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Der Anarchismus | APuZ 47/1967 | bpb.de

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APuZ 47/1967 Der Anarchismus

Der Anarchismus

Günther Nollau

Der Anarchismus ist eine philosophisch-politische Lehre, die darauf zielt, allen staatlichen und gesellschaftlichen Zwang zu beseitigen und ein Zusammenleben von Menschen in Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu schaffen.

In Deutschland ist der Anarchismus nie eine bedeutende politische Kraft gewesen. In anderen Ländern zwar demonstrierten Anarchisten in Massen; ihre Gewaltakte beseitigten Monarchen und Präsidenten. Im kaiserlichen Deutschland wurden nur einige Attentate versucht; sie scheiterten.

Während die geistigen Väter des Sozialismus — Marx und Engels — Deutsche waren, ist der deutsche intellektuelle Beitrag zum Anarchismus bescheiden. Nur der Philosoph Max Stirner („Der Einzige und sein Eigentum", 1845), der einem extremen Individualismus huldigte, mag einige Anarchisten angeregt haben. Sozialistische und kommunistische Organisationen sind aus dem letzten Jahrhundert deutscher Geschichte nicht wegzudenken. Dagegen hat der organisierte Anarchismus in Deutschland keine Rolle gespielt.

Um so mehr Aufsehen erregten einige Berliner Studenten, als sie im Jahre 1967 Flugblätter verbreiteten mit Losungen („burn, warehouse, burn"), die, falls sie ernst gemeint gewesen sein sollten, als anarchistische Aufrufe zur „Propaganda durch die Tat" hätten angesehen werden können. Etwa zur gleichen Zeit explodierte vor der spanischen Botschaft in Bonn eine Bombe. Am Tatort fand man Zettel mit der Aufschrift FAI (Federaciön Anarquista Iberica). Was will der Anarchismus? Was haben wir von ihm zu erwarten? Plato hat in seinem Werk „Der Staat" ein Übermaß an Freiheit, das Fehlen jeder Herrschaft, als Nährboden der Tyrannei abgelehnt. In der Lehre eines anderen griechischen Philosophen, Zenos des Jüngeren, des Begründers der Stoischen Philosophie, finden die Anarchisten dagegen Anklänge ihrer Gedanken. Dennoch ist der Anarchismus kein Kind des Altertums, sondern des 19. Jahrhunderts, und seine Gedanken wurzeln — wie die anderer politischer Strömungen dieser Zeit — in der Aufklärung.

Philosophen des Anarchismus

Die Lehren des englischen Philosophen William Godwin (1756— 1836) lassen diese Herkunft klar erkennen. Nach Godwin ist Gerechtigkeit das Fundament des Glücks. Die damalige Form des Wählens kritisierte er mit der Bemerkung, die Jagd nach Wählerstimmen sei ein mit Moral und Menschenwürde völlig unvereinbares Geschäft. Mit gleicher Schärfe wandte er sich gegen jeden Terror. Godwin wollte zwar die staatliche Autorität beseitigen, aber nicht durch revolutionäre Gewalt, sondern er meinte, der Mensch könne sich vervollkommnen, da er der Vernunft zugänglich sei. Der einzelne werde sich allmählich aufwärtsentwickeln und lernen, in einer Gesellschaft ohne Zwang zu leben, einer Gesellschaft, in der sich das Wohl des einzelnen mit dem Glück aller vereinbare. Als Rationalist meinte Godwin, die Ursachen aller Laster und Verbrechen rational erkennen zu können. Im Eigentum sah er die Wurzel aller Übel und schlug deshalb vor, es zu beseitigen. Er dachte aber — anders als die Väter des Kommunismus — nicht daran, es zu vergesellschaften und gemeinsam zu nutzen. Sein Vorschlag — der eines individualistischen Anarchisten — war, jeden nach seinen Bedürfnissen zu befriedigen.

Ein Anhänger der Gewaltlosigkeit — wie Godwin — war der Franzose Proudhon. Kritik am Eigentum übte er ähnlich wie sein englischer Vorgänger. Da Arbeit das Wesen des Menschen ausmache, sei arbeitsloses Einkommen abzulehnen. Niemand solle sich aneignen, was allen zustehe. In diesem Sinne war sein berühmtes Wort gemeint: Eigentum ist Diebstahl („la proprit c’est le vol"). Die Gerechtigkeit war ihm, wie er sagte, Gott und Religion. Gerechtigkeit, Abschaffung des Eigentums und Herrschaftslosigkeit — das waren seine Forderungen; sie machten ihn zum bekanntesten Philosophen des Anarchismus. In revolutionären Organisationen betätigte er sich nicht. Wegen eines nur journalistischen Angriffs auf Louis Napoleon erhielt er 1849 eine dreijährige Gefängnisstrafe.

Als anarchistischer Philosoph hat auch Fürst Peter Kropotkin (1842— 1921) großes Ansehen erworben. Seine Kenntnis landwirtschaftlicher Probleme, seine Erfahrungen bei der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland ließen ihn an dem Regime zweifeln, unter dem er als Sohn eines Großgrundbesitzers aufgewachsen war. Er sah die Leiden politischer Gefangener und wurde dadurch in die Reihen des politischen Radikalismus getrieben. Auf einer Europareise lernte er Anarchisten kennen; nach Rußland zurückgekehrt, hielt er mit revolutionären Kreisen Verbindung. 1874 wurde er verhaftet. Nach seiner Flucht ging Kropotkin nach England, wo er als Schriftsteller und Philosoph des Anarchismus lebte. 1921 starb er — nach dem Umsturz zurückgekehrt — voller Sorge über den Verlauf der Revolution in seinem Lande.

Kropotkin teilte mit Godwin und Proudhon die leidenschaftliche Liebe zur Gerechtigkeit. Auch er empfahl, die Güter nach dem Bedürfnis, nicht nach der Leistung zu verteilen. Er war aber auch ein Befürworter des Terrors, der Revolte durch Dolch, Gewehr und Dynamit.

Der Franzose Georges Sorel, ein Zeitgenosse Kropotkins, trat auch für Anwendung revolutionärer Gewalt durch das Proletariat ein. Trotz dieser und anderer Überein-stimmungen (er befürwortete direkte Aktionen und sah im Generalstreik die Waffe des Proletariats) unterscheidet sidr Sorel durch einen wesentlichen Zug seiner Lehre von den Anarchisten: Er ist antiintellektuell, antirationalistisch. Sorel hat daher mehr als ein Vorläufer der Kräfte zu gelten, auf die sich später Mussolini und Hitler stützten! Zu den Vätern des Anarchismus sollte er nicht gezählt werden.

Ausgangspunkt der anarchistischen Philosophen war die Forderung nach Gerechtigkeit. Der klassische Sozialismus suchte diese Forderung durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu erfüllen, mit der — mindestens für eine Übergangsphase — Reglementierung und Planung des gesellschaftlichen Lebens verbunden sein sollten. Demgegenüber fochten die Anarchisten gegen staatliche Autorität; dabei wollten die einen Gewalt anwenden, während die anderen für Gewaltlosigkeit eintraten. Herrschaftslosigkeit, schrankenlose Freiheit der Persönlichkeit, das waren die Forderungen der Anarchisten. Deswegen waren die anarchistischen Lehren einem extremen Individualismus näher als den Formen des Sozialismus. Jedoch standen die anarchistischen Philosophen angesichts der Frage, wie bei Herrschaftslosigkeit ein Höchstmaß von Gerechtigkeit erreicht werden sollte, vor einem kaum lösbaren Problem: Wie konnte ihre Gesellschaft funktionieren? „Gegenseitige Hilfe", die nach Proudhon das Prinzip der staatlichen Gewalt ersetzen sollte, führt nur dann nicht zum Chaos, wenn alle Mitglieder der Gesellschaft auf einem gleich hohen moralischen Niveau stehen. Diese Bedingung ist aber — nach der Vertreibung aus dem Paradies — noch nie erfüllt gewesen, solange Menschen die Erde bevölkern. Ob sie je erfüllt werden wird, ist nach allem, was sich in Jahrtausenden und gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ereignet hat, zu bezweifeln. Daher bildet der Gedanke der Herrschaftslosigkeit die utopische Komponente der anarchistischen Philosophie. Proudhon scheint diese Schwächen erkannt zu haben. Er empfahl, für eine Übergangszeit „Föderationen", das heißt, dezentralisierte kleine Gruppen, Regierungsformen mit Selbstverwaltung zu bilden. Proudhon hat nie Gelegenheit gehabt, sein „föderatives Prinzip" in die Wirklichkeit umzusetzen. Ob das im 19. Jahrhundert gelungen wäre, ist zu bezweifeln. Im heutigen hochtechnisierten Großstaat mit starker Binnenwanderung, mit wirtschaftlicher und enger verkehrspolitischer Zusammenarbeit haben kleine dezentralisierte Selbstverwaltungsgruppen kaum eine Über-lebenschance.

