Die Diskussion
Wir hören und lesen in letzter Zeit immer häufiger die Frage nach der Bedeutung der Nation, des Volkes, des Vaterlandes. In der Tat, wie sollen, wie können wir Deutschen sie beantworten? Was bedeuten denn diese Begriffe tatsächlich für uns, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem geteilten Deutschland als Mitglieder einer hochentwickelten Industriegesellschaft und als Staatsbürger eines freiheitlichen Rechtsstaates in enger Verklammerung mit der westlichen Welt leben?
Es lohnt sich, darüber nachzudenken, und mir scheint die Tatsache politisch durchaus bedeutsam, daß diese Frage wieder aktuell geworden ist und daß sie — ob nun positiv oder negativ — eine zunehmende Anzahl von Deutschen beschäftigt. Dialog und Diskussion, vor allem aber Engagement sind Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie, und so dürfte auch die Suche nach einem neuen Verhältnis zur Nation — wir wollen im Sinne des Themas bei diesem Arbeitsbegriff einmal bleiben — von Belang sein. Denn es geht dabei doch wohl um die Frage nach der Beziehung der einzelnen Menschen und Gruppen zueinander, zur Gesellschaft und zum Staat) um die staatliche und zwischenstaatliche Ordnung; um unsere Verantwortung ge-Der Aufsatz geht zurück auf einen Vortrag, den der Verfasser bei der Gedenkstunde am 20. Juli 1967, veranstaltet von der Akademie für Politische Bildung, Tutzing, in Verbindung mit Universität, Technischer Hochschule, Bayerischem Jugendring und Standortkommandantur München, gehalten hat. genüber Ost und West; um die Verantwortung für die Deutschen, die außerhalb des Geltungsbereiches unseres Grundgesetzes leben, und schließlich um die Rolle, die wir Deutschen in der Welt spielen wollen oder sollen.
Allerdings sollten wir von dieser Diskussion keine schnellen Patentlösungen erwarten; geistige Gemeinsamkeiten wollen wachsen. Wie die Dinge — glücklicherweise — liegen, sind Beitrag und Bekenntnis das einzig Legitime. So werden Sie auch heute von mir bei allem Bemühen um Objektivität nur eine subjektive Antwort erhalten.
Ich begrüße es sehr, daß uns dies Thema gerade heute, am 20. Juli, zusammenführt. Der Blick auf dieses Ereignis unserer nationalen Vergangenheit enthüllt uns durch die noch im Scheitern zukunftsträchtigen, in ihrer Ohnmacht mächtigen Vorbilder unsere eigene Bedrohtheit und Verpflichtung. Er zwingt uns zur Dankbarkeit dafür, daß wir trotz allem, was im deutschen Namen durch Deutsche in der Welt geschah, heute wieder unter menschenwürdigen Bedingungen leben können. Den Angehörigen des Widerstandes war die freie, öffentliche Diskussion verwehrt, sie konnten nur im Untergrund und ungehört zusammenkommen. Unser Risiko ist demgegenüber unvergleichbar klein und geringfügig. Das verpflichtet zu gewissenhaftem Gebrauch der uns garantierten Rechte — wobei ich meine, „gewissenhaft" sollte nicht grundsätzlich Minimalgebrauch heißenl
Das Nationalbewußtsein des Widerstandes
Wenn ich mit Ihnen zunächst einen Blick auf das Verhältnis des deutschen Widerstandes zur Nation werfe, um dann einige persönliche Bemerkungen zum Nationalbewußtsein unserer Zeit anzufügen, so folge ich damit nicht bloß festrednerischem Brauchtum. Ich bin vielmehr der Ansicht, daß die Frage nach dem Nationalbewußtsein des Widerstandes uns zu einigen recht aufschlußreichen Erkenntnissen verhelfen kann. Wir werden dabei nämlich entdecken, daß manche Antwort auf Fragen unserer Zeit und Zukunft damals bereits vor-weggegeben wurde.
Die Ablehnung von Ideologie und Wirklichkeit des Nationalsozialismus wurzelte — wir alle wissen es — in sehr verschiedenen Über-zeugungen und Haltungen; sie konnte christlich, humanitär-sittlich, rechtlich, national, innen-oder außenpolitisch, gesellschaftlich und fachlich motiviert sein. Auch, daß sich normale Zustände nur durch den Sturz des Systems wieder herstellen ließen, wurde den einzelnen bei sehr verschiedenen Anlässen klar. Der eine sah sich durch die Judenverfolgung oder die Unterdrückung seiner Kirche, der andere durch die Rechtspflege, die Konzentrationslager oder das . Euthanasie-Programm" herausgefordert und vor die Gewissensfrage gestellt — wieder andere durch die totalitäre Eidesformel, die offensichtliche Tendenz zum Kriege oder durch die Art der Kriegführung.
So kam es, daß sich Menschen recht verschiedenartiger Färbung im Widerstand zusammen-fanden, der, von uns aus gesehen, übrigens weit geschlossener erscheint, als er es tatsächlich war und sein konnte. Denn zu der gegebenen Vielfalt der pluralistischen Gesellschaft trat noch ein anderes Moment: Die erdrückende Übermacht der Apparatur und die Haltung weiter Teile des deutschen Volkes ließen jeden Zusammenschluß, der über familiäre und berufliche Beziehungen hinausreichte, zum tödlichen Risiko werden. Der Verständigung waren daher enge Grenzen gesetzt. Übereinstimmung herrschte freilich gegen den — wie es Graf Yorck vor dem Volksgerichtshof sagte — „Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtungen vor Gott". Indem die einzelnen sich zum Widerstand entschlossen, beugten sie sich, so formulierte es Bonhoeffer, der „Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag“. „Die außerordentliche Notwendigkeit appelliert an die Freiheit der Verantwortlichen. Es gibt kein Gesetz, hinter dem der Verantwortliche hier Deckung suchen könnte ... Es gibt vielmehr angesichts dieser Situation nur den völligen Verzicht auf jedes Gesetz, verbunden mit dem Wissen darum, hier im freien Wagnis entscheiden zu müssen, verbunden auch mit dem offenen Eingeständnis, daß hier das Gesetz verletzt, durchbrochen wird, daß hier Not das Gesetz bricht..."
