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Die Zweite Jugendbewegung | APuZ 44/1967 | bpb.de

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APuZ 44/1967 Die Zweite Jugendbewegung Zum politischen Engagement der Studenten

Die Zweite Jugendbewegung

Rudolf Krämer-Badoni

Auf einer Tagung des Kuratoriums Unteilbares Deutschland zum Thema „Student und Politik" hat einer der Studenten nicht ohne Berechtigung erklärt, nicht die „politisch bewußte Studentenschaft" befinde sich in einer Krise, wie es die Veranstalter in einer Formulierung vorausgesetzt hatten, dies gelte vielmehr für die Generation der Etablierten. In der Tat, die Provokation ist gelungen.

Vielleicht ist der Beitrag von Rudolf Krämer-Badoni geeignet, die Aufregung auf das ihr zukommende Maß zurückzuführen. So neu und einmalig, wie es fassungslose Angehörige der älteren Generation und nicht zuletzt auch viele Wortführer der Studenten glauben, ist der studentische Protest offenbar nicht. Nur ist es natürlich leichter, ähnliche Bewegungen im Rückblick als eine heilsame Unruhe anzusehen, als sich einer Provokation hier und jetzt zu stellen.

Bei dem Artikel von Professor Löwenthal (S. 12) handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung eines Referates auf der genannten Tagung. Das vollständige Protokoll der Tagung ist in broschierter Form erschienen. Eine beschränkte Anzahl von Exemplaren steht bei der Bundeszentrale für politische Bildung zur Verfügung und kann dort angefordert werden.

Was ist mit der Jugend los? Was bedeutet das Phänomen der Gammler in Deutschland, der Provos in Holland, der Hipsters in Kalifornien, der Blouson Noirs in Frankreich, der Stiljagi in Rußland, der Capelloni in Italien? Das sind nur einige der Namen, die in den verschiedenen Ländern für einzelne und Gruppen von streunenden Jugendlichen aufgekommen sind und durch täglich neue Spielarten ergänzt werden.

Was bedeutet die Aufsässigkeit größerer Studentengruppen in Nordamerika und in Europa, vor allem in Deutschland?

Was ist mit den höheren Schülern los, die sich in Frankfurt unter dem Namen „Aktionszentrum Unabhängiger und Sozialistischer Schüler" organisiert haben und mit einem gesalzenen Manifest hervorgetreten sind?

Typologie in Umrissen

Wunderschönes oder aber ganz ungepflegtes Langhaar, zarte Knabengesichter oder riesige Bärte, zerlumpte stinkende Brocken als Kleidung oder auch hochelegante Nachlässigkeit, malerische Umhänge und Kopfbedeckungen und dazu oft barfuß, Musik aus Transistor-empfängern oder aus eigenen Instrumenten, Reiselust per Anhalter durch ganz Europa oder Bodenständigkeit in entlegenen Kneipen, künstlerische Happening-Darbietungen auf eleganten Bummel-Boulevards, z. B. in Amsterdam, äußerste Anspruchslosigkeit und neugieriges Ausprobieren der neuesten Rauschgifte, gesellige Ballung in häufig wechselnden Stadt-Zum vierteln, momentan etwa auf der Lower East Side Manhattans und im Haight-Ashbury-District in San Franzisko, Gleichgültigkeit gegen bürgerlichen Haß, Razzien und Prügel, die neuerdings in Rom und Paris zu haben sind, im ganzen eine friedliche, passive, in anspruchslosem Nichtstun dahintrödelnde Jugend. Wie man weiß, sitzt ein Gammler sogar im Amsterdamer Stadtrat. Überhaupt haben die Amsterdamer „Provos" so sehr Erfolg gehabt mit scharfzüngigen Slogans, daß sie eine Art Organisation und Turistenattrak-tion wurden und von einem ihrer Wortführer aufgefordert wurden, sich aufzulösen; Ruhm und Anerkennung sollen sie nicht wollen.

Die meisten dieser jungen Leute stammen aus verhältnismäßig gutem Ambient, haben Lehrzeit oder Studien absolviert und dann eines Tages den Ruf der Wildnis vernommen. Theoretiker und Soziologen sagen ihnen gern eine entschiedene Protesthaltung nach; die jungen Leute sollen demnach gegen die Industriewelt, gegen die routinierte Politik, gegen die zweideutigen Segnungen der Naturwissenschaft, gegen das streberhafte bürgerliche Karriere-tum protestieren. In Wirklichkeit geht es der Masse der streunenden Jugendlichen um nichts Thema Gammler findet man einen gut dokumentierten Aufsatz in den Frankfurter Heften vom Juni 1967 aus der Feder Walter Hollsteins. Im übrigen kann jedermann persönlich Anschauungsunterricht nehmen.

Die Äußerungen des RCDS-Vorsitzenden Wulf Schönbohm und des SDS-Vorsitzenden Reimut Reiche sind der „Welt“ vom 26. 7. 1967 entnommen. Die Zitate über die Jugendbewegung findet man fast alle in den von Werner Kindt herausgegebenen „Grundschriften der deutschen Jugendbewegung" (Eugen Diederichs). Das Zitat von Hans Joachim Schoeps stammt aus „Die letzten dreißig Jahre“ (Klett). Die Quellen der Dutschke-Zitate stehen im Text. Konkretes, das sie etwa verbessern möchten. Sie ziehen sich aus allem zurück, ohne Pathos, ohne Ansprüche. Sie wollen nichts als „frei sein" vom gesellschaftlichen Zwang. Ein Amsterdamer Provo hat proklamiert: „Abbau ist Aufbau. Wir sind das Provokariat. Arbeit wird abgeschafft. Besitz gehört allen." Aber das hat schon zuviel an Konstruktivem. Es hat, wie gesagt, zur Institution geführt. Wie lange sich die Pariser Gammler-Universität halten kann, ist sehr die Frage; dort doziert ein Professor namens Aguigui Gewaltlosigkeit. Auch in New York leben die Gammler in nächster Nähe der New York University, in Greenwich Village; einige studieren dort in lässiger Form.

