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Russische Revolution und Weltrevolution | APuZ 43/1967 | bpb.de

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APuZ 43/1967 Russische Revolution und Weltrevolution Artikel 1

Russische Revolution und Weltrevolution

Heinz Brahm

1. Das letzte Stadium der Autokratie

Abbildung 1

Im Jahre 1913 feierte Rußland das dreihundertjährige Bestehen der Romanow-Dynastie. Der Prunk, mit dem sich Nikolaus II. aus diesem Anlaß umgab, mochte die Welt noch eine Weile über die innere Schwäche des Zarismus hinwegtäuschen. Äußerlich war Rußland eine imponierende Macht. 162 Millionen Einwohner, 17, 5 Millionen Quadratkilometer in Asien, 5, 4 in Europa.

Hinter dem demonstrierten Pomp der Romanows stand schon damals keine starke Macht mehr. Nikolaus II. hatte 1894 von seinem Vater nicht nur die Krone übernommen, sondern auch eine erdrückende Last von ungelösten Aufgaben. Nirgendwo in Europa hing das Schicksal eines Landes so sehr von der Persönlichkeit des Herrschers ab wie in Rußland. Nur eine starke politische Persönlichkeit hätte dem Land den Weg in die Moderne ebnen können. Aber gerade das war Nikolaus II. nicht.

Die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft war unter der Herrschaft Nikolaus II. immer größer geworden. Auf der einen Seite standen der Zar, der Adel, die Bürokratie und das Militär, auf der anderen die Bauern, Arbeiter und die Intelligenzija. Wie sich zeigte, nahm jedoch selbst die dünne Schicht ab, die den Zaren trug.

Die größte Gefahr drohte der Autokratie von seifen der Bauern, deren Verlangen nach Land notorisch war. Erst 1861 hatte man in Rußland die Leibeigenschaft aufgehoben: Ungefähr 22 Millionen „Seelen" — fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung — wurden zu freien Menschen. Das Land, das die Bauern zu ihrer Nutzung erhielten, reichte jedoch oft nur zu einer kümmerlichen Existenz. Zudem mußten die Bauern jahrelang enorme Zahlungen an ihre alten Herren für die erworbenen Landanteile leisten. Erst 1905 wurden die letzten finanziellen Verpflichtungen beseitigt.

Die große Agrarreform, die Ministerpräsident P. A. Stolypin 1906 einleitete, hätte nach dreißig oder vierzig Jahren eine kräftige, entwicklungsfähige Bauernschaft entstehen lassen und die Lage auf dem Land vielleicht stabilisieren können. Voraussetzung für den Erfolg seiner Pläne wäre gewesen, daß sich Rußland während der Reform nicht in einen Krieg hätte hineinziehen lassen. Stolypin zielte darauf ab, das Kollektiveigentum des Mir, der Dorfgemeinde, nach und nach aufzulösen. Solange das Land Gemeindebesitz war und die Parzellen periodisch neu verteilt wurden, war bei den Bauern nicht mit Kapitalinvestitionen auf längere Sicht zu rechnen. Stolypin gab den Bauern die Möglichkeit, den Mir zu verlassen und eigenständige Landwirte mit Privatbesitz zu werden. Er ging davon aus, daß ein Bauer, der eigenen Boden unter den Füßen hat, Meliorationen vornehmen, sein Inventar verbessern und sein Eigentum vergrößern würde. Mit einem Wort, die individuelle Initiative und der Erwerbssinn der Bauern sollten geweckt werden, damit sich letzten Endes eine konservative Schicht bäuerlicher Grundbesitzer herausbilden könnte. Im Ergebnis führten die Reformen Stolypins zu einer Spaltung innerhalb der Bauernschaft. Eine Reihe von Bauern, die sogenannten Kulaken, arbeiteten sich zu einem gewissen Wohlstand empor. Viele Bauern jedoch, die dem Mir-Verband den Rücken kehrten, hatten als selbständige Landwirte nur ein knappes Auskommen, andere sahen sich sogar gezwungen, ihre Miniatur-Äcker zu verkaufen, und sanken zur „Dorfarmut" (bednota) herab, die ein beklagenswertes Dasein fristete. Die Zahlen, die die Lage auf dem Dorf illustrieren könnten, beruhen durchgehend auf Schätzwerten und sind ganz und gar nicht einheitlich. 70 Prozent der russischen Bevölkerung von 1913 sollen zur Bauernschaft gehört haben, also ungefähr 98 Millionen innerhalb einer Gesamtbevölkerung von 139 Millionen Einwohnern

Anfang 1916 dürften immerhin sieben Millionen Bauernhaushalte erblichen Besitz gehabt haben Man nimmt an, daß mehr als die Hälfte der Bauern in den fünfzig Gouvernements des europäischen Rußland zur Privat-wirtschaft übergegangen ist Aber die Tatsache, daß ein Bauer Grund und Boden besaß, sagt noch absolut nichts über die Lebensfähigkeit seines Hofes aus. Bis 1915 sollen 1, 3 Millionen Bauern, die aus dem Mir ausgetreten waren, gezwungen gewesen sein, ihr Land ganz oder zum Teil an die wohlhabenden Bauern, die Kulaken, zu verkaufen. 15% aller Bauernhaushalte sollen ohne Ackerland gewesen sein. Diese Bauern mußten sich bei Gutsbesitzern oder Kulaken verdingen.

Nach einer sowjetischen Statistik gehörten 65 % aller Bauernhöfe den Kleinbauern, 20 % den mittleren Bauern und 15% den Kulaken. Zwar besaß ein deutscher Bauer oft nicht mehr Land als der Mittelbauer in Rußland, aber er erzielte dank einer intensiven Kultivierung und des Fruchtwechsels wesentlich höhere Erträge. Der russische Bauer erntete beispielsweise nur 28 Pud (ein Pud = 16, 3 kg) Weizen auf einer Dessjatine (= vier Morgen) gegenüber 50 in den USA, 77 in Deutschland und 124 in England. Wenn aber die Agrarnot des Muschiks auch vielschichtig war, so sahen die russischen Bauern nur eine Radikallösung als Ausweg: die Landenteignung der Gutsbesitzer.

Die Provisorische Regierung, die 1917 die Agrarreform aufschob, verlor damit in den entscheidenden Monaten die Unterstützung vom Dorf her. Als schließlich auf dem Land eine Umgestaltung des Landbesitzes vor sich ging, konnte man es den russischen Soldaten, die meistens Bauern waren, nicht verdenken, daß sie an der Beute teilhaben wollten und die Schützengräben verließen.

Vom streng marxistischen Standpunkt aus schien Rußland nicht für eine sozialistische Revolution prädestiniert zu sein. Eine nennenswerte Arbeiterschait gab es hier noch nicht. Der Kapitalismus war in Rußland, wenn man vergleichsweise an England denkt, noch sehr jung. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges gab es in Rußland ungefähr 3, 5 Millionen Industriearbeiter. Hinzu kommen noch eine Million Beschäftigte im Transportgewerbe Bis 1917 blieb die überwiegende Mehrheit der Arbeiter mit dem Land verbunden und war oft sogar noch im Mir registriert. Die Bauernsöhne, die auf dem Land keine Arbeit fanden, kamen meist ungern in die Stadt und blieben oft nur kurze Zeit. Im Durchschnitt waren die russischen Arbeiter erstaunlich jung und mußten sich infolge ihrer Unerfahrenheit selbst für einen minimalen Lohn zu jeder Tätigkeit bereit finden. Sie, die vorher nur ihr Dorf gekannt hatten, sahen sich plötzlich einer beängstigenden Maschinenwelt, elenden Wohnverhältnissen und einer verhaßten Stadt gegenüber. Sie verloren oft mit einem Schlag nicht nur die Geborgenheit in der Familie, sondern auch ihren Glauben und ihren Aberglauben. Diesem grauen Heer von abgekämpften Proletariern, das am Abend aus den großen Fabriken strömte, kamen junge Agitatoren entgegen, die ihnen mit aufrüttelnden Parolen den Glauben an ein besseres Leben gaben. Junge fanatische Sozialdemokraten bemühten sich, die russischen Arbeiter für den Kampf gegen den Zarismus zu gewinnen. Das junge russische Proletariat zeigte sich wesentlich empfänglicher für den Radikalismus als etwa die Arbeiterschaft Englands. Es kannte noch keine Tradition und hatte noch zu sehr den Schock aus der Begegnung mit der Welt der Maschinen und Motoren in den Knochen. Zwar war das „Proletariat" in Rußland schwach, aber die „Bourgeoisie", seine Gegenspielerin, war noch schwächer. In Ruß-land hatte sich bis zu dieser Zeit kein so star-kes Bürgertum wie etwa in England, Frankreich oder Deutschland entfalten können. Viele Industriewerke waren mit ausländischem Kapital errichtet worden.

Auf der Drehbühne der Macht erschien 1917 neben den Bauern und Arbeitern noch eine dritte Kraft, die Intelligenzija, die sich zur Wortführerin der unartikulierten Unzufriedenheit in Rußland machte. Die meisten Propheten, die geglaubt hatten, das Drama vom Schicksal Rußlands im voraus schreiben zu können, hatten der Intelligenzija nur eine kleine Nebenrolle zugedacht. Lenin jedoch wußte sehr früh um die Bedeutung, die die Intellektuellen in einem politisch so wenig aufgeklärten Land spielen mußten. Er hatte sie von Anfang an in sein Kalkül hineingenommen. Er brauchte sie für seine Ziele, aber er liebte sie nicht. Freilich konnte Lenin nur einen relativ kleinen Teil der Intelligenzija an sich binden. Nicht einmal die Mehrheit der marxistisch orientierten Intelligenzija folgte ihm in die Revolution.

Die Intelligenzija, die sich im 19. Jahrhundert formiert hatte, war mehr eine geistige Bewegung als eine Schicht, eine ungewöhnlich lebhafte, bunte und faszinierende Großfamilie, zu der sowohl Anarchisten, Narodniki, Sozial-revolutionäre, Bolschewisten wie auch Liberale gehörten Gemeinsam war der Intelligenzija, daß sie sich an der „verfluchten russischen Wirklichkeit" wund rieb und nichts sehnlicher wünschte als einen Wechsel in der politischen Führung. Unter einem geistlosen Polizeiregime zur Tatenlosigkeit verurteilt, verlor sie sich oft in endlosen Diskussionen — man denke etwa an die Romane Dostojewskijs. Selten hat sich eine geistige Oberschicht so leidenschaftlich mit der Gedankenwelt des Auslandes beschäftigt. Proudhon, Hegel und Marx wurden für viele zur Offenbarung.

Von der russischen Studentenschaft des 19. Jahrhunderts schrieb ein einfühlsamer Kenner der damaligen geistigen Atmosphäre: „Sie war in die Stadt gekommen, um die alte Gläubigkeit gegen eine neue, alles umfassende

Weltanschauung, eine neue Dogmatik, einzutauschen. Mit völliger Selbstverständlichkeit wurde vorausgesetzt, daß rasch tradierbares Wissen eines Tages alle Lebensfragen ein für allemal lösen würde, ja, man glaubte sich kurz davor. Was jetzt schon erarbeitet sei, genüge — die Stunde sei gekommen, die heilbringende Wissenschaft den Massen mitzuteilen . . Die Gestalt Rachmetows in Tschernyschewskijs Roman „Was tun?" verrät viel von der Geisteshaltung dieser Intellektuellen. Drei Tage lang las Rachmetow ununterbrochen die wichtigsten Werke der Weltliteratur und war dann ein neuer Mensch.

Die jungen Intellektuellen nahmen sich oft nicht die Zeit, ihr Wissen zu überprüfen oder zu korrigieren. Gewiß haben viele den Marxismus bald wieder hinter sich gelassen wie eine lästige Kinderkrankheit, aber die Entschlossensten blieben Marx bis an ihr Lebensende treu. Von einer gesicherten ideologischen Position aus glaubten sie alles, was ihren Vorstellungen widersprach, links liegenlassen zu können. Für Lenin waren nach seiner Konversion zum Marxismus Namen wie Aristoteles oder Schopenhauer uninteressant. Die wahrhaft Gebildeten der russischen Intelligenzija erwiesen sich im Schicksalsjahr 1917 als unfähig, eine realistische Politik zu betreiben. Die Zukunft gehörte einem anderen Schlag der Intelligenzija, dem fanatisch Glaubenden, dem Blender und berauschten'Prediger. Man mag von Trotzkij oder Sinowjew eine Weile fasziniert sein, aber im Grunde waren sie beide Schauspieler, die bedeutend über ihre geistigen Verhältnisse hinaus lebten.

Lenin freilich war ein politisches Urgestein, ein geborener Revolutionär, der trotz seiner dogmatischen Starre den Respekt der Welt verdient. Während viele Intellektuelle auch nach der Februarrevolution das blieben, was sie vorher gewesen waren, nämlich Debattierer und Zauderer, wurde Lenin zum Akteur. Er hatte nicht leichtfertig vom Umsturz gesprochen, sondern er hatte ihn auch mit allen Fasern seines Herzens gewollt. Er war 1917 bereit, die Verantwortung für Rußland in seine Hände zu nehmen.

2. Die Februarrevolution

Als sich 1914 das zaristische Rußland am Ersten Weltkrieg beteiligte, ließ sich die Autokratie ungewollt auf eine Feuerprobe ein Die Kriegsbegeisterung der ersten Tage wich bald einer tiefen Niedergeschlagenheit. Die russischen Truppen waren zu schlecht ausgerüstet, um der technischen Überlegenheit vor allem der deutschen Heere standhalten zu können. Die russische Industrie blieb in der Produktion weit hinter den Erfordernissen der Armeeführung zurück. Das Transportwesen brach bald zusammen. Kein Land hat im Ersten Weltkrieg einen so hohen Blutzoll entrichten müssen wie Rußland: 2, 5 Millionen Tote. Das waren 40% der Verluste der Ententearmeen. Deutschland verlor 1, 8 Millionen an Toten. Es war kein Wunder, daß die Bauernsöhne, die das Gros der russischen Armee ausmachten, angesichts der schlechten Führung und der mangelhaften Qualität der Waffen mit jedem Tag weniger Lust zeigten, sich für einen Zaren zu schlagen, dessen Unfähigkeit als Herrscher so deutlich zutage trat.

Als Nikolaus II. im August 1915 den Oberbefehl über die Streitmächte in Mogilew am Dnjepr übernahm, wurde er für Sieg und Niederlage verantwortlich. Mit jedem Quadratmeter, der verlorenging, verringerte sich seine Autorität. Seit der Abreise des Zaren zum Hauptquartier in Mogilew hatte die Zarin Alexandra in Petrograd freie Hand. Sie konnte im Einvernehmen mit Rasputin, einem faunartigen Bauern aus der Gegend von Tobolsk, der als Wanderprophet posierte, praktisch schalten und walten. Die Minister erstatteten ihr Bericht wie einer Regentin. Sie nahm insbesondere auf die Regierungsbildung einen verhängnisvollen Einfluß. Die Ernennung von B. Stürmer zum Ministerpräsidenten geht auf ihr Konto. 1916 meinte A. Thomas, der französische Munitionsminister, sarkastisch: „Wie reich und selbstsicher muß Rußland sein. Es kann sich den Luxus einer Regierung leisten, in der der Premier , ein Desaster’ war und der Kriegsminister . eine Katastrophe'.“

Hinter der vorgehaltenen Hand meinten die Petrograder, daß seit der Zeit, da Caligula sein Pferd zum Konsul machte, kaum so merkwürdige Ernennungen gemacht worden seien Die Zarin Alexandra, von Natur aus wesentlich willensstärker als der Zar, war nach Meinung ihrer zahlreichen Feinde eine „Deutsche mit russischer Seele", eine hessische Prinzessin, die sich seit ihrer Verheiratung immer tiefer in die Welt der orthodoxen Mystik begab und der als ideale Regierungsform die Autokratie Iwans des Schrecklichen und Peters des Großen vorschwebte. Sie und der Zar sahen ihre stärkste Stütze in „Ihm", „Unserem Freund", das heißt in Rasputin. Obwohl man in Petrograd wußte, daß Rasputin nach seinen ruhelosen Irrfahrten meist betrunken, oft in Begleitung einer Dame und manchmal sogar mit Verletzungen im Gesicht nach Hause zurückkehrte, hielt die Zarin an ihrem „sibirischen Christus mit den Schrammen am Kopf“ fest. In ihm sah sie einen Abgesandten des Himmels, der ihr geschickt war, um der Bluterkrankheit des 1904 geborenen Thronfolgers Einhalt zu gebieten und durch seinen Mund den Willen Gottes mitzuteilen. Für sie war schon der bescheidenste Reformwillige eine Bedrohung. Sie ermahnte daher den Zaren, sich auf keinerlei Konzessionen, wenn sie auch noch so gering seien, einzulassen: „ ...sei auch jetzt ein Löwe in der Schlacht gegen die kleine Handvoll Bestien und Republikaner — sei der Herr und alles wird sich vor Dir beugen." Ein anderes Mal: „Dein Frauchen ist Deine Stärke und steht wie ein Fels hinter Dir." Als Rasputin im Dezember 1916 ermordet wurde, standen außer der Zarin tatsächlich nicht mehr viele hinter Nikolaus II., der in Mogilew noch immer nicht spürte, daß er sich in einer Traumwelt befand. Sir George Buchanan warnte den Zaren noch im Januar 1917. Die Antwort des Autokraten: „Sie sagen mir, Exzellenz, daß ich mich um das Vertrauen meines Volkes bemühen soll. Wäre es nicht eher an meinem Volk, sich um mein Vertrauen zu bemühen?

Das „Volk" lag Anfang 1917 noch wie betäubt unter dem Eindruck der zaristischen Mißwirtschaft, der Niederlagen, des Hungers und der Kälte. Es war der dritte Kriegswinter. Die Unzufriedenheit der Truppen an der* Front nahm beunruhigende Züge an. Der Hunger trieb seit Februar 1917 die Bevölkerung von Petrograd auf die Straße.