Ein krasses Mißverhältnis zwischen Theorie und Praxis erwies auch das Leben der anarchistischen Philosophen. Ihre Kritik der bürgerlichen Gesellschaft hinderte weder Godwin noch Proudhon, das Leben braver Bürger zu führen. Auch Kropotkin war kein aktiver Revolutionär, obwohl er den gewaltsamen Umsturz gerechtfertigt hatte. Dennoch hatte er mit seiner fürstlichen Herkunft gebrochen und insofern vorbildlich gelebt. 1921 — bei seinem Begräbnis — ehrten ihn die russischen Anarchisten durch die schwarzen Fahnen, die sie damals — zum letztenmal — durch Moskau tragen durften.

Anfänge anarchistischer Organisationen

Der organisierte Anarchismus verdankte seine revolutionäre Komponente nicht so sehr seinen Philosophen als dem Vorbild der Französischen Revolution. Gracchus Babeuf, fanatischer Anhänger der Gleichheit, bezeichnete die Französische Revolution als Vorläuferin einer viel größeren Umwälzung, die die letzte sein werde. Sein Wort drückte nur aus, was viele nach der Erfahrung von 1789 empfanden: Es war möglich, die etablierte Ordnung umzustürzen, und zwar durch Gewalt. Babeuf und andere französische Revolutionäre waren keine Anarchisten, aber ihr Beispiel nährte den Glauben an den revolutionären Umsturz. Im letzten . Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wurde in Paris gezeigt, welche Macht die Volks-massen ausüben konnten, was durch „actions direct. es" zu erreichen war.

Dennoch entstanden organisierte Formen des Anarchismus in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Dabei war der Russe Michail A. Bakunin (1814— 1876) die treibende Kraft. Auch seine Ansichten wurzelten in der Aufklärung: Alle Menschen seien gleich — gesellschaftliche Unterschiede milieubedingt. Weitergehend als die Aufklärer forderte Bakunin aber die Revolution gegen jede staatliche Autorität. Er verlangte, Erbrecht und Ehe abzuschaffen. Die Gesellschaft, der Staat sollten beseitigt werden, und zwar in allen ihren Erscheinungen: Wirtschaft, Kirche, Bürokratie und Militär. Kinder sollten gemeinschaftlich erzogen, die Produktionsmittel gemeinschaftlich genutzt werden. Der Anarchist soll — nach Bakunin — den Umsturz mit allen Mitteln anstreben. Die Revolution heiligt alles: Gift, Messer, Strick. Der Revolutionär hat nur ein Ziel: das Bestehende zu zerstören. In dem „Geheimen Programm der Internationalen Sozialistischen Allianz", einer der von ihm geschaffenen Organisationen, formulierte Bakunin das Ziel der Revolution:

„Die Zerstörung aller religiösen, monarchischen Mächte und Gewalten in Europa. Daher die Zerstörung aller gegenwärtig bestehenden Staaten mit all ihren politischen, juristischen, bureaukratischen und finanziellen Einrichtungen."

Bakunin geriet 1848 in Dresden als Aufständischer in Haft und wurde an Rußland ausgeliefert. Bis 1857 saß er im Gefängnis. 1861 gelang es ihm, aus der sibirischen Verbannung zu entkommen. Als ruhmbedeckter Revolutionär trat er in Europa auf. Sein Bestreben war es, die anarchistischen Revolutionäre in geheimen Verschwörungen zu organisieren. In Italien zum Beispiel gründete er die erste dieser Geheimgesellschaften, die „Internationale Bruderschaft". Seit 1867 lebte er in der Schweiz, wo er weitere Geheimorganisationen schuf. Im gleichen Jahr trat Bakunin in die „Internationale Arbeiterassoziation" ein, der von Marx und Engels 1864 in London gegründeten 1. Internationale. Seinen Anarchismus gab er damit nicht auf, sondern schuf eine neue anarchistische Gesellschaft, die „Internationale Sozialdemokratische Vereinigung", die offenbar den Zweck hatte, innerhalb der „I. Internationale" eine Kerntruppe von Agitatoren und Revolutionären zu schaffen, um die Arbeiter Europas für den Umsturz zu gewinnen.

In der I. Internationale brach Streit aus, sowohl infolge des Zusammenpralles der Persönlichkeiten Marx und Bakunin wegen organisatorischer Differenzen als auch aus politischen Gründen. Politisch muß Bakunins „Internationale Sozialdemokratische Vereinigung" Marx als Konkurrenzunternehmen erschienen sein. Persönlich griff Bakunin seinen Gegner mit dem Vorwurf an, Marx sei „als Deutscher und Jude vom Scheitel bis zur Zehe ein Autoritär" Der Generalrat der Internationale sei eine „Pan-Germanistische Agentur“, geleitet von einem Bismarckschen Gehirn.

Der politische Streit entstand, weil Marx offen dafür eintrat, eine Arbeiterpartei zu gründen, um durch sie gegen die herrschenden Klassen zu kämpfen und die Macht zu erobern. Bakunins Ziel war dagegen, die politische Macht zu zerstören.

1872, auf dem Kongreß der I. Internationale im Haag, setzte Marx den Ausschluß der Bakunisten durch. Zugleich wurde der Sitz der I. Internationale nach Nordamerika (New York) verlegt, wo sie 1876 aufgelöst wurde. Im selben Jahr starb Bakunin in der Schweiz. In seinem letzten Brief schrieb er der „Juraföderation", einer anarchistischen Gruppe im Schweizer Jura:

„ ... Ich bitte Euch, meinen Austritt als Mitglied der Juraföderation ... anzunehmen ...

In moralischer Hinsicht fühle ich mich noch ziemlich stark, aber physisch bin ich gleich müde, ich empfinde, daß ich nicht mehr die notwendige Kraft zum Kampf habe ..."

Anarchismus und Kommunismus

Bakunin lehnte den Kommunismus ab:

„Wir haben dieses System zurückgewiesen, weil es die Staatsmacht durch Konzentration in den Händen des Staates vermehrt. . . Klar ist, daß das System von Marx zur Herrschaft einer intelligenten Minderheit führt, die allein fähig ist, die bei einer Zentralisation sich ergebenden verwickelten Fragen zu erfassen, und folglich zur Knechtschaft der Massen und ihrer Ausbeutung durch diese intelligente Minderheit."

Den allmächtigen Staat der Kommunisten, damals noch ein Zukunftsbild, hat Bakunin also vorausgesehen, und er bezeichnete ihn als reaktionär.

Der Schweizer James Guillaume, ein Anhänger Bakunins, formulierte den anarchistischen Standpunkt so:

„Die Kommunisten sind der Ansicht, daß sie die Kräfte der Arbeiterklasse organisieren müssen, um die politische Macht im Staate zu ergreifen. Revolutionäre Sozialisten (d. h. Anarchisten, d. Verf.) organisieren, um den Staat zu zerstören."

Das Absterben des Staates forderten auch Marx und seine Anhänger. Worin sie sich von den Anarchisten unterschieden, erklärte Friedrich Engels:

„Alle Sozialisten sind einer Meinung darüber, daß der politische Staat und mit ihm die politische Autorität im Gefolge der nächsten sozialen Revolution verschwinden werden .. . Aber die Anti-Autoritären fordern, daß der autoritäre politische Staat auf einen Schlag abgeschafft werde, bevor noch die sozialen Bedingungen vernichtet sind, die ihn haben entstehen lassen.

Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittelst Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln, aufzwingt."

Auch in der Frage, welcher Weg zur Revolution führen werde, gehen die Meinungen der klassischen Kommunisten und der Anarchisten auseinander. Marx sah den Umsturz als notwendiges Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung an: der „Konzentration des Kapitals" auf der einen Seite und der „Konzentration des Elends" in der Arbeiterschaft.

