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Zum Ideologieproblem in der politischen Erziehung | APuZ 35-36/1967 | bpb.de

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APuZ 35-36/1967 Zum Ideologieproblem in der politischen Erziehung

Zum Ideologieproblem in der politischen Erziehung

Klaus Hornung

Zuerst als Vortrag gehalten am 10. Februar 1967 in der Evangelischen Akademie Loccum.

1. Die Situation der politischen Erziehung in Deutschland seit 1945

Aktuelle Anstöße veranlassen uns immer wieder zu Kritik und Selbstkritik an unseren Bemühungen im Bereich der politischen Erziehung. Das war 1959/60 so, als die damaligen Hakenkreuzschmierereien von „Halbstarken" zum Anstoß für eine intensivere Beschäftigung mit der „Zeitgeschichte" wurden. Das wiederholt sich jetzt bei der Frage nach den Ursachen der Wahlerfolge der NPD, nicht zuletzt unter jugendlichen Wählern. Ich habe während des zurückliegenden Jahrzehnts immer wieder vor der verbreiteten Selbstzufriedenheit gewarnt, die bei uns in Theorie und Praxis der politischen Bildung und Erziehung festzustellen ist, und auf die tieferen Ursachen einer unleugbar relativ geringen Wirkung unserer politischen Erziehungsbemühungen hinzuweisen versucht.

Die Zielsetzung: Der mündige Mensch Dabei bin ich zu ganz ähnlichen Ergebnissen gekommen wie etwa Eugen Lemberg oder Felix Messerschmid, die ebenfalls immer wieder betonten, daß unsere politische Erziehung nach 1945 vor allem und zu einseitig als Therapie konzipiert wurde, die gegen eine mögliche Wiederholung vorausgegangener Irrlehren immunisieren sollte Im Mittelpunkt stand das Bemühen, die Rechte des Individuums wiederherzustellen, die vom Totalitarismus mit Füßen getreten wurden, dem einzelnen seine freie Entscheidung zurückzugeben: „Er sollte sich seiner Rechte gegen die Übergriffe der Staatsgewalt bewußt werden. Erklärtes Ziel der politischen Bildung wurde der . mündige Mensch', und dieser Mensch war das Maß aller Dinge." Es ging und geht zentral um den Abbau von „Vorurteilen" und „autoritären Syndromen", und in diesen Ansatz ist auch der Vorbehalt, das Mißtrauen gegen jede emotionale und voluntative politische Erziehung einbeschlossen. Das Leitbild des rational und vernünftig urteilenden Citoyen, des einsichtigen und urteilsfähigen Staatsbürgers und „republikanischen Men-sehen" im Sinne Kants muß in der Einwirkung auf den emotional-voluntativen Bereich der menschlichen Kräfte und Vermögen eine unstatthafte Antastung der Autonomie des Menschen, einen heteronomen Eingriff in den Personkern erblicken.

Totaler Ideologieverdacht Auch und gerade in der politischen Erziehung wurde der totale Ideologieverdacht zum Ausdruck unserer Generationserfahrung mit dem Totalitarismus. Entmythologisierung und Entideologisierung sind heute die zentralen Zielsetzungen gerade auch in den politischen und sozialen Wissenschaften. Wir erlebten nach 1945 in Deutschland eine verständliche und doch erstaunende Revitalisierung des kritischen Ansatzes der Aufklärung. Die politischen und sozialen Wissenschaften haben in diesem Selbstverständnis die Mission der Ideologiekontrolle, den Auftrag, „hinter der Ideologie die reine Wahrheit zu finden", „falsches Bewußtsein" als Tarnung und „überbau" zu entlarven, die historischen und sozialen, interessenmäßigen Determinanten der Ideologien und damit die Ursachen — nach Marx — aller „Selbstentfremdung" zu durchstoßen. Dieser Ansatz reicht von Bacons Lehre von den Idolen und von Machiavellis Ideologieverdacht — im palazzo denkt und spricht man anders als auf der piazza — über Marx und Comte bis in die Gegenwart bei Mannheim, Theodor Geiger, Pareto, Dürkheim, Mosca, Horkheimer und Kolakowski. überall geht es, nach Th. Geigers leidenschaftlichem Bekenntnis, um die Befreiung des objektiven Denkens von jeder noch so nützlichen Ideologie und gegen die „Propheten der Verfinsterung“.

Friedrich Oetinger Einen charakteristischen Niederschlag dieses heute vorherrschenden Selbstverständnisses der politisch-sozialen Wissenschaften finden wir in der vor allem während der fünfziger Jahre im Bereich der politischen Erziehung einflußreichen Pädagogik der Partnerschaft. Friedrich Oetinger (Theodor Wilhelm), den wir als den bedeutsamsten Repräsentanten dieser Richtung bezeichnen dürfen, will an die Stelle der hochgespannten kantianischen und hegelianischen Staats-, Dienst-und Pflichtpädagogik, die schon vor dem Nationalsozialismus und dann vollends durch ihn zur „Ideologie" entartet war, die „einfache" Sittlichkeit des Miteinanderauskommens setzen Oetinger will ausdrücklich als Folgerung aus den „pädagogischen Grunderfahrungen der Kriegsgeneration" eine neue Theorie der politischen Erziehung entwerfen, die geeignet ist, uns von der Erziehung her „vor neuen politischen Irrwegen zu bewahren". Der Dienst an einer Sache erscheint seinem Ideologieverdacht zunächst einmal vor allem als unmenschlich. „Dienst beruht auf einem Unterwerfungsverhältnis. Dienen heißt dem Wortstamm nach . Knecht sein'." Die Menschen stehen zur Sache in einem Verhältnis der Hörigkeit. Wo Gemeinsamkeit unter Menschen, gerade auch politische Gemeinschaft, vor allem auf dem Weg durch diese Zone der Sache entsteht, da wird nach Oetinger der Mensch notwendigerweise zu einem nur typischen Phänomen, mit anderen Worten, da ist dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet. Dem Ideologie-verdacht in der Pädagogik ist hier, wie mir scheint, deutlich Ausdruck verliehen. Dementsprechend kann Oetinger auch viel von „konkreter" mit-und zwischenmenschlicher Verantwortung sprechen anstelle „abstrakter", auf den Staat und andere überindividuelle Ordnungen und deren Anforderungen bezogener Verantwortung. Er ist der Überzeugung, daß der Maßstab des menschlichen Zusammenlebens nicht aus irgendwelchen Werten und Wertlehren abgeleitet werden könne, sondern daß das Leben stets sein Maß in sich selbst besitzt.

