausschließliches und einseitiges Eigentum des Staates, oder der Gemeinde, oder der Kirche anzusehen"
Schulaufsichtsgesetz, Kulturkampf, Gymnasialreform
Die Preußische Bildungspolitik zur Zeit der Reichsgründung wird eingeleitet von einem schulrechtlichen Dokument ersten Ranges: Sie wird vorbereitet durch die ein wenig liberalere Kulturpolitik unter Bethmann Hollweg, der 1858 Raumer ablöste und mit seinen Erlassen von 1859 und 1861 die „schroffsten Seiten" der Regulative beseitigte; sie wird unterstützt durch die insgesamt aufgeschlossenere schulpolitische Einstellung des Prinzregenten und späteren Kaisers Wilhelm L, die die Aufwerung des Realschulwesens und die praktische Einführung des Realgymnasiums im Lehrund Drüfungsplan von 1859 ermöglichte; sie wird jedoch beeinträchtigt durch das wiederum konservativere Kultusregiment unter Mühler mit seinem aufschlußreichen Erlaß über „Schule und Armee" von 1866 und dem gescheiterten Unterrichtsgesetz-Entwurf von 1869. Seinem Nachfolger, dem Nationalliberalen Adalbert Falk, gelingt mit dem Schulaufsichtsgesetz vom 11. März 1872 der krönende Abschluß der im 18. Jahrhundert eingeleiteten und zu Beginn des 19. Jahrhunderts fortgesetzten progressi-ven preußischen Bildungspolitik. — Die wachsende „Herrschaft des Staates über die Schule" (Bismarck), seit dem General-Landschul-Reglement und dem Allgemeinen Landrecht positiv rechtlich dokumentiert, erfährt jetzt, ein Jahrhundert später, ihren Kulminationspunkt.
Der Verstaatlichungsprozeß des preußischen Bildungswesens erreicht mit dem Schulaufsichtsgesetz seine Vollendung. Es unterstellt sämtliche „öffentlichen und Privat-Unterrichts-und Erziehungsanstalten" der Staatsaufsicht und bestimmt die gesamte Schulinspektion, unbeschadet des Anteils der Kommunen, als staatliche Angelegenheit (§§ 1— 3). Die Kirche bleibt unerwähnt, ist jedoch durch die Aufhebung „aller entgegenstehenden Bestimmungen" so stark betroffen, daß diese Direktive als Kampfansage Bismarcks an die schulpolitische Vormachtstellung der katholischen Kirche im Bereich ihrer Schulaufsicht, und zwar namentlich im polnischen, verstanden werden muß. In die gleiche Richtung weisen der Falk-sehe Erlaß über den Religionsunterricht vom 18. Februar 1876 sowie die Allgemeinen Bestimmungen vom 15. Oktober 1872. Durch diese von Schulexperten vorberatenen, von K. Schneider, dem Nachfolger Stiehls, verfaßten und von A. Falk ein halbes Jahr nach dem Schulaufsichtsgesetz herausgegebenen Bestimmungen wurden die Regulative aufgehoben, was stärker die protestantischen als die katholischen Interessen betraf. Der „Religionserlaß" war jedoch ein weiteres Beispiel jener unglückseligen Auseinandersetzung zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche, die nur deshalb immer wieder auflebte, weil es zu keiner eindeutigen Trennung von Staat und Kirche — hier: in der Schule — gekommen war.