Sexuelle Megalomanie, wie sie der bürgerlichen Jugend als Versuchung entgegentritt, gibt es unter den Gammlern nicht. Die vernachlässigten Körper starren vor Schmutz, die Mädchen sehen bedauernswert aus, und die Hauptsorge der jungen Leute dreht sich um die nächste Mahlzeit. Höchstens die Schein-und Wochenendgammler gehen auf Beute aus, die dezidierten Dauergammler leben wie Scholaren und Mönche. Es sieht aus wie eine unbegreifliche Welt.

Einen kurzen Blick auf die höheren Schüler, unter denen ebenfalls unruhige Geister am Werk sind. Es ist nicht weiter bekannt geworden, daß die Redakteure hessischer Schüler-zeitungen einen tumultuösen Auftritt mit dem Kultusminister gehabt haben, den sie in ultimativer Form anredeten und mit einem offenen Brief als Diskussionsgrundlage überraschten. In Frankfurt haben sich höhere Schüler zu dem schon genannten Aktionszentrum zusammengeschlossen und gegen die „allmächtigen Schulleitungen", gegen die Eltern als Repräsentanten des „Herrschenden in der gegenwärtigen Gesellschaft" und gegen den erschwerten Zugang zur Antibabypille für Schülerinnen polemisiert. Ich habe eine nicht organisierte Diskussion besucht, ebenfalls in Frankfurt, wo ähnliche Vorwürfe erhoben wurden, vermehrt um den Makel der Prüderie der Lehrer. Anwesende Studienräte diskutierten sehr ernst mit und schoben die Schuld auf die Gesellschaft und die Elternschaft.

Uber die aufrührerischen Studentengruppen ist seit der Ermordung des Studenten Ohnesorg soviel geschrieben worden, daß die biederen Bürger der Bundesrepublik über die politischen Ansprüche des Sozialistischen Studentenbundes, aber auch der liberalen, ja selbst der christlichen Studentengruppen nicht mehr so sehr staunen wie vorher. Die These der Studenten lautet: Da seit Bildung der großen Koalition keine starke Opposition mehr im Parlament vorhanden ist und da sowieso aus dem deutschen politischen Leben die öffentliche Diskussion immer mehr verschwindet, ist außerparlamentarische Opposition das Gebot der Stunde, und wer sollte dazu eher in der Lage sein als Studenten, die sich sowieso in dieser ihrer Lebensepoche mit der theoretischen Grundlegung des Sozialen und Humanen befassen.

Differenzierung studentischer Aussprüche

An der Berliner Freien Universität kommt noch hinzu, daß laut Statut den Studenten echtes Mitspracherecht an der Universitätsverwaltung zugesprochen ist; die Freie Universität wollte eine in ihren Gliedern gleichberechtigte Korporation sein. In der Praxis ist nichts daraus geworden. Als nun gar die radikalen Gruppen auf das verbriefte Recht pochten, versteifte sich der Widerstand der Professoren zunächst nur noch mehr. Jetzt aber scheint es zu aussichtsreicheren Verhandlungen zu kommen.

Nicht alle Studentengruppen sind gleichmäßig radikal. Der Bundesvorsitzende des „Ringes Christlich-Demokratischer Studenten", Wulf Schönbohm, hat im Juli 1967 folgendes geschrieben: „ . . . Die Mehrzahl der Studenten steht den Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung skeptisch gegenüber, die von einer scheinbar konfliktlos funktionierenden Wohlstandsgesellschaft ausgehend die wesentlichen Strukturprobleme der modernen Demokratie und Industriegesellschaft nicht erkennen. In der Großen Koalition sehen Studenten die Gefahr, daß sich die Herrschaft der Parteioligarchien verstärkt, der direkte Einfluß des Volkes geschwächt wird... Siebzig Prozent der Studenten halten die Universität für grundlegend reformbedürftig, aber die dafür Zuständigen haben ihre bisherige Unfähigkeit zur Durchführung dieser Reform bewiesen ... Dies ist die Ausgangsbasis für eine aktive und radikale Minderheit, welche die Ursachen der Unzufriedenheit zu erkennen meint und die Studenten über diese Unzufriedenheit aktivieren will... Der linksradikalen Minderheit geht es primär um allgemein-politische Fragen, weniger um hochschulpolitische. Das bestehende Gesellschaftssystem soll gestürzt, revolutioniert werden, da Reformen sinnlos und nicht durchsetzbar seien . . . Weder revolutionäre Ziele und sozialistische Schimären noch klassenkämpferische Praktiken werden die Studenten aus ihrer Misere befreien. Nur die evolutionäre Reform von Hochschule und Gesellschaft kann das erstrebenswerte Ziel sein. ... Der Abbau überholter Gesellschaftsstrukturen ist notwendigerweise ein langfristiger Regenerationsprozeß, an dem jeder Staatsbürger beteiligt sein sollte. Die Reform der Hochschule ist einer der vordringlichsten Schritte innerhalb dieses Gesamtprozesses. Lange allerdings wird sich die Studentenschaft mit ihren berechtigten Reformwünschen nicht mehr vertrösten lassen. Die Zeit drängt."

Das also ist die gemäßigteste Stimme. Von der Notwendigkeit der akademischen sowie der gesamtgesellschaftlichen Veränderung ist auch der Vorsitzende des RCDS durchdrungen. Die „Zuständigen“, also die Generation, die an den Hebeln sitzt, sind auch für ihn Unfähige, Versager.