Auch Moltke deutet auf das gleiche Motiv, wenn er in seinem Abschiedsbrief an die Söhne schreibt: „Ich habe mich . . . dafür eingesetzt, daß dieser Geist" — im Vorsatz beschrieben als „Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit, der Intolerenz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten, der in den Deutschen steckt und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat" — daß dieser Geist „mit seinen schlimmen Folgeerscheinungen, wie Nationalismus im Exzeß, Rassenverfolgung, Glaubenslosigkeit, Materialismus, überwunden werde." Die Menschen, die damals Widerstand leisteten, hatten erkannt, daß Hitler bzw.der Nationalsozialismus keine zufällige, wenn freilich auch keine zwangsläufige Erscheinung der deutschen Entwicklung war, sondern nur die — allerdings extreme — Konsequenz eines radikalen Nationalismus und ebenso radikaler Ordnungsvorstellungen von Staat und Gesellschaft — zugespitzt noch durch einen nihilistischen Biologismus und Geschichtsdeterminismus. So wollte auch niemand die Zustände von 1932 restaurieren; vielmehr bemühte man sich in den verschiedenen Widerstandsgrupßen um neue Ordnungsvorstellungen, die der Zeit gemäßer wären und einer Wiederholung des Nationalsozialismus entgegenständen. Weite Kreise des Widerstandes fühlten sich geradezu als „europäischer Vortrupp" und waren auf der Suche nach einer neuen „Nation" mit einer neuen Gesellschaftsordnung, die freilich für viele nicht dem Weimarer Modell entsprechen durfte: dazu hatte die erste Begegnung mit der modernen Demokratie in Deutschland unter einem zu ungünstigen Stern gestanden.
Rückblickend kann man feststellen, daß volle Einmütigkeit in der Ablehnung des herrschenden Systems bestand; Einmütigkeit auch in der Erkenntnis, daß es eines neuen Ansatzes bedürfe. Darüber hinaus jedoch gab es von einander abweichende, sich übrigens auch im einzelnen ständig weiterentwickelnde Vorstellungen über den Weg in eine bessere Zukunft. Die Aussagen aus dem Widerstands-kreis zu unserem Thema lauten deshalb recht, verschieden je nach dem politischen Standort des Betreffenden oder seiner Gruppe, bzw.dem Zeitpunkt, zu dem sie gemacht wurden.
Die Konservativen Der konservative Flügel empfand den Krieg in Europa zunächst als unerträglichen Anachronismus, lebte aber, jedenfalls in seiner Frühzeit, noch ganz in den Vorstellungen eines Bismarck-Reiches von Weltgeltung. Erst als die Verbrechen des Regimes dem deutschen Anspruch, der bestimmende Ordnungsfaktor in Europa zu werden, jeden moralischen Boden entziehen, nimmt man Abschied von einem Europagedanken hegemonialer Art, in dem die mittelalterliche Reichsidee noch deutlich anklang, d. h. in dem es weniger um Macht und Gewalt als um Frieden und Recht ging. Die innere Ordnung wird erklärlicherweise noch patriarchalisch gesehen, der Gedanke des starken Staates erst allmählich korrigiert. Hier war die Diskussion mit dem Kreisauer Kreis und anderen Widerstandsgruppen hilfreich.
Graf Moltke z. B. gehört zu denen, die sich gegen die konservative Tradition wandten, den Staat als eine moralische Instanz mit religiöser Rechtfertigung zu begreifen. Er sah gerade in dieser Staatsauffassung eine wesentliche Ursache für die Wehrlosigkeit des deutschen Volkes gegenüber den Versuchungen und Ansinnen des totalitären Systems.
Der Kreisauer Kreis überhaupt stand der christlich-sozial bestimmte Kreisauer Kreis — so benannt nach dem Gut des Grafen Moltke — Nationalismus und obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen insgesamt ferner. Er wollte außenpolitisch Versailles — den von den meisten Deutschen als ungerecht empfundenen Friedensvertrag des Ersten Weltkrieges — nicht, rückgängig machen, sondern nach vorwärts überwinden. Man erkannte die historischen Leistungen des Nationalstaates zwar an, hielt ihn aber nicht mehr für die geeignete Ordnungsform der Zukunft. An seine Stelle soll eine „Genossenschaft der freien Völker" treten, ein durch eine Wirtschaftsunion eingeleiteter Staatenbund mit europäischem Staatsbürgerstatus, europäischen Streitkräften und höchstem Gericht. In der Denkschrift vom November 1943 heißt es: „Die Entwicklung, insbesondere in Europa, erweist die Unzulänglichkeit des souveränen Nationalstaates als letzter Internationaler Instanz und drängt auf größere Zusammenfassung der einzelnen Völker hin." Man sieht: hier wird nicht resignierend der zum Selbstzweck überhöhte Nationalismus preisgegeben, sondern ganz rational angesichts der Bedingungen unseres Zeitalters im wohlverstandenen Interesse der Nation auf Souveränität verzichtet.
