Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zur Diskussion um die politische Bildungsarbeit I. Politische Erziehung aus psychologischer Sicht | APuZ 4/1968 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 4/1968 Zur Diskussion um die politische Bildungsarbeit I. Politische Erziehung aus psychologischer Sicht II. Erziehung zum engagierten Demokraten — aber wie?

Zur Diskussion um die politische Bildungsarbeit I. Politische Erziehung aus psychologischer Sicht

Walter Jacobsen

1. Psychologische Schwierigkeiten in der politischen Bildungsarbeit

Inhalt

Wenn man nach den Gründen forscht, die daran schuld sind, daß manche redliche Bemühung von Pädagogen, ihre Schüler zu demokratie-bewuliten, engagierten, selbstverantwortlichen Staatsbürgern zu machen, nur unzureichenden Erfolg aufweist, dann kann man kaum an der Einsicht vorbeikommen, daß diese Gründe zum großen Teil psychologisch bedingt sind. Genauer: Wesentlichstes von dem, was man als politischer Pädagoge zu „vermitteln" sucht, kommt beim Schüler nicht so an, wie man es sich erhofft. In der „Psychologie des Ankommens" (der „Kommunikation") im Politik-unterricht tappt man noch weitgehend im Dunkeln. Man könnte einwenden: Das trifft doch mehr oder weniger für jedes Schulfach, für jegliche Pädagogik zu; überall und immer kommt es vor, daß die verschieden gearteten Interessen der Schüler einerseits und die verschiedenen pädagogisch-didaktischen Talente der Lehrer andererseits nicht immer gut aufeinander abgestimmt sind und man dann sozusagen auf „taube Ohren" stößt. Aber im Politikunterricht treffen — das liegt in der Natur dieser Sache — dissonante Faktoren zwischen Lehrendem und Lernenden in unvergleichlich stärkerem Maße aufeinander als in jedem anderen Fach; dabei käme es gerade in der Gemeinschaftskunde ganz besonders darauf an, daß ein Höchstmaß von politisch-psychologischem Vorwissen, von Intuition, Einfühlung und Takt hier und von vorbehaltloser Aufgeschlossenheit dort Zusammentreffen, um ein wirklich verstehendes Eingehen aufeinander zu ermöglichen. Was diese prekäre Situation noch mehr kompliziert, das ist der Umstand, daß es den unmittelbar Beteiligten oft gar nicht bewußt wird, daß sie auf verschiedenen Wellenlängen miteinander sprechen; früher oder später entstehen dann beim Schüler leicht Mißtrauen und Protesteinstellung (evtl, kumuliert durch Solidarität mit Freunden) — entweder ist dem einzelnen dann „das Politische" überhaupt verleidet oder er wird dazu prädisponiert, alles „Geltende" pauschal zu diskriminieren.

Dieses Nicht-oder Falsch-,, Ankommen" der politischen Erziehungsbemühungen läßt sich durch Reformen in der Auswahl oder durch Ergänzungen des Lehrstofts nicht überwinden, ebensowenig wie man dem einzelnen Lehrer Vorwürfe machen könnte, dem ja keine politisch-psychologische Spezialvorbereitung für sein Amt geboten worden ist. Welche Art von Sonderkenntnissen und Sonderfähigkeiten über die hier angedeuteten Schwierigkeitengemeint sind, das bedarf natürlich einiger näherer Hinweise, die weiter unten im Kap. 2 gegeben werden. Hier nur im Pauschalvorgriff eine Andeutung: Viele Lehrer wissen viel zuwenig oder zu Ungenaues, nur „Projiziertes", von den (zwar oft noch nicht direkt „politischen", aber immer schon politisch-relevanten) Vor-und Grundeinstellungen der Schüler, die diese vom Elternhaus oder der übrigen Umwelt in den Politikunterricht mitbringen; viele Lehrer wissen aber auch von ihrer eigenen Grundeinstellung bzw.deren genetischen Bedingtheiten zuwenig, da diese nicht objektiv genug reflektiert und kontrolliert wird. Infolgedessen nehmen sie auch nicht die psychischen Barrieren wahr, die sich zwischen Gebendem und Nehmenden hindernd in den Weg stellen. Sie scheitern dann mit ihren politisch-pädagogischen Bemühungen an unbemerktenpsychologischen Klippen.

Beide Teile sind nun einmal, sobald „Politisches" oder auch nur „Gesellschaftsstrukturelles" (gleichviel ob aus Vergangenheit oder aus Gegenwart) zur Sprache kommt, „vorbelastet" — wobei „Belastung" nicht notwendig etwas Negatives auszudrücken braucht. Eine solche „Belastung" kann schon in irgendeiner „Vorgeformtheit" bestehen, die inhaltlich durchaus zu rechtfertigen ist; nur steht sie der geistig-seelischen Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler nun einmal hartnäckig im Wege. Wie oft dies der Grund für ein „Nichtankommen" politisch-pädagogischer Bemühungen ist und in welcher Richtung er sich auswirkt, das sollte gewissenhaft erforscht werden, um die zuständigen Lehrer dann über die am häufigsten vorkommenden psychologischen Klippen ins Bild setzen zu können. Alles deutet darauf hin, daß solche Untersuchungen dazu führen könnten, manche der zahlreichen Enttäuschungsfälle in der politischen Bildungsarbeit zureichend zu erklären.

Es ist verständlich, daß man heute, 23 Jahre nach Kriegsende und dem endgültigen Zusammenbruch einer Illusion, allmählich der vielerlei zwiespältigen Reflektionen über das Vergangene müde geworden ist. Ein leidlich einmütiges „Aufarbeitungs" ergebnis hat es ja ohnehin nicht gegeben; darüber dürfen auch positiv erscheinende Umfrage-Interpretationen nicht hinwegtäuschen. Was zurückgeblieben ist, das sind widersprüchliche, zurückgedrängte „Komplexe", die untergründig weiterschwelen, während Platz gemacht wurde für neue, positivere, praktischere, erhebendere Bewußtseinsinhalte. Die Jugend aber wurde mit allen gegensätzlichen Eindrücken-— noch dazu durch zueinander kontrovers eingestellte Erwachsene — konfrontiert und hierdurch selbstverständlich ihrerseits auch wieder in zwiespältige Einstellungen hineingedrängt. Aus innerer Widersprüchlichkeit, dadurch hervorgerufener Verdrängung, und innerer Desorientiertheit trotz aller Bildungsbemühungen erwächst nun zwar bei einem Teil von ihr so etwas wie emanzipierte Selbstorientierung, Auflehnung und auf eigenem Boden gewachsenes politisches „Engagement" gleichsam als uneingeplanter partieller Dennoch-Erfolg; aber hierbei fehlen offenbar leider die auf breiterer Front erhofften notwendigen konstruktiven Einsatzbereitschaften für Sicherung, Ausbau und Effektierung der Demokratie als solcher. Die meisten Schulabgänger sind gewöhnlich von ganz anderen Sorgen und Privat-wünschen absorbiert. Das in der Gemeinschaftskunde Erlernte wird zunächst einmal als „erledigt" beiseite geschoben; zumeist sind nur ihre Wissensspeicher und ihre Denkfunktionen erreicht worden, nicht aber ihr zentrales Ich. Mitverantwortungsgefühle erscheinen daher noch kaum angesprochen oder aktuell — also wozu sich belasten!

Nun tritt seit kurzem das „politische Engagement" sekundär, als unerwartetes Indirekt-produkt, dennoch auf, aber leider — weil erst in Form von mehr oder weniger berechtigten Auflehnungen entstanden — nicht primär-konstruktiv, sondern eher gewollt-destruktiv, wobei gerade solche sozialpsychischen Momente wieder verstärkend mitwirken, denen eigentlich die politische Erziehung vor allem anderen gegolten hat oder hätte gelten sollen: Mitläufertum, Ansteckung, unkritische Solidarität, Demagogieanfälligkeit. Gerechterweise muß allerdings vermerkt werden, daß in einem Teil der jungen Generation auch verantworttungsvolles kritisches Urteilen und Bemühung um Nichtbeeinflussung durch Demagogie mobil geworden und aus einer gewissen Lethargie erwacht sind, freilich ebenfalls erst sekundär, das heißt als Folge von besonders provozierenden Anlässen.