überschattet von dem ihr progressiveres Kultusregiment begleitenden, nicht durchgestandenen Kulturkampf, gelingt es weder Falk noch seinen Nachfolgern, über eine Art „Notgesetzgebung" hinauszukommen. Den von ihnen vorgelegten Unterrichtsgesetzentwürien (Falk: 1877, Gössner: 1889, Zedlitz: 1891) war das Schicksal ihrer Vorläufer (Süvern: 1819, Ladenberg: 1850, Mühler 1869) beschieden, nämlich „Schubladengesetz" zu bleiben. Hervorzuheben sind jedoch aus einer Fülle von Erlassen, Anordnungen und Ordnungen reformerischen Charakters die Einführung der latein-freien Oberrealschulen (1882), die neuen Lehrund Prüfungsordnungen für die höheren Schulen (1892), die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens (1894), der Erlaß über Bau und Einrichtung von Volksschulen (1895), die Anerkennung der Lehrerseminare als staatliche Lehranstalten sowie die Einrichtung staatlicher Kurse für Lehrerfortbildung (1896) u. v. a. m. Diese bedingt fortschrittlichen schulrechtlichen Maßnahmen wurden begleitet von jenen zwei von Wilhelm II. nach Berlin berufenen Konferenzen, die der preußischen Bildungspolitik der Jahrhundertwende ihren Stempel aulprägen: die Schulkonferenz von 1890 (Herabsetzung der Stundenzahl, insbesondere in bezug auf den griechischen und lateinischen Unterricht, Betonung des Deutschunterrichts und der „Realbildung") und die entscheidende Schulkonferenz von 1900 (prinzipielle Gleichstellung der drei Formen von höheren Lehranstanstalten, das heißt gleichberechtigter Zugang zur Universität). Dieser entsprangen die neuen Lehrund Prüfungsordnungen für das gesamte höhere Schulwesen (1901), die nach dem Prinzip „suum cuique" verfuhren und überdies dem lateinischen Unterricht wieder mehr Stunden und der englischen Sprache einen gewissen Vorrang gegenüber der französischen einräumten.
Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang der sogenannte Extemporale-Erlaß von 1911, der sich noch wesentlich dezidierter als die Verordnung von 1901 gegen eine unpädagogische Stoffdarbietung und insbesondere gegen „den unzweckmäßigen Betrieb des lateinischen und griechischen Extemporales" wendet. Eine mittelbare Folge der Schulkonferenz von 1900 ist auch die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens (1908), welche die Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium enthält. An schulrechtlich bzw. schulpolitisch bedeutsamen Maßnahmen in dieser Zeit verdienen Erwähnung: die Reorganisation des Seminar-wesens (1901), das in dem sechsjährigen, auf Volks-und Präparandenschule aufbauenden Studiengang eine Vereinheitlichung erfährt; die Neuordnung des Mittelschulwesens (1910), das fortan einen wesentlich verbesserten, um eine zweite Fremdsprache sowie Buchführung bereicherten neunjährigen Unterricht vermittelt; schließlich das Volksschulunterhaltungsgesetzvom 28. Juli 1906 mit seiner auf dem „Schulkompromiß" der Parteien von 1904 beruhenden Regelung der anstehenden kommunalen und konfessionellen Probleme.
Zwei der damals rechtlich fixierten Sachverhalte sollten in der Folgezeit ihr Beharrungsvermögen zeigen: 1. Die „Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen" obliegt grundsätzlich den Kommunen; 2. „in der Regel sollen die Schüler einer Schule derselben Konfessionangehören und von Lehrern ihrer Konfession unterrichtet werden". Sie wurden zum Fluch und Segen jener zuerst hoffnungsvollen, dann enttäuschenden und schließlich verworrenen bildungspolitischen Entwicklung im Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts, deren reformerischer Elan schon in der Weimarer Zeit erlahmte, einer Zeit, die zunächst noch ganz vom Impetus der „Pädagogischen Bewegung" bestimmt und erfüllt war.
Die Reformimpulse der Pädagogischen Bewegung
Es war in der Tat der Impuls dieser von Her-man Nohl so bezeichneten „Pädagogischen Bewegung in Deutschland", der im ersten Drittel dieses Jahrhunderts und besonders zu Beginn der zwanziger Jahre seine schulpolitischen Früchte trug. Die Reichsverfassung selbst sowie Reichsschulkonferenz und Reichsgrundschulgesetz von 1920, um nur die bedeutendsten Fakten zu nennen, bilden den Auftakt für die überfällige deutsche Bildungsreform an Haupt und Gliedern. Die nationalliberale Erziehungsbewegung muß unter zwei Aspekten gesehen werden: einerseits auf dem Hintergrund der Kultur-und Bildungskritik der siebziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt in den Extremen Fr. Nietzsche und P.de Lagarde; andererseits im Zusammenhang mit der internationalen pädagogischen Reformbewegung, wie sie seit der Jahrhundertwende mit J. Dewey, M. Montessori, P. P. Blonskij, N. K. Krupskaja, A. Fer-riere, H. Parkhurst, J. Lighthart u. a. m. verbunden ist. Hat man die europäische pädagogische Ausgangssituation dieser Zeit im Auge, so kann man mit Wilhelm Flitner sagen: „Es gibt seit der Jahrhundertwende in ganz Europa eine Bewegung, welche die Erneuerung der Erziehung und des Bildungswesens zum Thema hat; eine ihrer Hauptquellgegenden lag in Deutschland."