Die Vorstellungen über eine künftige Struktur Europas nehmen die Gedanken der Steinschen Reform wieder auf; sie propagieren die Selbstverwaltung, um die Mitverantwortung der Staatsbürger im überschaubaren Bereich herauszufordern und so das obrigkeitsstaatliche Erbe zu überwinden. Die Aufteilung Europas in eine größere Zahl von Verwaltungs15 bezirken soll einer deutsch-französischen Hegemonie vorbeugen. 1942 führt Moltke aus: „Für uns ist Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen oder großen Plänen. Europa nach dem Kriege ist die Frage: wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitgbürger aufgerichtet werden? Das ist eine Frage der Religion, der Erziehung, der Bindungen an Arbeit und Familie, des richtigen Verhältnisses zwischen Verantwortung und Rechten.“
Der Wiederaufbau eines durch Nationalismus und Rassenwahn zerstörten Europas soll im Zeichen der Wiederherstellung von Menschenwürde und Recht, unter der Forderung einer verantwortlichen Freiheit für den einzelnen stehen. Ganz modern mutet es an, wenn Moltke in einer Denkschrift des Jahres 1941 bereits von europäischer Innenpolitik spricht. Er hält es für „die geschichtliche Aufgabe dieses Krieges, diese (nationalistischen) Gegensätze zu überwinden und mindestens für Europa eine einheitliche Grundauffassung wiederherzustellen; die notwendige Folge dieser Hoffnung ist die einheitliche Souveränität über Europa unter Überwindung aller einzelnen Souveränitätsansprüche".
Im Kreisauer Kreis hat — so weit ich es übersehe — der Kulturpessimismus, der viele Menschen in die Arme des Dritten Reiches trieb, keine Rolle gespielt; die pluralistische Gesellschaft und damit die freie Entfaltung der Gruppen wurde bejaht. Ob allerdings der Staat für den einzelnen oder der einzelne für das Volk da sei, diese Frage wurde heftig diskutiert; die liberale Staatsauffassung stand auch hier einer konservativ-romantischen gegenüber. Da jedoch beide Richtungen von der zentralen Stellung des Menschen ausgingen, war die Einigung über die konkrete Planung nicht schwer. Pater Delp hat den Kompromiß wie folgt definiert: „Es ist auf eine Ordnung äußeren, sozialen, wirtschaftlichen, technischen usw. Lebens hinzuarbeiten, die dem Menschen ein relativ gesichertes Existenzminimum jeglicher Art (auch geistig, zeitlich, räumlich usw.) verbürgt. Das Maß des Zielbildes ist vom Menschen zu nehmen, das Ausmaß der jeweiligen Verwirklichung nach den sachlichen Möglichkeiten zu bemessen. Ob das nun eine Erziehung zu Gott ist? Erst die unterste Voraussetzung. Erst die Bemühung um eine Ordnung und Verfassung des Lebens, in der ein Blick auf Gott für den Menschen nicht mehr eine übermenschliche Anstrengung bedeutet.“ Dieses scheint mir übrigens eine sehr glückliche Formulierung zu sein; sie scheidet deutlich letzte von vorletzten Werten, staatlich-gesellschaftliche Aufgabe von personaler Verantwortlichkeit und stellt darüber hinaus manche Klage über den Materialismus als Zug unserer Zeit in Frage.
Die Linke
Die linken Gruppen des Widerstandes folgten einer Tradition internationaler Solidarität und des Denkens in gesellschaftlichen Kategorien; ihre Beziehung zu Fragen unseres Themas war daher nach Inhalt und Terminologie recht anders geartet als die der Rechten und der Mitte. Sie standen dem System von Anbeginn in kompromißloser Ablehnung gegenüber, zumal dessen Terror ihnen nur illegale Tätigkeit erlaubte. Ab Mitte der 30er Jahre suchten sie Anschluß an die Offiziere im Widerstand, da ein Umsturz jetzt nur noch mit Hilfe der Wehrmacht möglich war. Reichsbanner und Gewerkschaften waren sofort nach der Machtübernahme zerschlagen worden; in Verkennung des Naionalsozialismus hatte ihre Führung sie nicht mehr rechtzeitig eingesetzt. Eindeutige Stellungnahmen zu unserem Thema aus dem Untergrund fehlen erklärlicherweise; doch steht fest, daß Männer wie Leber, Leuschner und Dahrendorff, je mehr die Zeit fortschritt, das Denken der anderen Widerstandsgruppen in zunehmendem Maße beeinflußt haben. Bereits 1929 hatte Leber festgestellt: „Europa ... krankt an einem Zustand, der nicht mehr in die Welt paßt: am Nationalismus.“ Der Bonhoeffer-Kreis Noch ein anderer, in seiner sittlichen Radikalität für uns bedeutsamer Beitrag zum Thema Nation darf nicht unerwähnt bleiben; er kommt aus dem Kreis um Bonhoeffer. Hier hatte man sich zu der bitteren Erkenntnis durchgerungen, daß die totale Niederlage und Besetzung Deutschlands nicht nur unumgänglich, sondern aus moralischen und politischen Gründen notwendig sei. Man hatte begriffen, daß ein deutscher Sieg das Ende Europas im Sinne aller freiheitlichen Traditionen besiegeln würde, und war bereit, angesichts des Charakters und der Verbrechen des Regimes mit der totalen Niederlage auch das Ende des deutschen Nationalstaates in Kauf zu nehmen. Aus dieser Sicht begreift Bonhoeffer den Widerstand als „Akt der Buße", der „keine außenpolitischen Auswege" mehr gestatte.