Aus dem allgemein wachsenden Bewußtwerden von Mängeln in unserer Demokatie kann nun möglicherweise etwas von dem entstehen, was der reguläre Politikunterricht nicht zu erzielen vermocht hat, nämlich ein gestärktes kritisches Wachwerden des Ich gegenüber allem, was sich in Politik und Gesellschaft tut oder auch (läßlicherweise) nicht tut. Das sollte aber die allgemeine politische Bildungsarbeit nicht von der Pflicht befreien, sich ganz neue Gedanken über eine stärkere psychische Effektivität ihrer Bemühungen zu machen, damit nicht immer erst auf dem Umwege über destruktive Aktivitäten das verantwortliche Ich des einzelnen wachgerüttelt zu werden braucht.

Meine Überzeugung ist, daß es sehr wohl möglich ist (und genügend Beweise dafür liegen bereits vor), den Politikunterricht in den Schulen psychologisch so zu gestalten, daß dessen eigentliches Zentralanliegen, aus dem Schüler einen demokratiebewußten, konstruktiv-engagierten, selbstverantwortlichen Staatsbürger zu machen, im großen und ganzen und allen vorhandenen psychischen Klippen zum Trotz erfüllt werden kann; freilich müßten diese Klippen adäquat in Rechnung gestellt werden. Ein 17— 18jähriger ist durchaus in der Lage und — bei besser vorbereiteten Kommunikationsbedingungen — auch meist bereit, sich schon in diesem wahlunmündigen Alter recht ernsthafte Gedanken über alles zu machen, was politisch geschieht, auch über die Rolle, die jeder einzelne mitspielen kann und muß, um zu helfen, daß bestehende Unzulänglichkeiten überwunden und drohende Gefahren abgewendet werden können. Die sich distanzierende Haltung vieler Jugendlicher als „unbefangen" zu bezeichnen, nur weil sie freimütige und auch kritische Antworten auf gezielte Fragen zu geben wissen, will mir als eine zu voreilige und oberflächliche Deutung von Umfrageergebnissen erscheinen. Hätte die politische Bildungsarbeit es wirklich mit einer „unbefangenen Generation" zu tun, dann gäbe es die Probleme nicht, die sich nun mehr und mehr aufgetan haben, und es gäbe keine Enttäuschungen über die Effektivität des Politik-unterrichts. Grundeinstellungen pflegen nicht freimütig preisgegeben zu werden, sie gehören zur geistigen Intimsphäre, ja, sie sind oft dem einzelnen Befragten selbst nicht klar bewußt. Hoffentlich wird die kürzlich vereinbarte Zusammenarbeit zwischen politischen Pädagogen und den in der Forschung tätigen Psychologen bald etwas mehr Klarheit über die hier angedeuteten Probleme zutage fördern.

Die politisch-pädagogischen Bemühungen der allerersten Nachkriegsjahre sind m. E. nicht etwa, wie von einigen Autoren behauptet, in ihrer Grundkonzeption verfehlt gewesen. Sie waren der damaligen Situation und Mentalität und den damaligen Möglichkeiten angepaßt. Es war zum Beispiel nicht verfehlt, zunächst einmal den Schwerpunkt auf Momente wie „human relations", „Partnerschaft", „Toleranz", „Verständigung" zu legen und systematische Enthüllungen über die Verbrechen des Naziregimes ins Volk zu tragen; die SchwarzWeiß-Konfrontation Diktatur/Demokratie (auch mit am Beispiel des Stalinismus) gehörte ebenfalls dazu — nicht allerdings die von da aus vereinseitigte, simplifizierende und dominierende Antipropaganda gegen den Kommunismus. Allmählich aber wurden die Menschen — und die jungen Menschen zuerst — sensibler und bemerkten mehr und mehr „falsche Töne". Das „Ankommen" wurde immer mehr zu einem psychologischen Problem und hörte auf, bloß ein Problem des „richtigen" Registrierens und des „richtigen" Dosierens von Informationen und Argumenten zu sein. Es konnte bald nicht mehr mit dem Aufklären, dem „Lernen", dem abstrakten Pro-und Kontra-Diskutieren sein Bewenden haben, sondern mehr und mehr wurde entscheidend, ob das Ich, das persönliche, zentrale Ich des Schülers erreicht wurde, und zwar so, daß dieses Ich sich selbst mitgetroffen fühlte, sich als mit „angesprochen" und mitverantwortlich erlebte und dementsprechend mehr und mehr dazu überging, autonom — aus eigener Gewissens-beanspruchung heraus — zu denken und zu reagieren. Diesem „Ankommens" -Problem wurde bisher noch kaum Rechnung getragen, mit Ausnahme von verschiedenen, zum Teil geglückten Trial-and-error-Veranstaltungen, die von einigen hierzu auf Grund von Intuition, Einfallsreichtum, Instinkt und Takt besonders prädisponierten Pädagogen unternommen worden sind. Für die große Menge der Gemeinschaftskunde-Lehrer aber fehlt es nach wie vor an generalisierbaren oder doch zumindest typisierbaren Hinweisen oder Modellen. Auch diese müßten jetzt in gemeinsamer Arbeit von Psychologen und Pädagogen auf Grund von gezielten wissenschaftlichen Untersuchungen an zunächst kleineren exemplarischen Schüler-und Lehrergruppen herauskristallisiert werden.

2. Könnte Einstellungsforschung helfen?

a) Was ist Einstellung?

Aus dem in Kapitel 1 Gesagten geht hervor, daß es sich bei den zu erforschenden Klippen, die den Erfolg der politischen Bildungsarbeit zu gefährden pflegen, zu einem wesentlichen Teil um mehr oder weniger durchschaubare Vor-und Grundeinstellungen bei Lehrern und Schülern handelt. Politisch-pädagogische Bemühungen können erst dann richtig ankommen, wenn auf beiden Seiten eine größtmögliche Unbefangenheit von Vor-und Grundeinstellungen erzielt wird. Hier könnte die „Einstellungsforschung" helfen — ein Wissenschaftsgebiet, in dem uns das westliche Ausland ohnehin weit voraus ist

Was ist unter Einstellung zu verstehen?

Da der bekannte Psychologe Hubert Rohracher erst vor drei Jahren auf dem Psychologenkongreß 1964 in Wien ein Hauptreferat über das Thema „Steuerung des Verhaltens durch Einstellungen" gehalten hat, möchte ich mich zur Hauptsache an seine Definitionen halten. Er unterscheidet „Erwartungseinstellungen" der Aufmerksamkeit und unbewußte „Einstellungen der Gesinnung oder Überzeugung". Jene sind temporär, peripher und experimentell leicht manipulierbar, diese dagegen beständiger, zentral und persönlichkeitscharakteristisch: „Gesinnungseinstellungen sind Reaktivierungen früherer Entscheidungen, die den gegenwärtigen Erlebnisablauf zwar ohne klarbewußte damalige Argumentation, aber mit deren vollem dynamischen Gehalt steuern." Und zwar „steuern die früheren Entscheidungen den Erlebnisablauf automatisch in bestimmte Richtung." „Da es viele einander widersprechende weltanschauliche, politische und wissenschaftliche Einstellungen gibt, können nicht alle richtig sein; es wäre also zu empfehlen, daß man seine eigenen Einstellungen hin und wieder überprüft."

„Einstellungen, die durch religiöse, weltanschauliche, politische Überzeugungen entstanden . . . oder durch ethische Prinzipien oder durch künstlerische und wissenschaftliche Grundsatzpositionen . . ., dürfen deshalb als echte Einstellungsformen bezeichnet werden, weil in ihnen immer eine persönliche Stellungnahme, ein , dafür oder dagegen'enthalten ist."

