Werden rationale wissenschaftliche Denkmodelle bei der gesellschaftspolitischen Gestaltung der Zukunft als wichtige politische Kraft gegen konventionelle Verhaltensweisen und geistige Stagnation eingesetzt, dann kann Zukunftsplanung zu einem Mittel werden, um die politischen und geistigen Kräfte neu zu orientieren, sie zu mobilisieren und ihnen neue Ansatzpunkte des Denkens und Gestaltens zu bieten. Eine wissenschaftlich fundierte „soziale Phantasie" könnte dazu beitragen, ein neues Zukunftsbewußtsein zu schaffen. „Sie würde die Menschen unserer Zeit . zukunftsbewußt'und . zukunfsfreudig’ machen ..., das geistige Klima entscheidend verändern, weil sie mehr und mehr Menschen lehren würde, das Gegenwärtige nicht nur unter den kleinlichen schuld-und ressentimentbeladenen Aspekten des . Gestern', sondern auch unter denen eines großzügigen . Morgen'zu sehen"
Vom Politiker kann zwar nicht verlangt werden, daß er auf allen Gebieten des modernen Lebens ein wissenschaftlicher Fachmann ist. Man kann aber erwarten, „ 1. daß er zugänglich ist für die Erkenntnisse, die Fachleute gesammelt haben, und von ihnen sich ein Problembewußtsein erziehen läßt; und 2. daß er alle Kraft dafür einsetzt, die Öffentlichkeit in der Richtung dieses Problembewußtseins aufzuklären"
In der Politik kommt es nicht nur darauf an, „Gegenwartsaufgaben zu lösen"
Zwar bleibt die Entscheidung über die Rangordnung der politischen Aufgaben weiterhin Sadie der politischen Führung. Aber „diese Entscheidung kann rechtzeitig und sachgerecht nur getroffen werden, wenn sie unbeschwert von vorgefaßten und oft vorindustriellen Leitbildern bleibt und sich statt dessen auf eine die gegebene Situation und die wahrscheinliche Entwicklung beschreibende Analyse und Prognose gründet"
Wichtig wird es auch werden, „die so oft ungenutzten Talente der jungen Menschen an begreifbaren Aufgaben und Zielen der Zukunftsgestaltung in praktisches Handeln" umzuset-Zen, „aber nicht in ein Handeln um der Aktivität willen, sondern in eine nach klaren Wertmaßstäben sinnvoll geordnete solidarische Aktivität"
Eine Rationalisierung des politischen Entscheidungsprozesses ist jedenfalls unumgänglich. „Die zunehmende Politisierung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Beziehungen und das Anwachsen der Staatstätigkeit erfordern eine Rationalisierung des politischen Entscheidungsprozesses. Um die der politischen Führung gestellten gesellschaftlich-politischen Aufgaben mit Erfolg bewältigen zu können, bedarf es in Zukunft mehr noch als heute eines differenzierten Sachverstandes und neuer kooperativer Verfahren. Nur so können politische Entscheidungen zielsicher, sachgerecht und situationsadäquat vorbereitet und verwirklicht und die Ergebnisse des staatlichen Handelns mit den Zielen der Politiker konfrontiert und rational kontrolliert werden."
1. Politik und Planung
Sinn der Planung ist das Funktionieren der Massengesellschaft in unserer Zeit. Die Mobilisierung der Naturkräfte, die Verfeinerung der Technik mit Arbeitsteilung, Normung, Typung, Automation, die Konzentration vieler Einzelbetriebe in einem Wirtschaftsunternehmen, die Aufgabenzunahme der öffentlichen Hand, die Ausbreitung der Massenmedien, die Zunahme der verwaltenden Tätigkeit und die immer mehr hervortretende Planung auf allen Lebensgebieten stehen in einem inneren Zusammenhang zueinander
Politik hat Ziele und Aufgaben und sucht diese zu erreichen und zu erfüllen. „Die Geschichte der materiellen und geistigen Welt ist ... zumindest zum Teil das Ergebnis planerischer Absichten."