Reimut Reiche vom SDS schrieb, das, was den Studenten in der chaotischen Berliner Demonstration vom 2. Juni angetan wurde, könne sich morgen gegen andere Gesellschaftsgruppen richten. „Der SDS und alle unruhig gewordenen Studenten werden sich jetzt verstärkt mit all denen solidarisieren, die gegen wirtschaftliche, politische und psychologische Unterdrückungs-und Ausbeutungsformen des Kapitalismus protestieren, und sie werden mit ihnen kämpfen. Diese Lehre hat nicht nur der SDS, hat nicht nur die beschworene und diffamierte . radikale Minderheit'aus der Protestaktion nach dem blutigen 2. Juni gezogen. Die Zahl der Studenten, die zu dieser Einsicht gekommen sind, ist sprungartig gewachsen." Die schärfsten Forderungen des SDS seien „aktuell aussichtslos", aber gerade die „Bewußtmachung“ der eigenen Schwäche und der Schwäche „aller konsequent demokratischer Gruppen“ sei ein Mittel zur Politisierung der Studenten.

In einem Flugblatt des SDS wurde die alte kommunistische Formel „Selbstbefreiung der Proletarier nur durch Revolution und damit Befreiung aller" einfach auf studentische Verhältnisse umgestellt; der Begriff „Proletarier" wurde durch „Studenten" ersetzt.

Dialektiker Dutschke

Diese etwas kindliche Dialektik wird von dem sozialistischen Studenten Dutschke, der in Berlin großen Zulauf hat, nicht betrieben. Dutschke gibt zu, daß es heute in Europa kein Elend und folglich keine automatische Entstehung des „richtigen Bewußtseins" gibt. Das falsche Bewußtsein habe alle, auch die Proletarier, erfaßt. Also kann dieses richtige revolutionäre Bewußtsein nur dort entwickelt werden, „wo ein Höchstmaß an Zeit für die Bewußtwerdung zur Verfügung steht", und das heißt, an der Universität.

Doch weiß Dutschke, daß man nicht unausgelacht „verfügbare Zeit" an Stelle von „Elend“ als Aufruhrstachel ausgibt. Daher sucht er nach der guten alten Automatik der Bewußtmachung. Er findet sie in der Verelendung der Dritten Welt. Der revolutionäre Kampf in Vietnam und in den lateinamerikanischen Staaten verhilft dem richtigen Bewußtsein hierzulande zum Durchbruch, und das hier entwickelte richtige Bewußtsein unterstützt die Revolution in der Dritten Welt. „Und somit hätten wir dann erstmals in der Zukunft die Chance, eine Umwälzung zu verwirklichen, die nicht mehr die Mangelsituation in der Ökonomie hat. . . Darum hat der nationale Befreiungskampf in der ganzen dritten Welt so unendlich viel mit unserem Kampf gegen die autoritären Tendenzen in der Universität und in der Gesellschaft zu tun." (Konkret-Interview Juli)

Im „Spiegel" vom 10. Juli sprach Dutschke, wie alle Utopisten, von der „sehr, sehr langen Übergangsperiode, die bestimmt wird durch den Kampf gegen die bestehende Ordnung", gleichzeitig aber von der „kritischen Unruhe menschlichen Geistes gegen jede jeweils erreichte Form menschlichen Zusammenlebens", also von einer permanenten Revolution, die sich auch gegen die Versteinerung im Sowjet-Kommunismus richtet. Setzt man statt Revolution den Begriff Fortgang unter gelegentlichen Explosionen, dann redet der Student von ganz selbstverständlichen Dingen.

Auffallende „direkte Aktionen“ sind für das nächste Semester geplant, zum Beispiel ein großer passiver Sitzstreik vor dem besonders verhaßten Springer-Haus in Berlin, wodurch die Auslieferung der Zeitungen verhindert werden soll. „Immer größere Minderheiten müssen bewußt gemacht werden." Das oberste aller Zauberwörter taucht ununterbrochen auf: Bewußtmachung.

Auch zu den über Gebühr berüchtigten „Kommune" -Gruppen, die mit Hilfe der Promiskuität die Abschaffung der bürgerlichen Ehe proben, hat Dutschke Stellung genommen. Daß die jungen Kommune-Leute neurotisch sind, hält er für möglich, „aber daran ist nicht die Kommune schuld, sondern die Gesellschaft, die es zu solchen menschlichen Verkrüppelungen hat kommen lassen." Die bekannte Argumentation aller Jugendrichter. Ein vielfach veröffentlichtes Foto, worauf sich die ganze Kommune nackt präsentiert, interpretiert Dutschke als „adäquaten Ausdruck der jetzigen Situation der Kommune. Das Bild reproduziert das Gaskammer-Milieu des Dritten Reiches; denn hinter diesem Exhibitionismus verbirgt sich Hilflosigkeit, Angst und Schrecken. Die Kommune-Mitglieder begreifen sich als Unterdrückte und Ausgestoßene dieser Gesellschaft." Das Foto wäre also als ein makabres Happening zu verstehen. Der Schluß des Spiegel-Interviews lautet: „Herr Dutschke, Sie halten sich nicht für einen versponnenen Einzelgänger?" Dutschke antwortet: „Nein".

Ich habe die Thesen der mehr und weniger radikalen Studenten etwas ausführlicher zitiert, um zu zeigen, was für eine Thematik und Rhetorik unseren Söhnen von den politisch aktiven Gruppen geboten wird. Man kann sich leicht die Faszination vorstellen, die von der Ubersetzung der in Europa eingeschlafenen Sozialgegensätze auf den Weltmaßstab der kolonialen Ausbeutung ausgeht Wenn das auch nichts anderes ist, als was Papst Paul VI. in der Enzyklika Populorum progressio von französischen Sozialklerikern schreiben ließ, so wird es doch in ganz anderem Vokabular und in großgestiger Dialektik dargeboten. Zwar wissen die Kenner, daß es sich um schlichte Transponierung altmarxistischer Sätze handelt, aber gerade das Schlichte daran wirkt keineswegs schlicht, sondern als glänzender Ausweg aus einer lange Zeit für ausweglos angesehenen Sackgasse. Diese dialektischen Spiele machen jedenfalls auf die jungen Leute den Eindruck scharfer Intelligenz. Vielleicht können sich die Alten, die ihre Söhne hauptsächlich mit Berufs-aussichten, Ferienplätzen, Investitionssorgen oder auch nur mit gesellschaftlichen Platitüden zu unterhalten hoffen, einen Begriff von der kühlen geistigen Luft dieser hitzigen Debatten machen. Vielleicht hören sie es prickeln, wenn die angepaßten Thesen des jungen Marx weiterhin zur direkten Aktion verlocken; ein mächtiges Pressehaus zu blockieren, macht ja nebenbei auch noch Spaß.