Ellen Keys nicht zufällig als „Jahrhundert des Kindes" betiteltes Werk, das sie 1900 vorlegt, leitet durch die zwei Jahre später erschienene deutsche Übersetzung dieses so verstandene pädagogische Zeitalter symbolisch ein. Es wird genährt von dem pädagogischen Glauben an die schier unbegrenzte Entfaltungsmöglichkeit „der schöpferischen Kräfte im Kinde", ja dem „Genius im Kinde", wie es G. Hartlaub in einer gleichnamigen Schrift 1922 ausdrückt. Nicht allein faktisch, auch ideologisch findet die „Pädagogische Bewegung" noch im Deutschland Weimars zur „wiederentdeckten Grenze" (Zeidler) zurück. Gegen das Mißverständnis einer einseitigen „Pädagogik vom Kinde aus" im Sinne einer Theorie des reinen „Wachsenlassens" hatten sich u. a. auch Theodor Litt, Eduard Spranger und Hermann Nohl gewandt.
Den eigentlichen Akkord hierfür bildet jedoch die schonungslose Kritik Martin Bubers vor der 3. Internationalen Pädagogischen Konferenz in Fleidelberg 1925: Die sogenannte Entfaltung der schöpferischen Kräfte im Kinde könne nicht mehr sein als eine Voraussetzung der Erziehung, ihr eigentliches Agens sei der „Urhebertrieb" des Menschen, der bereits das Kind zum „Subjekt des ProduktionsVorganges“ mache — eine Erkenntnis, die für die Überwindung jenes Ausgangspunktes der Erziehungsbewegung, die im Grunde auf nichts anderes als eine Renaissance des Rousseauschen pädagogischen Naturalismus hinauslief, entscheidend war.
Reichsschulgesetzgebung der Weimarer Republik
Als die Weimarer Republik ausgerufen wurde, waren alle reformfreudigen Kräfte vom Optimismus „der großen Wende" erfüllt. Diese Stimmung findet ihren Ausdruck in den bekannten „November-Erlassen" des neuen preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung mit Sätzen wie: „Die weltgeschichtlichen Ereignisse dieser Zeit können und dürfen an der höheren Schule nicht vorübergehen"; „Durch unser ganzes Erziehungssystem muß ein neuer Geist von Freiheit wehen"
Den November-Erlassen, die die Handschrift des „Jugendbewegten" Gustav Wyneken und die Unterschriften der „Volksbeauftragten" K. Haenisch und A. Hollmann tragen, war nur knappe Lebensdauer und kaum Wirkung beschieden. Vor allem auch die dem „Freideutschen" Wyneken zugeschriebene und von dem „Freidenker" Hoffmann unterzeich-nete Religions-Verfügung mußte, da die Zeit noch nicht reif dafür schien, nach vier Monaten außer Kraft gesetzt werden. Besser war es um die preußischen Lehrplan-Richtlinien für die Grund-, Volks-und höheren Schulen bestellt, wie sie (1921 und 1922) in einem entsprechenden Erlaß bzw. in der von H. Richerts verfaßten „Denkschrift des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung" (1924) der pädagogischen Öffentlichkeit vorgelegt und von dieser, insbesondere von der betroffenen Lehrerschaft, dankbar aufgegriffen wurden (vor allem der neue Typus einer „deutschen Oberschule"); sie geben Lehrer und Schüler einen möglichst großen Raum der Wahlfreiheit, sind zugleich jedoch gemäßigter als die Erlasse des revolutionären November 1918. Sie sind überdies abgesichert durch die vorausgehenden schulrechtlichen Entscheidungen von 1919/20, wie sie sich in den Schulartikeln der Reichsverfassung und den Bestimmungen des Reichsgrundschulgesetzes niedergeschlagen haben. In ihnen fand der progressive Impuls der Reichsschulkonferenz (1920) seinen Niederschlag — ein Akkord für die, wie es scheint, endlich gelingende liberale, soziale und demokratische Bildungsreform, deren Gestaltungsmotive Spranger bis auf die Französische Revolution zurückführen konnte