Unabhängig von der jeweils herrschenden Mentalität geht von den Vorstellungen und Informationen, die von der Regierung entwickelt und vorgelegt werden, eine Art „Signalwirkung" aus. Allerdings „muß es als eine unvertretbare und kaum noch glaubwürdige Naivität gelten, zu hoffen, daß bereits der humane Appell ... genügt, um wichtige praktische Probleme zu meistern"
Dabei muß beachtet werden, daß es sich um eine Planung der staatlichen „Policy-De-cisions" handelt, nicht dagegen um eine staatliehe Bindung oder Kontrolle privater bzw. nichtstaatlicher Investitionen. Es kann allerdings erreicht werden, daß ein „koordiniertes Verhaltensklima"
Für den Staat ist die Luftverunreinigung eine Zukunft, die beherrscht werden kann: „Auch hier wird extrapoliert, dieses Mal jedoch als künftige Gegebenheit, die es zu widerlegen gilt. Und dazu ist eine Handlung erforderlich. Und die Handlung muß durch eine Entscheidung in Bewegung gesetzt werden. ... Die leitenden Männer werden verschiedene Wege Vorschlägen, wie man vorgehen kann, und sie in Erwägung ziehen unter dem Gesichtspunkt ihrer Vor-und Nachteile ... So wird das Subjekt auf der höheren Ebene, das diese Zukunft als beherrschbar betrachtet, durch ihre Beherrschung vor ein Entscheidungsproblem gestellt, das sich nicht auf die einmal gestellte und gelöste Frage beschränkt, eine einzige, bestimmte Handlung vorzunehmen, sondern in der einen oder anderen Weise später eine neuerliche Entscheidung verlangt. In einem bestimmten Zeitpunkt kann man zwischen mehreren Entscheidungen wählen und, sobald neue Gesichtspunkte aufgetaucht sind, diese Wahl mehr oder weniger schnell revidieren."
Wer für das Gemeinwesen verantwortungsbewußt und richtig handeln will, darf seine Aufgabe nicht nur als Auftrag zur Bewältigung der Tagesprobleme verstehen, sondern muß vielmehr zu erkennen suchen, wohin die gesellschaftliche Entwicklung voraussichtlich gehen wird. Wer eine fatalistische Grundeinstellung ablehnt, wird ein Interesse daran haben, grundlegende Entwicklungslinien im Strom der sich ständig vollziehenden Veränderungen unserer Lebensumstände herauszufinden, die dann beim politischen Handeln in Rechnung gestellt werden müssen. Die Aufgabe des Politikers ist es also, sich ein Bild von den Zusammenhängen und Wechselwirkungen der Ereignisse zu schaffen, das ihm gestattet, mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit den Gang des Geschehens vorauszusehen.
