Die Kritik an der heutigen Parlamentsdiskussion führt häufig zur Behauptung einer Parlamentskrise. Dieser Beitrag will versuchen, die Fronten zu klären und speziell zum Problem der Diskussionstypen neue Anregungen zu geben.
Dolf Sternberger
Für andere dagegen ist die Verkümmerung des spannungsgeladenen und spannenden Debattierens im Plenum lediglich eine ästhetische und keine essentielle Frage
Die Geschichte des Parlamentarismus von der konstitutionellen Monarchie bis zu den Volksvertretungen moderner Demokratien kennt zahlreiche Spielarten in der Funktionsbestimmung des Parlaments. Für die westlichen Demokratien gibt es heute zwei grundsätzliche Typen: das Parlament englischen Typs und das Parlament nach dem Muster der Vereinigten Staaten. W. Steffani hat diese Typen 1965 in dieser Zeitschrift knapp und überzeugend dargestellt
Den ersteren Typ nennt Steffani „Redeparlament", den letzteren „Arbeitsparlament". Dem am amerikanischen politischen Denken geschulten Steffani mußten dabei gewisse Bedenken verborgen bleiben, die diese Wortprägungen im Bereich deutscher politischer Mentalität hervorrufen. Es ist nicht der Schönheitsfehler gemeint, daß „Redeparlament" eine philologische Verdoppelung darstellt: Parlament kommt von parlare, und parlare bedeu-tet ohnehin bereits „reden"; gemeint ist etwas anderes: Da der Deutsche, wenn er sich gelegentlich seiner politischen Ideale erinnert, von schweigender (und dadurch angeblich männlicher) Entschlußkraft träumt, nicht aber von redendem Zeitvertreib, so schwebt das „Redeparlament“ von Anfang an in der Gefahr der Minderwertigkeit. „Wer arbeitet, soll auch essen", heißt ein deutsches Sprichwort; wer bloß redet, kann ruhig hungern. Deutschland steht nun einmal in einer Tradition, in der das Parlament lange als „Schwatzbude" diskreditiert wurde und in der der Parlamentarismus bereits einmal an Geringschätzung und Fehl-schätzung zugrunde ging. Und es steht ferner in einer Tradition, in der gerade dieser englische Parlamentstypus als undeutsch und damit unsinnig abgelehnt wurde
Während Steffani die genannten Typen zu unpolemischer Umschreibung nebeneinander stellt, verdichten sie sich bei Rausch zu Prinzipien, die sich gegenseitig widersprechen. Rausch zwingt Steffanis Begriffe in das Korsett eines Entweder-Oder: „Daß zwischen beiden (seil. Rede-und Arbeitsparlament) ein unüberbrückbarer Graben liegt, wird nicht erkannt. Alle Bundestagskritiker sind sich nicht bewußt, daß eine Entscheidung für den einen oder den anderen Typus Merkmale des jeweils anderen zwangsläufig ausschließen muß . . ."
Alle Betrachter des deutschen Parlamentarismus sind sich einig, daß die Entwicklung in Richtung Ausschußparlament geht. „Das Arbeitsparlament fordert einzig und allein den spezialisierten Fach-und Sachkenner, der anstehende Probleme rasch und einsichtig zu lösen vermag."
registrieren und gutheißen, die anderen es aber kritisieren, weil ihnen die Evidenz als unabdingbarer Bestandteil des Parlamentarismus erscheint, weil ihnen der Gedanke, daß Parlamentsfraktionen zu Parlamentsfakultäten werden könnten, auch im Ansatz systemwidrig vorkommt. Man kann den Parlamentarismus abschaffen. Man kann ihn aber auch als Wort bestehen lassen und mit anderem Inhalt füllen. Die Frage lautet dann immer: Liegt eine Fort-entwicklung vor oder eine Pervertierung? Hier muß der Kritiker prüfen, in welcher Ecke der Teufel der Pervertierung lauert — in zuviel Parlamentsevidenz oder in zu wenig, über die typisch deutsche Erbsubstanz in dieser Frage gibt bereits August Ludwig Schlözer 1782 Auskunft: „Wir arme Deutsche haben noch eine Menge Staatsgeheimnisse mehr als unsere Nachbarn; und ob nun alles diesen Namen verdiene, was damit gestempelt wird, das wäre freilich noch eine große Frage. Aber für den Eigennutz ist das Wort Geheimnis von jeher sehr einträglich gewesen."
Das Parlament ist zwar nur eine Institution des demokratischen Regierungsprozesses, aber neben dem Kabinett nach wie vor die wichtigste. Wenn sich deshalb in Diskussion und Evidenz im Parlament Verschiebungen erge-*