Verfassung und Grundschulgesetz, wenngleich auch auf halbem Wege stehenbleibend, geben hierfür Rahmen und Basis ab. Die Schulartikel der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 (IV. Abschnitt, §§ 142— 149) enthalten eine Reihe grundlegender und wegweisender Entscheidungen: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei"; die „Bildung der Jugend" ist öffentliche Angelegenheit, bei der Reich, Länder und Gemeinden zusammenwirken; es besteht allgemeine Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr, die durch die Volks-und Fortbildungsschule, für die zugleich Unterrichts-und Lernmittelfreiheit gilt, erfüllt werden kann; das gesamte Schulwesen untersteht der Aufsicht des Staates, Privatschulen bedürfen folglich staatlicher Genehmigung; „die Lehrer an öffentlichen Schulen haben die Rechte und Pflichten der Staatsbeamten"; die Lehrer-bildung ist reichseinheitlich zu regeln; die all-gemeine Volks-und Erwachsenenbildung soll gefördert werden. Das Reichsgrundschulgesetz vom 28. April 1920, das die Aufhebung der Vorschulen und die Vereinheitlichung der Grundschulen durchsetzte, ist das einzige reichseinheitliche Schulgesetz, welches die deutsche Schulrechtsgeschichte bis dato aulzuweisen hat. Das erhöht und mindert seine Bedeutung in einem: Es ist einerseits sehr bedeutsam, daß die 1859 in Preußen legalisierten „Vorschulen" bzw. die „Vorklassen" durch die Verfassung und dieses Gesetz beseitigt und durch die im Regelfall vierjährige Einheitsgrundschule ersetzt wurden; die Bildungsreform blieb andererseits gleichsam in den Kinderschuhen stecken, weil die sozialen Bildungsbarrieren und -hierarchien bei den weiterführenden Schulen nur bedingt beeinträchtigt wurden.
In die Schule der Weimarer Republik hielt jedoch gerade auch auf Grund dieser zwei entscheidenden, das deutsche Bildungswesen fortan bestimmenden Rechtsdokumente ein liberal-demokratischer Geist Einzug. Die Reichs- schulkonlerenz vom 11. bis 19. Juni 1920 in Berlin, zweifellos das bedeutsamste bildungspolitische Ereignis nicht nur der Weimarer Zeit, sondern der ersten Jahrhunderthälfte in Deutschland, packte zwar mutig eine Reihe der anstehenden „heißen Eisen" an (u. a. die Fragen der Einheitsschule, der Arbeitsschule, der Stellung von Eltern, Lehrern und Schülern u. a. m.), mußte es jedoch im wesentlichen bei der Deklamation von guten Vorsätzen bewenden lassen, die im Vorhof der politischen Entscheidungen steckenblieben. Es ist das Verdienst Preußens, diese Konferenz zustande gebracht zu haben. Die Initiative geht auf einen Antrag des preußischen Kultusministeriums zurück, das durch Vermittlung des preußischen Staatsministeriums schon am 1. Dezember 1918, also unmittelbar nach den November-Erlassen, anregen ließ, eine Konferenz einzuberufen, „die aus freiheitlich, neuzeitlich und sozial gerichteten Pädagogen und Sachverständigen bestehen und die gründliche Erneuerung des deutschen öffentlichen Schulund Erziehungswesens vorbereiten sollte"
Hatte das Grundschulgesetz einen gewissen Beitrag zur Lösung des sozialen und die Reichsschulkonferenz einen bescheidenen Beitrag zur Klärung des föderalen Problems der deutschen Schule erbracht, so blieb die konfessionell-ideologische Frage im Grunde so unbefriedigend wie eh und je. Zwar hatte die Korrektur des Erlasses über den Religionsunterricht von 1918 durch die einschlägige Verfügung von 1919 und schließlich durch die Verfassung selbst in bezug auf den Charakter des Religionsunterrichts und die Konfessionalität bzw. Weltanschaulichkeit des Schulcharakters einen Rahmen abgesteckt: 1. Religionsunterricht ist grundsätzlich ordentliches, konfessionsgebundenes Unterrichtsfach; 2. Konfes-sions-oder Weltanschauungsschulen sind antragspflichtig; 3.den Lehrern und den Erziehungsberechtigten der Schüler obliegt die Entscheidung über Beteiligung am Religionsunterricht und sonstigen konfessionellen Veranstaltungen innerhalb und außerhalb der Schule. Ein gewisser innerer Zwang, der sich leicht in einen äußeren verwandeln konnte, blieb jedoch bestehen. Eine befriedigende Lösung für alle Beteiligten versprach man sich daher von einem neuen Reichsvolksschulgesetz in Aus-fünrung der entsprechenden Rahmenbestimmungen der Reichsverfassung, für das 1921, 1925 und 1927 Regierungsentwürfe vorgelegt wurden.