„Das , Einstellungshafte'solcher Reaktivierungen . . . scheint das fast reflexartige Bewußtsein einer Lösung zu sein, die auf die jeweilige Problemsituation paßt, ohne daß man die Arbeit der Problemlösung neuerlich zu leisten hat . . .. Mit Reflexen oder Instinkt-handlungen vergleichbar sind die Einstellungen auch in ihrer biologischen Bedeutung. Sie führen zu einer ganz enormen Arbeitsersparnis, denn sie ersetzen das Nachdenken......... Es entsteht das Gefühl der Selbstsicherheit, das in der heutigen Zeit der Existenzangst von höchster biologischer Bedeutung ist . . .. Einstellungen sind in diesem Sinne nicht nur Problemloser, Arbeitsersparer und Situationsbewältiger, sondern auch , Sicherheitsspender'."

Hier wird deutlich, wie es zu starren Vorurteilen, zu Stereotypen kommt; die allgemeine Neigung zu einer stetigen, denkaufwendigen Selbstkontrolle seiner Voreinstellungen ist naturgemäß bei jedem gering.

Nach Rohracher lassen sich die Einstellungen also als fest in der Persönlichkeit verwurzelte Weisen wertender Stellungnahmen begreifen; doch wird man hinzufügen dürfen, daß sie, zumal sie sich ihrer ursprünglichen „Argumentation nicht klar bewußt" zu sein pflegen, trotz aller Verwurzelung sehr wohl auch einander widersprechende Richtungselemente in sich enthalten und von hinzugekommenen späteren Wertungen überlagert werden können „das ist der Mensch in seinem Widerspruch". Auch scheint das einer Einstellung immanente Werten nicht immer deutlich bewußt eines bestimmten Gegenstandes oder Inhalts, auf den es sich gezielt richtet, zu bedürfen, denn sie macht sich auch schon als eine Art Dauergestimmtheit, als ein chronisches Zumutesein geltend, etwa in Form einer zuversichtlicheren oder pessimistischen Grundhaltung oder einer aufgeschlossenen oder zugeknöpften Lebenseinstellung. Die Einstellungen werden geprägt in besonderes erlebnis-intensiven Begegnungen von Ich und Welt, Entscheidendes bereits in der Kinderstube, wobei auch die individuelle, die angelegte Disposition des Aufnehmens und Verarbeitens eine gewichtige Rolle mitspielt. In diesem Zusammenhang erinnert W. Arnold an die von C. G. Jung herausgestellten charakterologischen Einstellungstypen: „Das Denken des introverlierten Menschen orientiert sich in erster Linie am subjektiven Faktor. Dieser gibt ihm ein gewisses Richtungsgefühl, welches seine Urteile bestimmt ..."

Dagegen: „Wenn einer so denkt, fühlt oder handelt, wie es den objektiven Verhältnissen und ihren Anforderungen unmittelbar entspricht, so ist er extravertiert. . . . Die subjektive Kraft seiner subjektiven Ansichten ist geringer als die der äußeren Bedingungen. Sein ganzes Bewußtsein blickt nach außen. . .

Heinz-Rolf Lückert legt in seinem Buch „Konfliktpsychologie" indessen doch das größere Gewicht auf exogene Entstehungskomponenten

„Die Einstellung ist nicht einfach als eine Folgeerscheinung der anlagemäßigen Gegebenheiten, sondern in erster Linie als ein erziehungs-und erfahrungsbedingtes Bewertungsfundament anzusehen . .

Wenn man von der Einstellung anderer spricht, zielt man gern auf Charakterzüge: „In Deutschland haben die Männer eine unglaublich kurzsichtige Einstellung . . .."

Damit wären wir bei einem weiteren Gesichtspunkt, der für die Beurteilung von Einstellungen wichtig erscheint: Die Beurteilung richtet sich besonders gern auf kollektive Fremdeinstellungen und macht sich dadurch selbst verdächtig, vorurteilsbehaftet zu sein — wie jede Verallgemeinerung.

Earl Davis macht in einem Sammelreferat „Zum gegenwärtigen Stand der Vorurteilsforschung" darauf aufmerksam, daß die psychologische Einstellungsforschung drei Aspekte von Einstellungen unterscheidet:

Der kognitive Aspekt richtet sich auf ein bestimmtes Vorstellungsbild, das man sich vom Objekt macht, der affektive Aspekt forscht nach der Gesamtmotivation oder dem Affektleben des Einstellungsträgers — und schließlich der konative Aspekt nach der unmittelbaren Bereitschaft oder Neigung zu einem bestimmten Verhalten, dessen Motivation oder Auslösungsimpuls also weder im kognitiven noch im affektiven Bereich sichtbar wird.

Zum Schluß noch eine bemerkenswerte Definition, die auf dem schon erwähnten Psychologenkongreß 1966 von Erwin Roth vorgetragen wurde:

„Einstellungen sind komplexe, nach der Art von Systemen funktionierende analytische Einheiten der dem objektbezogenen Erleben und Verhalten zugrunde liegenden individuellen Organisationsform, wie sie sich aus der ursprünglichen Eigenart des Organismus durch eine persönliche Lerngeschichte in einer spezifischen soziokulturellen Umwelt ergeben."

Die Silben „Vor" und „Grund" vor dem Begriff „Einstellung" sollen im folgenden jeweils nur die Tatsache hervorheben, daß wir es in unserem politisch-pädagogischen Zusammenhang entscheidend mit „mitgebrachten", aus der individuellen Vorgeschichte stammenden Einstellungen sowie mit solchen, die sich bereits im Persönlichkeitskern verfestigt haben, zu tun haben.

Voreinstellungen, die im politischen Bildungsund Erziehungsprozeß relevant werden können, äußern sich sowohl im Inhalt als auch in der Form: in dem, was man für richtig hält bzw. wünscht, und in dem, wie man sich verhält. Das gilt für Lehrer und Schüler.

Was das Inhaltliche betrifft, so kommt es bei dem Politikunterricht nicht so sehr darauf an, ob das, was der Lehrer als eigene GrundeinStellung sich bewußt macht, objektiv richtig (berechtigt) oder falsch (unberechtigt) ist, ob er also bei näherer Prüfung recht behalten würde oder nicht, sondern nur darauf, daß er sich bemüht und imstande ist, sich die Be-dingtheit seiner Grundeinstellung durch diese und jene Erfahrungen bewußt zu machen (wobei ein Sich-Irren in Kauf genommen werden kann). Und was das Formale betrifft, also den Verhaltensstil von Lehrer und Schüler, so kommt es auch hier nicht auf eine Rechtfertigung des so oder so gewordenen Verhaltensstils an, sondern nur auf die Feststellung von dessen Eigenart und auf die auch mit durch sie zu verstehende typische Weise des Urteilens und Stellungnehmens. b) Einstellungspsychologie im Politikunterricht Bereitschaft und Fähigkeit zu solchen Selbst-und Fremddiagnosen sind nicht jedermanns Sache. Aber das Interesse läßt sich wecken und das Können entwickeln. Hat man bei systematischen Nachforschungen erst einige verschiedenartige Grundeinstellungen kennengelernt, dann versteht man, welche Bedeutung diese Unterschiede für das richtige „Ankommen" politischer Bildungsbemühungen besitzen können, und forscht weiter — und zwar nach Voreinstellungen der Lehrer ebenso interessiert wie nach Voreinstellungen der Schüler.

Die Teilnahme der Lehrer an Spezialkursen über psychologische Einstellungsforschung würde sich lohnen. Sie würden künftig rascher und sicherer erkennen können, worauf affektive Widerstände beim Schüler beruhen könnten, worauf Vorbehalte oder merkbares Desinteresse zurückzuführen sein mögen, ebenso wie aber auch er selbst durch die geübte Selbstdiagnose in die Lage versetzt würde, sich von seinen eigenen (politischen) Voreinstellungen freizumachen oder doch wenigstens eine gewisse Distanz zu sich selbst zu gewinnen.