Unsere politischen und gesellschaftlichen Lebensformen unterliegen einem steten Wandel
Man muß die heutige Gesellschaft kennenlernen, „um ihre Spannungen nicht als Bedrohung, sondern als Chance zu begreifen"
Wenn man davon ausgeht, daß eine freiheitliche Gesellschaft bei genügendem Industrialisierungsgrad praktisch keine Massenarbeitslosigkeit mehr dulden kann, dann ist die Chance gegeben, ein ständig höheres Wirtschaftswachstum zu erzielen als im vorausgegangenen Zeitraum, zumal wir in bestimmten Bereichen mit einem steten technischen Fortschritt rechnen können. Um diese Entwicklung in Gang zu halten, gibt es verschiedene gesellschaftspolitische Optionen: ,, a) Es besteht z. B. bei gleichbleibendem Wachstum der Produktivität eine Option zwischen einer Erhöhung des Konsums und einer Verkürzung der Arbeitszeit, wobei sich die Arbeitszeitverkürzung in einer Verlängerung des bezahlten Urlaubs oder einer Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit niederschlagen kann. Es soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden, inwieweit über eine solche Option bei der augenblicklichen Tarifautono-mie der Sozialpartner in einem Plan entschieden werden kann. b) Eine weitere Option könnte sich auf die Struktur des Konsums beziehen, d. h. auf die Frage, in welchem Verhältnis die Konsum-summe auf individuellen und öffentlichen Konsum verteilt werden kann, wobei im Falle des öffentlichen Konsums auch das Problem der Entgeltlichkeit in die Grundentscheidung einbezogen werden könnte. Obgleich diese Frage mit Galbraiths These vom sozialen Ungleich-gewicht in den Vordergrund des theoretischen und politischen Interesses rückte, müssen heute alle Versuche, das Problem der Aufteilung von privatem und staatlichem Konsum auf eine objektive Basis zu stellen, als gescheitert angesehen werden. c) Ebenfalls zu den Grundentscheidungen gehören die Wahlmöglichkeiten, die der Verteilungspolitik offenstehen. Als Alternativen eröffnen sich hier eine unterschiedliche Begünstigung der Erwerbsbevölkerung und der nicht Erwerbstätigen. Bei der Erwerbsbevölkerung könnte differenziert werden nach unterschiedlichen Qualifikationen, Branchen oder Regionen. d) Auch weitere Bereiche der Regionalpolitik fallen unter die hier angesprochenen Grundentscheidungen, solange noch keine objektiven Kriterien einer optimalen Regionalstruktur entwickelt werden. Sofern die regionale Entwicklung nicht durch Zufälligkeiten bestimmt werden soll, kann nur durch eine politische Entscheidung festgelegt werden, in welchem Maße die verschiedenen Regionen an der wirtschaftlichen Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft teilnehmen.
e) Eine letzte Option, die noch genannt werden soll, bezieht sich auf die Struktur der Produktion, d. h. auf die Frage nach der wünschenswerten Faktorkombination bei gegebenem Produktionsergebnis. Wie schon aus der Bezeichnung . wünschenswerte Faktorkombination'hervorgeht, handelt es sich hier um ein Problem, das jenseits der relativ einfachen Kalkulationstechnik einer optimalen Faktorallokation liegt. Es geht hier um Fragen der Faktorkombination, die zugleich ökonomische und politische Bedeutung haben. Solche Fragen tauchen auf bei der Neugründung öffentlicher oder halböffentlicher Unternehmen, bei der Beschleunigung oder Hemmung der Konzentrationsvorgänge im industriellen Bereich und im Handel. Auch das Problem der landwirtschaftlichen Konzentration, d. h. also die Frage, wieweit Abweichungen vom betriebs-technischen Kostenoptimum zur Aufrechterhaltung bäuerlicher Familienbetriebe vertretbar sind, kann nur durch eine politische Grundentscheidung gelöst werden. Ebenfalls im Zusammenhang mit dem Problem der . wünschenswerten Faktorenkombination'ist die Frage nach dem Grad der Auslandsabhängigkeit, der Autarkie einer Volkswirtschaft, zu nennen."
2. Änderung der Struktur des Konsums
Auch wenn sich die Zahl der Menschen, die keine Begeisterung für die Arbeit aufbringen oder sich vor ihr drücken, nur geringfügig geändert hat, so hat sich doch der soziale Akzent verschoben. Aus Leo Löwenthals Artikel
„Das Gewinnstreben der Produzenten führt zu dem ständigen Bemühen, unter Zuhilfenahme wirksamer Reklametechniken stets neue Bedürfnisse im Menschen zu wecken und ganz bewußt ständig Neues zu bieten, um das Alte unmodern erscheinen zu lassen."
Ein gewisser Zuwachsfaktor spielt hier eine Rolle: „In vielen Konsumgütern steckt eine Art Zuwadisfaktor: An einem Haus lassen sich immer Verbesserungen und Erweiterungen anbringen; ein Wagen ist eine ständige Aufforderung zum Reisen und zu abendlichen Ausfahrten; ein Fernsehapparat ist ein einladender Spiegel des guten Lebens."