Die unglückselige Geschichte der diversen Entwürfe und Vorlagen zum Reichsschulgesetz sind ein bezeichnendes Kapitel „unbewältigter" Bildungsvergangenheit der Deutschen. Hier prallten die entscheidenden, auf der Reichsschulkonferenz wohlweislich ausgeklammerten weltanschaulich-konfessionellen Gegensätze in der „bewährten" Härte aufeinander. Bereits beim ersten — vom Reichsrat angenommenen — Entwurf konnte man sich im Bildungsausschuß des Reichstages über den Komplex „Bekenntnisschule" nicht einigen. Diesem von Reichsinnenminister Koch vorgelegten Entwurf folgte 1923 ein zweiter Regierungsentwurf, von seinem Nachfolger Schiele unterzeichnet. Er wurde zwar der Öffentlichkeit bekannt, jedoch nicht dem Reichstag vorgelegt. Der ausgereifteste, am 19. Juli 1927 dem Reichsrat und am 9. August 1927 dem Reichstag präsentierte dritte Regierungsentwurf trägt die Handschrift des Innenministers Keudell. Der Entwurf unterscheidet als gleichberechtigte Formen der Volksschule die Gemeinschafts-, die Bekenntnis-und die bekenntnisfreie weltliche bzw. Weltanschauungsschule. Die Regierungs-und Parlamentsvorlage scheiterte wiederum im Bildungsausschuß, wo die progressive preußische Auffassung von der Gemeinschaftsschule als Regelschule den Stein des Anstoßes bildete. (Daran würde auch heute noch, wäre ein Bundesschulgesetz über- haupt verfassungsmäßig möglich, eine analoge Vorlage bei uns scheitern. Die Zeit scheint in dieser Beziehung stillgestanden zu haben.)
Auch bildungspolitisch kündigt sich bereits hier jener Verfall der Weimarer Republik an, dessen zentrale Ursache in dem Bestreben der Parteien und Parteiungen liegt, das Eigeninteresse dem Wohle von Staat und Gesellschaft überzuordnen. Es nimmt daher nicht wunder, wenn 1932 Reichsinnenminister Gays ausdrücklich darum bemüht ist, die auseinanderstrebenden Partei-und Länderschulinteressen mit denjenigen einer reichseinheitlichen „deutschen Volksbildung" zusammenzubringen. Man wird Giese sicherlich zustimmen müssen, daß es sich bei diesem Schreiben an die Unterrichtsministerder Einzelstaaten vom 28. Juli 1932, gleichsam der letzten kulturpolitischen Willensäußerung der Republik, um „ein außerordentlich aufschlußreiches Dokument"
Schulpolitik des Dritten Reiches
Man unterstelle uns nicht, wir wollten hier leichterhand das Deutschland vor und nach 1933 über einen Leisten schlagen oder das eine zum unmittelbaren Initiator des anderen machen. Eine solche Klischierung muß selbstverständlich genauso verworfen werden wie jene andere Stereotype, welche in der einen Zeit alles gut, in der anderen alles schlecht sehen möchte. Es gilt vielmehr zu erkennen, wie bei aller Gemeinsamkeit der Ausgangsposition hinsichtlich der pathetischen Diktion der nationalistischen, ja chauvinistischen Erziehungszielsetzung — von Giese bei Gayl noch unkritisch als „überparteiliche . . . Erziehung zum Staat und zur Staatsgesinnung" herausgestellt
Das gilt auch und gerade in bezug auf die Erziehungs-und Bildungspolitik. Was die Deutschen offensichtlich weder vor noch nach Hitler aus freiem Entschluß zustande brachten, dem Reich einen angemessenen Einfluß auf Gesetzgebung und Gestaltung des Bildungswesens einzuräumen, entscheidet sich durch die neue Staatsform gleichsam von selbst: Die Einrichtung eines Reichskultusministeriums (1934) wird ohne nennenswerten Einspruch oder gar Widerstand hingenommen und im allgemeinen begrüßt. Sie kann nur unter jenem Doppelaspekt beurteilt werden, wie die gesamte Erscheinungsform des deutschen Faschismus überhaupt
