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Diskussion und Evidenz im parlamentarischen Regierungssystem | APuZ 6/1968 | bpb.de

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APuZ 6/1968 Diskussion und Evidenz im parlamentarischen Regierungssystem A. Das Diskussionsprinzip B. Das Offentlichkeitsprinzip

Diskussion und Evidenz im parlamentarischen Regierungssystem

Franz Schneider

Die Kritik an der heutigen Parlamentsdiskussion führt häufig zur Behauptung einer Parlamentskrise. Dieser Beitrag will versuchen, die Fronten zu klären und speziell zum Problem der Diskussionstypen neue Anregungen zu geben.

Dolf Sternberger Wilhelm Hennis und Paul Sethe gehören zu den Vorreitern jener Kritikerbewegung, die im Deutschen Bundestag einen erheblichen Diskussionsschwund feststellt und diesen als verfassungsbedenklich beklagt. Sethe sieht in einer etwas gespenstischen Vision bereits das Ende des Parlamentarismus überhaupt heraufdämmern: „Hennis hat vom parlamentarischen Regierungssystem gesagt, es sei für unsere Zeit'das beste denkbare System. Darin liegt nüchterne Erkenntnis, aber auch Resignation. Es hat Zeiten gegeben, in denen man annahm, die parlamentarische Demokratie sei die Höchstform der staatlichen Entwicklung des Menschen, etwas anderes, Besseres könne es nicht mehr geben. Heute glauben wir zu sehen, daß das System nicht ewig dauern wird. Schon ist der hohe Mittag seiner Wirksamkeit vorüber, die ersten Schatten der Dämmerung senken sich herab. Wenn es einst gefallen ist, wird man nach den . Schuldigen'suchen. Aber es gibt keine Schuldigen. Das Gesetz vom. Blühen und Verwelken gilt auch hier."

Für andere dagegen ist die Verkümmerung des spannungsgeladenen und spannenden Debattierens im Plenum lediglich eine ästhetische und keine essentielle Frage und wieder andere betonen, daß die Reduzierung des Plenums auf vier oder fünf große Galaauftritte pro Jahr eine Sublimierung des redenden Abgeordneten zur Spezies des arbeitenden Abgeordneten bedeute Die Wellen der Probleme und der Auffassungen überschlagen sich.

Die Geschichte des Parlamentarismus von der konstitutionellen Monarchie bis zu den Volksvertretungen moderner Demokratien kennt zahlreiche Spielarten in der Funktionsbestimmung des Parlaments. Für die westlichen Demokratien gibt es heute zwei grundsätzliche Typen: das Parlament englischen Typs und das Parlament nach dem Muster der Vereinigten Staaten. W. Steffani hat diese Typen 1965 in dieser Zeitschrift knapp und überzeugend dargestellt Im Falle des parlamentarischen Regierungssystems in England steht das Plenum als „die offizielle Bühne aller großen, die Nation bewegenden politischen Diskussionen" im Zentrum. Träger der Diskussion sind die führenden Exponenten der Parteien, Haupt-adressat der Darlegung ist die öffentliche Meinung. Im Falle des präsidentiellen Systems der Vereinigten Staaten wird das Parlament zu „einer Spezialbürokratie, in der parlamentarische Experten Experten der Exekutive in höchst intensiver Weise um Rede und Auskunft ersuchen und bis zu Detailfragen und bis zu kleinsten Einzelposten hin überprüfen. .. . Nicht der Redner, sondern der kenntnisreiche Detailexperte, der unermüdliche Sachbearbeiter wird zur wichtigsten Parlamentsfigur."

Den ersteren Typ nennt Steffani „Redeparlament", den letzteren „Arbeitsparlament". Dem am amerikanischen politischen Denken geschulten Steffani mußten dabei gewisse Bedenken verborgen bleiben, die diese Wortprägungen im Bereich deutscher politischer Mentalität hervorrufen. Es ist nicht der Schönheitsfehler gemeint, daß „Redeparlament" eine philologische Verdoppelung darstellt: Parlament kommt von parlare, und parlare bedeu-tet ohnehin bereits „reden"; gemeint ist etwas anderes: Da der Deutsche, wenn er sich gelegentlich seiner politischen Ideale erinnert, von schweigender (und dadurch angeblich männlicher) Entschlußkraft träumt, nicht aber von redendem Zeitvertreib, so schwebt das „Redeparlament“ von Anfang an in der Gefahr der Minderwertigkeit. „Wer arbeitet, soll auch essen", heißt ein deutsches Sprichwort; wer bloß redet, kann ruhig hungern. Deutschland steht nun einmal in einer Tradition, in der das Parlament lange als „Schwatzbude" diskreditiert wurde und in der der Parlamentarismus bereits einmal an Geringschätzung und Fehl-schätzung zugrunde ging. Und es steht ferner in einer Tradition, in der gerade dieser englische Parlamentstypus als undeutsch und damit unsinnig abgelehnt wurde Der deutsche Parlamentarismus und seine Verankerung in der öffentlichen Meinung stehen nicht auf so sicheren Beinen, daß man unnötige Belastungsproben riskieren sollte — unnötig deshalb, weil die Bezeichnungen „Diskussionsparlament" und „Ausschußparlament" bei geringerer Emotionsgefahr die sachliche Aussage zumindest nicht verschlechtern.