Konservative Sprachlosigkeit

Ich glaube anderseits wortlos gezeigt zu haben, daß niemand in der älteren Generation auf die zitierten Thesen eine gescheite Antwort hat. Wo sind denn die Gegenthesen, die auf eine ähnliche Faszination hoffen können? Nach der Polizei zu rufen, dürfte kaum ein geistiges Auskunftsmittel sein.

Mögen die SDS-Thesen selbst Schlagworte und bärtige Klischees sein, wo aber ist der schneidende, ins Zentrum der Sachen treffende Geist, der die SDS-Dialektik übertrifft und aufhebt? Weit und breit ist davon nichts zu sehen. Die einzige Stimme, die ich beispielsweise aus dem konservativen Lager gehört habe, ist ein Editorial der Zeitschrift „Der Monat", das wie folgt beginnt: „Bei den West-Berliner Studentenunruhen während des Schah-Besuches hat der blind waltende Zufall gleich zwei Menschen — einen Inhaftierten und einen Getöteten — mit sprechenden Namen ausgestattet. Diese kennzeichnen freilich nicht so sehr Individuen wie Gruppen -— Gruppen von ungleicher Größe: eine kleine Schar von Teufeln hat in jahrelangem zähen Bemühen eine bürgerkriegsartige Situation an der Freien Universität, dann in der Stadt selbst aufbereitet; und eine größere, ständig wachsende Schar von Ohnesorgs hat sich von ihnen willig zu diesem Zweck ausbeuten lassen. Die ersten wußten genau, was sie wollten und was sie taten, die zweiten gingen ihnen ebenso sorg-wie ahnungslos ins Netz, im Grunde Opfer ihrer eigenen Langeweile ..." Das brauche ich wohl nicht weiter zu zitieren. Und der „Tagesspiegel" zitierte aus der Stellungnahme eines „Arbeitskreises zum Schutz der Freiheit von Forschung und Lehre an der Freien Universität Berlin" folgende Sätze: „ . . . Die Studenten sind jedoch weder politisch noch sozial eine einheitliche Gruppe und erst recht keine besondere gesellschaftliche Schicht. Die studierende Jugend wird durch den Studentenstatus nur zeitweilig, für wenige Jahre, zu einer überdies stark differenzierten Gruppe zusammengefaßt, die nach Abschluß des Studiums in der Arbeitswelt aufgeht. Sie kann also auch keine auf sozialer Interessengleichheit beruhende ursprüngliche Solidarität ausbilden."

Da ich gerade feststelle, mit wie wenig Geist das konservative Lager reagiert und, wenn es überhaupt reagiert, sich bei der Bemerkung beruhigt, die Studenten sollten studieren, statt uns Älteren naseweise Belehrungen zu erteilen, möchte ich dem Mangel an aktuellen Reaktionen durch Zitieren eines älteren Konservativen abhelfen.

Jacob Grimm, der Begründer der deutschen Grammatik und des deutschen Wörterbuches, gehörte zu den sieben Göttinger Professoren, die gegen die einseitige Aufhebung der Verfassung durch den König von Hannover protestierten und ihr Amt verloren; Grimm, Gervi-nus und Dahlmann mußten sogar innerhalb von drei Tagen das Land verlassen.

Das war 1837. Im Frühjahr 1838 veröffentlichte Grimm in Basel (innerhalb Deutschlands war es nicht möglich) eine kleine Schrift mit dem Titel „Jacob Grimm über seine Entlassung“. Grimm war seiner Erziehung und Lebenserfahrung nach konservativ, wenn er es auch ablehnte, einen sturen Parteistandpunkt einzunehmen. Auch im späteren Leben blieb er noch lange ein Konservativer. Und was schreibt dieser Konservative über das Thema Universität und Engagement?

Thesen Jacob Grimms

„Kein anderer Bestandteil des ganzen Königreichs konnte von dieser Begebenheit lebhafter und tiefer ergriffen werden als die Universität. Die deutschen hohen Schulen, solange ihre bewährte und treffliche Einrichtung stehen bleiben wird, sind nicht bloß der zu-und ab-strömenden Menge der Jünglinge, sondern auch der genau darauf berechneten Eigenheiten der Lehrer wegen höchst reizbar und empfindlich für alles, was im Lande Gutes oder Böses geschieht. Wäre dem anders, sie würden aufhören, ihren Zweck, so wie bisher, zu erfüllen. Der offene, unverdorbene Sinn der Jugend fordert, daß auch die Lehrenden bei aller Gelegenheit jede Frage über wichtige Lebens-und Staatsverhältnisse auf ihren reinsten und sittlichsten Gehalt zurückführen und mit redlicher Wahrheit beantworten. Da gilt kein Heucheln, und so stark ist die Gewalt des Rechts und der Tugend auf das noch uneingenommene Gemüt der Zuhörer, daß sie sich ihm von selbst zuwenden und über jede Entstellung Widerwillen empfinden. Da kann auch nicht hinterm Berge gehalten werden mit freier, nur durch die innere Überzeugung gefesselter Lehre über das Wesen, die Bedingungen und die Folgen einer beglückenden Regierung. Lehrer des öffentlichen Rechts und der Politik sind kraft ihres Amtes angewiesen, die Grundsätze des öffentlichen Lebens aus dem lautersten Quell ihrer Einsichten und Forschungen zu schöpfen; Lehrer der Geschichte können keinen Augenblick verschweigen, welchen Einfluß Verfassung und Regierung auf das Wohl und Wehe der Völker übten ... Eine Menge junger Leute nehmen Anteil... und es braucht nicht erst gesagt zu werden, auf welcher Seite sie stehen.“