Der Götzendienst der totalitären Ideologien zieht nach Oetingers Meinung nur die letzte Folgerung aus der abstrakten überpersönlichen Dienstidee und aus der entsprechenden Versachlichung in der modernen technischen Welt. Die partnerschaftlichen Erziehungsvorstellungen gehen dagegen von der zwischenmenschlichen Alltäglichkeit aus; sie wollen eine „konkrete" und „reale" Sittlichkeit „zu Fuß“ pflegen, wie Oetinger sagt. Sie sind in der Tat als Therapie gegen die idealistische Sittlichkeit „hoch zu Roß" der deutschen Tradition konzipiert. So kann Oetinger den a-ideologischen Satz formulieren: „Mit Partnerschaft wird die Verwandlung unseres politisdien Horizontes weg von den Staatsbildern und hin zur praktischen Aufgabenbewältigung beschrieben." Hier fallen also politischer Horizont und praktische Aufgabenbewältigung gewissermaßen zusammen. Der „Horizont" der geschichtlich-politischen Existenz des Menschen wird aufgelöst in die ungeschichtliche „Gegenwart" der Partnerschaft. „Partnerschaft" ist politisch manipulierbar Man wird hier an Georg Kerschensteiners Bemerkung erinnert, politische Bildung und Erziehung ohne Richtung auf den Staat gleiche einem lenkbaren Luftschiff ohne Karte und Kompaß Um noch für einen Augenblick in diesem Bilde zu bleiben: Das „Luftschiff“ der Partnerschaft kann jederzeit von Usurpatoren geentert und in Dienst gestellt werden. Denn hier interessieren mehr das Funktionieren und die guten Umgangsformen der Passagiere an Bord als die Frage nach dem Ziel des Fluges und als die — politische — Entscheidung darüber, wem die Kommandobrücke anvertraut wird. Anders ausgedrückt: Wenn eine politische Pädagogik sich erschöpft in einer Lehre von den Binnenverhältnissen einer Gemeinschaft, wenn sie alle Fragen nach Dauer und Daseins-recht dieser Gemeinschaft, dieses politischen Gemeinwesens als dogmatische oder ideologische Befangenheit ausklammert, als „Vorurteil", das von partnerschaftlichem Konkretismus durchstoßen werden sollte, dann muß eine Kluft entstehen zwischen dem mitmenschlich-sozialen Raum einerseits und dem Raum der politischen Entscheidungen und Kommando-höhen andererseits. Trotz und gerade bei allen Bemühungen, den politischen Bereich in „Atmosphäre" und „Stil" zu verbessern, ihn zu „vermenschlichen", wie die zentrale Vokabel hier lautet, muß oder kann wenigstens leicht eine „anständige" Privat-und Partner-welt und eine enthumanisierte Öffentlichkeit und Machtausübung zunehmend auseinander-treten.

Es ist deshalb mit Recht gesagt worden, daß sich ja auch in totalitären Regimen oft erstaunlich viel private und zwischenmenschliche Menschlichkeit erhält. Der Henker von Auschwitz, Höss, war, wie wir aus seinen Aufzeichnungen wissen, für Familie, Freunde und Kameraden gewiß ein recht anständiger Partner; und in den Fähnlein und Gefolgschaften der Hitlerjugend ging es auch zumeist recht anständig und kameradschaftlich zu. Das änderte und ändert jedoch nichts daran, daß sich über solche unpolitischen Bezirke der Partnerschaft jederzeit gleichsam der Beton-deckel einer totalitären Funktionärsherrschaft legen kann. Partnerschaft in diesem Sinne ist instrumentalisierbar, manipulierbar. Ihre eigene Voraussetzungslosigkeit, ihr „pragmatisme sans horizon" ist die Ursache dafür, daß man aus ihr selbst keine eigentlich politischen Maßstäbe gewinnen kann. Sie ist stets in Gefahr, Kooperation zur sozialen Rolle zu entleeren und Solidarität zu formalisieren zu „Klima", „Atmosphäre" und „Stil". Das Modell des Partners reicht nicht aus, die politische Existenz des Menschen zu beschreiben und damit als Grundlage der politischen Erziehung zu dienen. Darauf wird nochmals zurückzukommen sein.

2. Die anthropologische Funktion der „Ideologie" in der politischen Erziehung

Wenn wir nach den Ursachen der unleugbaren Schwächen unserer politischen Erziehung während der beiden zurückliegenden Jahrzehnte fragen, stoßen wir, glaube ich, mit Notwendigkeit auf die Folgen und Gefahren jenes ideologischen Vakuums, „das in Deutschland nach dem Zusammenbruch einer verhängnisvollen Ideologie eingetreten ist". Es geht uns dabei gar nicht um den immer wieder zu hörenden Ruf nach einer „Ideologie", die der faszinierend geschlossenen und auf alle Fragen des Lebens antwortenden Ideologie des Kommunismus um jeden Preis entgegengesetzt werden sollte. Eine solche adhoc-ideologie wäre unglaubwürdig und nichts weiter als ein Kurzschluß. „Trotzdem ist eine politische Pädagogik auf die Dauer zur Erfolgslosigkeit verurteilt, wenn sie nicht neben der Kritik am vergangenen System, neben der Propaganda für das eigene und neben einer Erziehung zu politischem und gesellschaftlichem Wohlverhalten auch noch ein Bild der Welt, der Geschichte, eine Grundlage der Selbstdeutung, eine Orts-und Rollenbestimmung der eigenen Gruppe, eine Lehre von den gesellschaftlichen und politischen Kräften in der Welt, mit anderen Worten: ein Weltbild, eine Ideologie zu bieten hat ... Es geht also nicht nur mit Vorurteilsfreiheit, Kritik und Vernunft. Das Bild einer zukünftigen Gesellschaft, eine Verheißung ist notwendig. Sie darf freilich nicht unkritisch und unrealistisch sein. Sie muß im Gegenteil aus jenen Enttäuschungen und Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts lernen."