Bakunin dagegen meinte, die Revolution könne von wenigen fanatischen Führern provoziert werden, wenn sie nur das Elend der Massen, wenn sie nur eine revolutionäre Situation ausnützten. Die besten Aussichten habe daher die Revolution in zurückgebliebenen Ländern mit notleidender Bevölkerung, während Marx die Revolution in den „fortgeschrittenen" Industrienationen erwartete. „Wenn die Arbeiter des Westens zu lange zögern", schrieb Bakunin prophetisch, „wird der russische Bauer ihnen ein Beispiel setzen." Die Bolschewiki gaben das Beispiel. Das Ergebnis ist alles andere als bakunistisch.

Versehen mit den Erfahrungen der letzten hundert Jahre ist es leicht, die Streitenden zu kritisieren: Die Voraussetzungen der Revolution hat Bakunin richtig beurteilt, denn in keinem Industrieland haben die Arbeiter bisher eine kommunistische Revolution gemacht. Auch den kommunistischen Staat Marxscher Prägung hat Bakunin richtig als omnipotent und reaktionär bezeichnet. Auf das „Absterben" dieses Staates warten heute — fünfzig Jahre nach der Oktoberrevolution — Kommunisten und ihre Gegner vergeblich.

Andererseits hat sich Bakunins Vorschlag, den autoritären politischen Staat mit einem Schlage abzuschaffen, als utopisch herausgestellt. Als ihn Anarchisten während des spanischen Bürgerkrieges in Katalonien verwirklichen wollten, wurden sie durch die straff organisierten Kommunisten vernichtet.

Der Anarchismus in den europäischen Ländern

Die Entwicklung des Anarchismus in den europäischen Ländern bestätigt Bakunins These, das Elend der Massen sei den Revolutionären günstig. Besonders in Italien und Spanien (dort früher — hier später) wurde die Not zum Nährboden des Anarchismus.

Der individualistische Charakter des Anarchismus dürfte der Grund dafür sein, daß es nicht gelang, ihn international zu organisieren. Internationale Kongresse der Anarchisten (1861 in Paris und 1907 in Amsterdam) blieben ohne nennenswerte Ergebnisse.

Italien In Italien herrschte, nachdem die Einheit des Landes errungen war, wirtschaftliche Not. Mißernten und eine Mehlsteuer brachten kleine Bauern und landlose Arbeiter in eine verzweifelte Lage. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts fanden dort Bakunins Ideen Anklang; anarchistische Gruppen entstanden. Sie hatten in der italienischen Föderation der I. Internationale starken Einfluß. Diese italienische „Föderation" erkannte die gegen Bakunin gerichteten Beschlüsse des Haager Kongresses von 1872 nicht an Carlo Cafiero aus Neapel, ursprünglich ein Marx-Anhänger, ging zu Bakunin über. Enrico Malatesta, damals ein Medizinstudent, hielt Jahrzehnte an seiner anarchistischen Überzeugung fest — bis in die Gefängnisse des Faschismus. An einem Aufstand in Bologna (1874) nahm der alternde Bakunin selbst teil. Jedoch wurde der Plan den Behörden verraten und Andrea Costa, der Organisator des Aufstandes, verhaftet. Bakunin floh als Priester verkleidet in die Schweiz.

Ein ähnliches Fiasko erlitt ein Plan Malatestas und Cafieros, 1877 in der süditalienischen Provinz Benevent einen Aufstand anzuzetteln. Auch dieser Plan wurde der Polizei verraten. Einige Tage nach Beginn der Erhebung irrten die Verschwörer durch die Berge. Nach längerer Untersuchungshaft sprach sie ein mildes Schwurgericht frei. Diese Fehlschläge überzeugten einen Teil der italienischen Anarchisten, insbesondere Andrea Costa, davon, daß revolutionäre Tätigkeit dieser Art nur geringe Aussichten hatte. Costa und seine Freunde sahen ein, daß vereinzelte Gewaltakte nutzlos waren; man mußte die Arbeiter organisieren, um ihr Los zu verbessern. Costa wurde einer der Führer der sozialistischen Partei Italiens. Andere zogen aus der gleichen Erkenntnis — Aussichtslosigkeit der Revolution — andere Schlüsse: Wenn kein Umsturz möglich war, dann mußten Gewaltakte einzelner die Welt auf das soziale Elend hinweisen und so schließlich der Revolution den Weg bahnen. Das war der Gedanke der „Propaganda durch die Tat", der bis in unsere Tage noch viele Opfer fordern sollte. Ende der siebziger Jahre griff in Neapel ein Messerstecher den König Umberto I. an, der zwar nur einen Kratzer davontrug. Auf dem Messer befand sich die Inschrift: „Lang lebe die internationale Republik". Tragischer verlief ein Umzug, den Monarchisten in Florenz veranstalteten, um die Rettung des Königs zu feiern. Die Bombe eines Anarchisten tötete vier Demonstranten und verletzte zehn.

Nun setzte eine scharfe Verfolgung der Anarchisten ein. Ihre Organisationen wurden in Italien aufgelöst. Malatesta emigrierte. Einzelne Anarchisten wirkten jedoch weiter. Noch 1901 beklagte sich Filippo Turati, ein Führer der italienischen Sozialisten, über die anarchistische Infiltration in seiner Partei.

Frankreich Die Pariser Kommune war kein anarchistischer Aufstand, obwohl einige Anarchisten — wie Eugene Varlin — zu ihren Führern zählten. Aber die Verfolgung der Sozialisten, die der Niederlage der Kommune folgte, traf auch die Anarchisten schwer. Auf Jahre konnten die französischen Linken keine revolutionäre Aktivität entfalten. Die Arbeiter bauten jedoch ihre Gewerkschaften aus. Während die Gewerkschaften in Deutschland und England in enge Beziehungen zu den sozialistischen Parteien traten, verfolgten sie in Frankreich den Grundsatz, industrielle Aktionen, insbesondere den Generalstreik, ohne Unterstützung politischer Parteien durchzuführen. Diese Gewerkschaften boten den Anarchisten Gelegenheit, sich in der Arbeiterschaft zu betätigen. Anarchisten traten deshalb in die Gewerkschaften (Syndikate) ein. So entstand der französische Anarcho-Syndikalismus in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die „Confederation Generale du Travail" (CGT) wurde 1895 gegründet. Sie betrachtete es als ihre Aufgabe, auf wirtschaftlichem Gebiet den Kapitalismus zu bekämpfen, durch direkte Aktionen, insbesondere den Generalstreik, die Macht zu erringen. Vor dem Ersten Weltkrieg fanden diese Gedanken zwar Anklang in der französischen Arbeiterschaft — die CGT hatte in dieser Zeit etwa 600 000 Mitglieder, in einzelnen Wirtschaftszweigen wurden Streiks ausgerufen —, aber die Idee, den Generalstreik zum Sturz der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu benutzen, ließ sich nicht verwirklichen. Auch der Plan der II. Internationale, durch den Generalstreik Kriege zu verhindern, ein Plan, den die französischen Anarcho-Syndikalisten aufgegriffen hatten, scheiterte bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Nicht nur konnten die Anarcho-Syndikalisten Frankreichs Arbeiter nicht daran hindern, zu den Fahnen zu eilen, auch alle sozialistischen Parteien Europas hielten der Woge des Nationalismus nicht stand, die sich 1914 erhob. Die Notwendigkeiten des Krieges drängten auch die französischen Gewerkschaften in eine gewisse Solidarität mit dem Staat, was zur Folge hatte, daß die Revolution nicht mehr an der Spitze ihrer Forderungen stand. Der Sieg der Revolution in Rußland erhöhte zwar die Anziehungskraft des Kommunismus auch auf die Gewerkschaftsführer, aber es dauerte noch bis in die dreißiger Jahre und bedurfte der einenden Kraft des Antifaschismus, um die — einst anarcho-syndikalistische — französische Gewerkschaftsbewegung in das Fahrwasser des Kommunismus zu drängen.