So vorbereitet wird der politische Pädagoge es wagen können, nun auch in seiner SchulklasseDiskussionen in Gang zu bringen, die sich mit der Entstehung von politisch-relevanten Voreinstellungen befassen. Zunächst, vom Allgemeinen ausgehend, ergeben sich Ich-Bezogenheiten ganz von selbst. Der Lehrer wird dabei auf psychologisch sehr behutsame Weise vorgehen müssen, damit bei keinem Schüler der Eindruck entsteht, er oder seine Eltern sollten in irgendeiner Weise „entlarvt" werden, was ja nun wirklich nicht der Zweck der Übung sein darf. Nur er selbst freilich sollte es sich leisten, sich für seine eigene Person freimütig zu seinen subjektiven Einstellungsmotiven und den äußeren Einflußfaktoren, die er für mitverantwortlich hält, zu bekennen; auch er kann — so wird er zugeben müssen — im Politischen natürlich keine volle Objektivität für seine eigene Einstellung garantieren, wie jeder andere kann auch er um Objektivität nur bemüht sein.

Schüler der Oberklassen sind sehr ansprechbar für psychologische Reflektionen dieser Art.

Sie interessieren sich für die Verschiedenheiten der Menschen und wollen gern wissen, wie es Zusammenhängen mag, daß der eine so und der andere so — in seiner Einstellung — geworden ist, sie fragen nach dem Bedeutungsgewicht von Anlage und Umwelt für das Sowerden der Charaktere. Dabei stellt sich jeder — im Vergleich mit anderen — auch gern selbst „in Frage". Erinnerungen aus der eigenen Kinderstube, der Urquelle so mancher Vorurteile, Tabus und vor allem auch „Haltungen", liefern dabei häufig aufschlußreiche Fingerzeige. In solchen Diskussionen, sofern sie vom Lehrer mit lockerer Hand, umsichtig und verständnisvoll geleitet werden, würden manche Befangenheiten, die im politischen Unterricht als unsichtbare Klippen im Wege stehen, aufgelockert; der einzelne gewinnt eine gewisse Distanz zu sich selbst, wird selbstkritisch und nun auch für das Aufnehmen von Fremdeinstellungen, die ihm eigentlich inadäquat sind, aufgeschlossener.

Bei der Erforschung fremder Einstellungen spielt neben den inhaltlichen Äußerungen auch die formale Seite des Verhaltens als Kriterium eine wesentliche Rolle mit, also der Verhaltensstil der Einstellungsträger, über seinen eigenen Verhaltensstil gegenüber der Schulklasse wird sich der Lehrer von dritten Beobachtern (z. B. Psychologen) unterrichten lassen können, den seiner Schüler hat er aber selbst vor Augen, sofern er sich die Mühe macht, die Klasse auch als Gruppe außerhalb des Unterrichts aufmerksam zu beobachten oder von einem Sozialpsychologen beobachten zu lassen. Er wird gewahr werden, wie manche typische Einstellungs-und Urteilsweise eines Schülers erst dadurch zureichend plausibel wird, daß er sie in Verbindung mit dessen typischem Verhaltensstil gegenüber den Mitschülern, mit dessen „sozialer Rolle" in der Klassengemeinschaft beurteilt.

Typische „soziale Rollen" im Gruppenleben einer Schulklasse sind etwa: der Despot, der Angeber, der anpassungseifrige „Mitläufer", der selbstbewußte Einzelgänger, das bescheiB dene Mauerblümchen und andere mehr Allerdings gehört dazu das richtige Einschätzen der endogenen und exogenen Komponenten, die diesen verschiedenen Rollen zugrunde liegen, also einerseits (als endogene) die Vitalität oder Antriebsschwäche, soweit konstitutionell bedingt, ferner die Robustheit oder Empfindsamkeit, die Intelligenz oder mangelnde Anpassungsfähigkeit, perseveratives (verharrendes) oder umstellungsbereites Aufnehmen und Verarbeiten usw., andererseits (als exogene) etwa eine sehr strenge autoritäre oder auch weichliche Erziehung im Elternhaus oder Erfahrungsfaktoren wie Geborgenheit, Vereinsamung, Überforderung, Rangplatz in der Geschwisterreihe und ähnliches mehr.

Der Aufschließungseffekt aller solcher Einstellungs-und Haltungserforschungen bzw. Selbst-diagnosen ließe sich aber zweifellos noch wesentlich verstärken, wenn der Lehrer ihnen nun auch noch ein etwas weniger „ichbezogenes" Kapitel folgen ließe: Das eine oder andere Kapitel aus der politischen Psychologie ganz allgemein (auszuwählen aus der einschlägigen Literatur). Lebhaften Anklang würden Gespräche finden über Fragen wie etwa diese:

Urteilsbildung: Das Individuum im Kräftefeld von Meinungen und Strömungen Psychische Ansteckung — gibt es das und wie wirkt sie?

Demagogie — Welche Mittel wendet sie an?

Wie entstehen Vorurteile?

Gibt es Einstellungstypen? Welche z. B.?

Die Rolle von Gefühlen (Angst, Neid, Sympathie usw.) in der Politik Was hat es mit der Verdrängung unliebsamer Bewußtseinsinhalte auf sich?

Das Rationalisieren von irrationalen Tendenzen

Suggestion als Werbe-und Uberzeugungsmethode Was ist und wie wirkt ein Tabu?

Gibt es eine angeborene Aggressionsneigung?

Spezifische Auswirkungen streng-autoritärer bzw.sehr liberaler Erziehungsmethoden Rivialität und Teilhabe als Wirkungsfaktoren politischen Lebens.

Bedenken, ja Proteste werden gegen diese Psychologisierung des Politikunterrichts laut werden. Am ernstesten zu nehmen ist wahrscheinlich dies: „Noch mehr Lehrstoff?“ Indessen scheint mir diese Frage eine solche der Arbeitsökonomie und der Erfolgsbilanz zu sein. Ist es nicht bildungsfruchtbarer, wenn etwas weniger sozialkundliches und sonstiges politologisches Wissen und ideologiekritisches Argumentieren angeboten und im Lerngedächtnis aufgespeichert, dafür aber das viele übrig-bleibende durch sorgfältige Aufschließung der Psyche (besonders dort wo Hemmungen, Abkapselung oder gar versteckte Widerstände den Zugang versperren) um so verständnisvoller und resonanzbereiter verarbeitet und verinnerlicht (internalisiert) wird? Sicherlich soll ja der spätere mitverantwortliche Staatsbürger seine Entscheidungen aus dem schöpfen, was für ihn eigenste Überzeugung geworden ist oder — aus innerlich Verarbeitetem — noch werden kann, nicht aber aus einer Überfülle von Gelerntem, das höchstens „im Kopf", als Gedächtnisrückstand aufbewahrt worden ist und von dem vielleicht — mangels unmittelbarer Konfrontation mit dem zentralen Ich — das meiste gar nicht richtig bei ihm „angekommen" ist.

Obwohl es mir klar ist, daß ich manchem politischen Pädagogen hiermit nichts Neues sage, glaube ich doch, daß ein Großteil der anderen Lehrer noch recht wenig mit den psychologischen Schwierigkeiten, auf die sie im politischen Unterricht stoßen, fertig werden — es hapert mit dem „Ankommen".

Im Anschluß an eine Diskussion über allgemein-politisch-psychologische Themen könnte das Klassengespräch zweckmäßigerweise noch einmal zurückblenden auf die mehr ichbezogene Problematik der Voreinstellungen in politischen Fragen; man wird hierfür nun um noch ein paar Grade aufgeschlossener und selbstkritischer geworden sein. Alsdann wird sich der Lehrer seinem eigentlichen Lehrstoff, wie der Lehrplan für Gemeinschaftskunde ihn vorsieht, zuwenden können. Für eine streng sachliche Erörterung aller zu behandelnden Wissens-und Problemgebiete wird manche Befangenheit aus dem Wege geräumt sein, das gilt auch für das zeitgeschichtliche Gebiet. Meinungsverschiedenheiten werden offen, wenn nicht ausgetragen, so doch ins helle Licht des Bewußtseins gerückt und ihrer weiteren persönlichen Aufarbeitung zugeführt werden können. Tabus werden freimütig angegangen, Autoritäres wird kritisiert, Konfor-mistisches angezweifelt, ohne daß verhaltene Ressentiments und affekterfüllte Vorurteile verschiedener Färbung die Gesprächsatmosphäre noch allzusehr verdunkeln oder unkontrolliert aufladen.