Auch die andere Option, zugunsten einer Arbeitszeitverkürzung auf ein bestimmtes Maß der Konsumbedürfnisbefriedigung zu verzichten, erscheint bedroht: „Heute ist für viele Menschen der plötzliche Ansturm der Freizeit eine Abart der durch die Technik bedingten Arbeitslosigkeit; ihre Erziehung hat sie nicht dafür vorbereitet, und die Schaffung neuer Bedürfnisse auf ihre Kosten entwickelt sich schneller als ihre Fähigkeit, diese Bedürfnisse einzuordnen und zu assimilieren."
Die „Massenproduktion von Zerstreuungen" zumindest in den USA ist heute ebenso „Teil der amerikanischen Lebensart wie die Massenproduktion von Automobilen"
Die zunehmende Differenzierung der Berufe, der Mangel an äußerlich sichtbaren „Rangabzeichen" in weiten Bereichen der Berufswelt, der Mangel der Qualifikationsvorstellungen im Verlauf der Mechanisierungsund Rationalisierungsprozesse und eine Vielzahl weiterer Vorgänge lassen die sonst so bedeutsame Berufsposition als Orientierungskriterium hinsichtlich der sozialen Stellung immer ungeeigneter werden, sobald man sich aus dem engeren Bereich der eigenen Berufssphäre entfernt
Die „Freizeitberater" — die Angestellten der Reisebüros und Kurverwaltungen, die Trainer, Sportlehrer usw. — wachsen zu einer bedeutsamen Gruppe in unserer Berufswelt heran
3. Einschränkung der Konsumtion zugunsten größerer Gemeinschaftsaufgaben
Eine weitere Option könnte darin bestehen, verstärkt Gemeinschaftsaufgaben in Angriff zu nehmen und dafür die Verfügungsgewalt über einen Teil des Einkommens, das zuvor für Konsumgüter weniger dringlicher Art ausgegeben wurde, zu verlangen. Der Mensch lebt grundsätzlich „ 1. vom Ertrag seiner Arbeit. Dabei darf man allerdings nicht allein an vergütete Leistungen denken, die in unserer arbeitsteiligen und kommerzialisierten Gesellschaft einen breiten Raum einnehmen, sondern auch an jene nützlichen Tätigkeiten, die unmittelbar dem Lebensvollzug zum Beispiel im Kreise der Familie dienen .. .
2. von der Nutzung von Vermögen. Auch hier darf man den Blick nicht einengen auf Kapital-besitz und Zinserträge, die nur einem verhältnismäßig kleinen Teil der Bevölkerung zur Verfügung stehen. Sehr viel breiter ist nutzbares Vermögen an Haus, Garten, technischen Einrichtungen im Haushalt, die nirgendwo in einer Vermögensrechnung eingehen, ein Vermögen, das aber viele Milliarden ergäbe, wenn man diese Werte nach den Regeln der gewerblichen Unternehmen bilanzieren würde; 3. von dem Anspruch an Dritte auf Unterhalt, sei es ein Anspruch der Sklaven an den pater familias, der Leibeigenen an den Grundherrn, aber auch der Kinder an ihre Eltern, der Genossen eines Kibbuz an die Genossenschaft. Nur in der Idee oder in einer durch Not erzwungenen Kommandowirtschaft richtet sich ein solcher Anspruch unmittelbar an die Staatsmacht."