Während Steffani die genannten Typen zu unpolemischer Umschreibung nebeneinander stellt, verdichten sie sich bei Rausch zu Prinzipien, die sich gegenseitig widersprechen. Rausch zwingt Steffanis Begriffe in das Korsett eines Entweder-Oder: „Daß zwischen beiden (seil. Rede-und Arbeitsparlament) ein unüberbrückbarer Graben liegt, wird nicht erkannt. Alle Bundestagskritiker sind sich nicht bewußt, daß eine Entscheidung für den einen oder den anderen Typus Merkmale des jeweils anderen zwangsläufig ausschließen muß . . ." Hier ist ein großer Irrtum ausgesprochen. Gerade dieser Graben zwischen sachlicher Detailarbeit und politischem Argumentieren muß überbrückt werden, um Effizienz und Evidenz zu verknüpfen. Dies meint auch Steffani, wenn er mit Bezug auf den Bundestag von einer parlamentarischen Mischform spricht. Fakten und Standpunkte müssen erarbeitet werden — oft genug in Form des „Redens", des Gesprächs, der Diskussion —, damit man sie als Argumente verwenden kann. Und dieses Argumentieren wiederum ist echte und schwere „Arbeit"; gerade die englischen Parlamentarier stöhnen über physischen Bankrott, und manche Nachwahl ist die Folge des Herzinfarkts. Das Problem des Argumentierens ist im Grunde weniger ein Problem des Redens als ein Problem der Evidenz. Demnach könnte man das Gegensatzpaar auch als „Evidenzparlament" und „Ausschußparlament" formulieren, aber auch hier ist der Gegensatz kein Faktum brutum, sondern ein Spannungszustand, der nach Auflösung verlangt.

Alle Betrachter des deutschen Parlamentarismus sind sich einig, daß die Entwicklung in Richtung Ausschußparlament geht. „Das Arbeitsparlament fordert einzig und allein den spezialisierten Fach-und Sachkenner, der anstehende Probleme rasch und einsichtig zu lösen vermag." Das bedeutet, daß die Parlamentsausschüsse sich zu Gegenbürokratien der Regierungsbürokratie akademisieren und diese dadurch kontrollieren. Der Unterschied ist, daß die einen Betrachter dies als „Entwicklungen eines lebenden Systems" (Rausch)

registrieren und gutheißen, die anderen es aber kritisieren, weil ihnen die Evidenz als unabdingbarer Bestandteil des Parlamentarismus erscheint, weil ihnen der Gedanke, daß Parlamentsfraktionen zu Parlamentsfakultäten werden könnten, auch im Ansatz systemwidrig vorkommt. Man kann den Parlamentarismus abschaffen. Man kann ihn aber auch als Wort bestehen lassen und mit anderem Inhalt füllen. Die Frage lautet dann immer: Liegt eine Fort-entwicklung vor oder eine Pervertierung? Hier muß der Kritiker prüfen, in welcher Ecke der Teufel der Pervertierung lauert — in zuviel Parlamentsevidenz oder in zu wenig, über die typisch deutsche Erbsubstanz in dieser Frage gibt bereits August Ludwig Schlözer 1782 Auskunft: „Wir arme Deutsche haben noch eine Menge Staatsgeheimnisse mehr als unsere Nachbarn; und ob nun alles diesen Namen verdiene, was damit gestempelt wird, das wäre freilich noch eine große Frage. Aber für den Eigennutz ist das Wort Geheimnis von jeher sehr einträglich gewesen."

Das Parlament ist zwar nur eine Institution des demokratischen Regierungsprozesses, aber neben dem Kabinett nach wie vor die wichtigste. Wenn sich deshalb in Diskussion und Evidenz im Parlament Verschiebungen erge-*

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dolf Sternberger, z. ß: Der Bundestag hat viel gutzumachen, in: FAZ, 30. Okt. 1963; Ein allzu stilles Parlament, in: FAZ, 9. Juli 1964.

  2. Wilhelm Hennis, z. B.: Haben wir ein faules Parlament?, in: Die Zeit, Nr. 43 vom 22. 10. 1965.

  3. Paul Sethe, Ein Parlament im Geheimen, in: Die Zeit, Nr. 44 vom 29. 10. 1965.

  4. Anton Böhm, Das Parlament ist kein Theater, in: Rheinischer Merkur, Nr. 12 Ostern 1967: „Aber ist das Parlament dazu da, als eine Art politisches Theater dramatische Vorstellungen mit aufgeregten Redeschlachten und effektvollen Höhepunkten zu geben? Das alles sind doch keine politischen, sondern ästhetische Kategorien."

  5. In diesem Sinne Heinz Rausch, Parlamentsreform — Tendenzen und Richtungen, in: Zeitschrift für Politik 14 (1967), S. 259 ff., besonders S. 262.

  6. Winfried Steffani, Amerikanischer Kongreß und Deutscher Bundestag, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 43/65, 27. 10. 1965, S. 16 f.

  7. Vgl. Oswald Spengler, Politische Schriften, München und Berlin 1932, S. 57: „So ist die , Parlamentarische Regierungsform'ein spezifisch englisches Gewächs und ohne die gesamten Voraussetzungen des englischen Wikingercharakters, ohne die Insellage und eine mehrhundertjährige Entwicklung, die den ethischen Stil dieses Volkes mit diesem Stil der Geschäftsführung vollkommen verschweißt hat, weder nachzuleben noch mit irgendwelcher Aussicht auf auch nur annähernd gleiche Erfolge in ihren Methoden nachzuahmen. Parlamentarismus in Deutschland ist Unsinn oder Verrat."

  8. Rausch, a. a. O., S. 261 f.

  9. Rausch, a. a. O., S. 262.

  10. August Ludwig Schlözer, Stats-Anzeigen 1782, Bd. 1, H. 1, S. 1.

Weitere Inhalte

Franz Schneider, Dr. phil., Dr. jur., Ordinarius für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule München der Universität München, geb. am 12. Januar 1932; Habilitation 1965. Veröffentlichungen: Presse-und Meinungsfreiheit nach dem Grundgesetz, München 1962; Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, Neuwied und Berlin 1966; Politik und Kommunikation, Mainz 1967.