Spanien Versandete auf diese Weise der Anarcho-Syndikalismus in Frankreich, in Spanien erwies er sich als aktionsfähig. Bereits 1868 hatte Guiseppe Fanelli, ein italienischer Schüler Bakunins, die anarchistische Lehre auf die iberische Halbinsel getragen. In zahlreichen Orten wurden damals anarchistische Gruppen gebildet. 1869 gründete Fanelli die Federacion Regional Espanola. Der „Marxismus" war zu dieser Zeit in Spanien noch unbekannt. 1872 gehörten der spanischen Föderation der I. Internationale 101 lokale Gruppen mit 332 Gewerkschaftssektionen an Sie wurden von Anarchisten geführt. Auf dem Haager Kongreß der Internationale von 1872, auf dem der Streit zwischen Marx und Bakunin ausgetragen wurde, stimmten die spanischen Anarchisten gegen Marx. *

In Spanien waren die Voraussetzungen einer revolutionären Entwicklung gegeben, die Bakunin genannt hatte. Dynastische Kämpfe und politische Unsicherheit herrschten in den Jahren vor und nach der 1. Republik (1874/75). In weiten Gebieten lebte eine verarmte Landbevölkerung; krasse Gegensätze trennten arm und reich. Außerdem hat die Geschichte gelehrt, daß der spanische Volkscharakter Individualisten hervorbringt, deren Unnachgiebigkeit und Härte sie gleichermaßen zu Eroberern und Revolutionären prädestiniert.

Die spanische Monarchie hatte sich den Sanktionen der kontinental-europäischen Regierungen gegen die Mitglieder der I. Internationale angeschlossen. Ihre sozialistischen Gegner entstammten aber nicht nur — wie in den Industriestaaten — der Arbeiterschaft, sondern auch der verarmten Landbevölkerung; sie waren überwiegend Anarchisten. Trotz aller Bekämpfungsmaßnahmen konnten die anarchistischen Gruppen dank ihrer Dezentralisation und ihres konspirativen Charakters ihren Kern erhalten.

Seitdem stand ein wichtiger Teil der spanischen Arbeiterschaft in den Reihen der Anarchisten. Zwar entwickelte sich auch ein marxistischer Zweig der Arbeiterbewegung, nachdem Paul Lafargue, der Schwiegersohn Karl Marx’, als Flüchtling der Pariser Kommune in Spanien angekommen war, aber die Anarchisten blieben stärker. Im Laufe der Jahre bildeten sie die „Solidaridad Obrera" (Arbeitersolidarität), aus der 1911 die mächtige Confederacion Nacional de Trabajo (CNT) hervorging. Als Gegengewicht gründeten die spanischen Marxisten die Partido Socialista Obrero Espanol (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) und ihre Gewerkschaft, die Union General de Trabajadores (UGT = Allgemeine Arbeiter-union). Die marxistischen Parteien und Gewerkschaften in Spanien haben infolge des Übergewichts der Anarchisten nie die Bedeutung erlangt wie in anderen europäischen Ländern.

Die Taktik der spanischen Anarcho-Syndikalisten in den Konflikten zwischen Unternehmern und Arbeitern bestand darin, jede (auch staatliche) Vermittlung abzulehnen, auf die Teilnahme am Wahlkampf und an den Arbeiten des Parlaments zu verzichten. Der Parlamentarismus sei, so erklärten sie, eine Schule der Korruption und der Demagogie. Parlamentarische Arbeit führe entweder zur Eroberung des Staates oder zur Mitarbeit an ihm. Es sei eine Illusion, den Staat erobern zu wollen, da der Staat schließlich die Eroberer in seine Werkzeuge verwandle. Daher müsse die Arbeiterschaft durch „direkte Aktionen" den Staat bekämpfen und schließlich den freiheitlichen Kommunismus (e! comunismo libertario) erreichen

Die Geschichte der „direkten Aktionen" in Spanien ist lang und grausam. Einige der schwersten Attentate werden im Abschnitt „Propaganda durch die Tat" erwähnt. Typisch spanisch war aber der Aufstand, der 1909 in Barcelona einem Generalstreik folgte. Anlaß waren nach einer Niederlage der spanischen Armee im Krieg gegen die Rifkabylen Ein-berufungen zum Militärdienst in Afrika gewesen. Während dieses Aufstandes wurden allein in Barcelona 48 Kirchen zerstört. 600 Todesopfer waren zu beklagen (semana trgica = tragische Woche). Charakteristisch für den spanischen Syndikalismus der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts war auch der scharfe Terror gegen die Unternehmer. Die Arbeitgeber organisierten zu ihrem Schutz sogenannte freie Syndikate (sindicatos, liberos), die in blutige Kämpfe mit denIAAnarchisten verwickelt wurden. In die Tausende ging die Zahl der Opfer — auch auf seifen der Anarchisten, von denen einige, nachdem sie ihre Tat vollbracht hatten, in revolutionärer Besessenheit Selbstmord begingen.

Da Spanien im Ersten Weltkrieg neutral blieb, kam — anders als in Frankreich — keine Annäherung zwischen Gewerkschaften und Staat zustande. Insbesondere war die mächtige anarchistische CNT, die 1923 über eine Million Mitglieder hatte, nicht zu einem Kompromiß mit dem „System" bereit. Mit der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale arbeiteten die spanischen Anarchisten nur vorübergehend zusammen. Als 1922 bekannt wurde, auf welche Art die Kommunisten in Sowjetrußland herrschten, wie sie zum Beispiel den Aufstand der Kronstädter Matrosen niedergeschlagen hatten, löste die CNT ihre vorläufige Mitgliedschaft in der Komintern und trat aus.

Außerhalb Spaniens, insbesondere in Frankreich, England und Deutschland, ging in den zwanziger Jahren eine gewisse Zusammenarbeit der organisierten Arbeiterschaft mit staatlichen Institutionen weiter. In Spanien dagegen blieb die Arbeiterbewegung überwiegend anarchistisch; die Wirtschaftsstruktur war zurückgeblieben, Arbeiter und Unternehmer standen sich oft auf Leben und Tod gegenüber.

Der Seperatismus einiger Landesbewohner (Katalanen, Basken) verschärfte die Lage und stärkte die Bewegung der Anarchisten, die allen Freiheit versprach.

An den Wirren, die von 1923 bis 1936 in Spanien herrschten, hatte auch die CNT durch lokale und allgemeine Streiks ihren Anteil. Während Streiks meist in Industriestädten ausgerufen wurden, fand eine andere typisch spanisch-anarchistische Aktion auf dem Lande statt: die Bildung revolutionärer Kommunen. Das Beispiel des Dorfes Casas Viejas bei Jerez in Andalusien sei erwähnt. Anarchisten erklärten das Dorf im Jahre 1933 zur freien Kommune; der Bürgermeister wurde abgesetzt, die Polizisten entwaffnet. Man begann, den Boden aufzuteilen. Die Anarchisten in Casas Viejas waren jedoch isoliert. Als Truppen der republikanischen Regierung angriffen, verschanzten sie sich in einem Haus. Nach zwölfstündigem Kampf war es zerstört. 25 Aufständische fanden den Tod

Aktive Anarchisten hatten sich schon 1927 auf ihre revolutionären Prinzipien besonnen und eine echte Geheimgesellschaft gegründet, die Federaciön Anarquista Iberica (FAI). Diese Gesellschaft ließ sowohl die echte anarchistische Lehre verbreiten als auch — getreu ihren Prinzipien — Gewalttaten verüben. Jose Gar-cia Oliver, Führer der FAI, wurde im Bürgerkrieg Justizminister. Seine Anhänger rühmten ihm nach, 253 Menschen getötet zu haben; ernste Historiker halten diese Behauptung nicht für unwahrscheinlich

Im Bürgerkrieg wurden die anarchistischen Grundsätze und die Führer des Anarchismus auf eine harte Probe gestellt, und zwar unter den schlechtesten Bedingungen. In Katalonien, ihrer Hochburg, eroberten CNT und FAI schon im Juli durch einen blutigen Aufstand die Macht. Danach veränderten sie die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf anarchistische Weise: Gewerkschaften übernahmen die Fabriken. Läden und Cafes, sogar die Schuhputzer wurden vergesellschaftet. Gewerkschaftliche „Patrouillen" übten die Polizeigewalt aus. Man sprach sich mit „Du" und „Gefährte" (companero) an. Viele trugen Arbeitskleidung oder Uniformstücke Solange Vorräte vorhanden waren, konnte die nun-mehr stark dezentralisierte Wirtschaft Kataloniens funktionieren. Als der Krieg aber länger dauerte, stellten sich Schwierigkeiten ein, die entweder durch freies Unternehmertum oder durch zentrale Planung hätten überwunden werden können. Beide Möglichkeiten waren in der anarchistischen Theorie nicht vorgesehen.