Das ist höchst erstaunlich. Vor 130 Jahren stellte ein konservativer Professor der Universität genau den Freibrief aus, der heute von den unruhigsten Geistern verlangt wird. Hätten wir ein längeres Gedächtnis, würde die Diskussion nicht nur mit mehr Niveau geführt, sondern sie hätte auch praktische Konsequenzen. Man könnte immerhin antworten, Grimm habe nicht in einer Demokratie gelebt, er habe die „Laien" einer Bewußtmachung „von der gelehrten Bank herab" für bedürftig erachtet, mithin einen Elitestandpunkt und autoritären Habitus eingenommen; wogegen in der Demokratie die Meinung eines jeden das Licht der Welt erblicken darf, damit aber noch lange nicht den Anspruch auf Verwirklichung hat.

Und was Dutschke und Genossen denken, äußern sie mit eben jenem autoritativen Elite-habitus, so als ob es gar keine Demokratie gäbe; und nach ihnen gibt es ja bei uns in der Tat keine.

Wenn man so weit wäre, befände man sich wenigstens auf einem Feld mit weiterem Horizont. Man befände sich in einer Diskussion, man hätte Argumente — statt Gummiknüppel und Pistole.

Wundern wir uns also nicht, wenn viele unserer jungen Leute zwar keine Revoluzzer werden, aber aus der Gedankenwelt ihrer Väter keine geistige Nahrung begehren und lieber den scharfen jungen Dialektikern zuhören.

Wenn ich jetzt den Vorschlag mache, sechzig Jahre zurückzublicken, so steckt dahinter weder ein geschichtsphilosophischer noch ein ahistorischer Impuls. Weder will ich sagen: alles wiederholt sich, noch bin ich auf der Suche nach dem Gegenteil. Ich mache nur den Vorschlag, sich die Sachen selbst anzusehen. Vielleicht dient uns dieser Rückblick dazu, uns selbst zu sehen, wie wir in jungen Jahren waren, und von daher etwas mehr Verständnis für die heutigen jungen Leute zu gewinnen. Also eine Imaginationshilfe für die Erwachsenen, keine Rede an die jungen Leute. Die brauchen uns nicht.

Der Rückblick gilt der Jugendbewegung. Ich könnte meine eigenen Erinnerungen ausbreiten, denn ich war „Gauleiter" in einem Jugendbund; aber da es ein religiöser Bund war, galt er unter den „Zünftigen" nicht mehr als der RCDS heute unter den anderen Studentenbünden. Trotzdem kamen auch in mei-nen Reden damals die Väter als verknöchert, verheuchelt, verspießt vor. Sie hatten uns den Weltkrieg und die verworrene Nachkriegszeit beschert. Wir dagegen, wir würden eine reine, wahre, humane Gemeinschaft stiften. Wir alle wissen, was daraus geworden ist.

Daten aus der Jugendbewegung

Aber lassen wir meine Erfahrungen beiseite. Es ist immer schlecht, wenn einer sich selbst als zeittypisch ausgibt. Ich verweise zuerst auf das Bekannteste. Zur Jahrhundertfeier der Freiheitskriege trafen sich 1913 über 2000 Angehörige verschiedener Jugendbünde auf dem Hohen Meißner, schlossen sich zur Freideutschen Jugend zusammen und legten dieses Bekenntnis ab: „Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen ein.“

Einer der beiden Aufrufe zur Meißner-Feier begann folgendermaßen: „Die Jugend, bisher nur ein Anhängsel der älteren Generation, aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet und auf eine passive Rolle angewiesen, beginnt sich auf sich selbst zu besinnen. Sie versucht unabhängig von den Geboten der Konvention sich selbst ihr Leben zu gestalten.“ In dem anderen Aufruf stand: „Allem geschraubten und gezwungenen Wesen stellen wir Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit, Echtheit, Geradheit gegenüber." Das geschraubte und gezwungene Wesen, die Gebote der Konvention — das war natürlich die Welt der Väter.

Ich zitiere andere Stimmen. Max Bondy, der seit 1913 der Freideutschen Jugend angehörte und sein Leben lang Pädagoge an Landschulheimen war, zuletzt in den USA, wo er 1951 gestorben ist, sagte als Achtundzwanzigjähriger in einer öffentlichen Diskussion zu Romano Guardini, also im Jahre 1920: „Es ist falsch zu sagen, daß die Freideutsche Jugend die Autorität als solche geleugnet hätte . . . Nein, man sah, daß die empirischen Vertreter der alten Generation zum Teil Schwindler waren, die anders lebten, als sie redeten ... Die Jungen hatten die Sehnsucht nach der Ganzheit des Lebens . . . Für diese Sehnsucht hatten die Alten kein Verständnis.