Erich Weniger:

Nationale Selbstbesinnung und Zukunftsbild Auf die Notwendigkeit eines solchen grundlegenden Vorzeichens vor allem unseren politischen Erziehungsbemühungen hat schon bald nach dem Zusammenbruch von 1945 der Göttinger Pädagoge Erich Weniger aufmerksam gemacht Er war überzeugt, daß unsere politische Erziehungs-und Bildungsaufgabe nicht angemessen bewältigt werden könne ohne ein Gesamtbild vom geschichtlichen Schicksal unseres Volkes, ohne den „Kanon eines positiv geschlossenen Zusammenhangs von Gewißheiten", durch den allein Volk und Staat sich ihres Daseins und ihrer Aufgabe versichern können. Der politische Erzieher wandte sich damals leidenschaftlich gegen die Sehnsucht nach einem geschichtlich-politisch belanglosen Dasein am Rande der Geschichte, und er wagte die Skizzierung eines „konkreten Bildes unserer Zukunft im Spiegel unserer Vergangenheit", ein Bild, in dem die universalhistorische Einordnung unseres nationalen Schicksals in die Gesamtverantwortung der Völker verbunden ist mit dem entschlossenen Willen zur Humanität. Er betonte, daß kein psychologischer Befund über die negative Stellung der Jugend zu Geschichte und Politik den politischen Auftrag aufheben könne, ihr mit einer Deutung der Vergangenheit zugleich ein neues Selbstverständnis zu vermitteln, das bei aller kritischen Haltung wieder Hoffnung möglich werden läßt, weil sich doch hinter aller Skepsis und zur Schau getragener Teilnahmslosigkeit ihr Hunger nach Gewißtheit, nach Leitideen, denen man glauben darf und für die es sich einzusetzen lohnt, verbirgt: „Wollen wir also der Jugend andere Wege zu neuen positiven Zielen eröffnen, wollen wir dem deutschen Volk wieder eine Aufgabe im Wirkungszusammenhang der Völker zeigen, aus dem es zu unserem Verhängnis ausgebrochen war, so müssen wir dafür die positiven Daten unserer geschichtlichen Erinnerung herausarbeiten, das, was heute noch oder wieder Bestand hat.... Irregeführte oder gegenstandslos gewordene Begeisterung kann nur dadurch überwunden werden, daß der Enthusiasmus für neue Ziele geweckt wird, die im historischen Unterricht ihren Horizont und ihre geschichtliche Tiefe erhalten." Eine solche produktive historische Selbstbesinnung werde schließlich theologische Qualität gewinnen durch das Wissen von den Abgründen der menschlichen Existenz, von ihrer Gebrechlichkeit und ihren Grenzen, von der Funktion und der Macht des Bösen in der Geschichte. Ein sittliches Urteil sei nur aus solcher Tiefe heraus möglich, sonst entstehe Pseudomoral, die zur Heuchelei und zu einer unerträglichen Philisterhaftigkeit führe.

Eugen Lemberg:

Die Ursache der politischen Interesselosigkeit Ganz ähnlich hat dann Eugen Lemberg fast ein Jahrzehnt später in einem Aufsatz über „Ideologie und Utopie in der politischen Erziehung" in der Zeitschrift „Gesellschaft —-Staat — Erziehung" an der politischen Erziehung unserer Tage kritisiert, daß sie allzu-sehr an dem schlechten Gegenbild des Vergangenen orientiert, als bloße Therapie konzipiert war: „Die zur Erzeugung des politischen Stromes notwendige Spannung ergab sich zwischen einer als gut zu rechtfertigenden Gegenwart und jener bösen Vergangenheit. Hier scheint das eigentliche Geheimnis der oft beklagten politischen Interesselosigkeit der Nachkriegsjugend zu liegen. Eine Spannung zwischen unbefriedigender Gegenwart und besserer Zukunft hat sich schon immer als die bessere politische Pädagogik erwiesen... Ohne diese Spannung gibt es schlechterdings kein Motiv zu politischem Einsatz, zu Selbstaufopferung und Heroismus. Eine politische Erziehung, die nichts anderes will, als ihre Zöglinge zur Bejahung des gegenwärtigen Zustandes zu veranlassen, die ihn nur als Über-windung vergangener Irrtümer rechtfertigt, ohne ihn zugleich als unbefriedigendes Zwischenstadium vor einem erst unter Opfern zu erkämpfenden Endzustand zu erklären, hat sich von vornherein zur Wirkungslosigkeit verurteilt." So kommt Lemberg zu der Forderung, daß die politische Erziehung mit einem „ganzen Bildungs-und Lebensprogramm für ein Volk, eine Nation, einen Kulturkreis“ verbunden sein, daß sie eine „Lehre" enthalten müsse, „die die politisch zu erziehende Generation zwischen ein Bild der Vergangenheit und eines der zu erkämpfenden Zukunft — zwischen Geschichtsbild und Utopie — einspannt"

Unzureichende Anthropologie Wir machen weiten Teilen unserer politischen Erziehungsbemühungen also den Vorwurf, daß sie von unzureichenden anthropologischen Prämissen ausgehen, wenn sie auf ein verpflichtendes Welt-und Gesellschaftsbild verzichten zu können glauben, und der, scheinbar aufklärerischen, Meinung sind, in der Hingabefähigkeit und -bereitschaft des einzelnen an überindividuelle Werte, Gruppen und Aufgaben kämen lediglich ich-schwache, autoritäre Syndrome zum Ausdruck, die therapeutisch abgebaut werden müßten. Wir sollten vielmehr von der psychologischen und anthropologischen Tatsache ausgehen, daß gerade in der Jugend, aber gewiß nicht nur bei ihr, ein Bedürfnis der Spannung auf eine bessere Zukunft vorhanden ist, aus dem erst die Impulse fruchtbar gemacht werden können „zur unentwegten Mitarbeit des Einzelnen an einer ständigen Reform der gesellschaftlichen Verfassung". Werden dieses Bedürfnis und diese Spannung nicht ausgenommen, dann müssen sich die Impulse anderen Verheißungen zuwenden. Eugen Lemberg weist in diesem Zusammenhang auf das Bekenntnisbuch „Fazit" von Melita Maschmann hin, in dem die Verfasserin „die Faszination der Jugend eines spätbürgerlichen Zeitalters voller Konventionen und Res-* Sentiments, aber ohne ein Bild der Zukunft" schildert, einer Jugend, der dann der Nationalsozialismus eben dieses Bild der Zukunft zu bieten schien Es handelt sich dabei gewiß nicht um eine Rehabilitierung des Nationalsozialismus, sondern gerade um seine überzeugende Widerlegung von innen heraus anstatt durch bloße Worte. Bücher wie das von Melita Maschmann können jedenfalls wichtige dokumentarische Beiträge zu einer politisch-pädagogischen Jugendkunde liefern, ebenso wie die jetzt wieder zunehmende Bereitschaft unserer Jugend, sich links-und rechts-„radikalen" Verheißungen zuzuwenden, wie wir sie bei den jugendlichen NPD-Anhängern ebenso wie bei den radikalsozialistischen Studenten der FU Berlin, „irgendwo zwischen Ulbricht und Mao Tse-tung", wahrnehmen können. Unsere politischen Pädagogen wären schlecht beraten, wenn sie sich diesen Erscheinungen gegenüber in Rechthaberei verstocken, anstatt einer kritischen Revision ihrer anthropologischen Prämissen zuwenden würden.