Die Februarrevolution war das Werk von fünf Tagen. Keine der Parteien hatte das Stichwort zu dieser Umwälzung gegeben. Namenlose Arbeiter und Soldaten waren die Träger dieser Revolution. Die Frauendemonstrationen vom 23. Februar (8. März) standen am Anfang, es folgten Streiks der Petrograder Arbeiter. Zwar schossen zunächst noch die Soldaten auf die Demonstranten, in der Nacht zum 27. Februar (12. März) ging die Petrograder Garnison jedoch auf die Seite der Bevölkerung über. Am 2. März blieb dem Zaren keine andere Wahl, als abzudanken. Die Autokratie zerfiel gleich beim ersten Stoß wie ein morsches Gewebe. In der Hauptstadt waren nur 1500 Tote und Verwundete zu beklagen. Im übrigen Rußland vollzog sich die Revolution fast ohne Blutvergießen. Angesichts der Repressalien und des Terrors, die die letzten Jahre der Autokratie gekennzeichnet hatten, war die Februarrevolution ungewöhnlich maßvoll und friedlich.

3. Doppelherrschaft: Provisorische Regierung und Petrograder Sowjet

Rußland wurde im Februar 1917, wie Lenin meinte, das freiste Land der Welt. Alle hatten an der Freiheit teil, der Adlige wie auch der Radikale. Aus Sibirien kehrten Hunderte von politisch Verbannten zurück und versuchten, sich in der neuen Lage zurechtzufinden.

Es war von Anfang an ein Unding, daß sich seit dem Sturz des Zarismus zwei Institutionen in die Macht teilten: die Provisorische Regierung und der Petrograder Sowjet der Arbeiter-und Soldatendeputierten Beide scheuten sich im Grunde, die volle Verantwortung zu übernehmen. Der Petrograder Sowjet, der am ehesten die Meinung des „Volkes" widergab, schreckte offensichtlich vor den Regierungsaufgaben zurück. In diesem Sowjet (= Rat) fanden sich vor allem die drei sozialistischen Parteien zusammen, die Sozialrevolutionäre, die Menschewisten und Bolschewisten. Die Provisorische Regierung, die von den ausländischen Staaten anerkannt wurde, war eine Schöpfung des Bürgertums, ohne starke Stütze im Rücken. Der Sowjet wollte sich damit begnügen, die Tätigkeit der Provisorischen Regierung zu beobachten, zu kritisieren und, wenn möglich, zu zügeln. Die meisten Sozialisten lehnten zunächst eine Teilnahme an der Regierungsverantwortung mit der Begründung ab, daß die russische Revolu-tion ihrem Wesen nach bürgerlich-demokratisch sei und daher auch von den Liberalen und Konservativen getragen werden müßte. Dem Anschein nach waren die liberale Partei der Konstitutionellen Demokraten (= Kadetten) mit P. Miljukow an der Spitze und die Konservativen wie A. Gutschkow und W. Schulgin am ehesten geeignet, die Regierungsgeschäfte zu führen, da sie in der Zarenzeit wesentlich mehr Erfahrungen hatten sammeln können als die Sozialisten. Freilich repräsentierten die Liberalen und Konservativen nur einen Bruchteil der russischen Bevölkerung. Die Bauern und Soldaten unterstützten die Sozialrevolutionäre, die Arbeiter die Menschewisten und Bolschewisten. Die Initiatoren der Provisorischen Regierung, die sich des mangelnden Rückhalts bewußt waren, waren von Anfang an bestrebt, möglichst die Vertreter der Linken in die Regierungsverantwortung zu nehmen. A. Kerenskij, der den Sozial-revolutionären nahestand, trat bereits in die erste von Fürst G. Lwow geführte Regierung als Justizminister ein. Der Menschewist Tschcheidze jedoch lehnte die Mitarbeit in der durch und durch bürgerlichen Exekutive ab.

Die Provisorische Regierung geriet jedoch in wachsendem Maße in Widerspruch zum Verlangen des Volkes, das vor allem den Frieden wünschte. Ihr Schwerpunkt verlagerte sich zwar schrittweise nach links, aber sie war nicht imstande, dem Willen der Massen ganz zu entsprechen. Miljukow, der als Außenminister eine Politik betrieb, die sich nicht im geringsten von der zaristischen Außenpolitik unterschied und beispielsweise die Eroberung Konstantinopels, Armeniens und die Aufteilung Österreichs und der Türkei anstrebte, mußte ebenso wie der Kriegsminister Gutschkow zurücktreten, als es von Seiten der sozialistischen Arbeiterschaft und der Soldaten zu Antikriegsdemonstrationen kam.

Als am 5. Mai die Provisorische Regierung umgebildet wurde, waren von den 15 Kabinettmitgliedern bereits 6 Sozialrevolutionäre und Menschewisten, darunter Kerenskij, W. Tschernow und I. Zeretelli. Nur die Bolschewisten hielten sich von der Regierung fern. So k Kabinettmitgliedern bereits 6 Sozialrevolutionäre und Menschewisten, darunter Kerenskij, W. Tschernow und I. Zeretelli. Nur die Bolschewisten hielten sich von der Regierung fern. So konnten sie von den Fehlern der regierenden Parteien, die der Inflation nicht Herr wurden und die auch das Problem der Lebensmittelversorgung nicht lösen konnten, in den späteren Wochen als einzige profitieren. Als Ministerpräsident Lwow die Demission Tschernows verlangte, weil dieser die Bauern ermutige, sich das Land der Gutsbesitzer anzueignen, aber im Kabinett auf Widerstand stieß, legte er sein Amt demonstrativ nieder. Der neue Ministerpräsident, der am 8. Juli ernannt wurde, war Kerenskij, der mit theatralischen Gesten und großen Worten die Frontsoldaten anfeuerte, den Krieg gegen die Deutschen fortzusetzen.

Kerenskij war sicher mehr ein Schauspieler als ein Realpolitiker. Er war so sehr von der Bedeutung seiner historischen Rolle überzeugt, daß er glaubte, alle Alarmzeichen im Lande mit seinen großen Worten übertönen zu können. Von anderer Statur war der georgische Menschewist Zeretelli, der immer wieder versuchte, die Provisorische Regierung auf eine möglichst breite Basis zu stellen. Ihm schwebte die Einheit der revolutionär-demokratischen Parteien als wichtigstes Ziel und als Voraussetzung für eine Stabilisierung der zerrütteten Wirtschaft vor. Als auf dem Ersten Gesamtrussischen Sowjetkongreß im Juni 1917 Zeretelli in seinem Rechenschaftsbericht über die Arbeit der sozialistischen Minister in der Provisorischen Regierung erklärte, es gäbe im Augenblick in Rußland keine Partei, die die Macht für sich allein beanspruchen könnte, sprang Lenin von seinem Platz und widersprach energisch: „Estj takaja partija — es gibt eine solche Partei." 14) Die Bolschewisten seien bereit, die Macht in ihre Hände zu nehmen. Dieses kühne Wort Lenins, das zum Teil mit Lachen quittiert wurde, wird um so bemerkenswerter, wenn man bedenkt, daß von den 1088 Mandaten des Gesamtrussischen Sowjetkongresses nur 105 den Bolschewisten zugefallen waren. Die Sozialrevolutionäre verfügten über 285, die Menschewisten über 248 Stimmen.

4. Estj takaja partija

Wer war Lenin? Was wollte seine Partei? Die revolutionäre Tradition Rußlands reichte tief ins 19. Jahrhundert hinein, die Geschichte der russischen Sozialdemokratie dagegen war verhältnismäßig kurz. 1872 war der erste Band von Marx'„Kapital" in einer russischen Über-setzung erschienen. Die einzelnen marxistischen Zirkel in Rußland waren zunächst nur locker miteinander verbunden 15). Ihre ideologischen Führer lebten größtenteils in Westeuropa, wo sie dem Zugriff der zaristischen Polizei entzogen waren. 1900 gaben diese Emigranten in Deutschland eine auf dünnem Papier gedruckte Zeitung heraus, die „Iskra" (Funke), die illegal nach Rußland geschleust und dort von den im Untergrund arbeitenden marxistischen Zirkeln verteilt wurde. Die Redaktion der „Iskra“ berief 1903 den II. Parteikongreß nach Brüssel ein, der bald nach London verlegt werden mußte. (Der erste Kon15) greß, der 1898 stattgefunden hatte, war praktisch ohne greifbare Erfolge geblieben.)

Für G. Plechanow, den Patriarchen unter den russischen Marxisten, für den damals 33jährigen Lenin, für L. Trotzkij, Ju. Martow und P. Axelrod war der Londoner Kongreß der erste Parteitag, an dem sie teilnahmen. Die Erwartungen, die man mit diesem II. Parteikongreß verband, waren dementprechend groß. Eine gewisse Feierlichkeit hatte sich der meisten Delegierten bemächtigt; glaubte man doch mit diesem Kongreß eine neue Ära für Rußland eröffnen zu können. Viele meinten sich auch schon in dem Vorgefühl, später die Geschicke eines revolutionierten Rußland leiten zu können, sonnen zu dürfen. Um so größer wurde die Enttäuschung. Man war zusammengekommen, um eine einheitlich gesteuerte Partei zu schaffen. Und als man auseinanderging, war die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (RSDRP) gespalten, in eine menschewi14) stische und in eine bolschewistische Fraktion. Zu diesem Schisma war es bei der Beratung über das Parteistatut gekommen.

Lenin hatte eine straff gegliederte und fast militärisch disziplinierte Verschwörerpartei gefordert, deren Mitglieder sich ganz und gar der marxistischen Sache verschreiben sollten. Martow dagegen wollte die Partei nicht zu einem Orden für einige wenige Auserwählte machen und setzte sich sehr energisch dafür ein, daß die Tore der Partei allen Sympathisierenden offen standen Lenins Konzeption also: eine kleine schlagkräftige Truppe von entschlossenen Revolutionären. Martows Ziel: eine breite Massenpartei. Lenins Vorschlag fand bei der Abstimmung nicht die Mehrzahl der Stimmen. Als aber eine Reihe von Delegierten den Parteitag verließ, wurde die Mehrheit Martows umgestoßen, und Lenin gelang es, die Parteiorgane nach seinem Willen zu besetzen. Die Mehrheit, die er zum Schluß besaß, gab seiner Fraktion den stolzen Namen „Bolschewisten" (bolschewiki = Mehrheitler). Die geschlagene Fraktion Martows erhielt die zunächst als Spitznamen gedachte Bezeichnung „Menschewiki", das heißt Minderheitler. „Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Rußland aus den Angeln heben" — das war der Stoßseufzer Lenins in seiner Schrift „Was tun?" Lenin zufolge war das Proletariat von sich aus nicht zu einer sozialistischen und revolutionären, sondern nur zu einer gewerkschaftlichen Denkweise imstande. Nur die marxistische Elite könnte die Weltgesetzlichkeit erkennen und dementsprechend den Weg der Revolution beschreiten.

Lenin knüpfte mit seiner Parteitheorie bewußt an die Tradition der Französischen Revolution und der russischen revolutionären Bewegung des 19. Jahrhunderts an. Rosa Luxemburg nahm scharf gegen die geplante „Schurigelung" der Arbeiterbewegung Stellung und sprach verächtlich von der „Nachtwächtermentalität" Lenins Andere Sozialdemokraten behaupteten, Lenin wolle keine Diktatur des Proletariats errichten, sondern eine Diktatur über das Proletariat. Der schärfste Angriff gegen Lenin kam 1904 von dem damals gerade 25jährigen Trotzkij. Er sagte voraus, daß die Linien einer solchen Partei, die sich pyramidenartig zuspitzte, auf einen Diktator an der Spitze einer entmündigten Partei hinausliefen

Im Januar 1912 kam es auf einer von den Bolschewisten organisierten Parteikonferenz zum endgültigen Bruch zwischen der menschewistischen und bolschewistischen Fraktion. Von nun an standen sich die Anhänger Lenins und Martows als Parteigegner gegenüber. Die treibende Kraft bei dieser Spaltung war Lenin, dem jeder Kompromiß als ein Verrat an der Sache der Revolution erschien. Seine Askese, seine pausenlose harte Arbeit und sein unerschütterlicher Glaube an seine Mission hatten ihm das Gefühl absoluter Überlegenheit über alle anderen russischen sozialdemokratischen Führer gegeben.

Die Bolschewisten, die ständig zum Sturz des Hauses Romanow aufgerufen hatten, wurden im Februar 1917 von den sich überstürzenden Ereignissen überrumpelt. Die aus der sibirischen Verbannung nach Petrograd zurückkehrenden Bolschewisten standen zunächst verwirrt und fassungslos vor dem Phänomen der Doppelherrschaft. Stalin und L. Kamenew, die das Ruder der verwaisten Partei übernahmen — Lenin befand sich im Schweizer Exil —, mußten sich mit der schmerzhaften Tatsache abfinden, daß die Sozialrevolutionäre und die Menschewisten im Petrograder Sowjet das Heft in der Hand hatten. Kamenew zeigte sich bereit, die Provisorische Regierung in ihrem Kampf gegen die „Reaktion" zu unterstützen. Er forderte die russischen Soldaten sogar auf, so lange auf ihren Posten zu bleiben, als die deutsche Armee ihrem Kaiser gehorchte. Stalin teilte offensichtlich weitgehend den Standpunkt Kamenews, obwohl er in seiner Sprache um einige Nuancen radikaler war.

Indessen raste Lenin im „Züricher Käfig, nach einem Ausweg suchend". Verzweifelt bemühte er sich, auf den Schauplatz des Geschehens zu eilen. Schließlich konnte er über das kaiserliche Deutschland, Schweden und Finnland in seine Heimat zurückkehren. Die ersten Reden des verehrten und gefürchteten Gastes auf dem Finnländischen Bahnhof in Petrograd am 3. (16.) April und im Kschesinskaja Palais, in dem die Bolschewisten ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten, setzten neue Akzente. Suchanow, der geschwätzige Boswell der russischen Revolution, hatte in der Nacht nach den ersten Reden Lenins das Gefühl, daß ständig jemand Dreschflegel auf ihn niedergehen ließe Lenin kam, so sagte Trotzkij, „wie ein Schulinspektor in die Klasse und, nachdem er einige Sätze aufgefangen hatte, drehte er dem Lehrer [Stalin] den Rücken zu und wischte dessen hinfälliges Gekritzel mit dem nassen Schwamm von der Tafel."

Die Postulate Lenins waren für die meisten Bolschewisten ein arger Schock: Unbedingte Selbständigkeit der Partei, keine Anbiederungsversuche an andere Parteien, keine Unterstützung der Provisorischen Regierung, keine parlamentarische Republik, sondern eine Republik der Sowjets, Ersetzung des stehenden Heeres durch die allgemeine Volks-bewaffnung, Aneignung des Landes durch die Bauern, ohne auf irgendeine Staatsmacht zu warten. Aus allen Worten Lenins wurde deutlich, daß er, wenn er es auch nicht offen aussprach, auf eine neue Revolution mit den Bolschewisten an der Spitze hinsteuerte.

Nach dem alt-leninistischen Schema war die russische Revolution bürgerlich-demokratisch, das heißt, sie war Sache des Bürgertums und der Bauernschaft. Wenn die Umwälzung auf dem Lande vor sich gegangen wäre, hätte sich daran die Diktatur des Proletariats anschließen können.

Lenin glaubte aber 1917, keine Zeit verlieren zu, dürfen. Seinen alten Waffengefährten Kamenew, der ihm in den Arm fahren wollte und nicht müde wurde, auf die einzelnen Etappen bis zur proletarischen Revolution hinzuweisen, verspottete er mit einem Goethe-Zitat: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum." Lenin hatte eingesehen, daß die Bauern andere Wege gingen, als er gedacht hatte. Er hatte damit gerechnet, daß die Bauern ihre „eigene" Politik machen, das heißt sich seinem Revolutionsschema entsprechend verhalten würden und im Proletariat ihren einzigen Führer und Beschützer suchen würden. Statt dessen schenkten sie den Sozialrevolutionären ihr Vertrauen, die ihrerseits, wie Lenin betonte, dem Kurs der Provisorischen Regierung folgten. Dabei fiel für Lenin entscheidend ins Gewicht, daß die Bauern (das Kleinbürgertum) einen Krieg führten, der der Krieg der „Bourgeoisie" sei. Wenn die Bauern aber nicht bereit waren, die Rolle zu spielen, die Lenin ihnen in seinem Revolutionskonzept zugedacht hatte, nämlich Wegbereiter des proletarischen Umsturzes zu werden, dann drohte die proletarische Revolution ad calendas graecas vertagt zu werden.

Lenins Lösung war genau so einfach wie überraschend. Er kam nämlich zu dem Schluß, daß die Bauernschaft, falls die Agrarrevolution zu Ende geführt werden sollte, der starken Hand des Proletariats — gemeint ist die bolschewistische Partei — bedürfe. Er gab ein für alle Mal die Vorstellung auf, daß man die Bauernschaft sich selbst überlassen dürfe. Um der Unentschiedenheit der Bauern ein Ende zu machen, nahm er sie in das Schlepptau seiner Partei. Zwar sprach er anfangs noch von der Diktatur des Proletariats und der ärmsten Bauernschaft, aber hinter dieser Formel zeichnete sich bereits die proletarische Diktatur in harten Umrissen ab. Die Diktatur des Proletariats sollte nun eben nicht mehr am Ende einer langen historischen Entwicklung stehen, sondern am Anfang. Lenin betraute praktisch seine Partei mit den Aufgaben, die die Bauern nicht entschieden genug in Angriff nahmen. Die Diktatur des Proletariats sollte zum Vollstrecker der bürgerlich-demokratischen und zum Platzhalter der sozialistischen Revolution werden. Lenin drängte sich danach, nicht nur der Bauernschaft, sondern auch der „Bourgeoisie", die ja erst seit Februar 1917 politisch aktiv werden konnte, die Arbeit abzunehmen. In der Tat, wenn man die Prognosen von Marx als unabwendbare Gesetze anerkennt und wenn die Geschichte schnurstracks wie ein D-Zug über die einzelnen Stationen — bürgerliche Revolution, demokratische Revolution — bis zum Sozialismus führe, dann hatte Lenin vollkommen konsequent gedacht. Dann versuchte er, den qualvoll sich in die Länge ziehenden historischen Prozeß durch einen Geniestreich abzukürzen.