So blieb nichts anderes übrig als Ablehnung." Also Schwindler, eine weitere Perle in der für den Hals der Väter bestimmten Kette. Gustav Wyneken, der zeitweilige Leiter der berühmten Freien Schulgemeinde Wickersdorf, sagte als Achtunddreißigjähriger 1913 vor Münchner Studenten: „Der Wandervogel bedeutet ein ganz beispielloses Aufatmen und Erwachen der Jugend. Hier lernte sie, was Leben heißt, und im Gegensatz zu der Un-lebendigkeit in der Familie und der Passivität in der Schule hält sie sich jetzt an ihr eigenes in ihr aufquellendes Leben. Hierauf beruht die elementare Kraft des Wandervogels. In ihm wurde das bisher unterdrückte Leben entfesselt." Unterdrücker, unlebendige Leute — die Perlenkette wird immer länger. Dabei vermißt Wyneken die konstruktive geistige Leistung der Jugendbewegung. Diese geistige Leistung, nämlich die jugendgemäße Umgestaltung des Kulturstoffes, suchte Wyneken in der Freien Schulgemeinde vorzunehmen. Hätte Wyneken größeren Einfluß auf die Jugendbewegung bekommen, wäre alles anders verlaufen, als es verlaufen ist. Man hört es diesen paar Sätzen an: „Reformen sind Fortschritte; zwischen der Erkenntnis des Mangels und seiner Abhilfe und der Verwirklichung dieser Abhilfe liegt nichts als der Willensentschluß ... Reformen oder Fortschritte sind analytischer Natur. Sie stecken latent schon im gegenwärtigen Zustand drin . . . Wenn aber jemandem die gesamten Prinzipien des modernen Staats und seiner Entwicklung zweifelhaft würden..., wenn ihm ein ganz anderes Unbedingtes als Maßstab, ein ganz anderer Sinn und Zweck des Staatslebens aufginge als den Heutigen, . . -der würde nicht dies oder jenes erstreben, sondern eine Totalität mit einem Male intuitiv erfassen und als solche wollen."

Revolutionäre Impulse

Die revolutionäre Umgestaltung ist hier im Irrealis vorgestellt. Wyneken war sich bewußt, daß seine Praxis die Umgestaltung nach sich ziehen mußte. Er sagte: „Das was die Freie Schulgemeinde vor allen Schulen und Schulversuchen auszeichnet, ... ist die Synthese der großen pädagogischen Antinomie von Jugend und Kultur, eine Synthese, die nicht in Versöhnung und Kompromiß, in einem Ablassen auf beiden Seiten besteht, sondern durch Steigerung beider sie in einer höheren Einheit sich binden ließ . . . eine Burg der Jugend und der natürliche Ort der Erhaltung, Steigerung, ja Wiedergeburt der Kultur."

Hier ist wiederum der Gedanke der gleichberechtigten Korporation angelegt, der heute durch die Universitäten und höheren Schulen geistert: gegen die autoritative Hierarchie. Wyneken klagte die Jugendbewegung der Un-produktivität an, weil sie seiner Meinung nach nicht radikal genug war. Zwar war er kein Sozialist, aber seine revolutionäre Energie ist der sozialistischen unbedingt vergleichbar.

Hans Joachim Schoeps, heute Professor in Erlangen, schrieb 1927: „Die Freideutsche Jugend .. . mußte Sturm laufen gegen den Geist des Bürgertums, gegen den sie protestierte. Das hat sie getan."

Da wir nun an der Stelle angelangt sind, wo Gustav Wyneken der Jugendbewegung indirekt den Vorwurf macht, sie sei eine Art Gammlerhorde, wird es Zeit, einige Sätze aus Hans Blühers herrlicher „Geschichte des Wandervogels" aus dem Jahr 1912 zu zitieren.

Blüher geht davon aus, daß es sich um die Jahrhundertwende um „eine unerträglich belastete Jugend" handelte. Da es den Schülern verboten war, selbständige Bünde zu gründen, mußte der Erfinder des Wandervogels, Karl Fischer in Dahlem, zum Schein eine Reihe Honoratioren als würdevolle Strohmänner in die Führung berufen; das hat geklappt, und Blüher wird nicht müde, diese Winkelzüge gegen die Autorität zu preisen. Dann lesen wir diesen Satz:

„Die Schule behauptet, daß sie die Jugend erziehe, die Eltern sagen, das täten sie auch und sie liebten sie. Wie aber, wenn beides falsch wäre . . Und dann hagelt es: „Von allen Lebensaltern ist die Jugend das moralisch reinste und sicherste. Es ist ihr eine Herzensangelegenheit, an den Sieg des unbedingt Guten zu glauben . .. Wenn alle Menschen, um ein platonisches Bild zu gebrauchen, moralisch nackt gingen, was würde da herauskommen! Was für ein Bild würde sich da der betrogenen Jugend bieten! . .. Und wie groß würde wohl die Differenz bleiben können zwischen denen, die fortwährend Moral lehren, und denen, die sie tun sollen, ohne auch ihrerseits moralische Forderungen an die Lehrer stellen zu können? Die Erwachsenen können nur deswegen Vorbilder sein, weil sie schweigen dürfen. Würde man alles sagen, so wären die Kinder die Vorbilder, wie der Gründer des Christentums ja einmal sehr deutlich verraten hat."

Dann spricht Blüher von der „Verlogenheit der Alterskultur" und berichtet: „Es gab da viele Jünglingsgestalten, die ein tiefer Haß und eine großartige Verachtung gegen die Kultur der Väter beseelte . . . Die Väter wollen ihre Söhne gern zu dem machen, was sie sich in den Kopf gesetzt haben, oder, was sie selber sind, aber die Jugend will nur allzu deutlich werden, was sie will. In keiner Zeit konnte das wohl schärfer geschehen als in dieser, wo der Fortschritt der Gesinnungen, die Überwindung der religiösen, nationalen und erotischen Vorurteile eine immer tiefere Kluft zwischen Jugend und Alter schuf."

Gammler-Vorläufer

Und hier nun die Hauptsache: „Der Wandervogel ist eine Auslösung von Trieben. Man hat ihn des öfteren intellektuell deuten wollen, weil das vornehmer klingt... Wie oft haben die Wandervögel in Trümmern gehaust, und sie taten nichts weiter als ein Feuer anstecken, sich Wandermären erzählen und Pläne schmieden. Hin und wieder saßen zwei beiseite und sprachen von etwas, das sie nur allein hören sollten. Erichs Laute erklang, und er sang dazu ein altes Lied ... Aber freilich: wenn man eine immerhin merkwürdige und gewagte Sache, wie der Wandervogel ist, der Öffentlichkeit gegenüber rechtfertigen und erklären will, so kommt man in die Zwangslage, ihr allerhand löbliche Zwecke, Ziele und Absichten anzudichten . . . die hohe patriotische und sittliche Bedeutung des Wandervogels .. . die große Abstinenzbewegung .. . die Pflege des Volksliedes und vieles andere. Das waren handfeste und streng definierbare Gedanken, die in einem besonderen Bunde der Wandervogelbewegung Platz griffen und seinen romantischen Kern einerseits bewahrten, ihn aber auch nützlicher machten, als wenn er nichts anderes tat als sich austoben. Diese Teile der Bewegung standen geistig höher und brachten es auch zu einer lesbaren — Zeitungsliteratur, während die Nur-Romantiker hierin nie weit gekommen sind."