Heute bestimmen drei weitere Faktoren das Lebensniveau der Menschen in einer Gesellschaft wie der unseren: „ 1. die Erreichbarkeit infrastruktureller Einrichtungen. Die Infrastruktur wird durch öffentliche Einrichtungen bestimmt, die im Prinzip allen Gliedern einer Gesellschaft ... zugänglich sind: Versorgung mit Wasser, Energie, Straßen, öffentliche Verkehrsmittel, Kanalisation und Müllbeseitigung, Schulen und Krankenhäuser, Telephon, Rundfunk und Fernsehen ... Ob und wie diese öffentlichen Einrichtungen bereitstehen, entzieht sich dem Willen und Können des einzelnen. Die Entscheidung darüber liegt bei dem politischen Willen und der Finanzkraft ihrer zur Zeit lokalen Träger. Sie erfordern für Einrichtung, Unterhaltung und Verbesserung laufend Investitionen, die aus dem Sozialprodukt abge-zweigt werden müssen und in einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als . Sozial-investitionen'zu Buche stehen .. . 2.der Anspruch auf soziale Leistungen, sei es in der Form von Geldeinkommen, das nicht auf Leistungsvergütung innerhalb des Marktes beruht, ...sei es in der Form von Dienst-und Sachleistungen, die von dem Empfänger nicht unmittelbar vergütet werden ... 3. die Struktur der Familienhaushalte ... In vorindustriellen Zeiten ... war die Zahl der zum Haushalt gehörenden Personen irrelevant für das Lebensniveau ... Heute führen alte Menschen einen eigenen Haushalt, losgelöst von der nachfolgenden Generation, auch wenn sie kein Arbeitseinkommen mehr haben, Kinder und Jugendliche sind auf immer mehr Jahre . Kostgänger’ ihrer Eltern ..."
Die Bedürfnisse des Menschen zerfallen also in mehrere Kategorien: z. B. solche, die absolut ohne Rücksicht auf Mitmenschen empfunden werden, und solche, die aus einem Gefühl der Überlegenheit über die Nachbarn erwachsen (Prestige-Bedürfnisse), wobei „eine Nachfrage nach diesem Teil der Produktion nicht vorhanden wäre, wenn man ihn nicht fabrizierte"
Anschaulich skizziert auch Galbraith dieses Problem, wenn er schreibt: „Die Familie, die ihr lila-kirschrotes, automatisch geschaltetes, mit raffinierter Luftheizung und -kühlung ausgestattetes Auto aus der Garage holt, um einen Ausflug zu machen, fährt durch Orte mit schlecht gepflasterten und ungereinigten Straßen, verfallenen Häusern, scheußlichen Reklameschildern und Hochspannungs-oder Telegraphenmasten, deren Leitungen man längst schon unter die Erde hätte verlegen müssen. Dann kommen die Ausflügler in eine Landschaft hinaus, die man vor lauter Werbe, kunst'einfach nicht mehr sieht... Unsere Familie genießt am Ufer eines verdreckten Flusses die köstlichen Konserven aus der transportablen Kühlbox und übernachtet dann auf einem Parkgelände, das für Volksgesundheit und öffentliche Moral eine Gefahr ist. Kurz bevor sie auf ihren Luftmatratzen unter dem Dach ihres Nylonzeltes, umgeben von dem Gestank faulender Abfälle, einschlummert, möge sie sich vage Gedanken über die seltsame Unterschiedlichkeit ihrer Genüsse machen."
Diese Option würde also von der Annahme ausgehen, daß eine Erhöhung des Lebensstandards nicht nur die Verbesserung des jeweiligen individuellen Lebensstandards bedeutet, sondern zum großen Teil durch Dienstleistungen und Einrichtungen von Kommunen, Ländern und Bund, also dem Staat, garantiert wird. „Erst wenn man darauf kommt, daß ein hohes Einkommen einzelner Menschen der Masse der Menschheit keine Immunität gegen Cholera, Typhus und Unwissenheit erkaufen und ihr noch weniger die Vorteile von Bildungsmöglichkeiten und wirtschaftlicher Sicherheit bieten kann, erst dann beginnt die Gesellschaft langsam, zögernd und unter lauten Prophezeiungen von moralischem Niedergang und wirtschaftlichen Katastrophen kollektiv für jene Bedürfnisse zu sorgen, die kein gewöhnlicher Mensch, auch wenn er sein Leben lang Überstunden macht, selbst zu befriedigen vermag."