Auch dem „Kreisauer Kreis" erschien die spätere Kooperation mit den Siegern notwendig und selbstverständlich. Mitglieder des Kreises nehmen daher Verbindung mit verschiedenen Alliierten und den Widerstandsbewegungen der besetzten Gebiete auf. Sie taten dies unter dem Zwang der Erkenntnis, daß ein weltweiter Kampf um menschenwürdige Existenzbedingungen heraufgebrochen war und daß die alten nationalstaatlichen Fronten demgegenüber zu sekundärer Bedeutung herabgesunken waren. Vordergründig-positivistisch gesehen, war der Vorwurf des Landesverrates berechtigt. Doch gab es für Menschen, die zu Ende dachten und sich ihrer sittlichen Verantwortung für ihre Mitmenschen und deren Zukunft nicht entzogen, kaum eine andere Wahl. Im Konflikt zwischen Eid und Loyalitätspflicht folgten sie ihrem Gewissen — wohl wissend, was sie taten und wessen sie sich zu gewärtigen hatten. „Es ist Zeit", sagte Henning von Tresckow kurz vor dem 20. Juli, „daß jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muß sich bewußt sein, daß er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterläßt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem eigenen Gewissen."
Unterschiedliche Haltungen zur Nation
Bereits dieser kurze Exkurs scheint mir folgende Feststellungen zu rechtfertigen: a) In einer freien, pluralistischen Gesellschaft gibt es sehr unterschiedliche Haltungen — auch zur Nation. Einig sind sich die Träger freiheitlicher Weltanschauungen aber in der Ablehnung der Unfreiheit, des Unrechts und der Vergewaltigung des Menschen. Diese Übereinstimmung tritt allerdings erst im Augenblick der Gefahr zutage.
Der Glaube an eine mögliche Einheitlichkeit des Verhältnisses zur Nation ist eine totalitäre Illusion; selbst brutalster Gewissenszwang und Konzentrationslager vermögen nur eine Schein-Einheit herzustellen. b) In einer sich stetig wandelnden Welt ist die ständige, kritische Überprüfung der überkommenden Begriffe notwendig geworden. Eine wirklichkeitsferne Schau der Nation ist gefährlich. c) Ein vages Nationalgefühl ist nicht mehr tragfähig in einer immer komplizierter werdenden Welt; ihm mangeln verläßliche und verbindliche Maßstäbe für verantwortliches Tun und Lassen. d) Mit der Überhöhung der Nation zur absoluten Größe beginnt die sittliche Korrumpierung ihrer Bürger; die Nation wird zur permanenten Gefahr für ihre Nachbarn. Bürger, deren Nationalbewußtsein durch religiöse und ethische Maßstäbe bestimmt bleibt, geraten früher oder später in einen ausweglosen Gewissenskonflikt; sie können ihrer Nation nur noch im Widerstand dienen. e) Der Widerstand hat mit seinen Traditionen und Gedanken ein Rüstzeug hinterlassen, das wie kaum ein anderes bei der Bewältigung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dienlich sein kann. Die Mannigfaltigkeit der hier geschaffenen Traditionen bietet jedem — sofern er nur freiheitlich gesinnt ist — den ihm gemäßen Anknüpfungspunkt an ein menschliches Vorbild, dem er ohne Selbstaufgabe folgen kann. f) Die politischen Programme des Widerstandes entstanden in der Isolierung und sind in manchen Einzelheiten zeitgebunden. Doch er-kannten die Männer und Frauen deutlich, daß bestimmte Ideologien und Haltungen in die Katastrophe führen. Ihr Verantwortungsbewußtsein zwang sie zur Revision überholter Vorstellungen und zum Kompromiß mit iGleichgesinnten; es trieb sie zur äußersten Konsequenz, die Henning von Tresckow einen Tag vor seinem Tode folgendermaßen kennzeichnet: „Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung das Leben hinzugeben".
Renaissance des Nationalbewußtseins
Versuchen wir nun für uns heute und hier die Frage nach der Bedeutung der Nation zu beantworten, so dürfen wir nicht übersehen, daß die Welt in einer Renaissance des Nationalbewußtseins befangen ist. Dabei waren vor nur zwei Jahrzehnten die meisten von uns der Ansicht, daß die nationalstaatliche Epoche mit ihrer Übersteigerung zwischen 1930 und 1945 zu Ende gegangen sei; ja, daß gerade die Übertreibung des nationalen Prinzips Folge und Zeichen seines Versagens gegenüber den Problemen unserer Zeit bedeute. Auch im übrigen Europa wurde ein anachronistisch gewordener Nationalismus als Ursache für beide Weltkriege erkannt; man begriff überall, daß ein Wiederaufbau dieses Ausmaßes nur im übernationalen Rahmen stattfinden könne, und strebte daher nach inter-, noch besser: supranationalen Zusamenschlüssen. In Deutschland unterstützte noch die Scham über das im Namen der Nation Geschehene, aber auch die Scheu vor allen klingenden, abgenutzten Worten diese Entwicklung und förderte die Hin-wendung zu Verantwortungsbereichen unter-oder oberhalb der Nation.
Die Renaissance des Nationalen beginnt mit der Auflockerung der beiden politischen Blöcke, die sich nach Kriegsende formiert hatten. Zunächst mildert die Entstalinisierung den Druck der Moskauer Zentrale; es öffnet sich ein Raum, in dem die bisherigen Satelliten Bewegungsfreiheit und Selbstbewußtsein fin, den. Die kommunistischen Regierungen schüren das wieder zum Leben erwachende Nationalgefühl, schließt es doch die Völker zusammen und animiert auch die nicht-kommunistischen Teile der Bevölkerung zur Unterstützung der herrschenden Regime.