Die Dimension des Gefühls und des Willens Hier ist dann auch der Punkt, an dem sich die politische Erziehung zu fragen haben wird, ob sie nicht zum Scheitern verurteilt sein muß, wenn sie den Menschen vorwiegend auf der Ebene der Kenntnisse und des rationalen Arguments anspricht und damit das ihre dazu beiträgt, die emotionalen Schichten der menschlichen Natur einfach dem totalitären Gegner zu überlassen, der sie vorzüglich zu formieren und zu mißbrauchen versteht.

Das hier gegebene Problem hat schon vor eineinhalb Jahrzehnten Felix Messerschmid deutlich angesprochen, wenn er feststellte, daß der „demokratische Formalismus unserer politischen Erziehungsbemühungen" das institutionelle Moment bevorzuge und dazu neige, sich auf der Ebene der Belehrung, des Arguments und des Meinungsaustausches zu halten, aber eine deutliche Abneigung gegen den gesamten Raum des Irrationalen und des Utopischen in der Politik zeige: „Versäumen wir es weiterhin, nach Wegen zu suchen, auf denen dieses — doch keineswegs illegitime — Bedürfnis richtig erfüllt werden kann, so könnte es uns leicht passieren, daß Männer und Mächte es für unwillkommene Zwecke auszunutzen verstehen, mit einer falschen Mystik nämlich, die aber wirksamer ist, als alle unsere guten Argumente." Ganz ähnlich hat Heinrich Newe betont, daß sich keine echte Bildung auf das theoretische Bewußtsein, den denkenden Geist und Gedächtnis-wissen allein stützen kann. Solche bloße Belehrung gliche einem Feuerwerk, „nach dessen Erlöschen sich die dunkle und schweigende Nacht ausbreitet und ein kühler Wind weht". Mit dem Verstand müssen sich die unbewußten Antriebskräfte des Menschen, die Lebensgestimmtheiten des „endothymen Grundes" (Philipp Lersch) verbinden, „Vertrauen und Lebensglauben, der nicht-rationale Bereich mit seinen vielfältigen Gefühlstönen von der Sympathie bis zu Empörung und Abscheu, vor allem die willenhaften Impulse .. . Keine Kraft des Lebens entwickelt sich durch Wortbelehrung, sondern immer durch die Tathandlung, Liebe nur durch Lieben, Glaube nur durch Glauben, Denken nur durch Denken, Tun nur durch Tun. . . Alle Belehrung ist demgegenüber sekundär und hat überhaupt nur Sinn, wenn sie als Besinnung an das wirklich Erlebte ... anknüpft."

Schließlich kann nur eine politische Erziehung, die solchermaßen auf ein Zukunftsbild gerichtet ist und die emotional-voluntativen Schichten der Person einbezieht, an ihre Zöglinge Forderungen stellen, Tun auslösen, über die räsonierende Beobachterhaltung hinausführen, in der sich heute so viele unserer Jugendlichen und Studenten gefallen, allerdings im tiefsten gar nicht wohlfühlen.

Die Rangordnung der überindividuellen Bindungen Es ist Eugen Lemberg durchaus zuzusti-men, wenn er darauf hinweist, daß die erzieherische Reaktion auf geschehenen und jederzeit wieder möglichen Mißbrauch mit der Hingabebereitschaft des einzelnen nicht Im Rückzug auf das sich selbst bestimmende Individuum, sondern nur in der richtigen Rangordnung der dem Menschen notwendigen Bindungen an überindividuelle Gruppen, Ordnungen und Aufgaben bestehen kann. Politische Pädagogik muß auf einer politischen Anthropologie aufbauen können, die die personal und sozial produktive Funktion der Bindung des einzelnen an überindividuelle Gruppen und Ordnungen deutlich zu machen vermag, denn nur aus solcher Bindung rechtfertigt sich der Mensch für dieses innerweltliche Dasein, „gewinnt er das notwendige Selbstwertgefühl, schöpft er den Sinn seines Lebens, der nicht einfach in der Befriedigung individueller Bedürfnisse bestehen kann. Erst die Integration in eine solche das Individuum bindende und Verpflichtetende Gruppe oder Gemeinschaft, die als wertvoll empfunden und geliebt wird, veranlaßt den einzelnen zu jenem Verhalten, das die Pädagogen als politisches Engagement bezeichnen und anstreben. Eine Gesellschaft von nach gut gelernten Spielregeln konkurrierenden Egoisten ist noch kein demokratischer Staat und noch keine Nation."

Lemberg spricht in diesem Zusammenhang geradezu von einem „geistigen Regelmechanismus" dieses sich in der Hingabe an überindividuelle Ideen und Mächte manifestierenden Strebens nach geistiger Selbstbehauptung und Selbstrechtfertigung In dem Maße, in dem die Integrationskraft zum Beispiel der nationalen Großgruppen im heutigen Europa schwächer wird, werden Bindekräfte freigesetzt, die sich nun den Idealen der europäischen Einigung oder aber auch den Verheißungen der totalitären Ideologien zuwenden. Immer ist jedoch die Person auf diesen Wirkungszusammenhang mit den überindiviudellen Ordnungen und Ansprüchen angewiesen, wenn sie nicht verkümmern, zu einem bloßen ungeschichtlichen Vital-Dasein abgleiten soll. Aus der in der Natur des Menschen angelegten Möglichkeit, Person zu werden, wird, wie uns Ernst Michel gezeigt hat, allein Wirklichkeit aus dem geschichtlich—kulturell-politischen Raum heraus

Gesellschaftsbild und soziale „Verortung"

Diese neuen Ansätze und Einsichten der politischen und pädagogischen Anthropologie und der Sozialpsychologie werden neuerdings auch von der empririschen Sozialforschung wieder entdeckt und beschrieben. Heinrich Popitz hat zum Beispiel am Gesellschaftsbild des zeitgenössischen Arbeiters in der Großindustrie nachgewiesen, daß dieses Gesellschaftsbild als „Hilfskonstruktion" zur Welt-erklärung von großer Wichtigkeit für die Bewertung und Deutung der gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen des einzelnen ist und -ein wesentliches Mittel zu seiner sozialen „Verortung" darstellt „Gesellschaftsbild“ ist hier freilich nicht mehr „Ideologie" im Sinne etwa einer totalitären Total-und Endlösung, sondern eine „Gesamtvorstellung" von Welt und Gesellschaft, die dem einzelnen seinen Ort verstehbar macht. Popitz weist nun darauf hin, daß solche Gesellschaftsbilder im Sinne produktiver „Vor-Urteile" dem einzelnen überhaupt erst eine „Informationschance" eröffnen und daß ohne sie zumeist eine Informationssperre zu verzeichnen ist mit allen Folgen für die gesellschaftliche und politische Rolle des einzelnen: mangelndem politischen Interesse, Uninformiertheit, dem Gefühl der Machtlosigkeit und damit der Lähmung der Aktivität und der Resignation des kleinen Mannes, der nichts tun und ändern kann.