Darüber hinaus ist die Wandlung des Staates zu einem „Haftungsverband", der den einzelnen Bürger gegen alle denkbaren Lebens-risiken (Alter, Krankheit, Unfall, Tod, Geburt usw.) versichert, eine logische und reale Konsequenz der modernen staatlichen Entwicklung. „Während die alte Sozialversicherung einen Lastenausgleich innerhalb einer Schicht vollzieht, also sozusagen , die Armen für die Armen zahlen läßt’, führt die aus Steuermitteln gewährte Versorgung einen Leistungsfluß von oben nach unten herbei. Es ist aber nicht nur dieser Leistungsfluß von oben nach unten, der das Versorgungsprinzip in den Augen der Politiker anziehend macht; nicht minder anziehend wirkt der Gedanke, daß eine Versorgung, die allen Bürgern unterschiedlos und unabhängig von Bedürftigkeit und Vorleistung gewährt wird, bei den minderbemittelten Gruppen nicht mehr die Vorstellung, sie allein seien auf Unterstützung und Hilfe angewiesen, aufkommen läßt."
4. Mehr Freiheit oder mehr Einkommen
Auch in der Berufsstruktur vollziehen sich wichtige Wandlungen, die bei der politischen Planung beachtet werden müssen. „Ein ständiges und regelmäßiges Wachstum des Sozial-produkts führt zu tiefgreifenden Wandlungen im Wirtschaftsgefüge. Umgekehrt sind diese Strukturwandlungen Voraussetzung für dieses Wirtschaftswachstum. Die Folge ist der Berufswechsel für mindestens eine Million Beschäftigte allein in der Industrie, nicht gerechnet die Wanderung von der Landwirtschaft in die Industrie und in den Dienstleistungsbereich. Dabei wird sich der Spannungszustand zwischen den Bereichen der Wirtschaft mit hoher Produktivität und dem tertiären Sektor mit seiner geringeren Produktivität noch verschärfen — der Spannungszustand, der ein struktureller Hauptgrund für die schleichende Geldentwertung ist. Die Leistungsunterschiede zwischen den Branchen können nämlich nicht dahin führen, daß ein Metallarbeiter doppelt so viel verdient wie die nichtindustriell Beschäftigten. Denn ein Kumpel, ein Maurer oder ein Bauer sind nicht schuld, daß sie nicht am Fließband produzieren können."
Jean Fourastie hat darauf hingewiesen
Die Wahl der Berufe, jahrtausendelang zu 85 bis 90 % im Bereich der Landwirtschaft, wird sich nur noch zu 3 bis 4 °/o auf den Agrarsektor erstrecken; die Berufe des tertiären Sektors werden an Bedeutung gewinnen. „Schon heute sind in den USA 90%, in der Bundesrepublik fast 50 % der Bevölkerung im tertiären Sektor angesiedelt. Im Frankreich des Ancien Regime waren von 20 000 Menschen noch 18 000 Bauern."
Für die Herstellung einer ständig größer werdenden Gütermenge wird also immer weniger menschliche Arbeitskraft benötigt. „Nach Berechnungen des amerikanischen Arbeitsministeriums wird in 10 Jahren nur noch etwas mehr als ein Drittel aller Erwerbstätigen mit der Herstellung von Gütern beschäftigt sein, während zwei Drittel . Dienste'aller Art leisten werden ... In der Bundesrepublik sind ... noch rd. 62 % der Erwerbstätigen in der Güterproduktion beschäftigt, soviel wie in den USA vor 30 Jahren."
„Der britische Professor Ubbelohde, Technologe an der Universität London, ... hat die tertiäre Gesellschaft Fourasties auf den Namen . Tektopia'getauft. Er versteht darunter eine Gesellschaft, die den materiellen Unterbau, die ökonomische Basis für die Errichtung eines , Dealstaates'besitzt, nun aber vor der Aufgabe steht, die . Begrenzung des menschlichen Wesens zu meistern'. Als Platon seine . Republik'entwarf und Thomas Morus sein . Utopia', hatten sie ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie man den Menschen verwandeln und die Gesellschaft höheren Werten und Zwecken untertan machen könne. Ihr Problem war, eine materielle Grundlage für ihre Idealstaaten zu finden. Heute stellt sich die Frage ungekehrt. In Utopia sind die Menschen gut. In Tektopia sind es nur die Verhältnisse."