Wo ursprünglich der eine oder andere Schüler dazu geneigt haben mag, ihm fremde Einstellungen pauschal zu verurteilen, zu diffamieren oder schweigend von sich abzuwehren, wird er durch die psychologischen Besinnungsübungen zumindest gelernt haben, andersartige Motive zu erkennen und, wenn nicht zu billigen, so doch zu respektieren.

Mit dieser Meinung befinde ich mich in auffallender Übereinstimmung mit Hans Tietgens, dem Leiter der pädagogischen Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschulverbandes. In einem Aufsatz über „Politische Bildung und Fernsehen" schreibt er:

„Man muß mehr von sich selbst, von seinen Verhaltensweisen und binnenseelischen Reaktionsmustern wissen, als dies gegenwärtig bei uns gemeinhin der Fall ist. Die Reflektion auf sich selbst muß also zum Thema der politischen Bildung gehören, gerade weil sie bisher tabuiert worden ist, denn die Selbstkontrolle ist eine entscheidende individuelle Verhaltensvoraussetzung für eine demokratische Ordnung . . .." c) Einige politisch-relevante Einstellungstypen Vielleicht ist es lohnend, sich schon einmal rein deduktiv auf einige Einstellungstypen zu besinnen, die für die politische Bildungsarbeit relevant sein können. 1. Denken wir zunächst an die Anpassungsbereiten, also diejenigen, ah denen der Lehrer zumeist seine helle Freude hat. Sie gehen bereitwilligst mit, was immer auch man von ihnen einzusehen fordert. Solidarität und Integration sind Vokabeln, die ihnen jederzeit einleuchten; darum bringen sie nur schwer Verständnis allen denjenigen entgegen, denen es keineswegs ganz selbstverständlich ist, daß die eigene Gruppe in der Bewertung immer obenan stehen muß, handele es sich nun um kleinere „Ingroups", wie Familie, Schulklasse, Jugendverein, Beruf, oder um größere, wie Nation, Klasse, Rasse oder Partei. Für blindes Mitläufertum sind sie zumindest anfällig; man kann sich auf ihre Gefolgstreue verlassen. Anpassung wurde zur bestimmenden Leitlinie ihres Wesens (und man darf wohl auch sagen: zu einer sehr vielversprechenden Chance für Erfolge im Leben). Wie diese folgsame Grundhaltung als dauerhafte, also auch politisch-relevante Verhaltensweise zustande kommt — mit Blick vor allem auf die vorschulische Erziehungsperiode, aber auch auf die spätere außerschulische —, das wäre ein für die spätere politische Erziehung überaus bedeutsames Forschungsanliegen, nachdem ja die Schule selbst längst von den Erziehungsmaximen des Wilhelminischen Zeitalters und der Hitler-zeit abgerückt ist. Jedenfalls disponiert die Anpassungsgrundhaltung nicht sonderlich für selbstverantwortlich-demokratisches Verhalten, eher für vorbehaltlosen Konformismus und Opportunismus sowie für gehorsame Autoritätsgläubigkeit. 2. Denken wir dann an den Gegentypus, -den Widersprechenden und Widerstrebenden, dessen Ausdrucksformen sich vom bloßen Mäkeln und Nörgeln bis zum Protestieren und Rebellieren erstrecken können. Allerdings werden wir hier, da es uns ja wesentlich auf die seelischen Hintergründe ankommt, wenigstens zwei Abarten zu unterscheiden haben: a) Der eine hadert mit der Welt, weil er nicht nur mit ihr, sondern auch mit sich selbst unzufrieden ist, also aus einem Gefühl ohnmächtigen Mißbehagens heraus. Sein Widersprechen wirkt als Negation um der Negation willen, sein „Nonkonformismus" ist Selbstzweck, dient nur ihm selbst zu einer Art Ersatz-genugtuung oder Notventil. Seine Rolle tendiert also zum Außenseitertum, was durch eine naserümpfende Umwelt nur noch verstärkt werden kann. Dabei kann seine Kritik durchaus Richtiges und Wesentliches treffen — Widerspruchsgeist ist ja sehr oft mit Intelligenz gekoppelt. Manchem Lehrer sind solche Neinsager sehr lästig, andererseits könnten aber gerade sie die Würze für ergiebige Unterrichtsgespräche im politischen Stoffbereich liefern. Vielleicht gelingt es dem Lehrer, die seelischen Hintergründe einer solchen negativistischen Haltung zu erkennen, einiges davon auszuräumen und den sachlichen Bestandteil der Negationen im Klassengespräch fruchtbar zu machen. Dann könnte aus der drohenden Außenseiterrolle vielleicht doch noch eine recht wertvolle Mitgestalterrolle werden, ja, unter Umständen würde aus dem Neinsager noch so etwas wie ein „Musterdemokrat". Wer sich seit je angewöhnt hat, selbständig und sachkritisch zu denken, und dann mit Hilfe der Schule hinzugelernt hat, dieses Denken als positive Leistung einem Kollektivbemühen beizusteuern, der bringt dafür die richtigen Voraussetzungen mit. Jedenfalls laßt sich mit Eigenwilligen dieser Art Demokratie eher verwirklichen als mit stets anpassungs-und integrationseifrigen Jasagern. b) Bei dem anderen Untertypus der Widerstrebenden ist nichts Einspännerhaftes, Sich-auf-sich-selbst-Zurückziehendes zu bemerken. Sein Nonkonformismus kreist nicht zunächst nur um das eigene Selbst, sondern richtet sich vielmehr von vornherein aktiv-interessiert nach außen, und zwar, wie es den Anschein haben kann, um niederzureißen. Er will vor allen Dingen kritisieren und protestieren. Er bemerkt hier und dort Unvollkommenheiten und bauscht sie auf, um anzuklagen. Zu bemängeln findet man ja immer etwas. Natürlich richtet sich der Protest besonders gern gegen Traditionelles, gegen eingefahrene Geleise, gegen „die Gesellschaft", gegen „die da oben", gegen jede Art von Bevormundung. Das tangiert unausweichlich Politisches, berührt Ordnungsvorstellungen, wirkt revolutionär. Erfahrungen mit bürokratischer Amtsgewalt oder vermißte Opposition, wo sie doch geboten gewesen wäre, werden von diesem Typ rasch als deutliche Anzeichen von gefährlichem Autoritarismus gedeutet. Aus empfindlicher Bevormundungsabwehr und offensivem Freiheitsbegehr scheinen sich aus diesem Einstellungstypus also geradezu die geborenen Wächter der Demokratie entwickeln zu wollen. Dieses Wachsein gegenüber Schwächen der parlamentarischen Demokratie und gegenüber Mißständen im öffentlichen Leben überhaupt ist für einen gut vorbereiteten politischen Pädagogen natürlich ein vortrefflicher Ansatzpunkt für fruchtbare politische Gespräche. Allerdings kommt es nun auch wieder sehr auf psychologisches Geschick in der Gesprächsführung an, denn bei dem Protestierenden überwiegen ja die destruktiven Elemente: er will kritisieren, anklagen und die Berechtigung seines Nonkonformismus unterstreichen. Er will sich aber nicht verpflichtet fühlen, Besseres an die Stelle des Schlechten zu setzen. Zum aufbauenden, konstruktiven Weiterdenken muß er also erst noch hingeleitet, „erzogen" werden — eine Aufgabe, die nicht immer leicht ist. 3. Widerstand, allerdings einer ganz anderen Art, erlebt der politische Pädagoge aber auch bei Schülern, deren seelische Hintergründe hierfür weder in einer allgemeinen Disposition zum Hader (mit sich und der Welt) noch in der Neigung zu nonkonformistisch-destruktivem Protestieren zu suchen sind. Es handelt sich um einen ungewollten Widerstand infolge inneren Zwiespalts. Man möchte wohl schon ganz gern es allen recht machen, verwickelt sich aber gerade deswegen in innere Widersprüche; man fühlt sich nun desorientiert und zieht sich in eine Art passiven Widerstandes zurück — Verklemmungen, Komplexe und innere Unsicherheit verurteilen hierzu. Zur Durchsetzung eines autonomen Eigenwillens und zum Durchbruch selbstverantwortlicher Urteile fehlen ihm Selbstsicherheit, Reife und Kratt. Dieses Zwischen-die-Stühle-Geraten kann verhängnisvolle Folgen haben, wenn affektgeladene politische Gegensätze auf diesen Typus einzuwirken bemüht sind; ziehen Schule und Elternhaus nicht am selben Strang, dann wird die politische Bildungsarbeit ihr Ziel verfehlen. Der Schüler wird anfällig für Radikalrezepte, die ein Ausweichen vor allen Konflikten verheißen, oder zieht es vor, sich ein für allemal zu distanzieren oder zu dispensieren: „Politik? Ohne mich!“ Schwelende Insuffizienzgefühle, die Besorgnis, dem Leben da draußen nicht gewachsen zu sein, werden verstärkt und verführen zu Überkompensationen an falscher Stelle und in falsche Richtung. Solchen durch Zwiespaltsgefühle gefährdeten, schwer zugänglich erscheinenden Schülern gebührt offenbar die besondere Aufmerksamkeit der politischen Pädagogen. Diese werden daher gut daran tun, grundsätzlich nach mitgebrachten Vorstellungen oder gar Ressentiments ihrer Schüler zu solchen Fragen, die politisch relevant sein können, zu forschen; es kann sich dabei um grundsätzliche Wert-haltungen handeln, um Leitbilder, um subjektive Interpretationen von politischen Geschehnissen aus Vergangenheit oder Gegenwart. Es kann vorkommen, daß man hierbei auf Idiosynkrasien stößt: Bestimmte Themen können nicht ausgesprochen werden, ohne daß sich der Angesprochene sofort „einigelt". Die zurückgehaltenen Affektentladungen kommen dann später in ganz anderem Zusammenhang und in unerwarteter Richtung. 4. Manche Charaktere neigen dazu, sich durch Schuld-oder Mitschuldvorstellungen (wegen all des Bösen und Unvollkommenen, das in der Welt regiert) deprimieren und von daher ihre Einstellung zur Mitwelt, besonders zu dem Politischen, bestimmen zu lassen. Aus solchem vorwiegend ethisch bestimmten Minderwertigkeitskomplex heraus kann Resignation, kann Mutlosigkeit resultieren; man zieht sich aus aller Verantwortlichkeit nach Mög- lichkeit zurück in weniger bedrängende Gefilde ... oder aber man fühlt sich getrieben, anzuklagen, zu Selbstbesinnung aufzurufen und sozusagen Prediger in der Wüste (in einer immer wieder versagenden Gesellschaft) zu werden. Solche ich-und wirbezogenen Moralisten sind natürlich nicht sonderlich beliebt, vermögen aber doch mitunter gerade im politischen Sachbereich die Gewissen anderer fruchtbar zu beunruhigen. Sie wirken einer allgemeinen Selbstzufriedenheit und einem Vergessen oder Verdrängen unliebsamer Bewußtseinsinhalte ständig entgegen; so natürlich (neben dem gedankenlosen Dahinleben in einer behaglichen, geordneten Gegenwart)