Noch krasser zeigte sich auf militärischem Gebiet, daß Kriegführen nach anarchistischen Prinzipien schwer ist. An der aragonischen Front standen auf republikanischer Seite anarchistische Einheiten, die „Miliz der Freiheit". In den ersten Kriegsmonaten lehnte eine dieser Einheiten zum Beispiel die Zusammenarbeit mit regulären Truppen ab und verweigerte am Vorabend einer Schlacht den Gehorsam. George Orwell hat das „innere Gefüge" dieser Miliz beschrieben:

„Generale und einfache Soldaten, Bauern und Milizsoldaten begegneten sich als ebenbürtig, jeder erhielt den gleichen Lohn, trug die gleiche Kleidung, aß die gleiche Nahrung und nannte jeden anderen du und Kamerad. Es gab keine Klasse der Bosse, keine Klasse der Lakaien, keine Bettler, keine Prostituierten, keine Rechtsanwälte, keine Priester, keine Speichelleckerei und keine Unterwürfigkeit. Ich atmete die Luft der Gleichheit und war einfältig genug, mir vorzustellen, daß sie in ganz Spanien existierte. Es fiel mir nicht auf, daß ich mehr oder minder zufällig unter dem revolutionärsten Teil der spanischen Arbeiterklasse isoliert war."

Solange revolutionäre Begeisterung die Kämpfer einte, wurde der Mangel an Disziplin ausgeglichen. Je länger aber der Krieg dauerte und je schwieriger die Lage der Republikaner wurde, desto mehr erkannten auch die Anarchisten, daß sie ein gewisses Maß an Ordnung und Disziplin einführen mußten. Auf militärischem wie auf politischem Gebiet wirkte das Argument der Kommunisten: „Wir können nicht über die Revolution sprechen, ehe wir nicht den Krieg gewonnen haben." Unter dem Vorwand, zuerst müsse man den Krieg gewinnen, bauten die Kommunisten ihre Machtpositionen auf der republikanischen Seite mehr und mehr aus. Förderlich war ihnen dabei, daß es offensichtlich im Interesse der republikanischen Sache lag, die Leitung des Kampfes zu zentralisieren, überdies ging die Hilfe der Sowjetunion an die zentrale Regierung, in der der kommunistische Einfluß ständig zu-nahm. Machten die Anarchisten im Interesse der Sache Konzessionen an die Zentralregierung, so schmälerten sie damit selbst ihren Einfluß. Als Madrid im Oktober 1936 bedroht war, überwanden die Anarchisten ihre Bedenken und entsandten in die Madrider Regierung vier Minister, von denen zwei, Garcia Oliver und Federica Montseny, sogar aus der radikalen FAI kamen. In die Provinzregierung Kataloniens war schon im September ein anarchistischer Minister eingetreten.

Diese Zugeständnisse beseitigten die Differenzen nicht. Voreilig zwar, aber kennzeichnend schrieb die Moskauer „Prawda" am 17. Dezember 1937: „Was Katalonien anlangt, so hat die Säuberung von Trotzkisten und Anarchisten begonnen — und sie wird mit derselben Energie durchgeführt werden wie in der UdSSR."

Bald darauf entstanden in Barcelona Spannungen, weil die Pronvinzregierung, unterstützt von den Kommunisten, die anarchistisch-gewerkschaftlichen „Patrouillen" auflöste, die dort Polizeigewalt ausübten. Streitigkeiten rief auch die Lebensmittelversorgung hervor. Ferner wurden anarchistische Milizen schlechter bewaffnet als andere Einheiten. Im März traten die anarchistischen Mitglieder der Provinzregierung zurück.

Ende April 1937 entbrannten in Barcelona blutige Kämpfe zwischen Kommunisten und Anarchisten, auf deren Seite auch die sozialistische POUM (Partido Obrero de Unificaciön Marxista) stand. Barrikaden wurden errichtet, die Arbeit ruhte. Erst am 8. Mai stellten Regierungstruppen die „Ruhe" wieder her. Die POUM wurde verboten, ihre Anhänger grausam verfolgt. Viele Anarchisten teilten ihr Schicksal Was die „Prawda" angekündigt hatte, wurde nun wahr.

Mitte Mai traten die anarchistischen Minister zurück. Bis zum Ende des Bürgerkrieges war der Einfluß der anarchistischen Organisationen CNT und FAI stark geschmälert. Nach der Niederlage flohen mit den Resten der republikanischen Kräfte auch zahlreiche Angehörige der CNT und FAI nach Frankreich, wo diese Organisationen noch heute ein Schattendasein führen. Rußland Die Geheimgesellschaften des Russen Bakunin hatten ihren Sitz nicht in seiner Heimat. Seine Verurteilung in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts beruhte nicht auf revolutionärer Tätigkeit in Rußland. Sergei G. Netschajew, mit dem Bakunin einige Jahre zusammengearbeitet hat, scheint mehr ein krimineller Gewalttäter als ein anarchistischer Revolutionär gewesen zu sein. Zar Alexander II. wurde (im Jahre 1881) nicht durch Anarchisten ermordet, sondern von der Gruppe „Volkswille" (narodnaja wolja). Aber es gab in Rußland eine bakunistische Organisation, geführt von Plechanow und Akselrod, die sich auflöste, nachdem ihre Spitzen emigrieren mußten. Dennoch war der Anarchismus im Zarenreich nicht tot. Zu Anfang unseres Jahrhunderts machten einige Anarchisten in Georgien der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands so zu schaffen, daß Stalin scharf gegen sie polemisierte Nach dem Sturz der Monarchie schlossen sich vereinzelte Gruppen von Anhängern Bakunins und Kropotkins zu der losen „Föderation anarchistischer Gruppen" zusammen. Starken Einfluß hatten sie bei den Matrosen des Marinestützpunktes Kronstadt. In der ersten Phase der Revolution deckten sich einige Ziele der Anarchisten mit der bolschewistischen Tagespolitik. Die Anarchisten unterstützten zum Beispiel die bolschewistische Forderung „Alle Macht den Räten", weil die Dezentralisation der Staatsgewalt ihrer Lehre entsprach. Einige Maßnahmen der neuen Regierung (die Aufteilung des Bodens, die Rationierung der Nahrungsmittel, die „Arbeiterkontrolle" in den Fabriken) hätten in der Tat von Anarchisten stammen können. Nachdem die Bolschewik! aber fest im Sattel saßen und begannen, die Macht zu zentralisieren, wurden die Anarchisten ihre Gegner. Kropotkin, der seine letzten Lebensjahre in Sowjetrußland verbrachte, beklagte die zentralistische und autoritäre Richtung der bolschewistischen Politik. Im April 1918 waren Anarchisten das Ziel des ersten Angriffs der bolschewistischen Exekutive gegen politische Gegner, die auch in Opposition zum Zarismus gestanden hatten. Die Festnahme von 600 Anarchisten wurde von der Tscheka als ein Schlag gegen kriminelle Elemente ausgegeben. In den folgenden Jahren arbeiteten zwar einzelne Anarchisten in der sowjetischen Verwaltung. Die anarchistischen Organisationen aber blieben konsequent. 1920 lehnten sie in Moskau Kamenews Angebot ab, ihnen gewisse Freiheiten für ihre Zeitschriften, Buch-läden und Klubs einzuräumen, wenn sie sich verpflichteten, Parteidisziplin zu halten.

In der Ukraine organisierte Nestor Makno, ein Anarcho-Kommunist, eine Guerillaarmee von Tausenden Bauern, die gegen die „Weißen" kämpften. Ihr Kampf wurde von den Bolschewiki geduldet, solange die „Weißen" im Felde standen. Danach aber — im November 1920 — beschuldigten die Kommunisten ihre „Verbündeten", die Bauern-Guerillas, krimineller Akte, überfielen sie und erschossen ihre Führer. Makno war einer der wenigen, die ins Ausland entkamen Zugleich wurden erneut zahlreiche Anarchisten in Moskau und anderen Orten verhaftet.

In der Leitung des Kronstädter Aufstandes spielten Anarchisten eine führende Rolle. Die Resolution „aller Mannschaften des Ersten und Zweiten Geschwaders der Ostseeflotte" vom 1. März 1921 enthielt anarchistische Forderungen Nachdem die Rote Armee diese Erhebung niedergeschlagen und im gleichen Monat der X. Parteitag eine Resolution über „Die syndikalistische und anarchistische Abweichung in unserer Partei" angenommen hatte, wurden im ganzen Lande weitere Anarchisten verhaftet und auch ihre letzten Zeitschriften unterdrückt.