Mit dem technologischen Fortschritt, mit der systematischen Erziehung zu Maschinenkenntnis und Maschinenvertrautheit „wird sich das Verhältnis unserer Kinder zu der Größe verändern, die wir heute noch fälschlicherweise als , Beruf bezeichnen. Ausgehend von einer kulturbestimmten, religiös überhöhten Wertschätzung der Arbeit, der Romantisierung einer Ärbeits-und Gesellschaftsordnung, die sich durch einen geringen technologischen Wandel auszeichnete, wurde der Beruf zu einem Wert an sich"
Eine mobile industrielle Gesellschaft, eine Gesellschaft in permanentem Wandel bedarf der mobilen Arbeitskraft, und „je bewußter diese Arbeitskraft mobil ist, je genauer sie weiß, wie sie ihr Fähigkeitspotential einzusetzen vermag, desto geringer werden die Störungen dieser Gesellschaft sein und um so mehr werden unsere Kinder an den Früchten einer Gesellschaft des Überflusses teilhaben können"
Die Beobachtung zeigt nun aber, daß der Mensch mit steigendem Realeinkommen Wünsche und Bedürfnisse entwickelt, die sich durch sein Einkommen nicht befriedigen lassen. Er wird z. B. anspruchsvoll in der Berufswahl, er verringert seine Arbeitszeit und nimmt selbst eine Senkung des Lebensstandards in Kauf, um mehr Freizeit zu erlangen. „Mit dem durchschnittlichen Reichtum des Menschen steigt auch sein Bedarf an Dienstleistungen, weil er nach einem Kompromiß zwischen den ihm angebotenen Freuden aller Art und der ihm zur Verfügung stehenden Zeit sucht."
Hier bietet sich eine weitere Option, die zugunsten der Freizeitverlängerung und Arbeitszeitverkürzung geht. Jean Fourastie zitiert in seinem Buch eine französische Untersuchung, die ergab, daß eine durchschnittliche Arbeitszeitverkürzung von 2 Stunden pro Woche etwa 2, 7% vom Lebensstandard „koste": „Da der Lebensstandard in unseren Nationen seit etwa 10 Jahren jährlich um 3— 4 % steigt, und es zwar möglich, zugleich aber auch schwierig ist, diesen Rhythmus von 3 % beizubehalten, wird vermutlich jede Arbeitszeitverkürzung von zwei Stunden pro Woche das weitere Ansteigen des Lebensstandards um ein Jahr oder fast ein Jahr verzögern, genauer: den Fortschritt der Produktivität um ein Jahr aufhalten, dasselbe gilt, in fast gleichem Umfang, für einen Jahresurlaub von anderthalb Wochen, für ein Jahr längeren Schulbesuch und für die Herabsetzung des durchschnittlichen Ruhestandsalters um ein Jahr."
Verkürzung der Arbeitszeit heißt also in einem bestimmten Ausmaß Zurückstellung von Bedürfnissen wirtschaftlicher Art zugunsten längerer Schulpflicht, größerer Freizeit und Hinführung der Masse des Volkes zu einer höheren Lebensweise. Zu den Formen der Freizeitvermehrung und damit Arbeitszeit-verkürzung wird man gesellschaftspolitisch auch rechnen müssen den späteren Eintritt der Kinder in das Berufsleben, die Gewährung von mehr Urlaub und u. U. das Festsetzen einer elastischeren Altersgrenze. „In der Quantität wird die Anzahl der Arbeitsstunden etwa gleichermaßen reduziert durch 1. Verkürzung der effektiven Arbeitswoche um eine Arbeitsstunde;