Und nun spricht Blüher noch von der Affinität des Ur-Wandervogels zu den „Kunden". Die Kunden kennen wir alle. Es sind die Landstrei9 eher unserer Jugendzeit, die die Hauswände zinkten und die Kollegen über die Gesinnung der Hausbewohner und über besondere Gelegenheiten unterrichteten. Die Kunden waren die Gammler unserer Jugendzeit. Karl Fischer erkannte nach Blüher „sehr wohl, daß das Kundentum mit seinen romantischen Reizen dem Wandervogel ins Blut passe, und noch mehr: er sah in ihm ein wirksames Mittel gegen eine Erscheinung, die ja bald kommen mußte, sowie seine Schöpfung berühmt wurde: die Verflachung durch das Vereinswesen."

Sozialistische und kommunistische Bewegung

Genug. Wir sehen, die zünftigsten unter den Jugendbewegten wollten nichts weiter als frei sein von der Gesellschaft. Ich habe genug Zitate hierfür beigeschafft.

Aber es gab noch etwas. 1920 wollte die Frei-deutsche Jugend, die zu den von Blüher nützlicher genannten Gruppen gehörte, endlich auch die Politik einbeziehen. Man traf sich in Hofgeismar mit jungen Kommunisten, USPD-Angehörigen, Welt-Jugend-Ligisten, amerikanischen Quäkern, Schweizer und holländischen Jugendbewegten; sozialistische Falken und Naturfreunde scheinen nicht dabei gewesen zu sein.

Die Kommunisten zeigten der Mehrheit sofort, was eine Harke ist. Sie gingen auf das Schlagwort vom „ganzen Menschen" scheinbar ein und schlugen vor, zugunsten der jetzt notwendigen praktischen Aktion alles andere zurück-zustellen; nach erfolgter Revolution werde der ganze Mensch zu seinem Recht kommen. Das jugendbewegte Schlagwort vom „neuen Menschen" kam ihnen gerade recht. Der kommunistische neue Mensch macht sich nicht selbst, sondern er ist das Ergebnis erneuerter Verhältnisse. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, so forderten die Kommunisten, sollten sich die Anwesenden „klar zu Bewußtsein" bringen und sich dann der logischen Notwendigkeit zur Entscheidung stellen. Die Kommunisten handelten als geschlossene Fraktion, sprachen bei jedem Begriff von etwas völlig anderem als die Freideutschen, und auch dem gutwilligsten Jugendbewegten wurde es klar, daß die Kommunisten nichts Jugendbewegtes, sondern etwas Allgemein-Politisches im Sinn hatten, und so war keine Verständigung möglich.

Idi denke, es erübrigt sich, Bezugspunkte und Parallelen herauszuarbeiten. Alles, was wir heute erleben, war vor 60 Jahren schon einmal da: die verspielte Gammelei und totale Abwendung von der Erwachsenenwelt, die aggressive Verachtung der älteren Generation, ja sogar die These, daß es sich gar nicht um einen Generationsunterschied, sondern um Schwindelhaftigkeit der empirischen politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse handle. Und was schließlich die radikalen Sozialisten angeht, so meinen sie nichts spezifisch Jugendliches und nichts bloß Hochschulpolitisches, sondern den allgemeinen Umsturz der Verhältnisse, heute so gut wie damals.

Man ist versucht, noch weitere hundert Jahre zurückzugehen und die Sturm-und Drang-Generation vom Ende des 17. Jahrhunderts in dieselbe Reihe zu ordnen. Ärgernis genug erregten die jungen Burschen damals auch. Schulterlange Lockenpracht kam von der Abschaffung der Perücke: die jungen Leute wollten mit eigenem Haar den Perückeneffekt erzielen. Erst viel später wagte man kurzes Haar zu tragen; Kleist trug sich dann wie Bert Brecht. Außerdem schafften die jungen Leute das Spitzenhemd ab, und man stelle sich die ungeheuerliche Zumutung vor: Gegen die Rokokospitzen plötzlich der häßliche, rothaarige, grob schwäbelnde junge Schiller mit offenem Hemd und haariger Brust! Dagegen wirken die schlipslosen Sowjetkommunisten, die ja auch Aufsehen erregten, historisch wie Konfirmanden. Und das bißchen Haarpelz unserer jungen Streuner ist mehr als zahm dagegen.

Schön und gut, so könnte jemand sagen: aber damals ging es um Geistiges. Nicht bei der großen Masse der Jugendlichen Und so sehr geistig wirkten die „Räuber" beim Erscheinen auch nicht. Als Goethe aus Italien zurückkehrte, fand er seine neuerdings klassizistischen Bestrebungen zu seinem bitteren Ärger durch „Die Räuber" paralysiert. Dabei hatte er selbst fünfzehn Jahre vorher (aber das ist eben doch eine lange Zeit!) mit dem Götz ins Geniewesen eingestimmt und mit dem Werther allerhand angerichtet. Die jungen Leute hatten damals nicht Goethe nachgeahmt, sondern Werther, das heißt, sie liefen scharen-weise im Werther-Frack und brachten sich schwermütig um. Die Kritiker riefen nach der Polizei, es entstanden höhnische Werther-Parodien, zum Beispiel Nicolais „Freuden des jungen Werthers", worin der junge Mann seine Lotte heiraten darf. Der fünfundzwanzigjährige Welt-Bestseller-Autor Goethe hatte darauf unter demselben Titel „Freuden des jungen Werthers" folgendes Pasquill geschrieben-

„Ein junger Mensch, ich weiß nicht, wie Starb einst an der Hypochondrie Und ward denn auch begraben.