Deutschland Im Streit zwischen Marx und Bakunin hatten die deutschen Sozialisten eindeutig auf Marx’ Seite gestanden. Die 1869 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei duldete daher keine anarchistischen Tendenzen in ihren Reihen. Johann Most (1846 — 1807), ein populärer sozialistischer Agitator, 1874 und 1877 in den Reichstag gewählt, wurde nach Erlaß des Sozialistengesetzes (1878) ausgewiesen. Im Londoner Exil ging er zu den Anarchisten über. Er verherrlichte zum Beispiel die Attentate auf Kaiser Wilhelm, die Bismarck zum Anlaß genommen hatte, das Ausnahmegesetz gegen die Sozialisten zu erlassen. Deswegen wurde Most in London mit Gefängnis bestraft. 1880 schloß ihn ein Parteitag der im Exil befindlichen Sozialdemokratischen Arbeiterpar-tei aus. Most emigrierte nach Amerika und sammelte dort anarchistische Gruppen um sich. Anarchistische Gewalttaten waren in Deutschland sehr selten. Von den Attentaten gegen Kaiser Wilhelm I. (1878) wurde das erste von einem Taugenichts ausgeführt, der anarchistische Reden führte. Der zweite Anschlag wurde von einem Geisteskranken begangen, der durch Selbstmord endete Ein Bekenntnis zum Anarchismus aber legte August Reinsdorf ab, der 1883 geplant hatte, das Niederwalddenkmal bei der Einweihung mitsamt den fürstlichen Ehrengästen zu sprengen. Reinsdorf rief vor seiner Hinrichtung: „Nieder mit der Barbarei! Hoch die Anarchie"

Zu Anfang unseres Jahrhunderts bildeten deutsche und Schweizer Jugendliche in Zürich eine anarcho-syndikalistische Jugendgruppe, deren Mitglieder einen solchen Freiheitsdrang empfanden, daß sie liniiertes Papier verschmähten, um beim Schreiben nicht an eine bestimmte Richtung gebunden zu sein. Peter Kropotkin beeinflußte diese Jugendlichen — unter ihnen war Willi Münzenberg eine markante Figur — durch seine Lehren. Der Antimilitarismus, an dem Münzenberg, anders als die deutsche Sozialdemokratie, auch während des Ersten Weltkrieges festhielt, führte ihn noch in der Schweiz an die Seite Lenins und schließlich in die internationale kommunistische Bewegung 21a).

Nach der Revolution von 1918 zeigten sich in kommunistischen Splittergruppen anarchistische Tendenzen. Auf dem 2. Parteitag der KPD (Oktober 1919) trennte sich eine starke Gruppe von ihr, deren Anhänger den zentralen Parteiapparat ablehnten und für Dezentralisierung (Rätesystem) eintraten. Sie gründeten im April 1920 die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), die keine Partei im überlieferten Sinne sein, sondern das deutsche Proletariat von jeglichem Führertum „befreien" sollte. Die KAPD vermochte den starken Anhang, den sie zunächst gewonnen hatte, nicht zu halten. Schon Mitte der zwanziger Jahre spielte sie keine Rolle mehr

Daneben ist anarchistisches Denken nur von einzelnen weitergetragen worden, z. B. von Gustav Landauer, Mitglied der Münchener Räteregierung von 1919 (Aufruf zum Sozialismus, Berlin 1911), Erwin Rholfs, dem Herausgeber der Werke Bakunins (Berlin 1921) oder von Erich Mühsam (Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat, Berlin 1932).

USA Als Johann Most 1882 in New York ankam, erhielt er als Opfer der kapitalistischen Justiz auf einer Massenversammlung stürmischen Beifall. Er stürzte sich in die anarchistische Agitation, hielt Versammlungen in zahlreichen Städten und progagierte seine Ideen in Flugschriften, die großen Anklang fanden. 1883 wurde die International Working People's Association gegründet, in der anarchistische Kräfte starken Einfluß hatten. Aber bereits 1886 erlitt die anarchistische Bewegung einen schweren Rückschlag. Bei einem Streik in Chicago waren einige Arbeiter durch die Polizei getötet worden. Auf einer Protestkundgebung wurde auf Polizeibeamte eine Bombe geworfen, die einen Polizisten tötete und andere verletzte. Darauf sind vier anarchistische Führer zum Tode verurteilt und gehenkt worden. Auch Most geriet in Haft, obwohl er an der Kundgebung nicht beteiligt gewesen war. Die International Working People’s Association löste sich auf. Der Anarchismus in Amerika wurde zur Sache einzelner. Most, der propagandistisch weiterkämpfte, wurde 1901 erneut verhaftet, nachdem ein ungarischer Einwanderer den Präsidenten McKinley ermordet hatte. Es ist nicht sicher, ob der Mörder ein Anarchist war. Er hatte aber einen Vortrag der berühmtesten Schülerin Mosts gehört, Emma Goldmanns, die ebenfalls verhaftet wurde. Präsident Theodore Roosevelt, Mc-Kinleys Nachfolger, verurteilte den Anarchismus in einer Botschaft an den Kongreß.

Anarchistische Organisationen spielten seitdem im politischen Leben der Vereinigten Staaten keine nennenswerte Rolle mehr. Most starb 1906. Emma Goldmann verfocht einen entschieden individualistischen Anarchismus. Anfang der zwanziger Jahre besuchte sie die Sowjetunion. Ihre Erfahrungen bestimmten sie, das sowjetische System abzulehnen

In den zwanziger Jahren waren die amerikanischen Anarchisten noch einmal in aller Munde, und zwar durch den Prozeß gegen Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, die 1921 verurteilt worden waren, 15 000 Dollar Lohngelder geraubt und dabei einen Wächter getötet zu haben. Beide bekannten, Anarchisten zu sein, bestritten aber die Tat. Das To-desurteil (1927 vollstreckt) diente den Kommunisten dazu, in der Welt eine riesige Propaganda gegen die „legale Lynchjustiz" der USA zu entfalten.

Propaganda durch die Tat

Der Gedanke, durch spektakuläre Taten Aufmerksamkeit zu erregen, ist in der Welt, seit Herostratos 356 v. Chr.den Tempel der Artemis in Ephesus angezündet hatte.

Unter den Anarchisten scheinen zuerst die Italiener nach dem Scheitern ihrer Aufstände in Bologna und Benevent auf den Gedanken gekommen zu sein, durch Gewalttaten einzelner die Aufmerksamkeit der Welt auf das Elend der Armen zu lenken. Dem Bombenattentat von Florenz (1878) folgte im gleichen Jahr ein Mordanschlag auf König Umberto I., der fehlschlug, aber 1901 wiederholt wurde — nunmehr mit „Erfolg". In den Jahren 1880 bis 1914 häuften sich die Attentate gegen Monarchen und Regierende, gegen Volksvertreter und Parlamente, aber auch — scheinbar sinnlos — gegen einfache Bürger. Die Täter waren meist Anarchisten, teils andere Revolutionäre, teils Kriminelle.

Zar Alexander I. wurde 1881 — wie bereits erwähnt — nicht durch Anarchisten, sondern durch die revolutionäre Gruppe „Volkswille" ermordet. Der französische Präsident Carnot (1894), Kaiserin Elisabeth von Österreich (1898), Präsident McKinley (1901) und König Umberto (1901) wurden dagegen Opfer von Anarchisten, oder die Täter waren durch anarchistisches Gedankengut beeinflußt, wie im Falle McKinley. Entsetzliche anarchistische Bombenanschläge töteten Unschuldige in einem Theater in Barcelona (1892) und im Pariser Cafe Terminus (1894). Glimpflicher verlief ein Bombenattentat Auguste Vaillants in der französischen Kammer (1893). Das einzige Opfer war der Täter, der mit dem Rufe „Vive l’anarchie" auf der Guillotine starb. Den gleichen Ruf stieß Frangois Claudius Ravachol bei seiner Hinrichtung (1892) aus. Dennoch spricht viel dafür, daß seine Motive krimineller Natur gewesen waren. Er hatte neben Bombenattentaten auch zwei Raubmorde begangen. Der Franzose Emile Henry, der die Bombe im Cafe Terminus gelegt hatte, bekannte sich vor Gericht zum Anarchismus:

.. Ihr habt die Leute in Chicago aufgehängt, in Deutschland mit dem Beil enthauptet, in Jerez erdrosselt, in Barcelona erschossen, in Montbrison und Paris guillotiniert — aber nie werdet ihr den Anarchismus zerstören. Seine Wurzeln reichen zu tief, er entsteht im Herzen einer korrupten, zerfallenden Gesellschaft, er ist eine gewaltsame Reaktion auf die etablierte Ordnung. Der Anarchismus repräsentiert egalitäre und freiheitliche Bestrebungen, die die bestehende Autorität zertrümmern; er ist überall, was ihn unüberwindlich madit. Er wird euch am Ende umbringen."