Das westliche Verteidigungsbündnis wiederum verliert an Dringlichkeit und Intensität, sobald das Gefühl der akuten Bedrohtheit als Allianzmotiv nachzulassen beginnt. Die Bereitschaft, dem Bündnis, besser: dem eigenen Schutzbedürfnis, Teile der Souveränität zu opfern, wird geringer. Die natürliche Anders-artigkeit und Gegensätzlichkeit der Interessen in einem Bündnis zwischen 15 so verschieden tgearteten Staaten aus drei Erdteilen gewinnt an Bedeutung. Hinzu kommt die Sorge, daß bestimmte technologische Entwicklungen den Sicherheitswert des Bündnisses mindern könnten. In der „Dritten Welt" finden wir den sprühenden Nationalismus der jungen Völker. Hier ist er ein schwer ersetzbares Mittel, die Bevölkerung der meist künstlichen Staatsgebilde zu integrieren, von ihren Nachbarn zu sondern und über die wirtschaftlich-gesellschaftliche Misere hinwegzuführen. Allerdings verzögert dieser Nationalismus den Anschluß an die industrielle Zivilisation, der ohne auswärtige Hilfe nicht erreicht werden kann, und entfacht regionale Konflikte, die die ganze Welt in Flammen setzen können. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich die innerdeutsche, jedenfalls die westdeutsche Diskussion. Sie wird genährt und herausgefordert nicht zuletzt durch die Enttäuschung über eine so unerwartete, weltweite Wiederbelebung des Nationalismus, insbesondere über die Disintegrationserscheinungen des Bündnisses und über das Steckenbleiben der europäischen Einigung. Die Reaktion ist verständlich. Nur dürfen wir nicht übersehen, daß weltgeschichtliche Epochen — selbst wenn sie, wie die nationalstaatliche, nur 11/2 Jahrhunderte währen — nicht von heute auf morgen enden. Dazu ist der menschliche Beharrungswille zu stark. Erst im geschichtlichen Rückblick lassen sich die Wendemarken auf bestimmte Daten fixieren; für die Zeitgenossen sind es qualvolle, widersprüchliche, nicht absehbare Prozesse.
Noch etwas anderes muß hier angeführt werden: Wir Deutschen hatten es leichter, den Schritt nach vorne zu tun; das Vergangene lag in Trümmern und war nur belastend. Die Sieger zahlten mit ihrer politischen Bewegungsfreiheit für ein Bündnis, das uns Besiegten eine gewisse Souveränität überhaupt erst gewährte. So waren wir Deutsche geneigt, gedrängt noch durch unsere Grenzlage, die NATO als supranationale Institution zu interpretieren, während sie niemals etwas anderes als ein Bündnis souveräner Staaten war. Nicht minder unrealistisch wäre es jedoch, die großen Fortschritte in Richtung auf internationalen Zusammenschluß und übernationale Zusammenarbeit gering zu achten, die dieses in Umfang, Intensität und Dauer einzigartige Bündnis erzielte. Man denke nur daran, daß die Existenz der NATO einen Krieg innerhalb der westlichen Welt einfach ausschließt und daß sie eine militärische Auseinandersetzung Ost/West bis heute verhindert hat.
Für uns Deutsche jedenfalls wäre es wenig angebracht, ob nun resignierend oder erleichtert, trotzig oder verzweifelt — gegen alle Vernunft und Gesetzlichkeit des 20. Jahrhunderts —, zu einem überholten, wirklichkeitsfernen Nationalismus des 19. Jahrhunderts zurückzukehren. Wir haben schon einmal auf den Nationalismus von Versailles mit katastrophalen Folgen nationalistisch reagiert. Heute wären die Folgen noch einschneidender: der Mechanismus des technologischen Zeitalters weder verträgt Sektierertum noch Abkapselung. Das Vertrauen zu unserer Einordnungsbereitschaft in die heutige Welt ist leicht zu erschüttern; für unsere Nachbarn bleiben die Erfahrungen mit dem Dritten Reich und unser Geteiltsein politische Fakten. Bestimmte Ideologien, Vokabeln und Töne können wir uns nicht leisten; sie würden Deutschland in Kürze isolieren.
Nationalbewußtsein oder Nationalgefühl?
Auf die Frage, wie denn nun das Nationalbewußtsein beschaffen sein solle, um in der Welt von heute zu bestehen oder besser: uns in dieser Welt bestehen zu lassen, kann ich nur recht persönlich antworten — wenn Sie wollen: bekennen.
Zunächst einmal plädiere ich für das Nationalbewußtsein und gegen das Nationalgefühl. Unnötig zu erwähnen, daß wohl kein Verständiger in diesem seit der Romantik währenden Streit an das Entweder-Oder eines rein-rationalen oder rein-emotionalen Verhältnisses zur Nation denkt. Wir wissen heute alle, daß eine derartige Spaltung der menschlichen Natur widerspricht. Aber unterstellen wir einmal einen Augenblick, es gäbe nur diese Alternative. Es stünden uns dann’ zwei Modelle zur Wahl: hier der Bürger, der die Existenz der Nation intellektuell erkennt, ihre Wirkung und Bezogenheit nach außen und innen ebenso sieht wie seine eigene Abhängigkeit von Geschichte und Politik dieser Nation; dort der andere, der eine schicksalhafte Verstricktheit mit der Nation spürt und durchdrungen ist von seiner Verpflichtung zu unbedingter Loyalität und uneingeschränktem Gehorsam gegenüber dieser unantastbaren Autorität. Dem einen fehlte offensichtlich der Wille, persönliche Konsequenzen aus seiner Erkenntnis zu ziehen; dem anderen die rationale Erkenntnis-möglichkeit, wofür und durch wen er eigentlich in Pflicht genommen werden kann.