Als Ziel bzw. verbindliches Richtmaß der nationalsozialistischen Erziehungspolitik wird noch im Jahr der Machtergreifung in bezug auf das gesamte Schulwesen erklärt: „Die Erziehung der Jugend zum Dienst am Volkstum und Staat im nationalsozialistischen Geist" (18. Dezember 1933). Am 1. Mai 1934 wird ein Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung ins Leben gerufen, um die „Buntscheckigkeit" des deutschen Bildungswesens, wie es später heißt, Schritt für Schritt zu „beseitigen". Erste reichseinheitliche und zugleich nationalpolitische Maßnahmen dieser Art sind die Einführung des „Staatsjugendtages", das heißt des schulfreien Sonnabend für die Angehörigen der Hitler-Jugend, sowie die Einrichtung des „Landjahres" für die städtischen Abgänger von der Volksschule (1934). Zum gleichen Komplex zählen die „Leitgedankenzur Schulordnung" vom 18. Dezember 1934 sowie der Erlaß vom 27. März 1935 über die „Schülerauslese an den Höheren Schulen", der die herkömmliche Kriterienskala umkehrt und die körperliche und charakterliche Tüchtigkeit der geistigen Befähigung voranstellt. Es schließen sich an: 1936 die Herabsetzung der 13jährigen Schulzeit für die Gymnasien und somit die Vorverlegung der Reifeprüfung um 1 Jahr sowie 1937 „die Serie der Erlasse, die das Ziel einer konsequenten Vereinheitlichung des gesamten deutschen Schulwesens verfolgten"
Die nationalsozialistische Schulreform wird in den folgenden zwei Jahren rechts-und staatspolitisch im wesentlichen abgeschlossen. Erwähnung verdient vor allem das Reichsgesetz über die Schulpflicht vom 6. Juli 1938, das vernünftigerweise die Schulpflicht auf die vierjährige Volksschuloberstufe und die zwei-bis dreijährige Berufsschule ausdehnt. Den Bestimmungen für die Grundschule vom 10. April 1937 folgen die Neuordnung der höheren Schule am 29. Januar 1938 sowie die der Mittel-und Volksschule am 15. Dezember 1939, die sämtliche weiterführenden Formen (Mittel-bzw. Oberstufe) vereinheitlichen und auf der vierjährigen Volksschule aufbauen läßt, mit Ausnahme der vier-bzw.sechsjährigen Aufbau-, Mittel-oder Oberschule. Als eine Art Nachhutbestimmung ist der Erlaß vom 9. März 1942 zu werten, der die österreichische Form der vierjährigen Hauptschule anstelle der Mittelschule rezipiert. Dazu gehört auch die Umwandlung der in der Weimarer Zeit (1924) durch C. H. Becker gegründeten Pädagogischen Akademien, die sich, wie im übrigen auch ein Teil der Gymnasien und Universitäten, dem erziehungsideologischen und -politischen Prozeß der „Gleichschaltung" noch nicht ganz gebeugt hatten; sie durften zunächst ihren Hochschulstatus, wenngleich auch unter neuem Namen („Hochschulen für Lehrerbildung"), beibehalten, fielen jedoch 1941 dem nationalsozialistischen Hang zur Bilduiigsreduktion zum Opfer: Es entstanden auf der Volksschule aufbauende „Lehrerbildungsanstalten", die nicht nur durch ihren Internatscharakter an die alten Lehrerseminare erinnerten. In ihrem reaktionären, bildungsfeindlichen Geist spiegelt sich der ganze Ungeist der nationalsozialistischen Erziehungspolitik wider.
Diese und andere Maßnahmen lagen in der logischen Konsequenz der unpädagogischen Konzeption der „Menschenformung" des Dritten Reiches, über sie konnte am Ausgang des nationalsozialistischen Erziehungsexperiments derjenige nicht überrascht sein, der dieses-von Anfang an kritisch verfolgt hatte. Jahre vor dem Nazismus-Intermezzo unserer Geschichte halle bereits jener Mann, der ihr seinen Namen mit Blut und Tränen eingravierte, dem herkömmlichen Verständnis von Erziehung, Wissenschaft und Bildung seinen „Kampf" angesagt: „. . . erste Aufgabe der Erziehung ist Pflege der körperlichen Gesundheit und das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten . . . und erst als letztes die wissenschaftliche Schulung"