5. Die Oktoberrevolution

Trotz mehrfacher Kabinettsumbildungen gelang es derProvisorischen Regierung nicht, der Kräfte, die durch die Februarrevolution freigesetzt worden waren, Herr zu werden. Rußland, das bisher auf den Zaren als Mittelpunkt ausgerichtet war, besaß seit Februar 1917 kein einheitliches Befehlszentrum mehr. Petrograd, die Hauptstadt, litt an einer Schizophrenie der Macht: die Provisorische Regierung, die von Tag zu Tag mehr an Autorität verlor, fühlte sich vom Sowjet behindert, während der Sowjet, der eine gewaltige Macht besaß, vor der Verantwortung des Regierens zurückschreckte. Diese Zweiteilung zeigte sich bis in jede Stadt und Gemeinde hinein, überall standen den Zemstwos und den städtischen Dumen die lokalen Sowjets gegenüber. Die alten zaristischen Bürokraten, die noch im Amt waren, blickten fassungslos von einer Instanz zur anderen.

Die Situation in Rußland war vor der Februarrevolution infolge des verlustreichen Krieges schon sehr bedrohlich und ernst gewesen. Aber es zeigte sich nun, daß auch die neue Regierung nicht imstande war, die brennenden Probleme der Ernährung, der Landverteilung und der Beendigung des Krieges zu lösen.

Nach dem Sturz des Zarenregimes waren Hunderttausende von Soldaten desertiert. Das gewaltige Heer von 6 Millionen, das größte, das jemals von einem Land aufgestellt worden war, wurde nur noch durch seine Friedens-sehnsucht und durch die allgemeine Enttäuschung geeint. Die einfachen Soldaten desertierten, teils weil sie von der Sinnlosigkeit des Krieges überzeugt waren, teils weil sie die Aufteilung der Gutshöfe in ihren Dörfern nicht verpassen wollten. Indem die bürgerlichen und besitzenden Kreise den „Krieg bis zum siegreichen Ende" auf ihre Fahnen schrieben, unterminierten sie ihre Position als Gutsbesitzer und als Privilegierte. Sie schaufelten sich praktisch in ihrer nationalen Verblendung das eigene Grab, überall auf dem flachen Land kam es zu Ausschreitungen, Übergriffen und Unruhen. Die Bauern plünderten die Herren-höfe, setzten sie in Brand, vertrieben die Gutsbesitzer und eigneten sich deren Land an. Zur gleichen Zeit spitzte sich in den Städten die Situation zu. Die Inflation war un ufhaltsam. Die Kaufkraft eines Rubels betrug im Oktober 1917 nur noch sieben oder sechs Kopeken. Fabriken schlossen ihre Tore, die Arbeiter wurden rebellisch.

In dieser Situation, als der Brandgeruch geradezu in der Luft lag, erreichten die Parolen der Bolschewisten „Friede, Land, Brot" immer größere Kreise. Zwar hatten die Bolschewisten nach dem mißglückten Juli-Aufstand einen schweren Rückschlag erlitten — Lenin hatte sich der Verhaftung durch die Flucht nach Finnland entzogen —, aber durch den Versuch General Kornilows, im August 1917 eine Rechtsdiktatur zu errichten, erhielt die bolschewistische Partei einen gewaltigen Zulauf. Die Zahl der Parteimitglieder schnellte von 23 000 im April auf 240 000 im August empor.

Zwar wählten die Bauern auch später noch überwiegend die Sozialrevolutionäre, aber es gab offensichtlich eine große Kluft zwischen den Sozialrevolutionären in der Provisorischen Regierung und den Sozialrevolutionären im Dorf. Zudem war diese Bauernpartei in sich gespalten. Eine kleine Minderheit folgte dem auf dem rechten Flügel stehenden Kerenskij. Die Linken Sozialrevolutionäre, als deren Wortführer B. Kamkow und Maria Spiridonowa hervortraten und die in vielen Fragen mit den Bolschewisten übereinstimmten, gewannen zunehmend an Bedeutung. Um das Zentrum, geführt von Tschernow, scharte sich jedoch die Mehrheit der Partei.

Viele, die bisher für die Sozialrevolutionäre gestimmt hatten, sahen bald in den Bolschewisten, die sich klar und eindeutig für die Beendigung des Krieges und für die Abschaffung des Eigentumsrechts der Gutsbesitzer aussprachen, die einzige Rettung. Anfang September konnten die Bolschewisten bei einer Abstimmung im Petrograder Sowjet die meisten Stimmen auf sich vereinen. Daraufhin trat das von Menschewisten geführte Präsidium des Petrograder Sowjet zurück. Zum neuen Vorsitzenden wählte man Trotzkij, der sich im Juli der bolschewistischen Partei angeschlossen hatte. In Moskau und in anderen Städten zeigte sich der gleiche Trend zum Bolschewismus.

Es war zu erwarten, daß die Welle, die die Bolschewisten in den Städten an die Macht getragen hatte, noch höher steigen würde. In großer Zuversicht hätten die Bolschewisten die weitere Entwicklung abwarten können. Aus diesen Träumen wurden sie jedoch am 15. September jäh aufgerüttelt, als im Zentralkomitee der Partei zwei Briefe Lenins, der sich noch in Finnland versteckt hielt, verteil sen wurden: „Nachdem die Bolschewisten in den Sowjets der Arbeiter-und Soldatendeputierten der beiden Hauptstädte [Petrograd und Moskau] die Mehrheit errungen haben, können und müssen sie die Regierungsmacht in ihre Hände nehmen." Das ZK zögerte, machte Ausflüchte und versuchte, die Machtergreifung hinauszuschieben. Lenin, der im ZK auf Ablehnung gestoßen war, versuchte nun lokale Parteigruppen gegen das ZK aus-zuspielen, ja, er drohte mit dem Austritt aus dem ZK, wenn man seinen Plänen nicht folgen wollte. Schließlich tauchte er, mit einer Perücke verkleidet, am 10. Oktober in Petrograd auf, und diesmal gelang es ihm nach einer stürmischen Sitzung des ZK, die Vorbereitung des Aufstandes gegen die Stimmen Sinowjews und Kamenews durchzudrücken. Kamenew und Sinowjew hielten die Partei für die Eroberung der Macht noch nicht stark genug und glaubten auch nicht an eine unmittelbare Hilfe vom Proletariat Westeueropas. Den Befürwortern des Aufstandes galt es als erwiesen, daß Europa in nächster Zukunft auf den Weg des Sozialismus gestoßen würde. Am 10. Oktober hatte man den Termin für den bewaffneten Aufstand wahrscheinlich provisorisch auf den 15. festgelegt. Und zwar sollte sich die Macht schon in den Händen der bolschewistischen Partei befinden, bevor am 20. Oktober der Allrussische Sowjetkongreß zusammentrat. Diese Zeitspanne war jedoch offensichtlich zu knapp bemessen. Trotzkij und den meisten Bolschewisten kam es daher sehr gelegen, daß der Sowjetkongreß auf den 25. Oktober verschoben wurde. Trotzkij, der in der Abwesenheit Lenins in seine große historische Rolle hineingewachsen war, entwarf den taktisch sehr geschickten Plan, die Eröffnung des Allrussischen Sowjetkongresses in Petrograd so mit dem bolschewistischen Aufstand zu koppeln, daß die Revolution im Schatten dieses Sowjets vorbereitet und nachher als dessen legitimes Kind angesehen werden konnte. Lenin war von tiefem Mißtrauen gegen jeden Aufschub erfüllt, weil er befürchtete, daß man die augenblicklich günstige Situation dadurch unwiderruflich verpassen könnte. Er muß auch angenommen haben, daß man die Eroberung der Macht unter Umständen von den Mehrheitsverhältnissen des Sowjetkongresses abhängig machen würde. Daher griff er die Zusammenlegung des bewaffneten Aufstandes mit dem Sowjetkongreß von seinem Versteck aus als eine unsinnige Spielerei mit Formalitäten an. Seine drängenden und beschwörenden Aufrufe galten auch Trotzkij, der ihm als Neuling in der Partei im Grunde doch nicht als ganz zuverlässig erschien. Noch am 24. Oktober trieb Lenin die ZK-Mitglieder zum Handeln an. Uber das Ausmaß der Vorbereitungen, die inzwischen bereits getroffen waren, muß er völlig im unklaren gewesen sein. Während Lenin nämlich ständig zur Eile drängte, hatte sich aus dem Petrograder Sowjet heraus ein „Revolutionäres Militärkomitee" gebildet, mit Trotzkij an der Spitze. Dieses Komitee nahm sich das Recht heraus, die Verteidigung von Petrograd gegen die Deutschen wie auch gegen alle konterrevolutionären Kräfte zu leiten. Ein solcher Eingriff in die Befugnisse der Provisorischen Regierung zog dem Ministerpräsidenten Kerenskij den Boden unter den Füßen fort. Bereits am 21. Oktober hatte sich die Petrograder Garnison, die sich von Kerenskij nicht an die Front abkommandieren ließ, in die Verfügungsgewalt des Revolutionären Militärkomitees begeben. Damit war für den bolschewistischen Staatsstreich der entscheidende militärische Rückhalt gewonnen. Unter den Augen ihrer Gegner, gedeckt durch die Sowjetlegalität, bereiteten die Bolschewisten den Aufstand vor

In der Nacht vom 24. zum 25. Oktober ging Petrograd in die Hände der bolschewistischen Partei über. Lenin, der sich bislang versteckt gehalten hatte, trat am 25. Oktober alten (7. November neuen) Stils, um ungefähr fünfzehn Uhr vor die Delegierten des Petrograder Sowjets und erklärte lapidar: „Genossen! Die Arbeiter-und Bauernrevolution ... ist vollbracht ... Vor allem besteht die Bedeutung dieser Umwälzung darin, daß wir eine Sowjetregierung, unser eigenes Machtorgan haben werden, ohne jegliche Teilnahme der Bourgeoisie. ... In Rußland müssen wir jetzt den Aufbau des proletarischen sozialistischen Staates in Angriff nehmen. Es lebe die sozialistische Weltrevolution!“

Als Lenin diese Worte sprach, war einzig das Winterpalais, in dem sich die Provisorische Regierung verschanzt hielt, noch nicht von den Aufständischen genommen. Wie schwach das alte Regime geworden war, illustriert die Tatsache, daß sich nur wenige eingefunden hatten, das Winterpalais zu verteidigen: Offiziersschüler und ein Frauenbataillon. Während das Palais belagert wurde, ging in der Stadt das Leben weiter. Am Abend des 25. Oktober spielten die Theater und die Kinos, im „Don Carlos" sang Schaljapin. Erst am 26. Oktober, um 2 Uhr zehn, wurden die Mitglieder der Provisorischen Regierung verhaftet. Kerenskij allerdings hatte bereits das Weite gesucht. Die sechs Toten auf seifen der Angreifer beim Kampf um das Winterpalais waren die einzigen Toten der Oktoberrevolution in Petrograd.

Der Kreml in Moskau konnte erst am 2. November von den Rotgardisten unter größeren Verlusten genommen werden. Innerhalb eines Monats beherrschten die Bolschewisten den größten Teil Rußlands. Die Ukrainer und die Kosaken im Südosten jedoch widersetzten sich hartnäckig den neuen Führern in Petrograd.

Die Wahlen für die Verfassunggebende Versammlung Ende November ergaben für die Bolschewisten nur 25 %, für die Sozialrevolutionäre dagegen über 50 °/o, für die Menschewisten ungefähr 3, 5 °/o, für die Kadetten 5 % und für die konservativen Parteien etwa 3 % der Stimmen Lenin ließ sich jedoch durch das Wahlresultat nicht beirren. Die Konstituierende Versammlung spiegele, so sagten die Bolschewisten, nur die unreife politische Willensbildung wider und sei daher nicht entscheidend. Es war für die Bolschewisten eine wesentlich größere Leistung, die Macht zu behalten, als sie zu erringen. Im Bürgerkrieg mußte es sich erweisen, ob Lenin im Oktober 1917 voreilig gehandelt hatte oder nicht. Seit 1918 schoben sich von den Grenzen Rußlands her die antibolschewistischen Truppen dem Zentrum des Landes zu. Im gefährlichsten Augenblick schrumpfte das Herrschaftsgebiet der Bolschewisten auf den Umfang des ehemaligen Moskauer Großfürstentums zusammen. Trotzkij, der Volkskommissar für das Kriegswesen, stampfte förmlich Division um Division aus dem Boden. 1917 hatten die Bolschewisten über einige tausend Rotgardisten verfügt, 1920 stand ein Heer von fünf Millionen unter Waffen. Mit der Disziplin allein läßt sich der erstaunliche Sieg der Bolschewisten nicht erklären. Ausschlaggebend waren die bedingungslose Opferbereitschaft und der fanatische Glaube der Bolschewisten. Hinzu kam, daß die „Weißen", wie man die Gegner Lenins summarisch nannte, untereinander uneins waren. Die Masse der Bevölkerung wird in den zaristischen Generalen, die zum Kampf gegen den Bolschewismus aufriefen, die Gefahr einer Restauration gewittert haben. Wie sehr man vielleicht auch mit der Herrschaft Lenins unzufrieden war, für die wenigsten war eine Rückkehr zur Monarchie verlockend. Im Oktober 1917 hatten die Arbeiter in Petrograd die führende Rolle gespielt. Der Bürgerkrieg aber wurde von den Soldaten der Roten Armee gewonnen, von jenen Bauern, die 1917 weder für den Zaren noch für Kerenskij kämpfen wollten.

Mit der Oktoberrevolution wurde ein politisches und wirtschaftliches System zu Grabe getragen. Jahre später, unter Stalin, haben die Bolschewisten versucht, auch der großen russischen Kultur ein Ende zu bereiten. Man mag dem Glanz der versunkenen Ära nachtrauern, aber man sollte die Romane Dostojewskijs und Tolstojs oder die Musik Tschaikowskijs und Mussorgskijs stets auf dem Hintergrund ihrer Zeit sehen. Den hervorragenden Denkern und Künstlern Rußlands stand das soziale Elend und das schreiende Unrecht von Millionen gegenüber. Die russischen Bauern konnten im 19. Jahrhundert an dieser großen Kultur, die wir heute noch zu Recht bewundern, nicht teilnehmen.

Zwei Millionen Russen gingen nach 1917 in die Emigration — verglichen mit der Zahl der Flüchtlinge nach der Französischen Revolution von 1789 eine erschreckend hohe Anzahl. Für die Bolschewisten mag dieser Exodus an Geist und Bildung nur wünschenswert gewesen sein, für Rußland war es sicher ein Verlust. Es wäre unfair, die Leistungen der russischen Kommunisten zu bagatellisieren. Die Impulse, die von der Oktoberrevolution ausgingen, sind enorm. Neben den Greueln und neben dem Schrecklichen stand, wenn auch oft verzerrt, ein gewaltiger Elan und Idealismus. Ein amerikanischer Historiker meinte am Ende seiner breitangelegten Schilderung der Russischen Revolution: „ . . . wahrscheinlich hat es niemals zuvor ein solch großes und achtungsgebietendes Aufgebot an Menschen aus den früher von der Herrschaft meist ausgeschlossenen Klassen gegeben, die in die Kommandohöhen der Macht aufrückten. Aus den endlosen Wir-13 ren und Metzeleien der schrecklichen Jahre 1917 bis 1921 erhob sich eine neue Staatsordnung, ein neues ökonomisches System, eine neue Weltanschauung, ein neuer Lebens-und Moralbegriff, erhoben sich, kurz gesagt, alle Elemente einer deutlich wahrnehmbaren Entwicklung, die ihre Bahn noch zu Ende gehen muß."

6. Aufrufe zur Weltrevolution: „An alle, alle"

Die russische Revolution sollte nach dem Willen Lenins nicht Selbstzweck sein. Sie war als der Stein gedacht, der beim Aufprall seine Kreise über die gesamte Welt zieht. Karl Marx hatte 1882 einmal fast beiläufig davon gesprochen, daß die russische Revolution das Signal zur westeuropäischen proletarischen Revolution geben könnte Marx hatte wohl damals eingesehen, daß es die kapitalistischen fortschrittlichen Staaten, die die Zusammenbruchs-reife besitzen müßten, an einer revolutionären Initiative fehlen ließen. Beeindruckt von der Aktivität der Narodowolzen, die 1881 den Zaren Alexander II. zur Strecke brachten, borgte sich Marx, einem Augenblickseinfall folgend, gewissermaßen den russischen Motor aus, um die kunstvoll konstruierte Maschine, die sich nicht nach den Gesetzen ihres Schöpfers drehen wollte, überhaupt erst in Schwung zu bringen. Der Gedanke, daß die Revolution im „Osten" ihren Anfang nehmen könnte, wurde 1902 von K. Kautsky, dem großen Ideologen der SPD und Gralshüter des Marxismus, gelegentlich aufgegriffen. Auch Lenin machte ihn sich in seiner frühen Schrift „Was tun?" zu eigen. Im allgemeinen glaubte Lenin jedoch bis 1917, daß die Weltrevolution in Westeuropa beginnen würde.