Bei den empirischen Untersuchungen von Popitz und seinen Mitarbeitern zeigte es sich, daß die Orientiertheit des einzelnen Arbeiters und die Differenzierung seines politischen und gesellschaftlichen Bildes der Welt direkt abhängig ist von dem Bestand an solchen festen „ideologischen" Interpretationsschemata. Diejenigen Arbeiter, die über solche verfügten, also zum Beispiel über ein noch „klassisches" marxistisch-sozialistisches Gesellschaftsbild, waren nicht nur überdurchschnittlich informiert, sondern wurden in der Regel auch in den gewerkschaftlichen, betrieblichen oder politischen Verantwortungsbereichen angetroffen.

Popitz hat selbst aus seinem empirischen Material einige Folgerungen im Hinblick auf den Prozeß der gesellschaftlich-politischen Urteilsbildung gezogen, die für die Didaktik der politischen Erziehung von erheblicher Bedeutung zu sein scheinen. Dieser Prozeß der Meinungs-und Urteilsbildung vollzieht sich demnach stets auf drei Ebenen gleichzeitig: derjenigen der eigenen primären Erfahrungen, derjenigen der sekundären Kenntnis politisch-gesellschaftlicher Tatbestände und Probleme, etwa durch Presse und andere Massenmedien, durch Buch und Literatur, durch „Unterricht" im weitesten Sinne, und schließlich auf der Ebene der „nicht erfahrungsbegrenzten Vorstellungen" (wie Popitz sie nennt), die von ihm nicht nur negativ in ihrer Gemengelage von Wahrheit und Irrtum, als „ideologische" Verkürzung der Erfahrung, sondern auch in ihrer produktiven Funktion als erste Infor-mationschance überhaupt begriffen werden. Sie sind als solche im Urteils-und Willensbildungsprozeß des einzelnen nicht nur negative Vorurteile, sondern stets zugleich auch immer Vor-Urteile, das heißt, zunächst noch undifferenzierte Gesamtdeutungen, also niemals nur Verhinderung und Gegenteil, sondern stets auch Voraussetzung zureichend wirklichkeitsgemäßer und rationaler Urteile.

Gewiß besteht immer die Gefahr, daß diese „soziale Bildwelt" ein Eigenleben entwickelt auch entgegen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem eigenen Erlebnisbereich. Sie können aber auch „Annäherungswerte zum Verständnis der gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge bieten", eben eine Funktion als „Hilfskonstruktionen" übernehmen: „Der Versuch des einzelnen, sich in eine Beziehung zur Welt zu setzen, in der er lebt, kann sich niemals ausschließlich auf das Handgreiflich-Zugängliche beschränken. Es müssen Vorstellungen gebildet werden, die über die eigenen unmittelbaren Erfahrungen hinausgehen." Wichtig bleibt allerdings, daß sie sich einer an der objektiven Realität orientierten rationalen Kontrolle und Differenzierung nicht entziehen.

Partnerschaft ist nicht politische Existenz Kehren wir an dieser Stelle nochmals zu unserer Partnerschaftspädagogik mit ihrem „pragmatisme Sans horizon" zurück. Wir hatten zuletzt gesagt, daß das Modell des Partners nicht ausreicht, die politische Existenz in ihrem ganzen Umfang und in ihrer Mehrschichtigkeit zu beschreiben Die reale Verantwortung des Menschen in der geschichtlich-politischen Welt ist immer mehrdimensional. Keine Gruppe und vollends kein politisches Gemeinwesen ist nur die Summe ihrer Partner und Mitmenschen, wenigstens sofern sie mehr ist als eine bloße Spiel-oder Interessengemeinschaft. Der einzelne hat sein „Soll“ an politischer Verantwortung noch nicht erfüllt durch bemühte und reibungslose Partnerschaft. Das „Leben", in dem der Mensch als geschichtlich-politische Existenz steht, ist jedenfalls nicht so einfach, spannungslos und übersichtlich, als daß man aus ihm immer eindeutige Maßstäbe gewinnen könnte. Die verschiedenen Verantwortungsbereiche, in denen der Mensch real steht, können durchaus miteinander in Konflikt geraten.

Aber Oetinger hat vor allem die Binnen-verhältnisse einer Partnergemeinschaft, das Binnenklima gleichsam einer Gruppe im Auge und klammert deshalb das Außenverhältnis aus: Konfliktsituationen werden zu Grenzfällen, zu Zwischenfällen, die der Normalität des Friedens und der „Institutionalisierung des Streits" nachgeordnet bleiben. Es geht in der partnerschaftlichen Vorstellung von politischer Erziehung stets darum, den Feind zum Gegner zu machen und als Partner schließlich aufs „Spielfeld" zu bringen, wie Oetinger so kennzeichnend formuliert hat. Die Partnerschaftspädagogik muß uns deshalb nicht nur eine Ethik der Konflikte schuldig bleiben, indem sie das „Miteinander-Füreinander" überbelichtet, sie formalisiert und entschärft darüber hinaus auch das „Gegeneinander", den Streit, zum „Spielfeld". Indem sie der Selbsttäuschung erliegt, ein „unideologisches" Welt-und Gesellschaftsbild ohne die inhärente Unterscheidung zwischen einer Wir-Gruppe (ingroup) und einer ihr gegenüberstehenden Umwelt oder Fremdgruppe (outgroup) zu ermöglichen, indem sie den Außenaspekt des politischen Gemeinwesens zugunsten des partnerlich-sozialen Binnen-aspekts vernachlässigt oder wenigstens unterbelichtet, bleibt sie zutiefst unrealistisch. „Eine politische Pädagogik, die diese Unterscheidung anerkennt, ist nicht nur realistischer, sie kann sich auch besser auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren: die unvermeidlichen Spannungen und Konflikte zwischen den Gruppen unter ein überlegenes Normensystem, unter das Bild einer diese Gruppen transzendierenden Ordnung zu bringen." „Wer Politik betreibt, will Macht erlangen, sich durchsetzen, will siegen und anschließend herrschen. Natürlich gibt es gute und schlechte Politiker wie gute und schlechte Fußballspieler. .. Einige Vergleichbarkeiten finden sich immer: Einhaltung der Regeln, Haltung von Gewinner und Verlierer und so weiter. Entscheidend ist jedoch gerade der Unterschied, daß Spiel nur Spiel, Politik aber immer . Ernst'ist. Wer in der Politik spielt, ist ein Verbrecher; denn er verspielt das Leben anderer.. Diese Sätze stammen nicht von einem konservativen, machiavellistischen „Realpolitiker" oder politischen Ideologen; wir lesen sie vielmehr in dem hochgeschätzten didaktischen Werk „Der politische Unterricht" von Fischer-Herrmann-Mahrenholz