In diesen Worten klingt an, was das Motiv einiger Gewaltakte war, die Anarchisten begangen haben: Rache für Unrecht, das ihnen, wie sie behaupteten, angetan worden war. In Spanien verübte 1892 ein Anarchist einen Bombenanschlag auf einen General, Martinez Campos, um vier Anarchisten zu rächen, die hingerichtet worden waren. Aus einem ähnlichen Motiv ermordete im gleichen Jahr ein italienischer Anarchist den spanischen Ministerpräsidenten Canovas del Castillo.

Waren diese Morde und Attentate das Werk einer internationalen Organisation? Schon 1878 erklärte die deutsche Regierung zur Begründung des Sozialistengesetzes, hinter den Attentaten auf Kaiser Wilhelm stehe die sozialistische Internationale Später, als die Attentate in fast allen Ländern Europas sich häuften, wurde vermutet, sie seien von einer internationalen anarchistischen Gruppe organisiert. In Spanien wurden Attentate auf das Wirken einer andalusischen „mano negra“

(Schwarzen Hand) zurückgeführt. Das ist ebensowenig beweisbar wie — abgesehen von einigen russischen Fällen — die oft gehörte Behauptung, ein Teil der Attentate sei durch „agents provocateurs" der Polizei begangen worden.

Tatsache ist aber: Die „Propaganda durch die Tat" war wirksam, oft jedoch mit anderem Ergebnis als ihre Urheber gewollt hatten. Die Gewaltakte erregten zwar Schrecken, meist riefen sie aber auch Abscheu hervor. Diese Wirkung haben die Attentate der Anarchisten mit den Bombenanschlägen der französischen OAS und den Südtiroler Terroristen gemein. Die anarchistischen Gewaltakte verwischten aber, was den Anarchismus von anderen terro ristischen Bewegungen unterscheidet: Ihm liegt eine Philosophie zugrunde, der Gerechtigkeit und Freiheit als höchste Güter gelten.

Anarchismus heute

„Heute haben die Völker aller Nationen den Instinkt der Revolution verloren. Sie sind alle mit ihrer Lage zu sehr zufrieden, und die Furcht, das, was sie haben, noch zu verlieren, macht sie inoffensiv und untätig."

Diese Klage stammt nicht von einem Revolutionär unserer Tage, sondern Bakunin äußerte sie wenige Tage vor seinem Tode angesichts der Rückschläge, die seine Bewegung damals erlitten hatte.

Man könnte versucht sein, Bakunins Meinung für unsere Zeit zu übernehmen, aber damit würde man weder der historischen Erfahrung noch der heutigen Lage gerecht.

Bald nach Bakunins Tod wurde Europa durch Gewaltakte einzelner Anarchisten erschüttert. Und sechzig Jahre später stürzte Katalonien in das blutige Chaos anarchistischer Herrschaft. Auch heute scheinen zwar „die Völker" den Instinkt der Revolution verloren zu haben. Aber was Bakunin damals die „Völker aller Nationen" nannte, macht heute nur einen kleinen Teil der Erdbewohner aus. In den Ländern Europas und Nordamerikas scheint in der Tat die Arbeiterschaft mit ihrer Lage zufrieden. Sie ist „inoffensiv und untätig", wenn nur umstürzlerische Aktivität als „offensiv" anerkannt wird. Diese Lage kann sich ändern, ebenso wie sich das Verhalten der Völker gewandelt hat, die Bakunin 1876 als inoffensiv bezeichnete. Fünfzig Jahre später machten die Folgen des Ersten Weltkrieges und eine schwere Wirtschaftskrise Europa zu einem revolutionären Hexenkessel. Damals lag über den Gebieten trügerische Ruhe, die wir heute „Entwicklungsländer" nennen und in denen der Umsturz in dieser oder jener Form auf der Tagesordnung steht. In Europa dagegen herrscht keine revolutionäre Situation. Dennoch ist der Anarchismus nicht tot. Das zeigen folgende Beispiele:

Spanische Anarchisten, die sich nach der Niederlage der Republik nach Frankreich gerettet hatten, setzten dort ihre Tätigkeit fort. So-26) wohl die CNT (Confederaciön General de Trabajo) als auch die FAI (Federaciön Anarquista Iberica) arbeiten im französischen Exil weiter. Dort ist außerdem eine anarchistische Jugendorganisation (Federaciön Iberica de Juventudes Libertarias = FIJL) gegründet worden. In Toulouse gibt Federica Montseny, einst anarchistische Ministerin in der republikanischen Regierung, die Zeitung „Espoir" heraus. Wie eh und je streiten sich zwei Richtungen des spanischen Anarchismus. Die „Orthodoxen" vertreten die Ansicht, der Sturz Francos werde durch die geschichtliche Entwicklung unaufhaltsam herbeigeführt. Jüngere Kräfte bekämpfen die „Orthodoxen" mit dem Argument, Franco werde nicht von selbst fallen. Man müsse das spanische Volk zur Revolution treiben, um die Umwälzung zu erreichen.

Beim Kampf mit politischen Waffen haben es die spanischen Anarchisten auch im Exil nicht bewenden lassen. Nach 1945 hat die Presse wiederholt berichtet, in Katalonien seien von Anarchisten Überfälle auf Banken ausgeführt worden. Auch haben sie — nach Presseberichten — 1951 einen Geldtransport in Lyon überfallen. Ein Gendarm und ein Zivilist kamen dabei ums Leben. Die gleichen Urheber wurden genannt, nachdem in Genf und Frankfurt (Juni 1963) durch Brandbomben Attentate auf Maschinen der spanischen Fluggesellschaft Iberia verübt worden waren. Im gleichen Jahr verbot die französische Regierung die radikale Jugendorganisation der spanischen Anarchisten (FIJL) wegen ihrer umstürzlerischen Tätigkeit. Da die Zeitung der jungen Anarchisten, „Action libertaire", nicht mehr erscheinen konnte, gingen einige ihrer Redakteure nadi Brüssel, wo sie die Zeitung „Ruta" (der Weg) herausgaben. „Ruta" ist heute das Sprachrohr eines extremen Anarchismus und tritt für „direkte Aktionen", für gewaltsamen Umsturz ein. „Ruta" wird von Brüssel aus nach Frankreich und Deutschland versandt.

Im Jahre 1966 erregten Anarchisten großes Aufsehen, als sie in Rom ein Mitglied der spanischen Botschaft, Monsignore Ussia, entB führten und zehn Tage gefangenhielten. Im Oktober 1966 wurde ein ähnlicher Anschlag vereitelt, den fünf spanische Anarchisten auf ein Mitglied der amerikanischen Botschaft in Madrid geplant hatten.

In Deutschland ruft zu „direkten Aktionen"

einer der radikalen Berliner Studenten auf, Rudi Dutschke, dessen sonstige Äußerungen gleichfalls Charakteristika anarchistischen Denkens erkennen lassen. Dutschke ist antiautoritär, er lehnt den Parlamentarismus ab und tritt für direkte Demokratie ein Als „direkte Aktionen" erklärt Dutschke heute in weiser Zurückhaltung: Politisierung der Arbeiterschaft, Mitwirkung bei Streiks. Am 11. Juli 1967, auf einer Veranstaltung des ASTA der Freien Universität, schlug er als „konkrete Aktion" vor, die Zeitungsauslieferungen des Springer-konzerns zu stören. Aufruf zu Mord und Totschlag in hochentwickelten Industrieländern, meinte er, sei konterrevolutionär Dagegen sei es zulässig, die Gewalt der Herrschenden mit demonstrativer und provokativer Gegen-gewalt zu beantworten. Nach seinen Äußerungen zu urteilen, ist Dutschke kein Kommunist, weder der Moskauer noch der Pekinger Richtung, wenngleich sein Vokabular erkennen läßt (z. B. die Bezeichnung des Berliner DGB-Vorsitzenden als „sozialfaschistisch"), daß er gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht in der „DDR" genossen hat. Dutschke wendet sich nicht nur gegen die „stalinistische Bürokratie", sondern seine antiautoritären Ansichten, sein Eintreten für direkte Demokratie, widersprechen den Lehren der heutigen Kommunisten. Dagegen ähneln seine Gedanken (Merkmale: revolutionär, antiautoritär, direkt-demokratisch und direkt-aktiv) der Denkweise der Anarchisten. Noch etwas hat Dutschke mit ihnen gemein. Er weiß nicht, wie „seine" künftige Welt aussehen soll. Mit seinen Worten gesagt: „Die Emanzipationsbewegung krankt zur Zeit daran, daß sie eine konkrete Utopie noch nicht ausgemalt hat."