Als Lenin und die Bolschewisten im Oktober 1917 den Umsturz wagten, waren sie sich des enormen Risikos bewußt, das sie auf sich nahmen. Sie hatten sich in die Revolution gestürzt in der festen Erwartung, daß das Proletariat Westeuropas und vor allem des hochindustrialisierten Deutschland dem Beispiel der Bolschewisten folgen würde. Ihre Begeisterung und Zuversicht in den ersten Revolutionsjahren nährten sich zum Teil von der Hoffnung, daß ihnen das Proletariat des „Westens“ bald zeigen würde, „wie man's macht". Als eine Gemeinschaftsarbeit von vielen Staaten, zunächst und zumindest von Rußland und Deutschland, sollte die Diktatur des Proletariats den Brückenschlag vom Kapitalismus zum Sozialismus bedeuten, eine Arbeit, die nicht allzuviel Zeit in Anspruch nehmen konnte. Mit der Oktoberrevolution hatte man vom Osten her mit dem Werk begonnen, in der Hoffnung, auf halbem Weg mit dem vom Westen voran-getriebenen Brückenabschnitt zusammenzutreffen. Trotzkij, der zum Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten bestellt worden war, glaubte 1917, daß die schnell um sich greifende Weltrevolution den Bolschewisten jede Diplomatie alten Stils ersparen würde. Er meinte, er brauchte nur einige Funksprüche „An alle, alle" zu senden und er könnte den „Laden", gemeint ist sein Kommissariat, schließen.

Tatsächlich kam es in Mittel-und Osteuropa auch bald zu gewaltigen Umwälzungen, so daß die Bolschewisten annehmen mochten, daß die Druckwelle der Oktoberrevolution die ersten Staaten erreicht hätte. In Wirklichkeit spielte sich in den westlichen Grenzländern Rußlands jedoch nur eine Revolution mit primär bürgerlich-nationalen Zielen ab. Selten hatten diese Umbrüche Klassenkämpfe, wie Lenin sie wünschte, im Gefolge.

Als sich der Erste Weltkrieg seinem Ende zuneigte, konnte es jedoch so scheinen, als ob jetzt auch Deutschland in den Strudel der Weltrevolution hineingerissen würde. Seit Ende September 1918 fieberte man in Moskau — der neuen Hauptstadt — dem Sturz der Hohenzollern entgegen Am 9. November rief Philipp Scheidemann von einem Fenster des Reichstages in Berlin die Republik aus. Die Bolschewisten glaubten ihrem Ziel so nahe gerückt zu sein wie nie zuvor. Der Siegestaumel in Moskau wich jedoch bald einer tiefen Enttäuschung. Im Überschwang weltrevolutionärer Erwartungen beschloß das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee 50 Waggons Mehl nach Deutschland zu schicken Der Rat der Volksbeauftragten, der aus je drei Mitgliedern der USPD und der SPD bestand, lehnte jedoch nicht nur die Mehllieferung ab, sondern auch die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen. Für Lenin, der in Deutschland den natürlichsten Verbündeten gesehen hatte, war das praktisch eine moralische Ohrfeige.

Im März 1919 wurde die III., die Kommunistische Internationale (bekannter unter der Abkürzung „Komintern") in Moskau gegründet. Da die II. Internationale dem Ideal des Internationalismus untreu geworden war, sollte die Komintern als Erbin der I. Internationale die revolutionär-marxistische Tradition fortführen. Von Moskau, dem provisorischen Sitz des Exekutivkomitees der Komintern, sollten verstärkte Impulse zur Weltrevolution ausgehen. Das Exekutivkomitee wurde nach den vom II. Kongreß beschlossenen Statuten zu einer Art Generalstab, die der Internationale angeschlossenen Parteien zu Divisionen der Weltrevolution. Die turbulenten Ereignisse in Europa schienen den Bolschewisten recht zu geben. Im März 1919 bildete sich in Ungarn, im April in München eine Räterepublik. Am 7. April 1919 hatte Sinowjew, der erste Präsident der Komintern, geschrieben, die III. Internationale könne sich bereits auf drei Sowjetrepubliken stützen; in einem Jahr werde ganz Europa kommunistisch sein. Das Jahr war jedoch noch nicht vergangen, als die beiden nichtrussischen Sowjetrepubliken ausgelöscht waren. Im August 1920 erlitt die Rote Armee, die in Polen eingefallen war, um den Prozeß der Weltrevolution zu beschleunigen, eine ihrer empfindlichsten Niederlagen.

Auf dem III. Kominternkongreß, der im Sommer 1921 in Moskau tagte, kam man nach heftigen Diskussionen zu dem Schluß, daß die revolutionäre Flut in Europa zurückgegangen sei und daß die kommunistischen Parteien sich folglich nicht mehr unbesonnen auf einen Kampf um die Macht einlassen dürften. Im Dezember 1921 änderte die Komintern dann ihre Taktik, indem sie buchstäblich eine Schwenkung um 180 Grad vornahm. Da die Arbeiter in Europa bisher noch zum großen Teil den sozialistischen Parteien folgten, sollten die Kommunisten auf Geheiß der Exekutive der Komintern an die sozialdemokratischen oder sozialistischen Arbeiter mit der Aufforderung zu einer Zusammenarbeit im Kampf um höhere Löhne und niedrigere Steuern herantreten. Zweck dieser neuen Politik war, durch geduldige Aufklärungsarbeit die „Proletarier", die nach wie vor den Sozialisten ihre Stimme gaben, für das Programm der Kommunisten zu gewinnen. Dieser Kurs-wechsel in der Komintern sollte unter dem Namen „Einheitsfronttaktik''Geschichte machen. Zunächst billigte man sogar die „Einheitsfront von oben", das Gespräch, den Kontakt und sogar die Koalition mit den von den Kommunisten bisher verhöhnten Führern der Sozialisten. Man ging dabei stillschweigend von der Voraussetzung aus, daß man die sozialdemokratische Spitzenführung später in einer scharfen Kurve aus dem fahrenden Zug fallen lassen könnte.

Das Jahr 1923 brachte gewissermaßen den Abschluß des Sturms und Drangs in der Komintern. Noch einmal glaubten die russischen Kommunisten am Ende der Ruhrkrise, daß in Deutschland die Revolution heranreife. Die Kommunisten traten in Sachsen und Thüringen in die Regierungen der Sozialdemokraten ein. Da aber die KPD vor der Verantwortung eines Aufstandsversuches zurückschreckte, brach der „deutsche Oktober", der in Moskau bis in alle Einzelheiten geplant war, zusammen, bevor er begonnen hatte. Die Komintern ließ die Taktik der „Einheitsfront von oben" wie ein heißes Eisen fallen und billigte jetzt nur noch die Kampfgemeinschaft mit den sozialistischen „Massen" unter Ausschluß ihrer Führer.

Im Grunde war die Vorbereitung der deutschen Oktoberrevolution 1923 ein Anachronismus gewesen. Schon 1921 hatte die Außenpolitik des sowjetischen Rußland den Vorrang vor allen gewagten Vorstößen der Komintern erhalten. Die bolschewistischen Führer hatten von Anfang an zwei Eisen im Feuer gehabt: Die offizielle Außenpolitik mit den „kapitalistischen" Staaten, die Lenin als notwendiges Provisorium von kurzer Dauer betrachtete, lief parallel zu der langfristigen Politik, die auf die Weltrevolution abzielte. Zunächst hatte man die langfristige und die kurzfristige Politik kaum voneinander getrennt, 1921 wurde man sich bewußt, daß die Putschversuche der ausländischen Kommunisten die mühsam geknüpften Beziehungen zu den „kapitalistischen" Staaten wieder zerreißen konnten. Die Schritte der Komintern mußten mit der Zielsetzung der sowjetischen Außenpolitik sorgfältig abgestimmt werden.

Das Mißlingen des deutschen Aufstandes von 1923 war für Stalin die endgültige Bestätigung dafür, daß es sinnlos war, auf die Revolution in Europa zu warten. Wenn aber die russischen Kommunisten erkannten, daß man in absehbarer Zeit nicht mit einem proletarischen Umsturz im Westen rechnen konnte und damit auch keine Hilfe vom westeuropäischen Proletariat erwarten durfte, dann mußte sich die Staatsräson immer stärker bemerkbar machen. Das kommunistische Rußland entwickelte allmählich einen nationalen Egoismus.

Diese Neuorientierung war um so leichter, als Lenin, der sich immer einer Beschränkung auf das Nationale widersetzt hatte, im Januar 1924 starb. Sein Tod war in mehrfacher Hinsicht eine echte Zäsur und hatte geradezu symbolischen Charakter. Mit Lenin mußte man auch die Hoffnung auf eine baldige Revolution im hochindustrialisierten Westen begraben. Wenige Tage nach dem Tode Lenins erkannte England die Sowjetunion de jure an. Für viele Staaten war damit ein entscheidender Präzedenzfall geschaffen. Italien, Norwegen, Österreich, Griechenland, Schweden, China, Dänemark, Mexiko, Frankreich und Japan folgten dem Schritt Englands. Das Ende Lenins fällt so zeitlich mit dem Ende der Isolierung zusammen. Die Sowjetunion wurde in den Kreis der Großmächte aufgenommen.

Es war kein Zufall, wenn Stalin Ende 1924 die Lehre vom „Sozialismus in einem Land" aufstellte. Diese neue Parole war der damaligen Situation auf das geschickteste angepaßt. Sie schmeichelte der Eigenliebe der Russen, versprach ihnen, die als erste den Sozialismus aufbauten, eine besondere Stellung unter den Völkern, suggerierte ihnen Zuversicht und stärkte ihr nationales Selbstbewußtsein. Trotzkijs Parole der „permanenten Revolution" dagegen konnte der Bevölkerung Rußlands nichts Gutes verheißen. Sie bedeutete Krieg, Hunger und Unruhe. Die Entwicklung des bolschewistischen Rußland war unaufhaltsam, sie führte vom Internationalismus zum Sowjetpatriotismus. A. Loisy hatte gesagt: „Jesus annonait le royaume de Dieu, et c'est l'eglise qui est venue" („Jesus kündigte das Reich Gottes an, aber es kam die Kirche.") — das gleiche gilt vom Bolschewismus: die Weltrevolution war angekündigt, aber es kam fürs erste der Sozialismus in einem Land.

Den sowjetischen Führern mußte es vor allem darauf ankommen, mit anderen Staaten Handel zu treiben und die Industriegüter, die man für den Aufbau des Landes brauchte, zu importieren. Angesichts der relativen Stabilität und Prosperität in Westeuropa sah sich Stalin im Dezember 1925 genötigt, von einer Phase „friedlichen Zusammenlebens" der Sowjetunion und der „kapitalistischen" Staaten zu sprechen.

7. Die Welt als Wille und Vorstellung

Obwohl Lenin und Trotzkij vor 1917 viele Jahre im Ausland zugebracht hatten, war ihnen die Vorstellungswelt der französischen, britischen oder deutschen Arbeiter weitgehend verschlossen geblieben. Wo sie auch waren und wenn sie auch Fühlung zu den sozialdemokratischen Führern Europas hielten, sie kapselten sich in ihren Emigrantenkolonien sehr stark von ihrer Umwelt ab. Mit dem Fahrplan der Weltrevolution unterm Arm eilte Trotzkij auf die Redaktionsstuben der russischen Zeitschriften — was sollte er die Mentalität eines anderen Volkes erforschen, wenn in vier, fünf Jahren die Revolution ohnehin über Europa ging? Auf den Arbeiterversammlungen im Ausland sahen viele russische Revolutionäre offensichtlich nur jenen Radikalismus, der alle Proletarier beseelen mußte und den sie notwendiger brauchten als das tägliche Brot. Stalin dürfte als einziger der prominenten Bolschewisten während seiner kurzen Aufenthalte in Stockholm, London, Krakau, Wien und Berlin den Hauch einer vollkommen anders gearteten Gesellschaft gespürt haben. Er hat sich dem Kult um den deutschen Arbeiter und Revolutionär, der unter den Bolschewisten verbreitet war, nur ungern gebeugt. Einen sicheren Blick für Realitäten bewies Pjotr Struve, früher Marxist, dann Liberaler, als er einige Tage vor der Oktoberrevolution in einer Rede spöttisch erklärte: „Ich kenne die deutschen Sozialdemokraten und die deutsche sozialpatriotische Mehrheit gut; sie sind vor allen Dingen — gute Bourgeois. Als Deutsche werden sie nicht während des Krieges revolutionieren und als gute Bourgeois sind sie überhaupt außerstande, eine Revolution zu machen. Meine Herren, der allerfriedlichste und ruhigste russische Kadett ist mehr Revolutionär als der wildeste deutsche Sozialdemokrat. Es ist eine verhängnisvolle Gewohnheit von Ihnen, zu glauben, daß die russische Revolution eine Weltrevolution entfachen werde. . . ."

Wenn die Bolschewisten immer wieder meinten, in Deutschland oder in England einen der nächsten Schauplätze der Weltrevolution sehen zu können, so gingen sie davon aus, daß diese Länder nach ihrem Stand der Produk- tivkräfte bereits überfällig für den Sozialismus waren. Die Statistiken, die sie vor sich hatten, verleiteten sie ständig zu Trugschlüssen, obwohl die negativen Erfahrungen mit dem Kommunismus in anderen Ländern sie eines besseren hätte belehren müssen.

In Deutschland standen, wie Sinowjew Ende 1923 schrieb, den 4, 4 Millionen der herrschenden Klasse 22, 7 Millionen Arbeiter, 3, 4 Millionen Halbproletarier und 3, 2 Millionen Angestellte gegenüber Die englische Bevölkerung soll nach einer Angabe Trotzkijs zu drei Vierteln zur Arbeiterschaft gehört haben. Nicht genug damit, die Bolschewisten setzten bei den west-und mitteleuropäischen Arbeitern einen Radikalismus voraus, wie sie ihn im Krisenjahr 1917 bei den russischen Arbeitern erlebt hatten. Die Bolschewisten haben sich vor 1924 kaum die Mühe gemacht, die soziologische Struktur Frankreichs, Englands und Deutschlands mit der Rußlands zu vergleichen. Sie haben vor allem die Besonderheiten der russischen Revolution nie in der gehörigen Weise analysiert.

Zunächst waren die englischen und deutschen Arbeiter nicht mehr die Paupers, als die sie Marx noch hingestellt hatte. Sie hatten oft schon mehr zu verlieren als ihre Ketten. Die Arbeiter machten in Deutschland nur knapp die Hälfte der berufstätigen Bevölkerung aus, und selbst von ihnen war vielleicht nur ein Drittel so radikal, wie die Bolschewisten glaubten. Zweitens gab es in keinem europäischen Land eine so entschlossene, fanatisierte Partei wie die bolschewistische, die durch jahrelange Verfolgungen so hart, unnachgiebig und unerbittlich geworden ist. Drittens gab es in den großen Industrieländern Europas ein wesentlich mächtigeres Bürgertum als in Ruß-land, darüber hinaus eine starke Bürokratie, eine nicht zu unterschätzende Mittelklasse, ein Heer — das nicht wie das russische 1917 die Bolschewisten tolerierte oder unterstützte. Viertens konnten nach 1918 die kommunistischen Parteien in Deutschland, Frankreich und England nicht mehr mit der Parole „Friede, Land und Brot" operieren. Die Tatsache, daß Rußland sich nach der Oktoberrevolution selbst kaum ernähren konnte, machte den Kommunismus nicht gerade attraktiv. Fünftens waren die Bolschewisten 1917 fest im Sattel, als sie sich der beiden Haupt-städte, Petrograd und Moskau, bemächtigt hatten. In die meisten Städte Rußlands kam die Revolution im Februar und Oktober über den Telegraphen. Wer Berlin und München in Besitz genommen hätte, wäre bei weitem noch nicht Herr über Deutschland gewesen.

Im Dezember 1924 allerdings war Stalin davon überzeugt, daß sich die günstigen Bedingungen, unter denen im Oktober 1917 der Umsturz in Rußland gelang, nicht so leicht in einem anderen Land wiederholen würden Bald machte er aus seiner Skepsis gegenüber dem deutschen Proletariat kein Hehl mehr. Von den großen russischen Wortführern der Weltrevolution sagte er, sie hätten vor 1917 in Charlottenburg oder im Quartier latin gelebt, hätten hier Bier getrunken, in Cafes gesessen, aber im Grunde nichts von Europa verstanden Noch deutlicher ist der Ausspruch Stalins von 1944: „Die Kommunismus paßt für die Deutschen wie der Sattel für die Kuh."

8. Die Wendung nach Asien

Am 24. Januar 1925 erschien in der „Prawda" eine Karikatur von Deni, die den Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten G. Tschitscherin etwas hilflos vor einem Kompaß zeigte, dessen Nadel nach Osten wies. Schon Ende des vergangenen Jahres hatte Tschitscherin in einem Gespräch mit dem deutschen Botschafter in Moskau, Graf Brockdorff-Rantzau, darauf hingewiesen, daß die Stoßrichtung der sowjetischen Außenpolitik mehr und mehr nach Asien ziele. Die soeben erwähnte Karikatur bezog sich auf die kurz vorher in Pe-king vereinbarte Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und Tokio. Zwar waren schon 1924 die Beziehungen zwischen China und der Sowjetunion wiederhergestellt worden, aber erst ab 1925 begann die Wendung der Komintern und der sowjetischen Außenpolitik zum Fernen Osten. Das Weltbild der Kommunisten war trotz platonischer Erklärungen an die asiatischen Völker weitgehend europazentrisch gewesen. Erst als die asiatischen Staaten unübersehbar in das Blickfeld der Kommunisten gerückt waren, hat man beispielsweise Lenins Imperialismus-Theorie mehr zugunsten des Ostens akzentuiert. Allerdings begann in der letzten Phase Lenins bereits die Hinwendung nach Asien. Lenin sah in der Befreiungsbewegung Asiens den Garanten für einen endgültigen Sieg des Sozialismus.