Karl Mannheim Eine bemühte „Entideologisierung" in Theorie und Praxis unserer politischen Erziehung steht stets in Gefahr, das Wesen des Politischen, Parteinahme und Entscheidung, entweder auf wissenschaftliche Erkenntnis zu reduzieren oder pädagogisierend zu entschärfen. Es gilt daher, dem heute in der politischen Erziehung und Bildung wie in den politisch-sozialen Wissenschaften vorherrschenden totalen Ideologieverdacht entgegenzutreten, wenn politische Erziehung nicht in eine harmonisierende Traumwelt führen, sondern dem Leben dienen soll. Das Politische ist eine Seinswirklichkeit, die den Fragenden stets mitumfaßt, auch den wissenschaftlichen Beobachter.

Von ihr umschlossen, hat er in ihr einen Standort und gewinnt von ihm aus ein Verhältnis zu dieser Wirklichkeit und ein bestimmtes Bild von ihr. Gerade wenn politisches Wissen konkretes Denken ist, dann ist es nicht zu trennen von einer realen Gruppensituation, steht es im Zusammenhang eines kollektiven Handelns und ist damit abhängig von dem Willen der betreffenden Gruppe nach Selbstbehauptung und Veränderung.

Es ist immerhin einer der großen Köpfe unserer Wissenssoziologie gewesen, Karl Mannheim, der darauf hingewiesen hat, daß letztlich jede Fragestellung und die ganze Auswahl der in das Denken eingehenden Wirklichkeitselemente von diesem praktischen Impuls des kollektiven Handelns bestimmt werden: „Wir können ohne wertende Konzeption, ohne ein Minimum an sinnvollem Ziel weder in der sozialen noch in der seelischen Sphäre etwas tun." Wissen und Denken sind gerade in diesen Bereichen nur „im Rahmen eines gemeinsamen Schicksals, eines gemeinsamen Handelns und in der Überwindung gemeinsamer Schwierigkeiten" möglich oder wenigstens sinnvoll. Politisch-gesellschaftliches Wissen steht stets unter diesem „praktischen" Imperativ, ist auf die Gestaltung und Umgestaltung der Welt bezogen, in ihm sind Erkenntnis, Entscheidung, Wertung und Sicht nicht voneinander zu trennen. Nur in der dem Politisch-Sozialen unangemessenen bloßen Kontemplation wird dieser Realzusammenhang, dieser praktische Impuls negiert oder zerstört: „Die Nichtachtung des qualitativen Elements und die Unterdrückung des Willensmoments konstituiert nicht etwa Objektivität, sondern negiert die wesentliche Qualität des Objekts... Objektivität und eigenständiges Weltbewußtsein erlangt der Mensch nicht etwa dadurch, daß er seinen Willen zum Handeln aufgibt und seine Wertungen suspendiert, sondern dadurch, daß er sich selbst gegenüberstellt und prüft."

Hermann Heller Und wie Karl Mannheim als Wissenssoziologe, so hat auch Hermann Heller in seiner „Staatslehre" diesen konstruktiven, praktischen Impuls jeder politisch-gesellschaftlichen Erkenntnis betont. Jeder Analyse liegt eine Theorie des politischen Handelns zugrunde: „Das staatliche Sein, als ein menschliches Geschehen, dessen Subjekt-Objekt wir selbst sind, weist durch seinen Willensgehalt über sich hinaus in die Zukunft... Wer eine Beschreibung des staatlichen Seins gibt, muß, ob er will oder nicht, die in der Gegenwart den Staat aktualisierenden Willens-und Wertgemeinschaften selbst bewerten und zugleich eine Aussage über die staatliche Zukunft machen. Denn irgendein Gegenwartsbild der sich immer neu aktualisierenden Staatsstruktur entsteht nur dadurch, daß wir die eine der anderen Willensmacht gegenüber als zukunftgestaltend setzen ..."

Politische Wissenschaft und politische Erziehung Diesen praktischen Bezug haben politische und pädagogische Wissenschaft gemeinsam, er ist gewissermaßen der Ort, an dem sich beide Wissenschaften als „praktische" treffen. Beide stehen unter der Frage „Was kann man tun?“. In beiden lassen sich Leitbilder, Zielsetzungen und Wertungen nicht in die angebliche Objektivität wertfreier Analysen auflösen. Zielstrebigkeit, Überblick, Leitbild und Wertbewußtsein sind gerade für die Führung und Gestaltung einer freiheitlichen Ordnung mindestens ebenso wichtig wie die Analyse der Konstellationen und Bedingungen des Handelns: „Gestaltende Politik beruht zwar auf Wissen, ist jedoch kein Äquivalent zur Ana-lyse. . . Kein Churchill, kein Lincoln und kein Roosevelt waren das Produkt eines Stabes. . . Die vielleicht größte Aufgabe, vor der wir stehen, ist der Versuch, die Fähigkeit und die Bereitschaft wieder zu erlangen, unsere eigene Realität zu gestalten ..."