2. Bewilligung einer Urlaubswoche pro Jahr für alle Arbeiter;
3. Verzögerung des Eintritts in das Berufsleben um ein Jahr;
4. Vorverlegung des Ausscheidens aus dem Arbeitsprozeß um zwei Jahre."
Es könnte sein, daß die bevorzugte Art der Arbeitszeitverkürzung „nicht in der massiven Verkürzung (Jahre des Ruhestandes) und auch nicht in der zunehmenden Beschneidung der Arbeitswoche (sobald sie einmal unter eine bestimmte Dauer gesunken ist) liegen wird, sondern vielmehr in . substantiellen Paketen', das heißt nicht in einem Jahresurlaub, sondern in zwei, später vielleicht drei Urlaubsperioden, mit der Tendenz, das Arbeitsjahr dem Charakter des Schuljahres anzugleichen"
Mit der Option zugunsten der Arbeitszeitverkürzung ist die Hoffnung verbunden, daß aus der Freizeit möglich würde — eine Erhöhung des Lebensalters für den Eintritt in das Berufsleben — eine Herabsetzung der Zahl der Wochen-arbeitsstunden — eine Herabsetzung des Pensionierungs-
bzw. Rentenalters — eine Ausweitung der Urlaubszeit — eine Intensivierung der bezahlten Freistellungszeiten für die berufliche Ausbildung und Umschulung der Erwachsenen.
Sowohl im Lehrberuf wie unter Stahlarbeitern wehren sich aber viele der Älteren weiter gegen die Pensionierung, da die mürrische Gewohnheit an die Arbeit das einzige ist, was ihrem Leben bisher eine feste Ordnung gibt
Das Ziel ist nicht erhöhte Produktivität oder höherer Lohn, sondern ein neuer Lebensstil; „Schmutz, Lärm und Gestank, die sich heute noch mit dem Fabriksaal verbinden, werden wahrscheinlich aus der Fabrik der Zukunft ebenso verschwinden wie der armselige Umkleideraum und die schäbige Fabrikuniform des Mannes in blauem Hemd. Eine Zeitlang werden noch überkommene Zugehörigkeitsgefühle und traditionelle Bräuche Schwierigkeiten auslösen, wenn der Arbeiter sich in der Fabrik gut anzieht und sich aufspielt, als gehöre er zum Mittelstand'. Aber ... in einem Maße, in dem die Arbeit in der Fabrikhalle sicherer und bequemer wird, geraten auch Raufereien innerhalb und außerhalb der Fabrik zunehmend in Verruf."
Die zukünftige Gesellschaft wird also nach diesen Vorstellungen zwar eine Wachstums-und Wohlstandsgesellschaft sein. Doch nicht allein Ernährung, Wohnung und Kleidung werden ihren eigentlichen Luxus ausmachen, sondern die sozio-kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten, „die aus der Befreiung von der Fron der Schwerarbeit, aus der Ausdehnung der Freizeit und aus der für die Industriegesellschaft unerläßlichen Hebung des Bildungsniveaus sich ergeben: die Befreiung von Ignoranz, die Freisetzung schöpferischer und spiritueller Fähigkeiten für immer breitere Schichten der Bevölkerung"
Eine optimistische Zukunftsplanung, die das Zurückdrängen des künstlich geweckten Bedarfs, die Vermehrung der Freizeit und die endgültige Ausschaltung des Disziplinierungsmittels Arbeitslosigkeit erwartet, fordert eine Verarbeitung der Eindrücke und eine weitsichtige und rechtzeitige Option verantwortlicher Politik. Jede politische Entscheidung sollte eine genaue Kenntnis der sich vollziehenden Veränderungen im gesellschaftlichen Bereich besitzen, um die politische Entscheidung in voller Verantwortung rational und zukunftsweisend fällen zu können. Die in den letzten beiden Jahrzehnten entstandenen Wissenschaften des Operations Research, der Kybernetik, der Informationstheorie, der Spieltheorie, des Systems Engineering — um nur die wichtigsten zu nennen — haben hierfür mannigfaltige Ansätze bieten können.