Wir leben in einer Welt, die man zu Recht „one world" nennt; also in einer Welt, in der in Berlin über das Schicksal von Kirkenes und Erzerum, in Israel auch über das von Vietnam mitentschieden wird. Der schnelle Wandel der technologischen, politischen und militärischen Situation an bestimmten Orten der Erde schafft neue, überraschende Konstellationen mit weltweiter Wirkung. Nachdem wir gerade zur Kenntnis genommen hatten, daß der Osten ein zentralistischer, monolithischer Blöde sei, zeigen sich die Spannungen eines polyzentrischen Lagers, und wir wissen noch nicht, ob und wann der Ost-West-Gegensatz durch einen globalen Süd/Nord-Klassenkampf der armen, primitiven gegen die reichen, hoch-entwickelten Staaten überdeckt und abgelöst wird. Im Inneren unseres Staates geht den politischen Entscheidungen ein kontroverser Prozeß der Meinungsbildung voraus; der Ausgleich der verschiedenen Gruppeninteressen wird bei wachsender Interdependenz aller Lebensbereiche komplizierter. Die Berufe verwissenschaftlichen, die Arbeitswelt beansprucht in steigendem Maße die Verstandeskräfte — kurz, das Leben in der modernen Industriegesellschaft wird zunehmend rationaler. Das Proletariat der modernen Gesellschaft rekrutiert sich daher aus den nicht mehr Bildungsfähigen, das heißt denjenigen, die den rationalen Anforderungen nicht gewachsen sind. In einer solchen Welt ein irrationales, emotionales Verhältnis zu Nation, Volk, Vaterland, oder wie wir diese politische Kategorie nennen wollen, zu statuieren, wäre ein anachronistisches Unterfangen. Die Absicht, über das Emotionale metaphysische Bezüge in den Dienst der Nation zu stellen, erscheint in mehrfacher Hinsicht als fragwürdige Theologie.
Kehren wir aber zu den Modellen zurück. Idi zöge — vor die Alternative gestellt — unseren „Intellektuellen" vor. Wenn er ein einigermaßen normaler Mitmensch ist — und ein solcher interessiert hier nur —, so kann es nicht unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten, ihn davon zu überzeugen, daß er sich jedenfalls in Augenblicken der Gefahr und der Entscheidung für sie engagieren muß. Und damit sind wir bei dem eigentlichen Streitobjekt, den Zielen und Methoden staatsbürgerlicher Bildung. Ich bin der Überzeugung, daß die freiheitliche Demokratie auf mündige Staatsbürger angewiesen ist, die den Wert freiheitlicher Existenz, d. h. die Bedeutung der staatsbürgerlichen Rechte zu schätzen wissen, die aber auch erkannt haben, daß ihr persönliches staatsbürgerliches Verhalten und damit die Übernahme staatsbürgerlicher Pflichten über die Gestaltung dieser Rechte mit entscheiden. Haben wir uns auf dieses Ziel geeinigt, gibt es auch über den Weg in diese Verantwortung keinen Zweifel mehr: Die Erkenntnis von der existentiellen Bedeutung der Nation für das eigene Schicksal zwingt den einzelnen zum Engagement, zu seiner Identifizierung als Mensch mit dieser Nation, sobald und soweit dieses notwendig wird. Wird der Staatsbürger als Mündiger angesprochen, erhalten Verstand und Gefühl ganz von selber den ihnen gebührenden Platz, jedenfalls kann der Verstand nicht zur Rechtfertigung der Emotionen mißbraucht werden. Ein gefühlsbetontes Verhältnis zur Nation hingegen treibt zu ihrer Mystifizierung und verführt dazu, in Bezirken, die nicht kühl und kritisch genau betrachtet werden können, zu glauben bzw. an den Glauben anderer zu appellieren; es beschwört und verteufelt, wo freie Diskussion im Interesse aller vonnöten ist; es ist überdies häufig von Erlebnissen der Vergangenheit geprägt und verhindert daher ein rechtes Verhältnis zur Wirklichkeit von heute. Es führt schließlich zu dem von Gottfried Benn trefflich umschriebenen Schmollwinkel: „Wo gedacht wird, fühlt sich das Deutschtum bereits verraten.“ Doch hat mein Plädoyer für das Nationalbewußtsein und die rationale Betrachtung unseres Problems noch einen weiteren Grund.
. Nation", „Vaterland“ und „Volk" sind unscharfe und damit der Diskussion entzogene — wenn Sie so wollen — „undemokratische" Begriffe; ihre Bedeutung ist ambivalent; jedenfalls erwecken sie je nach Generation, Erfahrung und Standpunkt unterschiedliche, oft kontroverse Vorstellungen; sie trennen damit, statt zu verbinden. Jeder von uns erinnert sich wohl an fruchtlose Gespräche zwischen Menschen, die sich zwar in der Sache gar nicht so uneinig, aber durch Vokabeln getrennt waren. Das ist nicht verwunderlich, weil jeder dieser Begriffe eine Vielzahl von Definitionen erlaubt. Selbst ein politisch ganz unbelastetes Wort wie „Heimat" entzieht sich in einer mobilen Gesellschaft allgemeingültiger Bestimmung. Jedenfalls wird ein Bauer auf dem Hof seiner Väter darunter etwas anderes verstehen als ein Industriearbeiter oder z. B. ich, der ich meine Geburtsstadt Trier bereits im Steckkissen verließ und seither — die Kriegsjahre nicht mitgerechnet — mehr als 20 Wohnungswechsel über verschiedene Grenzen hinweg vornehmen mußte.