auch der Selbstdistanzierung der jungen Generation von dem längst vergangenen Bösen, das mit dem Begriff „Deutschland und die Deutschen" unlösbar verquickt erscheint, wenn Stimmen des Auslands in irgendeinem Zusammenhang mit dem Thema „Deutschland" hörbar werden.

Ein großer Teil der jungen Menschen fühlt sich überfordert, wenn er einerseits das Bewußtsein des kollektiven Mitbetroffenseins (von Vergangenem) annehmen, andererseits aber dennoch sich persönlich als frei von jeder Mitschuld betrachten dürfen soll. Das Unvereinbar-Erscheinende als dennoch vereinbar begreifen zu lehren, ist keine ganz leichte politisch-pädagogische Aufgabe; hier muß die Ratio helfen, dem Irrationalen seinen Platz zuweisen, ohne es zu verdrängen. Schuldbewußte dürfen nicht nur zurück-, sie müssen auch nach vorn blicken, um wertvolle subjektive Erkenntnisse (über den Menschen) nicht untergehen zu lassen, sondern um sie in objektiv Wertvolles ummünzen zu können — durch positive Mitarbeit an Zukünftigem.

5. Strenge Gewissensbindung bis zur scheinbaren Pedanterie kann die Leitmelodie eines ähnlichen Einstellungstyps sein, der jedoch nicht zu anklagendem Moralisieren, zu Selbstanzweiflung, Frustrationsgefühlen oder gar Resignation neigt. Er tritt eher als Fordernder oder Aufmunternder in Erscheinung, der aber von anderen ebenso strenge Maßstäbe für ihr Handeln erwartet wie von sich selbst. Er ist auf der Suche nach dem Rechten und findet demgemäß ebenfalls manches an der Welt, so wie sie ist, auszusetzen, aber er verfällt deswegen nicht in Querulantentum. Er scheut sich nicht, gegen Tabus zu rebellieren, wenn sein Gewissen es gebietet, doch ist seine Grundhaltung dabei konstruktiv, nicht primär zersetzend. Er läßt auch fremde Entscheidungen, insoweit sie aus persönlichen Gewissen zu stammen scheinen, gelten. Die zur Gewohnheit gewordene Prüfung des eigenen Gewissens schärft sein Unterscheidungsvermögen für wesentliche und weniger wesentliche Grundsätze des Verhaltens. Er tritt für Sachlichkeit und Sauberkeit des Denkens ein und mißbilligt „faule" Kompromisse ebenso wie simples Nachahmen dessen, was „man" tut.

Diese Gewissenhaftigkeit vor sich selbst kann ihm bei aller Toleranz, die bei ihm ja kritisch bleibt, dennoch den Makel mangelnder Flexibilität oder gar der Sturheit eintragen.

Wenn man dieser Einstellung gerecht werden will, darf man sich nicht allein von seiner vielleicht pedantisch anmutenden Grundsatz-festigkeit im Verhalten leiten lassen, sondern muß den Grundmotiven und deren letzten Entstehungsquellen nachzugehen versuchen.

Dabei können sich nützliche Hinweise auf die Art der häuslichen Erziehung ergeben: Auf welche Weise wurde die Mobilität eines eigenen selbstkritischen Gewissens ausgelöst?

Was führte zu der Forderung des Ichs an sich selbst, in eigener Entscheidung Werturteile zu suchen und zu fällen?

6) Was man Gewissen nennt, hat nicht für jeden die gleiche Bedeutung. Eine Erhebung brachte ans Licht, daß etwa ebensoviele das Gewissen als etwas Angeborenes wie für etwas Erworbenes betrachten. Wenn die Psychoanalyse vom Uber-Ich spricht, dann meint sie damit das Insgesamt von Ge-und Verboten, das sich der Mensch von außen her hat einpflanzen und zur Richtlinie des ethischen Handelns hat bestimmen lassen; letztverantwortlich für die Inhalte dieses Normenkomplexes wären danach nur die erlebten Fremdautoritäten, also in erster Linie die Eltern, dann der geltende Sitten-und Glaubenskodex der näheren Umwelt. Aber die Einstellungen der Menschen wandeln sich mit zunehmender geistiger Reifung. Die einen bleiben ihrem Uber-Ich sozusagen stoisch treu; für sie bleibt recht und gut, was man nun einmal als recht und gut gelernt hat, und Autorität bleibt Autorität.

Die anderen lernen mehr und mehr, die Spreu vom Weizen zu sondern und nur noch solche Normen unbestritten für sich gelten zu lassen, die sie nach ständig neuer Selbstprüfung innerlich anzuerkennen vermögen. So bildet sich allmählich bei ihnen ein eigenes, selbstverantwortliches Gewissen, das sich vom Uber-Ich als etwas zum Teil ihm selbst nicht mehr Gemäßem abzusetzen tendiert. So entstehen zwei typisch verschiedene Grundeinstellungen. Die eine bleibt dem, was nun einmal von außen her eingepflanzt worden ist, treu verhaftet, die andere gewöhnt sich mehr und mehr an, immer aufs neue zu prüfen und zu wählen. Es bilden sich sozusagen „Gewissensfronten".