Mir will scheinen, daß diese Worte, mit denen Henry Kissinger sein bedeutsames Buch „Die Entscheidung drängt" beschließt, auch den Auftrag umreißen, den eine als praktische Wissenschaft verstandene politische Wissenschaft der politischen Erziehung und Bildung stellt. Politisches Denken und Wissen ist nicht eine Explikation rein theoretischer Möglichkeiten, sondern stets Exposition bestimmter Gruppen, ihrer Werte und Kräfte. „Die Darstellungsart politischer Zusammenhänge darf also das ursprüngliche Bedürfnis des politischen Menschen nach aktiver Orientierung nicht durch rein kontemplative Verhaltensweisen verdrängen." Dort, wo politische Wissenschaft produktiv und hilfreich ausmünden soll in politische Pädagogik, muß sie antworten können auf die täglich bedrängende Frage „Was tun?". Hier kann sie als bloß deskriptive, pragmatische Wissenschaft von den Mitteln und Wirkungen, den Formen und Verfahren des politischen Prozesses nicht genügen. Hier kann sie nach dem Wort Raymond Arons „jenseits der Wissenschaften und Techniken die Suche nach der Vernunft, der wesentlichen Eigentümlichkeit und der geschichtlichen Leistung des Menschen" nicht als „ideologisch" denunzieren. Hier muß sie Aussagen über Inhalt, Sinn und Ziel der je konkreten Gesellschaft und damit auch über das von der heutigen deskriptiv-analytischen Wissenschaft so perhorreszierte „Gemeinwohl" machen. Mit anderen Worten: Hier muß sie stets erneut die Frage nach dem „guten Leben" und seinen politischen Voraussetzungen beantworten. „Wozu die Wissenschaft vom Seefahren, wenn man nicht weiß, wohin man gehen will? Wozu die geographische oder astronautische Wissenschaft, wenn man am anderen Ende unseres Planeten oder des Sonnensystems genauso wenig weiß, was tun?"

Hier zeigt sich zweifellos, welche ungünstigen Voraussetzungen die industriell-pluralistische Gesellschaft der Frage nach dem „guten Leben" und eben damit der politischen Erziehung und Bildung bietet, eine Gesellschaft, die mehr und mehr verlernt, in großen Zusammenhängen und nach verbindlichen Vorstellungen von der Natur des Menschen zu denken, eine Gesellschaft, die durch ihren „Kult der Produktivität um ihrer selbst willen" immer weniger in der Lage ist, langfristig und über Generationen hin zu denken, in der die Politik stets in Gefahr ist, gleichsam von der Nationalökonomie als der Lehre vom ökonomischen Wachstum und der wirtschaftlichen Krisen-verhinderung verdrängt zu werden, deren glaubensloser Pragmatismus den Menschen in seiner geschichtslosen Eintagsfliegenhaftigkeit geradezu produziert. Dennoch meine ich, daß eine politische Wissenschaft nur dann sinnvoll ist und die Basis der politischen Erziehung abgeben kann, wenn sie sich als die Wissenschaft von der Ordnung und Gesundheit des Gemeinwesens und damit auch des „guten Lebens" des einzelnen versteht

Einer gründlicheren Analyse kann nach alledem das sich gegenwärtig immer deutlicher artikulierende Unbehagen an unserer politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in Teilen der jungen Generation nicht überraschend kommen. Hier ist man erneut auf der Suche nach „Verheißungen" und Gesellschaftsbildern, ist man „radikal" in dem berechtigten Sinne der Ablehnung eines bundesrepublikanischen „Juste milieu" und Establishment. Andererseits wird die Dialektik des Umschlages solcher Verheißungen in totalitäre Herrschaftswirklichkeit auf beiden Seiten, weder links noch rechts, nicht genügend gesehen. Für die jugendlichen Anhänger der NPD ist jener Umschlag aus einem radikalen Nationalismus in eine totalitäre Herrschaftsordnung nicht mehr eigene Erfahrung, sondern bereits schulbuchmäßig verfremdete Geschichte. Und auf der anderen Seite des politischen Spektrums verhindert die Hoffnung auf die angebliche „ideologische Erosion" des Kommunismus das Bewußtsein des Ernstes seiner fortdauernd totalitären Wirklichkeit. Von dem Problem der „Entideologisierung" im kommunistischen Bereich soll deshalb im folgenden noch abschließend die Rede sein.

3. Ausblick: Ideologie und Entideologisierung im Sowjetkommunismus

Theorie und Praxis unserer politischen Erziehung und Bildung in der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie können ihrem Auftrag nicht gerecht werden, wenn sie nicht die Bedrohung und Herausforderung durch den totalitären Kommunismus, seine Ideologie und Praxis zur Kenntnis nehmen und in ihre Didaktik an entscheidender Stelle einbeziehen. In diesen Monaten voller „Entspannungs" -Euphorie mag ein solcher Satz wie die Perpetuierung des „Kalten Krieges" klingen. Es geht in unserem Zusammenhang aber um nichts anderes als um die nüchterne Feststellung, in welchem Ausmaß der Prozeß der Entideologisierung und „Liberalisierung" im Bereich des Sowjetkommunismus in Anschlag zu bringen ist. Ich meine, wir sollten uns dabei nicht allzu sehr von eigenen Wunschvorsteilungen vom Segen einer friedenbringenden Entspannung in die Irre leiten lassen. Sicherlich sind Wandlungen, möglicherweise tiefgreifende Wandlungen, sowohl in der Herrschafts-und Gesellschaftsordnung des kommunistischen Lagers wie in den ideologischen Grundlagen im Gange. Aber wir sollten diesen Wandel — in Übereinstimmung mit den Experten auf diesem Gebiet — doch recht zurückhaltend beurteilen.

Wir erwarten von einer sich der Reife nähernden Industriegesellschaft freiheitlichere, elastischere Herrschaftsformen: „Mit der Produktion von mehr Gebrauchsgütern werde sich die sowjetische Gesellschaft immer mehr von der Ideologie entfernen, sie werde weniger militant sein und sich in immer stärkerem Maße dem materiellen Wohlstand verschreiben. . . Die Industrialisierung verlange technische Geschicklichkeit und die Bildung fördere fragenden und zweifelnden Geist."

Liberaler „Reformkommunismus" ?