Man hätte annehmen können, daß Trotzkij die Theorie der „permanenten Revolution", der-zufolge die Diktatur des Proletariats im rückständigen Rußland ihren Anfang nehmen sollte, mit der gleichen Radikalität, mit der er sie für sein Land verfochten hatte, auch auf den „Osten" angewandt hätte. Eine gewisse Verwandtschaft zwischen Rußland und den Staaten Asiens lag auf der Hand: hier wie dort hatte der Kapitalismus soeben erst Fuß gefaßt. Die daraus entspringende Schwäche und Unsicherheit der „Bourgeoisie" konnte also auch in Asien dem „Proletariat" den ersten Platz zuweisen. In China bildeten genau wie in Rußland die Bauern die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung. Aber Trotzkij und die übrigen Bolschewisten widmeten dem „Osten" lange Zeit nicht die gebührende Aufmerksamkeit — allerdings beschäftigten sie sich vielleicht mehr mit den asiatischen Problemen als manche Westeuropäer.

Auf den Kongressen der Komintern wurde oft laut und bewegt Klage darüber geführt, daß man die „Orientfrage" gröblich vernachlässige Mit der Zeit stellten die Bolschewisten jedoch fest, daß ihnen im „Osten" (gemeint waren in der Hauptsache China, Japan, Afghanistan, die Türkei und Ägypten) ein neuer Bundesgenosse zuwuchs. Die politische Landkarte der russischen Kommunisten, auf der die hochindustrialisierten Länder mit besonders kräftigen Farben eingezeichnet waren, da sie doch den Schritt zum Sozialismus am ehesten hätten wagen können, schien einer Revision zu bedürfen. Bereits 1913 hatte Lenin einen kurzen Artikel mit der pointierten Über-schrift „Das rückständige Europa und das fortgeschrittene Asien" veröffentlicht. 1925 schien es so, als ob sich tatsächlich die Seiten vertauschten.

Seit der Zeit, als die sowjetische Erklärung vom 25. Juli 1919 in China bekanntgeworden war, derzufolge die sowjetische Regierung angeblich alle zwischen China und dem zaristischen Rußland geschlossenen „ungleichen Verträge" annullieren wollte, hatten die Sowjets in China einen ausgesprochen guten Namen. Eine Umfrage unter Pekinger Studenten ergab, daß die Hälfte von ihnen in Rußland den wahren Freund Chinas sah.

In Asien schien sich dem internationalen Kommunismus ein neues Feld zu eröffnen, wenn man auch nicht davon überzeugt war, daß man hier an der Schwelle einer sozialistischen Umwälzung stand. Das Schwergewicht der revolutionären Strategie Moskaus verlagerte sich seit 1925 jedenfalls von den engen Gassen der deutschen Städte in die Weite des Fernen Ostens. Zeitweise scheint Stalin versucht zu haben, Japan in einen Krieg mit den USA zu verwickeln. Zumindest bemühten sich die sowjetischen Diplomaten, die Angriffsrichtung der japanischen Militärs vom asiatischen Festland abzulenken.

In China versuchten die Sowjets, die nationale Befreiungsbewegung vor ihren Wagen zu spannen. Die russischen Kommunisten räumten der Kuomintang für eine bestimmte Weile eine progressive Rolle ein, weil man in ihr die Wegbereiterin für eine spätere kommunistische Machtergreifung sah. Auf Drängen der Komintern kam es im Januar 1924 bereits zu einer Vereinigung der Kuomintang und der Kommunistischen Partei Chinas. Dieses seltsame Bündnis war wohl von jeder Seite in der geheimen Hoffnung abgeschlossen worden, den anderen Partner zu gegebener Zeit schlucken zu können. Obwohl in Moskau bereits 1926 besorgniserregende Meldungen über antikommunistische Tendenzen und Aktionen Tschiang Kaischeks einliefen, hielten Stalin und Bucharin an der Zusammenarbeit der chinesischen Kommunisten und der Kuomintang fest. Die Blindheit Stalins mußten viele chinesische Kommunisten mit ihrem Leben bezahlen. Stalin, Bucharin und Radek, aber auch Trotzkij hatten geglaubt, mit Hilfe der marxistisch-leninistischen Doktrin die verwirrenden Ereignisse in China auf einen leicht faßlichen Nenner bringen zu können. Sie machten sich nicht die geringste Mühe — vielleicht mit Ausnahme Radeks —, China aus seiner Geschichte und Kultur zu verstehen. Es war einfach ein Unding, vom Schreibtisch in Moskau aus eine Revolution viele tausend Kilometer entfernt dirigieren zu wollen.

9. Die Weltrevolution tritt auf der Stelle

Nachdem die Komintern sowohl im Westen wie im Osten mit ihren Versuchen, Revolutionen zu entfachen und zu lenken, Schiff-

bruch erlitten hatte, mußte sie für den Kreml eine schwere Bürde werden, da sie die auf Sicherheit und Frieden bedachte Linie der sowjetischen Außenpolitik durch revolutionäre Parolen unglaubwürdig machen konnte, überzeugt von der Erfolglosigkeit der einst so verheißungsvollen Komintern, nannte Stalin sie Ende der zwanziger Jahre kurzerhand einen „Krämerladen" Die Komintern konnte nur insofern ihren Zweck erfüllen, als sie als verlängerter Arm der Sowjetregierung von Nutzen war. über sie konnten die einzelnen kommunistischen Parteien dazu verpflichtet werden, alle Kriegsanstrengungen ihrer „bürgerlichen" Regierungen, die sich gegen die Sowjetunion richteten, zu vereiteln. 1927 erklärte Stalin in der ihm eigenen schlicht-plumpen Sprache: „Ein Internationalist ist, wer vorbehaltlos, ohne zu schwanken, ohne Bedingungen zu stellen, bereit ist, die UdSSR zu schützen. ..." Pointiert könnte man sagen, daß aus dem Offensivorgan, als das die Komintern ursprünglich geplant war, ein Instrument der Defensive wurde.

So wie die Dinge lagen, war es unausbleiblich, daß die Sektionen der Komintern „bolschewisiert", das heißt dem Bild der KPdSU nach-geschaffen wurden. Bereits 1920 hatte die Komintern damit begonnen, allen kommunistischen Parteien, die oft in ihrer Organisation durchaus demokratisch waren, das bolschewistische Organisationsmodell aufzudrängen. Da das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI), das gewissermaßen ein Zentralkomitee (ZK) im Weltmaßstab und der eigentliche brain trust der Organisation war, von Anfang an seinen Sitz in Moskau hatte, ergab sich die Beeinflussung der kommunistischen Weltbewegung ganz von selbst. Auf dem II. Kongreß der Komintern hatte P. Levi, der nach der Ermordung von R. Luxemburg und K. Liebknecht zum Führer der KPD geworden war, beantragt, das EKKI nach Deutschland zu verlegen. Noch schärfer war der Niederländer D. Wijnkoop, der das EKKI lieber in Italien oder Norwegen gesehen hätte und der davor warnte, die kommunistische Welt-bewegung ganz in das Kielwasser der russisehen Partei geraten zu lassen Sinowjew wollte jedoch so lange nichts von einer Verlegung der Exekutive wissen, als die proletarische Revolution noch nicht in einem anderen Land gesiegt hätte.

Auf dem V. Kominternkongreß (1924) wurde endlich mit der „Bolschewisierung" aller kommunistischen Parteien ernst gemacht. Seit 1929 hat es dann bis zum Auftreten Titos kaum noch eine ernsthafte Opposition gegen den Moskauer Kurs gegeben, wenn es auch in den einzelnen Parteien weiterbrodelte.

Wenn die Komintern vor 1933 keine Anstrengungen gemacht hat, um den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland zu verhindern, so lag das daran, daß Stalin Anfang der dreißiger Jahre den innenpolitischen Schwierigkeiten, der Zwangskollektivierung, der Agrarkrise, der Hungersnot und den oppositionellen Gruppierungen, seine ganze Aufmerksamkeit widmete. Die Probleme der Innenpolitik hatten bereits den absoluten Vorrang vor der Weltrevolution.

Wie eng die Sektionen der Komintern mit dem Schicksal der KPdSU verflochten waren, zeigte sich, als die große Säuberung (1936— 1938) über die Sowjetunion hereinbrach. Sowohl russische Parteifunktionäre wie auch ausländische Kommunisten wurden von der furchtbaren Blutwelle verschlungen. Am stärksten wurden die kommunistischen Parteien dezimiert, die in ihren Heimatländern verboten waren und deren Führer zum Teil in die Sowjetunion emigrieren mußten, also die polnische, ungarische, jugoslawische und deutsche Partei.

Je näher die Komintern ihrem Ende kam, desto hektischer überstürzten sich die Ereignisse. Der Hitler-Stalin-Pakt war für die Kommunisten in der gesamten Welt ein furchtbarer Schock. Kaum hatten sich die kommunistischen Parteien mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß die „Faschisten" plötzlich Partner der Sowjetunion geworden waren, als der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941 noch einmal eine Kursänderung der Komintern nötig machte: die „Faschisten" wurden wieder zum Hauptfeind des Kommunismus.

Im Mai 1943 erfuhren die meisten Kommunisten erst aus der Presse, daß die Komintern aufgelöst worden sei. Der eigentliche Grund für ihre Liquidierung dürfte darin zu suchen sein, daß Stalin, der ja im Zweiten Weltkrieg die Hilfe Großbritanniens und der USA brauchte, alle Besorgnisse vor einer kommu-nistischen Wühlarbeit beseitigen wollte. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß die KPdSU dennoch alle kommunistischen Parteien weiterhin kontrollierte, wenn auch nicht mehr so deutlich sichtbar wie zuvor.

10. Das kommunistische Lager

Im Zuge des Zweiten Weltkrieges gelang es der Sowjetunion, die jahrelange Isolierung zu durchbrechen und den Kommunismus russischer Prägung in andere Länder zu verpflanzen. Die Weltrevolution folgte im Troß der Roten Armee. Die Sowjets machten sich bald daran, die von ihnen besetzten Länder und Gebiete in kommunistische Satelliten unter der Flagge von „Volksdemokratien" zu verwandeln. Die Umwälzungen in Polen, Ostdeutschland, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Nordkorea kamen unter dem massiven Druck der sowjetischen Okkupationsmacht zustande. In der Tschechoslowakei, die 1945 nur sechs Monate lang von der Roten Armee besetzt gehalten war, konnten die einheimischen Kommunisten jedoch zum Teil dank ihrer eigenen Geschicklichkeit die Macht erringen, wenn natürlich der Staatsstreich vom Februar 1948 und der Fenstersturz in Prag auch ohne den Rückhalt der Sowjets kaum denkbar ist

Zum Teil begaben sich die osteuropäischen Kommunisten freiwillig in die Abhängigkeit Moskaus. Sie waren durch die harte Schule der Komintern gegangen, hatten jahrelang gläubig zum Vorbild der KPdSU aufgeblickt und trauten sich nach 1945, da sie ja bar jeder Erfahrung in der Leitung eines Staatswesens waren, ohne sowjetische Anleitung kaum an ihre neuen Aufgaben heran. Der Haß auf die Deutschen, aber auch die Furcht vor einer späteren Rache der Deutschen — besonders in Polen und der Tschechloslowakei — waren für die Kommunisten Osteuropas sicherlich nicht unerheblich, als sie die Anlehnung an die Sowjetunion suchten. Die Tatsache, daß die Westmächte die innenpolitischen Gegner der Kommunisten unterstützten, war für die Machthaber in den innerlich noch nicht gefestigten „Volksdemokratien" ein weiterer Grund, sich schutzsuchend um die russische Großmacht, die die einzige Garantie für ihre Herrschaft war, zu scharen.

Das Land in Südosteuropa, das praktisch ohne massive Unterstützung von außen kommunistisch wurde, war auch das Land, das sich als erstes der Kommandozentrale in Moskau entzog: Jugoslawien. Albanien, das ebenfalls ohne sowjetische Intervention den Weg der Revolution beschritt, allerdings von Jugoslawien unterstützt worden war, hat nach einer Reihe von Jahren der Sowjetunion ebenfalls die Gefolgschaft verweigert.

Schon 1943 hatten die Partisanen Titos Stalin die Stirn geboten und sich geweigert, mit der jugoslawischen Exilregierung in London zusammenzuarbeiten und die Rückkehr König Peters zu gestatten. Für den Kreml war der Gedanke, daß sich in Jugoslawien eine zweite, von der Sowjetunion unabhängige sozialistische Macht herausbilden könnte, unerträglich. So sehr hatte man sich in Moskau daran gewöhnt, die gesamte kommunistische Welt-bewegung zentral zu lenken, daß schon der geringste Grad der Selbständigkeit eines sozialistischen Landes als schwärzester Verrat galt. Die Interessen der Sowjetunion wurden ganz selbstverständlich mit den Interessen des Weltkommunismus identifiziert. Nadi 1945 glaubte Stalin, das Erstgeborenenrecht der Sowjetunion gebe seinem Land ein Recht auf die Hegemonie in dem sich formierenden kommunistischen Lager. Da er bislang mit jeder Opposition in seinem Land, in seiner Partei und in den Sektionen der Komintern auf seine brutale Art fertiggeworden war, wandte er seine Methoden bedenkenlos auch auf die jungen „Volksdemokratien" an. Sein Wort sollte für alle Kommunisten verbindlich sein. Wenn Stalin etwa Edward Kardelj erklärte, die Niederlande gehörten nicht zu den Benelux-Staaten, dann hatte man zu schweigen. Kardelj, der versuchte, dem zu widersprechen, erhielt von Stalin die klassische Antwort: „Wenn ich , nein’ sage, dann heißt das NEIN"

Die Sowjetunion versuchte rücksichtslos, hinter dem Rücken Titos in Jugoslawien Agenten zu werben und die wichtigsten Positionen mit Leuten ihrer Wahl zu besetzen. Die Mißachtung der nationalen Interessen und die Anmaßung der Sowjets führten in kürzester Zeit zur Entfremdung zwischen Belgrad und Moskau. In Georgien hatte Stalin 1922 die heimischen Kommunisten überrollen können in Jugoslawien gelang es nicht.

Als im September 1947 das Kominform (Kommunistisches Informationsbüro) gegründet wurde, verfolgte man in Moskau sicherlich auch die Absicht, die widerstrebenden Jugoslawen fester an die Zentrale zu binden. Das zeigt sich schon darin, daß Belgrad zum Sitz des Kominform gewählt wurde. Anders als die 1943 aufgelöste Komintern vereinigte das Kominform nur einige wenige Parteien des Weltkommunismus: sieben Parteien der osteuropäischen Länder (nicht eingeladen waren die SED und die albanische Partei) sowie die Parteien Frankreichs und Italiens. Es handelte sich also keineswegs um eine neue Internationale.

A. Shdanow und Stalin hofften, mit der neu-geschaffenen Institution die kommunistischen Parteien Osteuropas fester in den Griff zu bekommen und, gestützt auf ein zentralisiertes Imperium, eine massive Politik gegenüber den Westmächten treiben zu können. Der Kreml war offensichtlich bereit, die Welt an den Rand eines Krieges zu drängen. Tatsächlich gelang die Gleichschaltung der osteuropäischen Länder ziemlich rasch. Zwischen 1947 und 1949 wichen die partikularistischen Tendenzen in Osteuropa einer doktrinären Einförmigkeit. In Jugoslawien erlebten die Sowjets allerdings eine Schlappe, da Tito sich weigerte, dem demütigenden Diktat des Kreml Folge zu leisten. Im Juni 1948 brach das Kominlorm mit der jugoslawischen Partei. Aus dem Partikularismus Belgrads wurde durch diesen Ausschluß aus der Familie des Weltkommunismus ein Nationalkommunismus, der sich immer mehr vom sowjetischen Modell entfernte.

Der Kreml konnte nicht im Ernst daran denken, die Volksrepublik China, die am 21. September 1949 in Peking proklamiert wurde, so zu kontrollieren wie etwa die osteuropäischen „Volksdemokratien". Er hat daher von Anfang an auf eine derart rücksichtslose Eimischung, wie er sie im Fall Jugoslawien versucht hatte, verzichtet. Die Kontrolle eines solchen Riesen-reiches überstieg die Kraft der Sowjets. Das chinesische Regime war ein einheimisches Gewächs, denn die KP Chinas hatte den Sieg im wesentlichen aus eigener Kraft errungen, wenn ihr auch von den 1945 in der Mandschurei eingerückten Sowjetarmeen Unterstützung zugekommen war. Seit 1927 hatte Moskau im chinesischen Kommunismus nur noch einen Verbündeten, aber keinen willenlosen Satelliten mehr. Damals hatte Stalin gegen alle Vernunft die chinesischen Kommunisten aufgefordert, am Bündnis mit der Kuomintang, der nationalistischen Partei, festzuhalten. Die KP Chinas hatte diesen Rat aus Moskau mit enormen Opfern bezahlen müssen. Mao Tse-tung war 1935 zum Führer der KP Chinas aufgerückt, ohne daß man die Sowjets gefragt hatte — in der Praxis der Komintern eine Sensation Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg riet Stalin den chinesischen Kommunisten, mit der Kuomintang Tschiang Kai-scheks einen modus vivendi zu suchen. Die chinesischen Kommunisten hörten sich geduldig die Ratschläge der Russen an, zu Hause aber trieben sie ihre Politik und jagten auf eigene Faust und ohne den Segen Stalins die Kuomintang vom Festland. Stalin hat früh eingesehen, daß er die Dynamik des chinesischen Kommunismus unterschätzt hatte und gab seine Fehlkalkulation zu.

Zunächst erkannte Mao Tse-tung die führende Rolle der KPdSU innerhalb des Weltkommunismus durchaus an. Er folgte, als er seine Macht begründete, auf weiten Strecken dem russischen Vorbild und begnügte sich dem Anschein nach mit der Rolle des „kleineren Bruders". 1955 erwies Molotow Mao seine Reverenz, als er erklärte, daß das „Weltlager des Sozialismus" von der Sowjetunion und der Volksrepublik China geführt werde. Nicht genug damit, Chruschtschow bequemte sich auf dem XX. Parteikongreß der KPdSU (1956), den Partisanenkrieg der Chinesen als einen Weg zur Macht anzuerkennen, der auch von anderen Parteien beschritten werden könnte.