Nicht nur in dieser Schwäche, aber auch in ihr trifft sich Dutschke mit dem kalifornischen Professor Herbert Marcuse, dessen Philosophie zum Glaubensbekenntnis einiger Berliner Studenten geworden ist. Marcuse erklärte am 11. Juli 1967 im Auditorium maximum der Freien Universität: „Ich glaube an die Macht des negativen Denkens, zum positiven kommen wir noch früh genug."

Marcuse bezeichnet seine Lehren in seiner Schrift „Repressive Toleranz" nicht etwa als anarchistisch, bezieht sich aber auf das Buch von Edgar Wind „Art and Anarchy" und vertritt Gedanken, die vor ihm anarchistische Philosophen niedergeschrieben haben: Er rechtfertigt die Gewalt, was auch Bakunin getan hat. Marcuse klagt die Zivilisation an — wie Proudhon. Mit ihm teilt er die Leidenschaft für Gerechtigkeit. Marcuse plädiert für eine freie Menschheit wie Godwin, Kropotkin und andere, deren Gedanken sich als utopisch erwiesen haben.

Folgende Ratschläge erteilt Marcuse seinen Schülern:

„Aber ich glaube, daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein . Naturrecht'auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. Gesetz und Ordnung sind überall und immer Gesetz und Ordnung derjenigen, welche die etablierte Hierarchie schützen; es ist unsinnig, an die absolute Autorität dieses Gesetzes und dieser Ordnung denen gegenüber zu appellieren, die unter ihr leiden und gegen sie kämpfen — nicht für persönlichen Vorteil und aus persönlicher Rache, sondern weil sie Menschen sein wollen. Es gibt keinen anderen Richter über ihnen außer den eingesetzten Behörden, der Polizei und ihrem eigenen Gewissen. Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen."

Nur eins unterscheidet die heutigen Philosophen eines Pseudo-Anarchismus von den Klassikern. Diese kämpften gegen das Elend der Proletarier. Den Aufschwung der Industriearbeiterschaft, der sogar Kommunisten an Marx'Verelendungstheorie verzweifeln läßt, konnten sie nicht voraussehen. Die Pseudo-Anarchisten von heute jedoch rebellieren gegen den Wohlfahrtsstaat. Nicht materielle Not ist das Motiv ihrer Rebellion, sondern Unbehagen, Mißvergnügen an Zuständen, die — zugegeben — verbesserungsbedürftig sind wie alles Menschliche. Massenanhang in der Arbeiterschaft haben Dutschke und seine Anhänger nicht.

In der Presse wurde der wahre Charakter der Antiautoritären von heute selten so scharf gekennzeichnet wie durch Walter Sickert, den Vorsitzenden des DGB-Landesbezirks Berlin, der erklärte: Keine Solidarität zwischen Anarchisten und Arbeitnehmerschaft

Bemerkenswert, aber nicht erstaunlich ist das Schweigen Ost-Berlins und seiner Presse über Dutschke und seine Mitläufer. Ostermarschierer und Protestierende anderer Art werden als außerparlamentarische Opposition gelobt. Den Pseudo-Anarchisten aber gönnt „Neues Deutschland“ kein gutes Wort. Man fürchtet offenbar, diese „Entartung" könne sich in der eigenen studierenden Jugend verbreiten.

Wer heute daran denkt, gewisse Mängel unseres Staatswesens durch „Sozialismus" (was immer darunter verstanden werden mag) zu überwinden, der lasse sich folgende Worte des Nestors der französischen Sozialisten Leon Blum durch den Kopf gehen. 1945, nach einem Leben reichster politischer Erfahrungen, erklärte er dem Kongreß seiner Partei: „Zum Sozialismus führen zwei Wege: entweder fortzufahren, mit dem Kapitalismus treu und ehrenhaft zusammenzuarbeiten, oder zu den Taktiken Bakunins zurückzukehren."

Wohin Bakunins Taktiken führen, ist in diesem Beitrag gezeigt worden. Was durch Zusammenarbeit mit dem Kapitalismus zu erreichen ist, das hat — von den Klassikern des Sozialismus weder voraussehbar noch vorausgesehen — der Aufschwung des Lebensstandards der Arbeiterschaft in den Industrieländern bewiesen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. M. Bakunin, Gesammelte Werke, Bd. III, Berlin 1924, S. 90 f.

  2. M. Bakunin, a. a. O., S. 117.

  3. Vgl. M. Bakunin, a. a. O., S. 266.

  4. Vgl. M. Bakunin, Gesammelte Werke, Bd. III., a. a. O., S. 117.

  5. Zitiert nach James Joli, Die Anarchisten, Berlin 1965, S. 113.

  6. Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften, Berlin 1951, S. 606.

  7. M. Bakunin, Oeuvres, Bd. V, S. 252, zitiert nach Joli, a. a. O., S. 98.

  8. Vgl. M. Bakunin, Gesammelte Werke, Bd. III, Berlin 1924, S. 257.

  9. Vgl. Julius Braunthai, Geschichte der Internationale, Hannover 1961, Bd. 1, S. 124 ff.

  10. Vgl. Jose Peirats, La CNT en la Revolucion Espanola, Toulouse 1951, Bd. I, S. 14.

  11. Vgl. Joli, a. a. O., S. 274.

  12. Vgl. Hugh Thomas, The Spanish Civil War, London 161, S. 44.

  13. Vgl. George Orwell, Mein Katalonien, a. a. O., S. 105; die Anrede „Genosse" (camarada) gebrauchten die Kommunisten untereinander.

  14. Vgl. Orwell, a. a. O., S. 105.

  15. Zitiert nach Joli, a. a. O., S. 287.

  16. Vgl. Orwell, a. a. O., S. 258 ff.

  17. Vgl. J. W. Stalin, Anarchismus oder Sozialismus, in: Werke, Bd. 1, Berlin 1950, S. 257 ff.

  18. Vgl. Leonard Schapiro, The Origin of the Communist Autocracy, London 1955, S. 184 ff.

  19. Vgl. Abdruck der Resolution bei Hillmann, Selbstkritik des Kommunismus — Texte der Opposition, Hamburg 1967, S. 70.

  20. Ferdinand Tönnies, Der Kampf um das Sozialistengesetz 1878, Berlin 1929, S. 11.

  21. Vgl. Joli, a. a. O„ S. 147.

  22. Vgl. Hermann Weber, Von Rosa Luxemburg zu Walter Ulbricht, Hannover 1961, S. 46 f.

  23. Vgl. Emma Goldmann, My disillusionment in Russia, New York 1923.

  24. Zitiert bei Joli, a. a. O., S. 144.

  25. Vgl. Tönnies, a. a. O., S. 12 ff.

  26. Vgl. M. Bakunin, Gesammelte Werke, Bd III S. 274.

  27. Vgl. Dutschkes Erklärungen im Spiegelgespräch, in: Der Spiegel, Nr. 29/1967, S. 29.

  28. Vgl. Der Spiegel, a. a. O., S. 32.

  29. A. a. O., S. 30.

  30. Vgl. Die Welt vom 13. Juli 1967, Nr. 160, S. 6.

  31. Vgl. Wolf, Moore, Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt 1966, S. 100.

  32. A. a. O„ S. 117 f.

  33. Vgl. Welt der Arbeit vom 11. August 1967, S. 8.

Weitere Inhalte

Günther Nollau, Dr. jur., geb. 4. Juni 1911 in Leipzig, Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Veröffentlichungen u. a.: Die Internationale — Wesen und Erscheinungsformen des proletarischen Internationalismus, Köln 1959 (englisch-amerikanische Ausgabe 1961, spanische 1964, koreanische 1965); Rote Spuren im Orient (zus. mit H. J. Wiehe), Köln 1963 (englisch-amerikanische Ausgabe 1963); Zerfall des Weltkommunismus, Köln 1963.