Aber die Begriffe sind nicht erst durch Mißbrauch im Dritten Reich oder unter den Bedingungen der Industriegesellschaft fragwürdig geworden; die Gründe für ihre Unzulänglichkeit liegen in der deutschen Geschichte selbst.
Zur Zeit, da sich in Europa die modernen Staaten formierten, fehlte in Deutschland die zentrale Gewalt; es bildeten sich daher nur Kleinstaaten dynastischer Prägung ohne oder gegen das ohnmächtig gewordene Reich. Je stärker die fremden Nachbarn werden und je mehr sie in innerdeutsche Fragen eingreifen, desto größer wird die Sehnsucht nach Behauptung und Geltung, das heißt nach etwas, das die innere Zerrissenheit, den Partikularismus und den Konfessionalismus überwinden könne. Diese Sehnsucht, oder man kann auch sagen: diese Diskrepanz zwischen idealistischen Zielen und konkreten Machtmitteln hat die deutsche Geschichte seit den Staufern begleitet; sie fand ihren Ausdruck in der ersten Strophe des Deutschlandliedes, in der ein Vaterland mit utopischen Grenzen besungen wird.
Symbol dieser Sehnsucht wurde früh „das Volk", dessen geographische Grenzen jeder Interpretation offen standen. Im Laufe der Geschichte erhält dieser Begriff eine zunehmend negative, ja aggressive Bedeutung. „Das Volk" wird Gegenbild zu Aufklärung, rationaler Staatsauffassung, parlamentarischer Demokratie — ja, schließlich moderner Welt überhaupt. Die Erfahrungen der napoleonischen Kriege haben diese Entwicklung in hohem Maße unterstützt. Die Forderung nach dem starken Volk und dem starken Staat beginnt sich durchzusetzen. Bald hält man es für ganz normal, die innere Freiheit der äußeren zu opfern; bezeichnend hierfür ist die spätere Umbenennung der Freiheitskriege, als was die liberalen Zeitgenossen sie noch empfanden, in „Befreiungskriege". Im Interesse der Schlagkraft nach außen wird Einheitlichkeit der Meinungen gefordert. Das Gefühl, als Volk zu spät und in seinen Lebensrechten zu kurz gekommen zu sein, erzeugt ein Klima, in dem der Ernstfall zum Regelfall wird und den Alltag bestimmt. Der Staat erhält sittlichen Charakter; eine pseudo-christliche Opferideologie idealisiert und verniedlicht damit den Krieg; der Verzicht auf unveräußerliche Rechte gilt als besonders patriotisch; Ordnung wird zum Selbstzweck; die Überbetonung der Pflichten reduziert allmählich das Verantwortungsbewußtsein und führt zu fraglosem, sittlich neutralem Gehorsam. Es ist nur folgerichtig, wenn sich in diesem Klima der Obrigkeitsstaat und — ihm entsprechend — die politische Abstinenz der Bürger verfestigen. Parlamentarische Demokratie und Opposition, öffentliche Kritik und Diskussion widersprechen einer solchen Volks-und Staatsideologie; sie gelten als Importe der westlichen Welt. Demgegenüber wird die Vergangenheit gegen alle hi21 storische Wahrheit vergoldet; die Folge ist ein gebrochenes Verhältnis zu Gesellschaft und zeitgenössischer Kultur, ein Unbehagen gegenüber der Zukunft, die unheimlich und drohend erscheint.
Dieser ganze Komplex mit seinem Chor der Gegenstimmen wird mit den alten Begriffen wieder heraufbeschworen, ob wir es wollen oder nicht. Das sollte jeder bedenken, der sie weiter benutzt.
Staatsbürgerliches Bewußtsein mündiger Menschen
Bei der Suche nach Definition habe ich nur eine gefunden, die mir für uns hilfreich erscheint; es ist die „Staatsnation". Sie stammt von Friedrich Meinecke, der darunter die Bevölkerung eines Gebietes versteht, die ihren politischen Willensausdruck in einem bestimmten Staat findet. Es ist eine Nation, die ihre Existenz, um das bekannte Wort Renans zu gebrauchen, einem tägliche Plebiszit ihrer Staatsbürger verdankt, also einen stillschweigenden Konsensus für eine bestimmte, in der Verfassung niedergelegte Wertordnung und einem Machtapparat, der dieser Verfassung dient, sie verwirklicht und schützt.
In der pluralistischen Gesellschaft gibt es kein Diktat für den rechten Gebrauch der Begriffe; wir müssen mit der Vielfalt der Vorstellungen und Vokabeln leben. Wir sollten daher die Relativität und Fragwürdigkeit unserer eigenen Begriffswelt sowie die Legitimität der anderen anerkennen. Ich persönlich z. B ziehe den unbelasteten Begriff der „staatsbürgerlichen Verantwortung" oder des „staatsbürgerlichen Bewußtseins", wenn Sie wollen: „staatsbürgerliches Engagement“ vor und meine, daß es im Prinzip einfacher ist, sich aut etwas Neues zu einigen, als einen der früher gebräuchlichen Kamptbegrifte allgemein verständlich und verbindlich zu machen.