Das kommunistische Lager war und ist — wenn man von Kuba absieht — eine einzige zusammenhängende Landmasse. Die Rükkendeckung durch ein sozialistisches Land ist bei allen kommunistischen Umwälzungen nach 1945 sowohl in Asien wie auch in Europa von ausschlaggebender Bedeutung gewesen. Auch Ho Chi Minh hätte sich gewiß nicht in Nordvietnam halten können, wenn sein Land nicht eine gemeinsame Grenze mit China gehabt hätte und die Partisanen Maos nicht den „Viet Minh" mit Waffen und Munition unterstützt hätten. Bereits am 2. September 1945 hatte Ho Chi Minh in Hanoi die „Demokratische Republik Vietnam" ausgerufen. Aber erst nach einem blutigen Krieg gegen Frankreich, der 1954 durch das Abkommen von Genf beendet wurde, konnte er seine Macht konsolidieren. Nordvietnam ist das einzige Land, dessen Kampf gegen die Kolonialherrschaft von Kommunisten geleitet wurde

Nach Nordvietnam stieß nur noch Kuba zum kommunistischen Lager. Die Revolution Fidel Castros war ein absolutes Novum in der Geschichte des Weltkommunismus. Castro war, als er im Januar 1959 als Sieger in Havanna einzog, kein Mitglied der kommunistischen Partei. Erst Ende 1961 bekannte er sich offen zum Marxismus-Leninismus und im folgenden Jahr wurde Kuba von den Sowjets als sozialistisches Land akzeptiert. Die Kommunistische Partei Kubas hatte bei der Revolution nicht die führende Rolle gespielt, sie ging 1961 in einer provisorischen Staatspartei auf, die ihrerseits zur Bildung einer marxistisch-leninistischen Einheitspartei führen sollte. Im April 1962 schrieb die „Prawda": „Der Aufbau einer einheitlichen marxistisch-leninistischen Partei in einem Lande, in dem die Revolution erst vor drei Jahren gesiegt hat, ist keine leichte Sache." Ein denkwürdiger Satz. Offensichtlich führen viele Wege nach Moskau.

11. Der XX. Parteikongreß und seine Folgen

Die Erben Stalins erkannten, daß die bedingungslose Unterwerfung der kommunistischen Parteien unter die Disziplin und den Willen der KPdSU in der alten Form nicht mehr praktizierbar war. Chruschtschow verlangte nur noch die Anerkennung der ideologischen Autorität der KPdSU. Im Mai 1955 reisten Chruschtschow und Bulganin nach Belgrad. Es war, wie man einmal gesagt hat, als ob der Papst nach Wittenberg gefahren wäre, um im Gespräch mit Luther eine Lösung der strittigen Fragen zu suchen. Die Jugoslawen waren zwar zu einer Normalisierung der staatlichen Beziehungen bereit, widersetzten sich aber der Aufnahme von Parteibeziehungen, die nicht ohne Abstriche der eigenen Position möglich gewesen wären.

Der XX. Parteikongreß der KPdSU (Februar 1956) eröffnete, wie rückschauend deutlich wird, eine neue Ära des internationalen Kommunismus. Chruschtschow verkündete, daß jede kommunistische Partei gemäß den nationalen Besonderheiten ihren eigenen Weg zur Macht finden müsse. Die Sowjetführer sprachen sogar von der Möglichkeit, auf parlamentarischem Weg zum Sozialismus zu gelangen. Wenn man sich vor Augen hält, daß die Sowjets bislang die Oktoberrevolution von 1917 zum Vorbild für alle kommunistischen Parteien erklärt hatten, so war die These vom unterschiedlichen Weg zum Sozialismus ein Beweis dafür, daß man versuchte, sich der EntWicklung im internationalen Kommunismus anzupassen.

Der dramatische Höhepunkt des XX. Parteikongresses war jedoch die Demontage des Stalinkults. Als Chruschtschow in seiner Geheimrede den toten Diktator der schlimmsten Verbrechen beschuldigte, mochte er davon überzeugt sein, zum Wohle seines Landes zu handeln und von der sowjetischen Bevölkerung den Druck des Stalinregimes nehmen zu müssen. Keiner konnte damals ahnen, daß er mit seiner Philippika gegen den Stalinismus den Anlaß zum chinesisch-sowjetischen Konflikt bot. Objektiv gesehen war die Rede Chruschtschows — aus welchen Gründen auch immer sie gehalten wurde — und die daran anknüpfende Entstalinisierung ein Aufbruch in eine hellere Zukunft. Machtpolitisch war der Kampf gegen den Stalinkult ein Fehler. Wenn Stalin zwischen 1934 und 1953 ein Tyrann und Despot war, wie Chruschtschow sagte, dann war die Unfehlbarkeit der KPdSU in Frage gestellt. Niemand konnte dann noch eine Garantie dafür geben, daß sich die Verbrechen der Stalinzeit nicht wiederholen würden. Wenn die KPdSU unter Stalin Fehler begangen hatte, dann konnte sie, das ist die notwendige Folgerung, auch später irren.

Die Reaktion auf den XX. Parteikongreß ließ nicht auf sich warten. Am 17. April 1956 wurde das Kominform aufgelöst, sicher in der Hoffnung, damit eine Annäherung an die Sozial-demokraten und an die jugoslawischen Kommunisten zu ermöglichen. Die Entstalinisierung ging von allen kommunistischen Staaten in Polen am weitesten. Der bis dahin linientreue italienische Kommunist P. Togliatti nahm die Gelegenheit wahr, sich von Moskau etwas zu distanzieren Seit dieser Zeit geht im „sozialistischen Lager" und in der kommunistischen Weltbewegung das Gespenst des Polyzentrismus um. Wohin die stürmische Entstalinisierung führte, zeigte der Arbeiteraufstand in Posen im Juni 1956 und die ungarische Revolution. Die Regierung Imre Nagy kündigte am 1. November 1956 den War-schauer Pakt und erklärte die Neutralität Un-garns. Mit anderen Worten, das nationalkommunistische Regime lehnte die Zugehörigkeit zum Sowjetlager ab. Der Artilleriebeschuß durch die Sowjets war die Antwort des Kreml. Für die kommunistische Welt war die blutige Niederschlagung der ungarischen Revolution ein neuer Prestigeverlust.

Hatten die chinesischen Kommunisten schon das vorher nicht mit den „Bruderparteien" abgesprochene Geheimreferat Chruschtschows auf dem XX. Parteikongreß mit Bestürzung zur Kenntnis genommen, so scheinen sie angesichts der Unsicherheit, der ideologischen Widersprüche und der Zickzackpolitik der Sowjets den Glauben an die KPdSU verloren zu haben. Nach den Eruptionen in Ungarn und Polen glaubte Peking, sich nicht mehr auf die Führung und Weisheit der KPdSU allein verlassen zu dürfen. Tschou En-lai wurde im Januar 1957 nach Warschau und Budapest geschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Zum ersten Mal griffen die Chinesen in das Rad des Steuers, an dem bisher die Sowjets allein gestanden hatten.

Das Moskauer Konzil der 81 kommunistischen Parteien im November 1960 war ein weiterer Wendepunkt in der Geschichte des internationalen Kommunismus. Bis dahin hatte Moskau noch versteckt oder offen in die Belange der ausländischen Parteien hineindirigieren können. Als die Kommunistische Partei Polens Stalin suspekt erschienen war, hatte er sie 1938 kurzerhand durch eine Resolution des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale für aufgelöst erklären lassen. 1948 war Jugoslawien auf Betreiben Stalins aus dem Kominform ausgeschlossen worden.

Die „Erklärung der 81" vom November 1960 machte der bislang geltenden Regel „Moskwa locüta, causa finita" ein Ende. In ihr hieß es: „Alle marxistisch-leninistischen Parteien sind unabhängig und gleichberechtigt; sie arbeiten ihre Politik aus, indem sie von den konkreten Bedingungen ihrer Länder ausgehen und sich von den Prinzipien des Marxismus-Leninismus leiten lassen, und erweisen einander Unterstützung." Ein solcher Satz wäre zur Zeit der Komintern ein Lippenbekenntnis ohne Konsequenzen geblieben. 1960 aber wurde ein solches Wort die Rechtfertigung für alle Dezentralisierungsbestrebungen.

Wie die Chinesen hämisch erklärten, hat die KPdSU auf der Beratung von 1960 insofern ihr Gesicht verloren, als sie erstmals in ihrer Geschichte seit 1917 gezwungen war, sich einer schärferen Kritik ausländischer Parteien zu beugen. Der Kommentar der Chinesen: „Damit änderte sich die völlig anomale Situation, wonach nicht die geringste Kritik an den Fehlern der Führer der KPdSU zugelassen war und deren Wort als endgültig galt."

In der „Erklärung der 81" wurde weiter gesagt, daß man bei Meinungsverschiedenheiten zwischen zwei „Bruderparteien" zunächst versuchen sollte, die strittigen Fragen auf dem Wege zweiseitiger Konsultationen und Zusammenkünfte zu lösen. Keine Klärung wurde 1960 in der Frage erreicht, wie man bei auftauchenden Meinungsverschiedenheiten Recht und Unrecht zu ermitteln habe. Die KPdSU wünschte, alle Beschlüsse, die eine einfache Mehrheit auf einer Weltkonferenz fänden, sollten für die Parteien der kommunistischen Weltbewegung bindend sein. Die chinesischen Kommunisten dagegen verlangten Einstimmigkeit in allen Beschlüssen zur Ideologie. Sie hielten den russischen Kommunisten entgegen: „Auf welches überparteiliche Statut stützt sich das ZK der KPdSU, wenn es ein derartiges Organisationsprinzip aufstellt? Wann und wo haben denn die kommunistischen und Arbeiterparteien aller Länder ein solches überparteiliches Statut angenommen?" 45

12. Ein neues Zentrum: Peking

Die unglücklichen Erfahrungen, die die KP Chinas mit der Moskauer Zentrale gemacht hatte, veranlaßten Mao Tse-tung bereits 1938, gegen eine bedingungslose Übernahme eines europäisch orientierten Marxismus Stellung zu beziehen. Auf dem 6. Plenum des ZK der KP Chinas erklärte er, man müsse den Marxismus sinifizieren. Und weiter: „Man muß Schluß machen mit den neunmalklugen Essays über ausländische Modelle ..

Zwei Jahre später äußerte sich Mao noch drastischer: „Aber mit allem, was ausländisch ist, muß man verfahren wie mit der Nahrung, die zunächst im Mund zerkaut, im Magen und Darm verarbeitet, mit Speichel, mit Magen-und Darmsaft durchfeuchtet und dann geteilt wird in Ausscheidungen, die beseitigt werden, und in einem Extrakt, der aufgenommen wird . . .. Bei der Anwendung des Marxismus in China müssen die chinesischen Kommunisten in gleicher Weise die allgemeinen Wahrheiten des Marxismus . .. mit den nationalen Besonderheiten Chinas verbinden ..

Anfang 1946 war das Selbstbewußtsein der Chinesen bereits so gestiegen, daß Liu Schaotschi sagen konnte, Mao habe die asiatische Form des Marxismus geschaffen. Der chinesische Weg solle für Südostasien Vorbild sein.

Stalin starb früh genug, um von den Chinesen auch weiterhin als Autorität anerkannt zu bleiben. Lebte er heute noch, so wäre es trotzdem zu dem großen Schisma gekommen. 1956, zumindest aber 1957 war die Zeit reif für ein Auseinanderrücken der kommunistischen Kolosse. Der Reformkommunismus, wie er von den Erben Stalins vertreten wurde, war der Versuch, die von Stalin übernommene Sowjetideologie den innenpolitischen Erfordernissen einer modernen Industriegesellschaft und den außen-politischen Notwendigkeiten einer immer mehr erstarkenden Großmacht anzupassen. Die KP Chinas dagegen befand sich in einem ähnlichen Stadium des revolutionären Elans wie die bolschewistische Partei nach 1917. Voller Mißtrauen beobachten die Chinesen die Tendenzen in der Sowjetunion, die auf eine Hebung des Lebensstandards abzielten. Ein solcher Hang zum Materiellen mußte in Peking als ein Abfall vom puritanischen Ideal der Weltrevolution erscheinen.

Als Chruschtschow Ende 1959 nach seinem Gespräch in Camp David lobende Worte für Eisenhower fand und sich eine Annäherung der Sowjetunion an die USA anzubahnen schien, müssen die chinesischen Kommunisten zu dem Schluß gekommen sein, daß die Sowjetführer den nationalen Interessen alle Verpflichtungen im Weltkommunismus unterordnen. Da die Sowjets am 20. Juni 1959 ein Abkommen über die technische Verbesserung der nationalen Verteidigung zerrissen und sich geweigert hatten, China beim Bau von Atomwaffen zu helfen, konnte man in Peking annehmen, daß sich Chruschtschow mit den USA hinter dem Rücken Chinas arrangierte. In der Zeit von Juli bis August 1960 holte der Kreml 1390 russische Spezialisten nach Hause und blockierte so 257 wissenschaftliche und technische Unternehmungen. Im Grenzkonflikt mit Indien Ende 1962 fühlte sich Peking durch die Sowjets, die sich um eine neutrale Position bemühten, im Stich gelassen, ja verraten.

Nach dem Atom-Teststopp-Vertrag, der im Juli 1963 in Moskau paraphiert wurde, erreichte die Polemik zwischen der KPdSU und der KP Chinas einen neuen Höhepunkt. Dieser Vertrag war für Peking das Tüpfelchen aufs i: ein Beweis dafür, daß sich die Sowjets mit den USA verbündet hätten, um Peking den Griff nach Atomwaffen zu verwehren und damit die Volksrepublik China für immer zu einem Staat zweiten Ranges zu verurteilen. In der Tat war man im Kreml zu der Erkenntnis gekommen, daß das kommunistische China, dessen fatales Sendungsbewußtsein keine Grenzen mehr zu kennen schien, eine große Gefahr für die Welt bedeuten würde, wenn es über Nuklearwaffen verfügte. Die Befürchtungen der Sowjets waren angesichts der maßlosen Sprache und der Aggressivität der chinesischen Ideologie mehr als begründet.

Für Peking war die KPdSU degeneriert. In einem chinesischen Kommentar hieß es schließlich, Chruschtschow habe bewußt den Weg der Restauration des Kapitalismus beschritten. Chruschtschow habe die Einkommensunterschiede zwischen den Arbeitern, den Bauern und der Intelligenz auf der einen Seite und der privilegierten Schicht andererseits immer weiter aufgerissen. Neben der Kaste der Privilegierten glaubten die Chinesen eine neue Bourgeoisie erkennen zu können, die aus Schiebern und heimlichen Neokapitalisten bestünde. Nach chinesischen Schätzungen umfaßt die privilegierte Schicht in der Sowjetunion zehn Prozent der russischen Bevölkerung, also immerhin eine Gruppe von mehr als 20 Millionen Personen.

So gesehen, erhält die Zwischenzonentheorie, die seit 1964 vorsichtig lanciert wurde, ihre volle Bedeutung Die Theorie Mao Tsetungs brach einige Länder mit rein kapitalistischer Struktur aus dem Block des „Imperialismus" heraus und siedelte sie in einer der beiden Zwischenzonen zwischen den beiden Fronten an. Der ersten Zwischenzone ordnete Mao alle nichtsozialistischen Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zu, der zweiten die nichtkommunistischen Länder Europas, Kanada, Japan und Australien.

Mao Tse-tung sagte dann wörtlich: „In der jetzigen Welt wollen zwei Großmächte, nämlich die USA und die UdSSR, in gutem Einvernehmen die ganze Welt beherrschen." Wie man in Moskau gleich erkannte, hatte Mao Tse-tung damit eine denkwürdige Umwertung aller Werte vollzogen. Die Sowjetunion war praktisch aus dem „sozialistischen Lager" ausgebootet und den USA an die Seite gestellt worden. Der eigentliche Kampf spielte sich also nicht mehr zwischen Moskau und Washington ab, sondern zwischen Peking und Washington. Die chinesischen Kommunisten machten sich damit zum Wortführer des internationalen Kommunismus.

Peking bemühte sich angestrengt, alle antiamerikanischen Strömungen auf seine Seite zu ziehen und so die USA (den erklärten Haupt-feind der chinesischen Kommunisten) von ihrem Hinterland abzuschneiden. So fand der eigenwillige Kurs de Gaulles die volle Billigung der Rotchinesen. Sogar der Bundesrepublik schien man von chinesischer Seite im Zuge der neuen Konzeption der Außenpolitik zunächst Avancen zu machen.

Mao Tse-tung prangerte nicht nur die USA an, die ihre Hände nach Japan, Südkorea, den Philippinen, Thailand, nach Kanada, Lateinamerika, Europa und Afrika ausstreckten, er sprach im selben Atemzug von dem großen territorialen Appetit der Russen. Es zeigte sich wieder, daß man die USA und die UdSSR auf die gleiche Stufe stellte. Mao sagte von den Sowjets: „Sie haben sich einen Teil Rumäniens angeeignet. Sie trennten einen Teil Ostdeutschlands ab und vertrieben die Einheimi-sehen nach dem westlichen Teil. Sie trennten einen Teil Polens ab, schlossen ihn Rußland an und gaben als Entschädigung Polen einen Teil Ostdeutschlands. Dasselbe geschah mit Finnland. Sie trennten alles ab, was sie abtrennen konnten." Mao ließ auch nicht unerwähnt, daß vor ungefähr hundert Jahren das Gebiet östlich des Baikalsees zum Territorium Rußlands geschlagen wurde.

Indem Mao die Frage der sowjetischen Annexionen aufwarf, versuchte er offensichtlich, der Sowjetunion die Staaten im europäischen Ostblock abspenstig zu machen, zumindest aber hier Zwietracht zu säen.