Da kam ein schöner Geist herbei, Der hatte seinen Stuhlgang frei, Wie's denn so Leute haben.

Der setzt notdürftig sich aufs Grab Und legte da sein Häuflein ab, Beschaute freundlich seinen Dreck, Ging wohl eratmet wieder weg Und sprach zu sich bedächtiglich:

Der gute Mensch, wie hat er sich verdorben! Hätt er geschissen so wie ich.

Er wäre nicht gestorben!" — Die jungen Leute waren also nicht gerade zimperlich. Und eine internationale Selbstmordwelle, ausgelöst durch die Geschichte einer unglücklichen Liebe, hat als soziales Phänomen große Ähnlichkeit mit den jugendlichen Selbstmorden nach dem Tod des Idols Monroe. Doch das literarische Sturm-und-Drang-Wesen war kein Aufstand der Jugend gegen das Alter (auch wenn es sich um junge Wilde handelte), sondern der Gescheiten und Talentierten gegen das Mittelmaß. Es gab Generationsbrüche wie eh und je, aber Jungsein allein galt nicht als Garantie für Qualität. Schiller fiel es nicht ein, gegen den alten Kant aufzustehen, Herder dagegen verfolgte den Philosophen mit unstillbarem Haß. Der mittelmäßige Nicolai war nur 16 Jahre älter als Goethe. Und sollte das „In Tyrannos!" nur auf alte Fürsten gemünzt sein?

Paradoxer Umschlag

Die Jugend als eine eigenständige soziale Schicht ist eine Entdeckung unseres Jahrhunderts. Und in Korrespondenz dazu ist die beflissene Selbstanpreisung alternder Publikums-jäger, sie fänden besonders bei der Jugend Anklang, eine Lächerlichkeit dieses Jahrhunderts.

Aber auch die Entdeckung dieses Jahrhunderts ist schon wieder umgeschlagen. Während unsere Väter sich über die jugendbewegten Allüren mitleidig lächelnd zu informieren suchten, weil es für sie „die" Jugend als Klasse nicht gab, finden wir es heute völlig selbstverständlich, von „der" Jugend zu sprechen. Die Jugend braucht nicht mehr dafür zu kämpfen, daß sie jung sein darf. Die Postulate der Jugendbewegung sind längst säkularisiert.

Dafür aber stellen wir, die wir geschlossen der geschlossenen Jugendwelt gegenüberstehen, die inquisitorische Frage, was eigentlich mit der Jugend los sei. Jetzt plötzlich erhebt sich die Gefahr, daß wir Väter in einen Krieg gegen die Jugend geraten.

Unsere Väter hätten gern mit uns diskutiert, wenn wir etwas zu diskutieren gehabt hätten. Wir Junge wollten gar nicht. Heute aber, da wir selbst die Väter sind, denken wir nicht daran, mit jungen Leuten zu diskutieren, da wir das Gefühl haben, mit der Jugend als ganzer könne man nicht diskutieren. Wir begnügen uns mit der Bemerkung, die sollten erst mal studieren, dann könnten sie sich wieder melden. Unser abweisendes Verhalten ist das paradoxe Ergebnis der Anerkennung einer eigenständigen Jugendepoche.

Wenn wir die absolut überflüssigen Katastrophen, wie wir sie kürzlich erlebt haben, verhüten wollen, muß der Gegensatz Alt—Jung zwar als selbstverständlich bestehend, aber als selbstverständlich belanglos behandelt werden. Diese Einsicht können wir nicht von den jungen Leuten, sondern wir müssen sie von uns Älteren verlangen. Das heißt dann: die jungen Leute ernst nehmen, auf ihre Gedanken eingehen, unsere oft nur routinierten Gedanken im Feuer ihrer leidenschaftlichen Gedanken erproben. Darauf möchte ich bedingungslos bestehen: von den geschlossenen Blöcken hie Alte — hie Jugend keine Notiz nehmen, sondern als Ich auftreten und mit dem Je-anderen gelassen umgehen, und dann allerdings wirklich umgehen, und das heißt: sich zunächst einmal hineinleben, hineinlesen, hineinarbeiten in die Vorstellungen, die auf die jungen Leute wirken.

Das gab es schon einmal in einer Zeit, als die jungen Leute sehr viel galten und doch nicht bekriegt wurden: zur Zeit des Sokrates. Reden wir sokratisch mit den jungen Leuten, sokra-tisch-dialektisch. Das verlangt allerdings von uns, daß wir etwas mehr als nur funktionierende Marionetten sind. Dazu brauchen wir einen Kopf, der zu geistiger Anstrengung bereit ist. Und wenn die Jungen, die sich zurückziehen, überhaupt nichts von uns wissen wollen, dann haben wir keinen Grund, aus Gekränktheit aggressiv zu werden, sondern dann lassen wir sie am besten in Ruhe.

Fussnoten

Fußnoten

  1. übrigens geht es auch heute um Geistiges. Die großartige Dichtung des Gammlers Genet hält jeden historischen Vergleich aus.

Weitere Inhalte

Rudolf Krame r-B a doni, Dr. phil., freier Schriftsteller, 1963— 1965 Generalsekretär des Pen-Clubs, geboren 22. Dezember 1913 in Rüdesheim. Veröffentlichungen u. a.: Romane: In der großen Trift, Darmstadt 1949; Der arme Reinhold, Hamburg 1951; Bewegliche Ziele, Wiesbaden 1964. Essays: über Grund und Wesen der Kunst, Ullstein-Taschenbuch, 1963; Die Last katholisch zu sein, List-Taschenbuch, 1963.