Die Verselbständigung des Ichs gegenüber dem Über-Ich gelingt jener typischen Einstellung, von der nun die Rede sein soll, nur schwer und widerstrebend. Sie kann den von der autoritativ-sanktionierten Norm sich Entfernenden nicht begreifen; für sie ist er ein Abtrünniger, Amoralischer, Gefährdeter. Dem neutralen Beobachter fällt der am Über-Ich sich Anklammernde durch seine unbeirrbare Autoritätsgläubigkeit auf: Was oder wer nun einmal als autoritativ akzeptiert worden ist, das oder der bleibt autoritativ und muß es bleiben. So erklärt sich, daß er sich in besonderem Maß an allgemein geltende Normen, Leitbilder, Tabus gebunden fühlt. Als gefestigter Charakter wird er ein gesetzestreuer Mitbürger werden und — aus Gewissensgründen — auch von anderen die Respektierung obrigkeitlicher Autorität verlangen. Auf eigene, selbstkritische Gedankengänge, die auf Gewissenskonflikte schließen lassen könnten, wird man bei diesem einer strengen Moral-und Gewissensbindung Unterworfenen nur sehr selten stoßen — er fühlt sich in seiner Wertwelt geborgen und sicher. Sein Werten und Urteilen neigt zur Stereotypie. So wird es der politische Pädagoge bei den in dieser Weise Vorgeformten nicht ganz leicht haben, sie zu einer der wichtigsten demokratischen Tugenden zu erziehen: dem ständigen Erneut-in-Frage-Stellen dessen, was gilt — die tätige Mitverantwortung für das, was zum Besseren hin zu bedenken ist —, kurz: der Selbständigkeit des Urteilens. 7) Eine gewisse Starre oder — wie der Psychologe sagt — Rigidität zeichnet oft auch ideologische Dogmatiker aus. Die mangende Plastizität ihres Denkens kann anlagebedingt, aber darüber hinaus auch durch die Art, in der das Denken geschult worden ist, gefördert worden sein. Affekte gegen Andersdenkende können die eigene Urteilsweise noch verfestigen, unter Umständen bis zum Fanatismus. Nicht nur das bedrohte Selbstbewußtsein verbietet es, sich und der Theorie, mit der man sich identifiziert hat, eine Blöße zu geben, auch eine mangelnde Umstellungsfähigkeit des Denkapparats scheint das Eingehen auf fremde Meinungen zu erschweren. Auch diesen — gleichsam auf bestimmte Ideen und Deutungen Eingeschworenen — wirft man gern Sturheit vor. Woher sie ihre einseitigen Anschauungen nahmen und welcher Art und Färbung diese sind, das wird man nicht leicht ohne Rückverfolgung der individuellen Entwicklungsgeschichte und Milieu-prüfung ausmachen können. Es kann sein, daß man auf typische milieubedingte Vorurteils-komplexe, vielleicht affekterfüllte, stößt; ebensogut können dem starren Denken aber auch idealistische, humanitäre oder religiöse Vorstellungen die feste Richtung geben. Das pädagogisch Wichtigste dürfte nun aber nicht in dem Versuch bestehen, die Wertvorstellungen und Ziele als solche zum Gegenstand einer Kritik (zwecks Änderung) zu machen — das schlägt meistens sowieso fehl —, sondern dem Schüler die starre Ablaufsart seines Denkens so weit wie möglich bewußt zu machen. (Das ließe sich mit Hilfe von Berichten über psychologische Experimentergebnisse einsichtig machen.) Damit würde erreicht, was in der politischen Bildungsarbeit so wesentlich ist: a) das Offenwerden der Persönlichkeit für Alternativen, für neue Leitbilder und für fremde Arten zu denken, b) das Freiwerden, Sich-Befreien von irritierenden Motiven emotionaler Herkunft. 8) Wenn jemand sein eigenes persönliches Interesse oder seine Entfaltungsbedürfnisse zum allein maßgeblichen Orientierungspol seines Denkens und Handelns zu machen strebt, dann spricht man von egozentrischer Einstellung— es geht dann also nicht (wie bei der vorbeschriebenen Einstellungsart) um Ideologisches, Transsubjektives. Egoistisch (selbstisch) wäre Egozentrik nur dann, wenn sie auf persönlichen Nutzwert gerichtet ist. Davon sprechen wir hier nicht; diese Sonderprägung wird ja im allgemeinen ohnehin schon früh in ihre Schranken verwiesen. Für unsere Betrachtung — im Aspekt der politischen Erziehung — bieten sich aber zwei andere relevante Ausprägungen einer egozentrischen Grundeinstellung an: a) Diejenige, die ängstlich auf die Anerkennung und Behauptung des Selbstwertes ihres Trägers bedacht ist, demgegenüber alle sachlichen Einwände zurückgedrängt werden. Diese Egozentrik wird dann auch auf diejenigen Gemeinschaften übertragen, denen der Betreffende selbst angehört (In-group-Mentalität). Es fällt also schwer, mit solchen auf das Ich und das Wir eingestellten Menschen zu einer rein sachlich orientierten Diskussion zu gelangen, denn für sie gilt als oberste Maxime die pre13 stigemäßige Selbstbehauptung; ihrem Image darf kein Abbruch geschehen, jede Einbuße würde als unerträglich empfunden. Bei ihnen würde eine behutsame Bewußtmachung dieser ihrer Ich-Befangenheit heilsam sein können; dadurch wird sich wohl manche störende Barriere beiseite räumen lassen, die sich besonders auch im sachlich-politischen Gespräch in den Weg zu stellen pflegt. Die Erziehungsintention würde sich dann primär auf ein Ertragen-Können auch von Geltungseinbußen zu richten haben. Darin würde gleichzeitig eine Erziehung zu Toleranz, zum Geltenlassen auch fremder Selbstwertgefühle enthalten sein. b) Diejenige, die vor allem auf persönliche aktive Entfaltung, ungeachtet der Interessen und Bedürfnisse anderer, bedacht ist. Es geht hierbei also wiederum nicht entscheidend um das Erheischen persönlicher Vorteile (das wäre Egoismus), sondern um das Sich-Bahn-Brechen der eigenen Aktivität und Zielstrebigkeit. Die Selbstdurchsetzungsziele können dabei durchaus gemeinnützig-sachlicher, ja altruistischer Natur sein. Das für diese Art der Egozentrik Charakteristische ist die Ellenbogentaktik und -praktik, die unbekümmert alles in Anspruch nimmt, was sich — als Mittel zum (vermeintlich) guten Zweck — von außen anbietet; sie läßt sich also nicht gern durch Bedenkensachlicher Art (Gegenargumente) oder persönlicher Art (Fairness in der Rivalität) oder moralischer Art („Ist mein’ Zweck wirklich gut?") bremsen. Hier scheint es die Aufgabe des Pädagogen zu sein, zunächst einmal das Zuviel an Selbstdurchsetzungsaktivität maßvoll einzudämmen: Die politische Bildungsarbeit muß dafür sorgen, daß die Nutzwerte eines solchen unbekümmerten Entfaltungsdranges herausgefiltert und einer sinnvollen Weiterverarbeitung zugeführt werden, ehe sie in unsachlichem Überschwang verglühen. Die Psychoanalyse würde sagen: Aggression muß in sozialwertiges Fahrwasser umkanalisiert werden! 9. Dem egozentrisch Überaktiven muß nun noch der Schwach-Aktive und dessen desinteressiert erscheinende Einstellung gegenübergestellt werden. Von zwei andersgearteten Insuffizienztypen war bereits oben die Rede — der eine kapitulierte vor unlösbar erscheinenden Widersprüchen (Typ 3), der andere vor Schuldkomplexen in sich selbst (Typ 4). Hier geht es indessen um den von Natur Gehandikapten, den konstitutionell Antriebsschwachen, der gleichsam aus der Erkenntnis seiner Nichtdurchsetzungsfähigkeit in Apathie verfällt.