Nachdem man in China erklärt hatte, daß die sowjetischen Führer die Sache des Weltkommunismus verraten hätten, konnte es nicht ausbleiben, daß sich Peking bemühte, zum Kristallisationspunkt der „Marxisten-Leninisten" zu werden. Anfang 1963 standen nur die Albaner und Nordkoreaner auf der Seite Pekings, im Laufe des Jahres zeigten sich aber immer stärker prochinesische Tendenzen in den Parteien Indonesiens, Japans, Neuseelands und Nordvietnams. Für Moskau waren diese chinafreundlichen Parteien genauso gefährlich wie die „neutralistischen" Parteien, die im Schatten des Peking-Moskau-Konflikts lavierten und mit der Zeit eine immer größere Autonomie erlangten. Am erfolgreichsten waren die Rumänen, die sich nicht nur den sowjetischen Plänen für eine wirtschaftliche Integration entzogen, sondern auch offen gegen das sowjetische Übergewicht im sozialistischen Staatensystem polemisierten.

Um einer weiteren Erosion ihrer Autorität im Weltkommunismus zu begegnen, versuchte die KPdSU 1963 ein neues „Konzil" aller kommunistischer Parteien zustande zu bringen. Offensichtlich sollten die Chinesen auf diesem Konzil in Acht und Bann getan werden. Die Parteien Italiens und Rumäniens erhoben jedoch gegen dieses Vorhaben, das sie an die Praktiken Stalins erinnerte, Einspruch. Bis zum heutigen Tag gelang es der KPdSU nicht, ein neues „Konzil" einzuberufen. Es kam im März 1965 nur ein „Konsultativtreffen" zustande, das eigentlich das große Gipfeltreffen der kommunistischen Parteien vorbereiten sollte. Nur 18 der 25 von der KPdSU eingeladenen Parteien kamen nach Moskau. Nicht erschienen waren die Chinesen, Albaner, Nord-koreaner, Nordvietnamesen, Rumänen, Indonesier und Japaner. Lange war es sogar fraglich, ob die britische und die kubanische Partei an der Konferenz teilnehmen würden. In dem Kommunique des Konsultativtreffens wurde bereits kein Wort mehr über die Führungsrolle Moskaus verloren. Nur die „Autonomisten", vor allem die Italiener und Rumänen, konnten mit dem Ergebnis der Konferenz zufrieden sein.

Damals, im März 1965, folgten neun Parteien der Fahne Pekings: Albanien, Indonesien, Japan, Korea, Laos, Neuseeland, die Philippinen, Thailand und Nordvietnam. Hinzu kamen 16 prochinesische Splitterparteien, die sich von den moskautreuen Parteien abgespalten hatten.

Ihre größten Erfolge glaubten die Chinesen jedoch in der Dritten Welt, in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas erringen zu können. War der internationale Kommunismus bisher zu sehr auf Europa ausgerichtet, so drehten die Chinesen jetzt den Spieß um und erklärten die Länder der Dritten Welt zu den eigentlichen Sturmzentren der Revolution. Hatte es früher geheißen, daß erst nach dem Sieg des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern Europas den ehemaligen Kolonien die volle Unabhängigkeit gegeben werden könnte, so verkündete Peking 1963: Ohne die Unterstützung der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas könnten sich die Länder Europas und Nordamerikas nicht vom kapitalistischen Joch befreien Das war eine unerhörte Umkehrung des Marxismus. Die Sowjets ihrerseits waren nicht bereit, den Chinesen ein Monopol des „farbigen Kommunismus" einzuräumen und verdächtigten ihre Rivalen sogar offen der Neigung zum Rassismus

Die Gewinne der Chinesen waren freilich nicht von langer Dauer. Was so schnell errungen war, wurde genau so schnell verspielt. Seit dem Sturz Chruschtschows begann für Peking eine Serie von Fehlschlägen. Die Arena, in der die Sowjets den Konflikt mit Rotchina im Jahre 1965 austrugen, war zum Teil Afrika. Mit seinen 36 Staaten war der Schwarze Kontinent in der Weltpolitik von ausschlaggebender Bedeutung. Die sowjetischen Diplomaten bemühten sich wesentlich unaufdringlicher als die Chinesen um die Gunst der Afrikaner. Der Kreml hatte zwar schon 1964 fast resignierend auf die Teilnahme an der zweiten Bandung-Konferenz verzichtet. 1965 hatte sich seine Stellung in der Dritten Welt jedoch gebessert, als sich Nasser und Boumedienne zur großen Enttäuschung der Chinesen für eine Einladung der UdSSR zum Gipfeltreffen der afro-asiatischen Staats-und Regierungschefs aussprachen. Eine Reihe von afrikanischen Staaten wies die rot-chinesischen Botschafter aus. Falls die Chinesen beim Putsch des Oberstleutnant Untung in Indonesien ihre Hände im Spiel gehabt haben sollten — wenn auch nur als Berater —, dann hatte dieser unbedachte Ratschlag für sie bittere Folgen. Die starke Kommunistische Partei Indonesiens, die im chinesisch-sowjetischen Konflikt auf Seiten Pekings gestanden hatte, wurde praktisch zerschlagen.

Die Pechsträhne der Chinesen sollte nicht abreißen. Als die Emissäre Mao Tse-tungs ihr Propagandamaterial an die kubanischen Streitkräfte verteilten, verwahrte sich Castro Anfang 1966 gegen „eine bestimmte Art von Altersschwachsinn", ohne aber den damals 72jährigen Mao direkt beim Namen zu nennen. Pekings Hang zum Putschismus, die plumpe Art der Bevormundung anderer Parteien, der ideologische Hochmut und nicht zuletzt das abstoßende Schauspiel der „Kulturrevolution" taten das ihre, um die Anhängerschaft Rot-chinas zusammenschrumpfen zu lassen. Die Kommunistische Partei Japans löste ihre engen Bande zu Peking, Nordkorea scherte aus dem „chinesischen Lager" aus

Nur in einem einzigen Fall haben die Chinesen noch einen Fuß in der Tür der großen Weltpolitik: in Vietnam. Da aber auch in Hanoi Kräfte am Werk sind, die Nordvietnam nicht so stark nach Peking ausgerichtet sehen möchten steht für die chinesischen Kommunisten viel auf dem Spiel. Vietnam ist für Rotchina das Versuchsfeld, auf dem demonstriert werden soll, daß die revolutionären Möglichkeiten noch bei weitem nicht ausgeschöpft sind. Für die chinesischen Ideologen sind die Vereinigten Staaten und der „Imperialismus" dem Tode geweiht. Peking weist immer wieder darauf hin, daß die Atomwaffen der Amerikaner unwirksam seien, da sie die revolutionären Bewegungen in Algerien und Kuba nicht verhindert hätten.

Seit dem Frühjahr 1965 ist zu den bisherigen Streitfragen in der Auseinandersetzung zwischen Moskau und Peking der Vietnamkrieg als Konfliktstoff getreten. Anfang 1965 soll Kossygin bei einer Zwischenlandung in Peking erklärt haben, man müsse den Vereinigten Staaten helfen, einen Ausweg aus Vietnam zu finden Die Chinesen konnten jedoch bislang alle Versuche der Sowjets, den Vietnamkrieg auf diplomatischem Wege zu lösen, mit Erfolg torpedieren. Sie wollen um jeden Preis die Durchschlagskraft der Guerillataktik demonstrieren und sind offensichtlich entschlossen, bis zum letzten Vietnamesen zu kämpfen.

Die Sowjets müssen, wenn sie sich nicht der Kritik der kommunistischen Staaten aussetzen wollen, Hanoi mit allen Kräften unterstützen. Im Kreml weiß man jedoch, wie wenig Einfluß man auf Ho Chi Minh ausüben kann Den sowjetischen Führern ist bekannt, daß ihre Hilfe an die vietnamesischen Kommunisten dazu beitragen könnte, den chinesischen Vorstellungen vom Befreiungskampf in der Dritten Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Wenn Peking mit seiner Taktik des Guerillakampfes im vietnamesischen Dschungel siegreich wäre, könnte es sich erneut als Wortführer der radikalen Elemente Asiens, Afrikas und Lateinamerikas empfehlen. Die vom Kreml betriebene Form der „friedlichen Koexistenz" und die vorsichtig-abwartende Politik gegenüber der farbigen Welt wäre in diesem Fall nicht mehr für alle Kommunisten glaubwürdig.

Umgekehrt jedoch wäre der Gang der nordvietnamesischen Kommunisten an den Verhandlungstisch ein Beweis für die Erfolglosigkeit der chinesischen Vorwärtsstrategie. China wird, so darf man erwarten, daher seine ganze Macht in die Waagschale werfen, damit der Krieg in Vietnam weitergeführt wird.

Peking hat zwar zur Zeit seine Attraktivität als zweites Zentrum im Weltkommunismus eingebüßt, aber es bleibt dennoch für die russischen Kommunisten als potentielles Sammelbecken eines „farbigen Kommunismus" eine latente Gefahr. Die Sowjets sind daher bestrebt, trotz aller Spannungen in den Beziehungen zum chinesischen Nachbarn es nicht zum Äußersten kommen zu lassen. So haben sie die diplomatischen Beziehungen zu Peking noch nicht abgebrochen, obwohl die beispiellosen Belästigungen, Demütigungen und Mißhandlungen ihres Botschaftspersonals in der chinesischen Hauptstadt ihnen dazu Grund genug gegeben hätten. Im Falle Israels war der Kreml wesentlich schneller mit dem Abbruch der Beziehungen bei der Hand.

Die sowjetischen Führer hoffen, daß sie durch die Präsenz ihres Landes in Peking für die Gegner Mao Tse-tungs eine moralische Unterstützung sind. Nachdem Mao für die KPdSU als Gesprächspartner ausgeschieden ist, setzt man in Moskau eindeutig auf Liu Schao-tschi, von dem man eine konziliantere Außenpolitik erwartet. Die sowjetischen Politiker wiegen sich noch in dem Glauben, daß die augenblicklichen Konvulsionen auf dem chinesischen Festland nur eine vorübergehende Erscheinung sind, die mit den Jahren abklingt. Wenn aber auch der Nachfolger Maos den Sowjets die kalte Schulter zeigen sollte, könnte die Desillusionierung in Moskau zu einer neuen Betrachtung der „sozialistischen" Staaten und unter Umständen auch zu einer Wendung in der Außenpolitik führen.

13. Weltrevolution heute?

Marx hatte der Geschichte aus der Hand gelesen und den Industriestaaten Europas die proletarische Revolution prophezeit Die „proletarische“ Revolution siegte jedoch zunächst in einem Agrarstaat, in Rußland. Zwar hatten Marx, Kautsky, Lenin und Trotzkij schon vor 1917 die Möglichkeit ins Auge ge-faßt, daß in Rußland die Weltrevolution beginnen würde, aber sie hatten immerhin geglaubt, daß von Petrograd der revolutionäre Funke nach Deutschland, Frankreich und England überspringen würde. Jedoch gerade dort, wo die Kommunisten ihre größten Triumphe hätten feiern müssen, waren sie entweder keine politische Kraft, in Chicago und Birmingham, oder aber sie wurden geschlagen, in Hamburg und Schanghai.

Wenn es schon die russischen Kommunisten nachdenklich stimmen mußte, daß der Marxismus-Leninismus so wenig Anklang in den europäischen Industriestaaten fand, so hätten sie noch mehr durch die Tatsache irritiert sein müssen, daß die Kommunisten ohne staatliche Hebammenhilfe der Sowjets wiederum nur in Agrarstaaten zur Macht kamen: in Jugoslawien, Albanien, China, Nordvietnam. (Kuba allerdings war eine Ausnahme. Hier lebten 50 bis 60 Prozent der Gesamtbevölkerung in den Städten, dennoch war Kuba kein vollentwickelter Industriestaat.)

A. Ulam stellte angesichts dieses Paradoxons die These auf, daß der „Marxismus" die natürliche Ideologie von unterentwickelten Gesellschaften sei. Das aber würde zugleich bedeuten, daß der „Marxismus" beispielsweise nach der forcierten Industrialisierung der Sowjetunion als weitgehend akzeptierte Ideologie an Boden verlieren würde: „Der Marxismus . . . hat seine Hauptarbeit in Rußland geleistet. Von jetzt an werden wahrscheinlich seine weiteren Ziele und Formeln in wachsendem Maße der Mehrheit der sowjetischen Bürger und sogar den Parteimitgliedern als künstlich erscheinen." Ulam bleibt sich bei seiner These bewußt, daß die Parteiführung selbstverständlich am Marxismus-Leninismus, der ihre Herrschaft legitimiert, weiter festhalten wird. Daß die Intelligenzija in der Sowjetunion inzwischen ihre eigenen Wege geht und sich dem Dogmatismus der Partei entzieht, zeigt das mutige Auftreten der russischen Schriftsteller und Dichter. Als Kronzeugen für die Ansicht Ulams könnte man schließlich sogar die chinesischen Kommunisten aufrufen, die die Sowjets ja schon des längeren beschuldigen, in breiter Front vom Marxismus-Leninismus abgefallen zu sein. überblickt man unbefangen die Entwicklung des sowjetischen Rußland von 1917 bis 1967, so springt die Wandlung vom revolutionärem Elan der Gründerjahre zum Geist des Bewahrens in der heutigen Generation der kommunistischen Führer geradezu ins Auge. Die dramatischen Zeiten der Komintern sind vorbei. Es gibt keine zuversichtlichen Aufrufe „An alle, alle" mehr. Heute hält kein K. Radek in Moskau mehr eine so glühende Rede auf die beginnende Revolution in Westeuropa, daß man seine Brillengläser bis ins Ruhrgebiet blitzen sieht. Die Erwartung, daß das europäische Proletariat sich über Nacht zum Aufstand erheben wird, ist verblaßt. Der Kreml erwartet im Augenblick von der Bundesrepublik keine Revolution, sondern die Anerkennung Pankows. * 1918 hatte der Bolschewist G. Sokolnikow stolz erklärt: „Die Geschichte zeigt klar, daß das Salz der Erde sich allmählich nach Osten verschiebt. Im 18. Jahrhundert war Frankreich das Salz, im 19. Jahrhundert Deutschland, und jetzt ist es Rußland." Heute aber liegt der Schwerpunkt der Weltrevolution nicht mehr in Moskau. Peking und Havanna wollen die neuen Erdbebenzentren sein. In Kuba und in China macht man kein Hehl daraus, daß man die schwache Flamme der Weltrevolution beleben will. Die Sowjets, inzwischen allen verfrühten Aktionen und dem Putschismus stark abgeneigt, betrachten den chinesischen und kubanischen Unruheherd mit einiger Besorgnis. Die lendenlahmen Erklärungen der KPdSU zur Zerschlagung der KP Indonesiens legen den Verdacht nahe, daß man in Moskau mehr den Zerfall der nationaldemokratischen Einheit in Djakarta bedauerte als die Maßnahmen gegen die indonesischen Kommunisten, die ohnehin nicht hoch in der Gunst der Sowjets standen, da sie für Peking Partei ergriffen hatten.

Auf der Konferenz der „Organisation lateinamerikanischer Solidarität" in Havanna (31. Juli bis 10. August 1967) grenzte sich Fidel Castro scharf gegen den Quietismus der kommunistischen Parteien ab, die sich Moskau verbunden fühlen. „Man hat die revolutionären Gedanken in eine Zwangsjacke gesteckt", rief Castro den Delegierten zu. Auf dieser Konferenz wurde sowohl die technische wie auch finanzielle Hilfe, die die Sowjetunion den nichtkommunistischen Regierungen Lateinamerikas gewährt, scharf angegriffen. Die Sowjetunion hat allen Grund, sich gemäßigt in Lateinamerika zu geben. Die kostspielige Erfahrung, die die UdSSR mit Castro gemacht hat — die Sowjets dürften schätzungsweise 1, 2 Milliarden Mark im Jahr für Kuba aufbringen —, lassen es den Kreml offensichtlich geraten erscheinen, in Lateinamerika Geschäfte zu machen und keine Revolutionen.

Im Jubiläumsjahr 1967 gibt sich die Sowjetunion alle Mühe, die Risse im Weltkommunismus und im kommunistischen Lager nach Möglichkeit zu vertuschen. Wenn jedoch der träg dahintreibende Fluß der „Weltrevolution" in den nächsten Jahren nicht neuen Zustrom erhält, werden die sowjetischen Führer umdenken müssen. Teilweise zeigt sich schon heute eine gewisse Ernüchterung in der Beurteilung der revolutionären Möglichkeiten. Die vor wenigen Jahren noch so hochgeschraubten Er- Wartungen in bezug auf den revolutionären Prozeß in Afrika sind einer realistischeren Einschätzung der Lage gewichen Man hat in Moskau erkannt, daß die kommunistischen Parteien in Afrika, sofern sie überhaupt existieren, kaum eine Chance haben, den Gang der Entwicklung entscheidend zu bestimmen. Auf keinem Erdteil ist der Kommunismus so wenig verwurzelt wie gerade hier. Der Kreml ist inzwischen mehr an guten Beziehungen zu den „revolutionären Demokraten" wie Nasser und Boumedienne interessiert als an den Kommunisten in Ägypten und Algerien. In Ägypten haben sich die kommunistischen Organisationen sogar aufgelöst. In Asien und Lateinamerika scheinen die revolutionären Bewegungen auch nicht gerade vielversprechend zu sein. Es wäre wahrscheinlich eher ein Gewinn für Peking oder Havanna, wenn hier die Kommunisten siegten.