Ich plädiere also für das „staatsbürgerliche Bewußtsein". Es zeigt eindeutig die Rolle und auch die Weise, in der wir angesprochen werden, -es zeigt die Grenzen, innerhalb derer wir ansprechbar sind, aber auch den Bereich — nämlich die Staatsnation —, für den wir primär und unmittelbar Verantwortung tragen; es zeigt ferner, mit wem, aber auch gegen wen wir aufgerufen sind, und erlaubt eine sachliche Diskussion über Rechte und Pflichten im akuten Fall.
Ich plädiere für ein staatsbürgerliches Bewußtsein, das die Zusammenarbeit über die Landesgrenzen hinaus erleichtert und fördert. Staaten europäischer Größenordnung sind nicht mehr in der Lage, die entscheidenden politischen, technologischen und gesellschaftlichen Probleme aus eigener Kraft zu meistern. Der Krieg hat sich spätestens 1918 als ungeeignetes Mittel zur Lösung politischer Fragen erwiesen; in Europa würde er sich, einmal ausgebrochen, aller Voraussicht nach bis zur physischen Vernichtung der Völker steigern. Wir sind also unausweichlich auf Miteinander und friedlichen Ausgleich angewiesen und sollten auch in den Nationen jenseits des Eisernen Vorhanges nicht nur potentielle Gegner, sonders vor allem auch die potentiellen Bundesgenossen sehen, ohne deren Zustimmung und Mitwirkung weder das deutsche, noch andere europäische Probleme gelöst werden können. Auch der Soldat dient unter den gegebenen Bedingungen der Erhaltung des Friedens. Das ist kein Wortspiel, sondern die entscheidende Frage an sein Selbstverständnis. Die Art, wie der Soldat Dienst und Aufgabe sieht, entscheidet über seine Eingliederung in Gesellschaft und Bündnis.
Der Gedanke der bloßen Kriegsverhinderung führt zwar in die rechte Richtung, bleibt aber auf halbem Wege stehen: er fixiert eine Freund/Feindhaltung und verleitet zu falschen Maßnahmen. Die Vorstellung, wiederum, lediglich für Kampf und Sieg da zu sein, gibt ein gespaltenes Verhältnis zu Frieden und Freiheit. Frieden ist dann nicht mehr das Normale; Freiheit und Recht bedeuten nicht mehr Aufgabe und Inhalt, sondern Belastung und Gefahr. Nation und Demokratie sind wieder unvereinbare Gegensätze geworden.
Ich plädiere für ein nüchternes Verhältnis zur Geschichte, das nichts verschönt und nichts verdüstert. Wir gewinnen nichts, wenn wir uns nur an den Glanzzeiten sonnen und die dunklen Epochen unter Hinweis auf die Sünden anderer aufzuhellen suchen. Wir können nicht umhin, das unseren Vorfahren Geschehene als Teil unserer eigenen Wirklichkeit zu akzeptieren.
Die vielbeschworene „Bewältigung" der jüngsten Vergangenheit bereitet keine Schwierigkeiten, sobald wir uns mit Stolz zum Widerstand, seinen Trägern und zu den hier gelebten, freiheitlichen Traditionen bekennen. Hier stellten Menschen in einem Augenblick höchster nationalistischer Hysterie und schwerster Bedrohung des Staates — nicht einmal für sich selbst, denn viele sahen das Scheitern des Auf-standes voraus, sondern für ihr Volk und Europa — die innere Freiheit über die äußere.
Ich plädiere für ein staatsbürgerliches Bewußtsein, das keinen Widerspruch zwischen Nation und Demokratie konstruiert, sondern die zentrale Aufgabe der Nation in der Entwicklung und Wahrung freiheitlicher Existenzmöglichkeiten im industriellen Zeitalter sieht. Legen wir den Schwerpunkt unserer gemeinsamen Anstrengungen auf Innenpolitik im weitesten Sinne und führen die Außenpolitik bereits im Sinne von Innenpolitik — wie z. B. die Saarlösung bereits Europa vorwegnahm — dann gliedern wir uns fest in den freien Teil der Welt ein und entwickeln eine ernstzunehmende Alternative für den anderen Teil. Ob und wann dafür optiert wird, liegt nicht in unserer Hand.
Dieses alles ist freilich leichter gesagt als getan. Es verlangt nämlich den Abschied von manchem Restbestand feudaler und vortechnischer Gesellschaftsvorstellungen und die Über-zeugung, daß gerade die Vielfalt unserer Standpunkte und Interessen Teil unserer Stärke ist; es verlangt ständiges Mühen um Information über das rein Berufliche hinaus;
es verlangt schließlich unspektakuläres Eintreten gegen Unrecht im Alltag und selbständiges Da-Sein, wenn das öffentliche Interesse es fordert. Solche Bereitschaft gehört aber zur Mündigkeit. Ihr Kriterium ist eben die Fähigkeit, Verantwortungen zu erkennen und auch zu tragen. Verantwortung ist immer sachbezogen, verlangt also Sachkenntnis und Urteilsvermögen; hinter der Sache aber steht gewöhnlich menschliches Schicksal — ihm kann nur sittlich begründete Verantwortung gerecht werden. Übernahme von Verantwortung ist mit Risiko verbunden; ohne Staatsbürger, die im Interesse der Mitbürger Risiken auf sich nehmen, gibt es keine freiheitliche Gesellschaft. Deshalb gehört zum mündigen Staatsbürger die Entschlossenheit, notfalls — freilich nur dann — alles zu wagen in der Über-zeugung, die Lebers letzte Worte an seine Freunde ausdrückten: „Für eine so gute und gerechte Sache ist der Einsatz des eigenen Lebens der angemessene Preis."