Diese Resignation kann mit auf Mängel der Intelligenz zurückgehen, braucht es aber nicht — entscheidend ist das Zuwenig an Vitalität, so daß man unwillkürlich an Belebungsspritzen zu denken versucht ist. Nun, die Belebungsspritzen des Pädagogen können nur in Ermutigungstherapie bestehen, und seine pädagogische Devise wird also wohl heißen: Geduld haben, Zeit geben, Chancen eröffnen! Aber das sind altbekannte pädagogische Rezepte, die auch nicht immer helfen, weil eben effektiv Fehlendes nicht herangeschafft werden kann. Was hier — im Hinblick auf die politische Bildung und Erziehung — speziell bemerkt zu werden verdient, ist nur dies: Nicht alles, was sich als Interesselosigkeit gibt und a priori zu resignieren tendiert, muß als sachbedingte Interessenabwendung, als echte Interesselosigkeit verstanden werden. Die ablehnende oder sich dispensierende Einstellung ist in solchen Fällen sehr oft nur die Folge eines persönlichen Handikaps. Der gute Wille wäre sonst vielleicht doch da. 10. Zweifellos werden erfahrene politische Pädagogen noch andere typische Einstellungsarten, die für ihre Arbeit richtungweisend geworden sind, herausstellen und beschreiben können, während ich nur aus allgemeiner Psychologenerfahrung einige Beispiele habe deduzieren können — lediglich, damit überhaupt mal ein Gespräch über politisch-relevante Einstellungstypen bei Schülern zustande kommt. Bisher las man nur über das Vorhandensein von Vorformungen, die der politischen Bildungsarbeit Schwierigkeiten bereiten; es fehlten aber konkrete Beschreibungen über das, was man wirklich und wie oft man es antrifft. Diese Beschreibungen würden aber wohl nur möglich werden, wenn man die verschiedenen Einstellungsarten systematisch forschend aufsucht und motivationspsychologisch untersucht.

Es ist auch nicht gesagt, ob gerade die oben skizzierten neun Einstellungstypen (nebst Untertypen) relativ am häufigsten vorkommen oder die meisten Schwierigkeiten bereiten. Man wird zwar den einen und anderen Typ nach diesen Beschreibungen wiedererkennen, meistens aber sicher in irgendeiner Variante, Kombination oder Konstellation. Im Einzelfall muß jeder Lehrer schließlich selbst seine Feststellungen treffen; Hauptsache ist, daß er sich seinen Blick dafür zu schulen und zu schärfen bemüht. Er wird auch über das verfügen müsB sen, was Egon Becker in seinem Bericht „politische Sensibilität" nannte.

Einige typische Einstellungen, von denen viel gesprochen wird, habe ich absichtlich nicht herausgestellt: a) So etwa jene, von der gesagt wird, ihre Vertreter fühlten sich im Stich gelassen, weil man ihnen keine „neuen Leitbilder" anbietet; darum könne auch nichts aus ihnen werden. Vielleicht gibt es in der Tat solch eine Art Leitbildhunger als typische Einstellung. Es wäre dann allerdings höchst interessant, einmal untersuchen zu lassen, wie ein solches Angewiesensein auf Richtungsanzeiger psychologisch-genetisch zu erklären ist. b) Sicher gibt es den Typ der ewig „Reizhungrigen", die keine Lust haben, sich auf einige wenige Hauptinteressengebiete zu konzentrieren, sondern in fortgesetzter Unruhe vom „Neuen" zu immer neuem „Neuen" schweifen müssen; in der Politik finden solche unruhigen Geister natürlich höchstens Interesse am Ungewöhnlichen, Sensationellen, nicht aber an Fragen, die zu nachdenklichem Verweilen auffordern, c) Zu erwähnen wären auch die „Gelangweilten", denen nichts mehr imponieren kann (vielleicht aus Angeberei), d) Die grundsätzlichen Zweifler, die meinen, an nichts mehr glauben zu können, weil sie sich immer wieder getäuscht fühlen, müssen auch genannt werden. Solche radikal Ungläubigen können dem politischen Pädagogen unter Umständen ebenfalls eine harte Nuß zu knacken geben, e) Auch von den in natürlicher Weise Aufgeschlossenen, Wissensdurstigen und Mitarbeitsbereiten, die offenbar kein spezifisches politisch-pädagogisches Problem darstellen, erwähnte icht nichts, obwohl auch dieser Typ sicherlich nicht selten vorkommen dürfte.

Hat erst jeder politische Pädagoge die große Variationsbreite der vorkommenden Voreinstellungs-Typen erkannt und glückt es ihm darüber hinaus, auch seinen Schülern bewußt zu machen, in welcher Weise sie selbst — und auch ihre Mitschüler — in ihrem Reagieren auf politische Aussagen mitbestimmt werden durch ihre subjektiven Vorgeformtheiten und unkontrollierten Gefühle, dann lösen sich für das richtige „Ankommen" der politischen Bildungsbemühungen wohl manche psychischen Hindernisse ganz von selbst auf. Dann wird jeweils ganz persönliches Interesse geweckt, das bekanntlich viel stärker zu Buche schlägt als ein bloßes Sach-und Lerninteresse, das von vorübergehender Natur sein kann und neuen Sachinteressen Platz zu machen pflegt, während das, was einem als „mich-ganz-persönlich-angehend", meine Gefühle, meine Wertungen, ja mein eigenes Leben mitbestimmend bewußt geworden ist, ein Teil des Ichs wird, der bleibt.

Damit wird sich der einzelne auch unmittelbar seiner persönlichen Rolle bewußt, die er — ob er das nun eigentlich wollte oder nicht — im gesellschaftlichen und politischen Leben seiner Umwelt mitzuspielen verurteilt ist. Er wird sich nun aus eigenstem Interesse veranlaßt fühlen, sie zu bejahen und nach eigenen Wertungen — in Auseinandersetzung mit den Interessen und Wertungen anderer — selbst zu gestalten. Und das ist ja der eigentliche Sinn der politischen Erziehungs-und Bildungsarbeit in der Demokratie.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In den USA ist die Einstellungs-bzw. „Attitüden" -Forschung sehr weit in Detailfragen vorgedrungen. Einen ausführlichen Sammelbericht hierüber gab M. Irie auf dem 25. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1966 (Bericht Göttingen 1967 S. 194. ff.). Für unseren Zweck, die politische Pädagogik, kommt es indes nicht auf Detailanalysen und strittige Einzelinterpretationen an; es dürfte genügen, wenn die politischen Pädagogen einen Blick für die Problematik und die wichtigsten vorkommenden Unterschiede von Einstellungen und deren Bedeutung für ihre didaktischen Probleme gewinnen würden.

  2. Bericht über den 24. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Göttingen 1965, S. 6

  3. Wilh. Arnold, Person, Charakter, Persönlichkeit, Göttingen 19622, S. 276-277.

  4. Heinz-Rolf Lückert, Konfliktpsychologie, München 1957, S. 494.

  5. Es handelt sich hier um den Ausspruch eines Psychologen anläßlich einer Diskussion über die Bemessung des Haushaltgeldes in mittelständischen Familien. Das Zitat stammt aus der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 21. Juli 1967.

  6. Earl Davis, Zum gegenwärtigen Stand der Vorurteilsforschung, in: Politische Psychologie, Frankfurt/M. 1964, Band III, S. 51/52.

  7. Bericht über den 25. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Göttingen 1967, S. 77.

  8. Reinh. Tausch, Soziale Interaktion Lehrer-Schüler und Sozialklima in Schulen — Erziehungsfaktoren für Diktatur und Demokratie, in: Politische Psychologie, Frankfurt/M. 1966, Band IV, S. 107/116.

  9. Walter Jacobsen, Individualität und soziale Rolle, Hamburg 1934.

  10. Egon Becker, Zur Wirksamkeit politischer Bildung, Frankfurt/M. 1966.

  11. Hans Tietgens, Politische Bildung und Fernsehen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 27/67, S. 23/24.

  12. E. Becker, a. a. O.

Weitere Inhalte

Walter Jacobsen, Dr. phil., Oberregierungsrat a. D., Psychologe, früher Referent in der Bundeszentrale für politische Bildung, geboren 1895 in Altona/Elbe, 1937 nach Schweden emigriert, wo er ein Institut für praktische Psychologie und Berufswahlfragen mitgründete und wissenschaftlich leitete.