Im Westen Europas hat das Glück die Kommunisten verlassen. Zwar saßen die Kommunisten bis 1947 sowohl in Italien als auch in Frankreich in den Regierungen. Dem in Osteuropa so erfolgreichen Infiltrierungsprozeß waren jedoch hier von Anfang an enge Grenzen gesetzt. In Italien und Frankreich fehlte den Kommunisten für einen entscheidenden Sieg vor allem eins: der Feuerschutz sowjetischer Panzer. Seitdem die Kommunisten in Frankreich und Italien aus der Regierungsverantwortung entlassen worden sind, drükken sie die Oppositionsbank. Für sie erhob sich die Frage, ob sie sich für immer auf eine splendid Isolation einrichten oder aber versuchen sollten, durch einen Transformationsprozeß ihre Koalitionsfähigkeit zurückzugewinnen. Wenn aber die Kommunisten in Frankreich und Italien salonfähig werden wollen, werden sie so viele Federn lassen müssen, daß sie kaum noch von den Sozialisten zu unterscheiden sind.

Moskau ist schon lange nicht mehr das Planungszentrum eines weltweiten Kommunismus. Man spricht zwar in der internationalen kommunistischen Bewegung noch dieselbe Sprache des Marxismus-Leninismus, aber bereits in verschiedenen Zungen. 1960 hat das letzte „Konzil" aller kommunistischen Parteien stattgefunden. Seit dieser Zeit war es der KPdSU unmöglich, alle Parteien des internationalen Kommunismus an einen Verhandlungstisch zu bringen. Heute ist der internationale Kommunismus in verschiedene Zonen zerfallen. Mit Billigung oder Duldung der KPdSU rufen die Kommunisten in Lateinamerika, Europa oder im arabischen Raum Regionalkonferenzen ein, die gewissermaßen das Konzil aller Parteien ersetzen müssen. Die Periode des „Weltkommunismus" dürfte damit zu Ende sein, die Periode des National-oder Regionalkommunismus hat jedoch noch eine Zukunft Die einzelnen kommunistischen Parteien werden sicher weiterhin ihre Beziehungen zur UdSSR pflegen, aber sie werden sich nicht mehr willenlos unterordnen.

1941 hatte Stalin zu A. Eden in Moskau gesagt: „Sie glauben, daß ich, wenn wir siegen, nicht wüßte, wo die Grenze zu ziehen sei. Da täuschen Sie sich. Ich werde es wissen." Nach 1945 jedoch unterlag auch Stalin seinen raschen Siegen. Erst heute scheinen sich die Führer der Sowjetunion bewußt zu werden, daß ihrem Imperium doch Grenzen gesetzt sind. Nachdem die Sowjets eingesehen haben, daß die Staaten, die eine eigenständige Revolution erlebt haben, für die UdSSR höchst unsichere Kantonisten sind, dürfte für sie die Tatsache noch schockierender gewesen sein, daß sich auch in Rumänien und Korea, die ja seinerzeit von sowjetischen Truppen besetzt waren, die Selbständigkeitsbestrebungen nicht eindämmen lassen. Die Ideologie allein reicht nicht aus, um ein sozialistisches Land für immer an die Sowjetunion zu ketten. Die KPdSU wird damit rechnen müssen, daß die meisten kommunistischen Staaten über kurz oder lang ihre nationalen Interessen geltend machen. Sie wird die Hegemonie ihres Landes in Osteuropa, wenn sie nicht schwere Konflikte heraufbeschwören will, liberaler begreifen müssen

Es ist heute sehr die Frage, ob es wirklich im Interesse des Kreml liegen kann, das sozialistische Lager um einige neue Länder zu erweitern. Die Expansion des Sowjetsystems würde die divergierenden Kräfte im sozialistischen Bereich eher verstärken als bremsen. Ein sozialistisches Italien beispielsweise, in dem sich die Kommunisten, wenn sie an die Macht kommen wollen, den demokratischen Parteien angepaßt hätten, wäre für die Sowjets (und nicht nur für sie) ein Danaergeschenk. Ein solches Italien wäre für alle liberaleren Kräfte in Osteuropa eine gewaltige Ermutigung und könnte unter Umständen zu einer neuen Zellteilung im „sozialistischen Lager" führen. Schon heute ist der Dialog der Kommunisten mit den Katholiken in Italien für das antikirchliche Polen Gomulkas ein heimlicher, wenn nicht sogar ein offener Vorwurf. Auch die Freiheit, die die KP Italiens den Künstlern zugesteht, ist den „sozialistischen" Kulturpäpsten ein Dorn im Auge. Umgekehrt wird es den italienischen Kommunisten niemals gelingen, den katholischen Wählern glaubhaft zu machen, daß sie ihre Haltung gegenüber der Religion geändert, haben, wenn Gomulka in die Belange der Kirche eingreift.

Von der Bundesrepublik kann man schon gar nicht sagen, daß sie im Mittelpunkt eines revolutionären Wunschdenkens der Sowjets stünde. Mit einer DDR, die von Ulbricht geführt wird, hat es die Sowjetunion leicht. Mit einem wiedervereinigten Deutschland unter sozialistischer Flagge, das sicher andere Männer als Ulbricht an die Spitze bringen müßte, würde man in Moskau ganz gewiß ähnliche Enttäuschungen erleben wie mit China. Ein wiedervereinigtes kommunistisches Deutschland wäre im übrigen auch für Prag und Warschau nicht wünschenswert: Die Sorgen der dortigen Kommunisten würden dadurch nicht gemindert, sondern vergrößert. Man gewinnt manchmal sogar den Eindruck, daß die Existenz der Bundesrepublik im Kalkül der sowjetischen Außenpolitik eine Konstante ist, eine Stütze ihrer Hegemonie in Osteuropa. Solange man Bonn als Hort des Neofaschismus, Revanchismus und Militarismus brandmarken kann, dürfen die Sowjets hoffen, daß sie zumindest die tschechoslowakischen und polnischen Kommunisten bei der Stange halten.

Wenn nicht alles täuscht, ist die Sowjetunion heute stärker daran interessiert, Einflußsphären zu gewinnen, als an allen Enden der Welt Revolutionen oder Unruhen anzuzetteln. Wer jedoch in Moskau nach wie vor ein Zentrum permanenter Verschwörung sieht, ist leicht geneigt, die Sowjets für jede Krise in allen fünf Erdteilen verantwortlich zu machen. Sicher zu Unrecht hat man beispielsweise die Sowjetunion in der jüngsten Nahost-Krise, die im Juni dieses Jahres zum Krieg führte, verdächtigt, die eigentliche Drahtzieherin gewesen zu sein Die Sowjets dürften kaum mit dem halsbrecherischen Kurs der Araber einverstanden gewesen sein. Sie haben allerdings zunächst zu den arabischen Haßtiraden auf Israel geschwiegen. Erst nachträglich glaubten sie sich auch öffentlich von den arabischen Extremisten distanzieren zu müssen. Es scheint nicht so, daß die Sowjets im Augenblick Ägypten in eine „Volksdemokratie" umwandeln wollen und können. Eine „antiimperialistische“ Regierung in Kairo kann für sie vorteilhafter sein als eine kommunistische.

Falls man aber eines Tages Ägypten in das „sozialistische Lager" als Vollmitglied aufnehmen würde, müßte sich die KPdSU unter Umständen mit einer Art Koran-Kommunismus abfinden, der eine Reihe von marxistisch-leninistischen Dogmen auf eine sehr eigenwillige Art interpretieren würde.

Die Sowjetunion hat in den letzten Jahren in zunehmendem Maße ein Verantwortungsgefühl in der Weltpolitik an den Tag gelegt. Sie will offensichtlich nicht mehr der Einpeitscher der Weltrevolution sein und wächst, wie es scheint, allmählich in die Rolle einer Großmacht hinein, die Klientelstaaten sucht und nicht unbedingt „Volksdemokratien" Ohne Frage werden die sowjetischen Politiker auch in der nächsten Zukunft versuchen, andere Staaten zum „Sozialismus" zu dirigieren, falls dies ohne massive Intervention möglich ist. Natürlich wäre es auch falsch, von der Sowjetunion anzunehmen, daß sie für alle Zeiten friedliche Wege in der Außenpolitik bevorzugt. Die Erosion der sowjetischen Hegemonie und Ideologie innerhalb des osteuropäischen Staatensystems könnte die Politiker des Kreml durchaus einmal dazu verleiten, die Flucht nach vorn zu ergreifen. Die Raketenkrise auf Kuba war ein solcher Versuch, die Partie durch einen verrückten Einsatz zu ändern.

Die heutigen Männer im Kreml neigen jedoch kaum zu den Experimenten ihres unruhigen Vorgängers. Die Verantwortung, die die Sowjets auf sich nehmen müssen, je tiefer sie in die Weltpolitik hineingezogen werden, wird den sowjetischen Politikern mit der Zeit ihren Stempel aufprägen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Sowjets in ihrem Eifer, die USA einzuholen, eines Tages, ohne es zu wollen, den Marxismus-Leninismus überholen und hinter sich lassen. Kein System bleibt unverändert. Wenn man nach weiteren 50 Jahren die Hundertjahrfeier der russischen Revolution begeht, wird sich die Welt sicherlich gewandelt haben, im „Osten" wie im „Westen".

Fussnoten

Fußnoten

  1. C. E. Black (Hrsg ), The Transformation of Russian Society. Aspects of Social Change since 1861, Cambridge (Mass.) 1960, S. 88. Die hier angegebenen Zahlen beziehen sich auf das Territorium, das die Sowjets später beherrschten. Nicht berücksichtigt sind also Polen, Finnland usw. Mit allen Gebieten, die im Verlaufe des Ersten Weltkrieges verlorengingen, hatte das zaristische Ruß-land 1913 ca. 162 Millionen Einwohner.

  2. H. Seton-Watson, Der Verfall des Zarenreiches, München 1954, S. 245. J. Walkin, The Rise of Democracy in Pre-Revolutionary Russia, London 1962, S. 94 und 267.

  3. M. T. Florinsky, Russia: A Short History, New York 1964, S. 352 f.

  4. Nach einer sowjetischen Statistik gehörten alles in allem 17, 5 Millionen zum Proletariat. Vgl. A. G. Rasin, Formirovanie rabocego klassa Rossii, Moskau 1958, S. 171.

  5. Hierzu R. Pipes, Die russische Intelligentsia, Stuttgart 1962; K. -H. Ruffmann, Sowjetrußland. Struktur und Entfaltung einer Weltmacht, München 1967, S. 89 ff.

  6. P. Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, Leiden 1956, S. 15.

  7. Von den Neuerscheinungen zur Geschichte der Februarrevolution seien nur wenige genannt: E. N. Burdzalov, Vtoraja russkaja revoljucija, Moskau r 967; M. Ferro, La Revolution de 1917, Paris 1967; G. Katkov, Russia 1917 -The February Revolution, London 1967; I. I. Mine, Istorija Velikogo Oktjabrja, Tom 1, Moskau 1967.

  8. L. Kochan, Russia in Revolution 1890— 1918, London 1967, S. 176.

  9. M. Hellmann, Die russische Revolution, München 1964, S. 94.

  10. Ebenda, S. 89.

  11. M. Palologue; Am Zarenhof während des Weltkrieges, Bd. 2, München 1925, S. 330.

  12. Die Daten nach altem und neuem Stil. Der russische (julianische) Kalender differiert um 13 Tage vom westlichen (gregorianischen). Wenn nur ein Datum angegeben ist, so handelt es sich um den russischen Kalender. Am 1. (14.) Februar 1918 wurde in Rußland der gregorianische Kalender eingeführt.

  13. Vgl. O. Anweiler, Die Rätebewegung in Ruß-land 1905— 1921, Leiden 1958, S. 158 ff.

  14. I. Cereteli, Vospominanija o Fevral’skoj revoljucii, Bd. 2, Paris 1963, S. 169 f.

  15. Vtoroj s-ezd RSDRP. Ijul‘ — avgust 1903 goda, Moskau 1959, S. 425 und 262.

  16. R. Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in: Die neue Zeit, XXII 2 (1903— 1904), S. 529.

  17. N. Trockij, Nasi politiceskija zadaci, Genf 1904, S. 54.

  18. N. N. Suchanow, 1917, München 1967, S. 293.

  19. Diese Worte richtet Mephistopheles an den Schüler im Studierzimmer Fausts.

  20. Lenin, Werke, Bd. XXVI, Berlin (Ost) 1961, S. 1.

  21. Vgl. Trotzkij, Geschichte der russischen Revolution, Bd. II: Oktoberrevolution, Berlin 1933, S. 512 ff. Von Lenin gibt es keinen historischen Rückblick auf die Oktoberrevolution.

  22. Lenin, Werke, Bd. XXVI, S. 228 f.

  23. Vgl. O. H. Radkey, The Election to the Russian Constituent Assembly of 1917, Cambridge/Mass. 1950. Die restlichen 13, 5 °/o Stimmen vei teilten sich auf kleinere nationale, konservative oder sozialistische Gruppen.

  24. W. H. Chamberlin, Die russische Revolution 1917— 1921, Bd. II, Frankturt a. M., S. 434.

  25. K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. IV, Berlin (Ost) 1959, S. 576.

  26. Vgl. K. Radek, Nojabr’. Stranicka iz vospominanij, in: Krasnaja nov, Nr. 10 (1926), S. 140 ff.

  27. Dokumenty vnesnej politiki SSSR, Bd. I, Moskau 1959, S. 564 f.

  28. Zitiert nach: Deutscher Geschichtskalender XXXIII, II 2, S. 1082.

  29. G. Sinowjew, Probleme der deutschen Revolution, Hamburg 1923, S. 4.

  30. Stalin, Werke IV, Berlin (Ost) 1952, S. 320 ff.

  31. Ebenda, XIII, S. 108.

  32. I. Deutscher, Stalin, Stuttgart 1962, S. 565. Es gab allerdings zeitweise im Denken Stalins auch eine gewisse prodeutsche Unterströmung, die vielleicht aber nur taktischer Natur war. Vgl. etwa D. Dallin, Sowjetische Außenpolitik nach Stalins Tod, Köln 1961, S. 69 II.

  33. Vgl. etwa: Protokoll des III. Kongresses der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1921, S. 1018; Protokoll; Sechster Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1928, S. 125, 233.

  34. Vgl. auch V. Dedijer, Tito, Berlin 1953, S. 286.

  35. Stalin, Werke X, S. 45.

  36. Der zweite Kongreß der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1921, S. 584.

  37. P. Zinner, Communist Strategy and Tactics in Czechoslovakia, 1918— 1948, London 1963, S. 196 ff.

  38. V. Dedijer, Tito, S. 313.

  39. Lenins Protest gegen die „großrussisch-nationalistische Kampagne" in Georgien, in: Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. II, Berlin (Ost) 1959, S. 1002 ff.

  40. R. Löwenthal, Chruschtschow und der Weltkommunismus, Stuttgart 1963, S. 210.

  41. A. Riklin (Hrsg), Der Vietnamkrieg, Zürich 1967, S. 104.

  42. Zitiert nach Boris Goldenberg, Lateinamerika und die Kubanische Revolution, Köln 1963, S. 402.

  43. Vgl. Ost-Probleme 1956, Nr. 28, S. 938 f. The Anti-Stalin Campaign and International Communism, New York 1956, S. 215 ff.

  44. Wortlaut der „Erklärung der 81" in: Europa-Archiv 2/1961, S. D. 38 ff.

  45. Ursprung und Entwicklung der Differenzen zwischen der Führung der KPdSU und uns, Peking 1963, S. 45.

  46. Zitiert nach St. Schram, The Political Thought of Mao Tse-tung, New York 1963, S. 114.

  47. Mao Tse-tung, Ausgewählte Schriften, Berlin (Ost) 1958, Bd. III, S. 182 f.

  48. Vgl. Prawda, 2. 9. 1964.

  49. Mehr über die Differenzen zwischen Togliatti und uns, Peking 1963, S. 53.

  50. Vgl. die Äußerungen B. Gafurows in Paris: Le Monde, 2. 4. 1964.

  51. Am 12. 8. 1966 erschien im nordkoreanischen Regierungsorgan „Rodong sinmun" eine Art „Unabhängigkeitserklärung".

  52. Zur Lage von Nordvietnam vgl. A. Tong, Hanoi et le conflit sino-sovtique, in: Est & Quest, Nr. 384, 16— 31 mai 1967, S. 10— 13; Radio Free Europe Research, North Vietnam, 13. 6. 1967.

  53. The Observer, 14. 11. 1965.

  54. Ein ausgezeichnetes Bild über die Haltung der vietnamesischen Kommunisten zwischen Peking und Moskau in: China News Analysis, Nr. 665, 23. 6. 1967.

  55. Zum Thema „Marx und die Weltrevolution'vgl.: D. Stemberger, Grund und Abgrund der Macht, Frankfurt 1962, S. 352 ff.

  56. A. Ulam, The Unfinished Revolution, New York 1960, S. 288.

  57. Prawda, 26. 10. 1965.

  58. Vgl. R. Löwenthal, Hat die Revolution eine Zukunft?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bei, läge zur Wochenzeitung Das Parlament, B 14/67 vom 7. 4. 1965.

  59. Vgl. W. Berner, Aktionseinheit, Polyzentrismus und Weltrevolution, in: Europa-Archiv 7/1966, S. 237 ff.

  60. Hierzu Z. Brzezinski, The Soviet Bloc. Unity and Conflict, Cambridge/Mass. 19672, S. 485 ff.

  61. Vgl. W. Berner, Die Sowjetunion und die Entwicklung des Nahost-Konflikts, in: Europa-Archiv 14/1967, S. 493 ff.

  62. V. Aspaturian, The Soviet Union in the World Communist System, Stanford/Calif. 1966, S. 70 ff.

Weitere Inhalte

Heinz Brahm, Dr. phil., geb. 1935 in Viersen, Wissenschaftlicher Rat im Bundes-institut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen: Trotzkijs Kampf um die Nachfolge Lenins. Die ideologischen Auseinandersetzungen 1923— 1926, Köln 1964; Pekings Griff nach der Vormacht. Der chinesisch-sowjetische Konflikt von Juli 1963 bis März 1965, Köln 1966.