Dennoch erscheint es mir sehr zweifelhaft, ob dieser „Reformkommunismus" (Otto Heinrich v. d. Gablentz) mit seinen relativen „Freiheitssphären der persönlichen Betätigung, der wissenschaftlichen Kritik, der Kunst, der Dezentralisation der Wirtschaft und Verwaltung" als Etappe auf dem Weg zu einer pluralistisch-freiheitlichen Gesellschafts-und StaatsOrdnung verstanden werden kann. Es scheint viel eher, daß ein gewissermaßen „aufgeklärter" Totalitarismus mit elastischeren Mitteln und Methoden der Führung und Lenkung an die Stelle des „absolutistischen" Totalitarismus etwa der Stalinzeit getreten ist, eine Herrschaftsform, die relative Freiheitsräume auch in Konsum und Lebensfreude psychologisch geschickt als Ventile zu benutzen versteht. Noch immer ist der Parteiapparat die lenkende und beseelende Kraft der kommunistischen Gesellschaften. Aber an die Stelle des Massenterrors wurde eine weniger spürbare umfassende Funktions-und Gedanken-kontrolle gesetzt. Von einem Abbau der totalitären Ein-Partei-Herrschaft kann bis heute keine Rede sein, weder in der Sowjetunion noch selbst etwa in Polen oder Rumänien, ja nicht einmal in Jugoslawien. Die Parteiautokratie herrscht, wie auch Boris Meißner immer wieder betont, unbeschränkt Gewisse Inkonsequenzen der Herrschaftsausübung, wie sie etwa Peter Christian Ludz so stark herausstellt, machen aus einer totalitären noch keine „bloß" autoritäre Herrschaftsordnung.

Die totalitäre Klassengesellschaft, die wir immer noch vor uns haben, sollte nicht leichthin mit einer freiheitlichen industriellen Leistungsgesellschaft „westlichen" Musters verwechselt werden. Nur allzusehr ist neben der Leistungstüchtigkeit für den einzelnen, wenn er aufsteigen will, immer noch die „Erfolgstüchtigkeit" wichtig, die nach der Anpassung an die geltenden sozialen und ideologischen Normen bemessen wird. Zwar sind heute durchaus Friktionen innerhalb der Machtelite vorhanden: zwischen Partei-und Staatsbürokratie, den Militär-und den Führungsapparaten der Massenorganisationen usf., zwischen den zentralen, regionalen und lokalen Partei-organisationen usf.; man wird mit Meißner von einem „begrenzten Elitenpluralismus“ sprechen dürfen. Aber noch ist die Parteibürokratie der Kem der herrschenden Klasse. Noch ist es unklar, ob aus all dem „Liberalisierung" und „Demokratie" hervorgehen wird. Meißner macht darauf aufmerksam, daß vor allein die Stärke des russischen National-und Imperialbewußtseins ein Fragezeichen in allen unseren Prognosen darstelle und daß gerade ein russischer Nationalkommunismus leicht faschistische Züge annehmen könnte. Und selbst ein so wohlwollender Beobachter wie Klaus Mehnert weist uns darauf hin daß auch von den Nicht-Kommunisten im heutigen Rußland die westliche Freiheit als Chaos abgetan wird, daß man dort durchaus ernsthaft an die eigene moralische Überlegenheit gegenüber westlicher „Degeneration" glaubt mit ihrem Profit-und Genußstreben usf. Man wolle weder ein parlamentarisches Mehrparteiensystem noch etwa die radikale Aufgabe der Planwirtschaft. Wenn sie nur die private Sphäre achte, könne die Partei ruhig weiterhin die politischen Ziele setzen. Auch nach Mehnert ist heute der russische Patriotismus die vielleicht stärkste Stütze des Regimes, das seine endgültige Legitimation nicht zuletzt durch den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg erhalten hat. Dazu kommt der durchaus nicht nur offizielle Optimismus des technologischen Pathos und der ganzen Aufbaudynamik, wie er nicht zuletzt im Blick auf Raketen, Kosmonauten und Weltraumfahrt zutage tritt.

In ein deutliches religiöses Vakuum sind so seit dem Ende der Zarenzeit innerweltliche Heilserwartungen eingeströmt, deren Intensität durchaus nicht nur von marxistisch-leninistischer Rechtsgläubigkeit her zu bestimmen ist. Die zweite kommunistische Generation empfindet heute weithin die bestehende Gesellschaftsordnung als selbstverständlich. Millionen der „neuen Klasse", auch in der soge-nannten technischen Intelligenz, sind mit dem System als Nutznießer verbunden. Partei, Armee und Wirtschaftsverwaltung ziehen immer noch die besten Köpfe des Nachwuchses an sich und berauben damit jede mögliche Opposition bis auf weiteres ihrer potentiellen Führung. Kenner des Sowjetsystems wie Mehnert oder Wolfgang Leonhard sprechen deshalb weniger von. einer Demokratisierung des Systems im Sinne westlicher Kategorien als vielmehr von einer „Modernisierung. . . unter der Kontrolle des Parteiapparates", nicht von Veränderungen des Systems, sondern von solchen innerhalb des Systems „Heute, mehr als eine Generation nach Entstehen des Kommunismus, rollt der evolutionäre Prozeß, wenn überhaupt, zu dessen Gunsten ab. Dem Nachlassen an ideologischem Eifer in der Sowjetunion sollte man kein zu großes Gewicht beimessen. Denn vom Standpunkt einer Evolution aus gesehen, erzeugen bürokratische Strukturen.. . ein eigenes Gewicht." Ein halbes Jahrhundert kommunistisch-totalitärer Herrschaft sollte auch über den Irrtum belehrt haben, der technische und industrielle Fortschritt müsse zwangsläufig und automatisch entideologisierend wirken, menschlicher und politischer Freiheit zugute kommen. Die industrielle Gesellschaft, die aus der Machbarkeit der Sachen und der Organisierbarkeit der Arbeit die Zivilisierbarkeit des Menschen, ja die Vollendbarkeit der Geschichte gewinnen zu können hofft, ist nach dem Modell einer zentral gesteuerten Maschine und eines rational geplanten und organisierten Betriebes entworfen. Sie besitzt dadurch eine elementare Affinität zu totalitären Herrschaftsformen.

Unübersehbar zahlreich sind die Ansatzpunkte der Verführung durch totalitäre Ideologien auch in unserer eigenen wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie mit ihrer Spezialisierung der Funktionen und ihren bürokratischen Strukturen. „Wir können nach unseren Erfahrungen in den letzten fünfzig Jahren, angesichts einer fortschreitenden Brutalisierung in einer hochindustrialisierten Welt, die bestialischen Kräfte des Menschen gar nicht stark und mächtig genug einschätzen. Dieses 20. Jahrhundert ist nicht nur das technisch fortgeschrittenste Jahrhundert der Menschheitsgeschichte, es ist auch ein wahres Bestiarium. In dieser Welt können wir die Kräfte des Menschen, die sich nicht nur seiner Individuation widersetzen, sondern ihm dabei noch Lustgefühle vermitteln, nicht gefährlich genug ansetzen. Dies sollten uns die Despoten — jeder auf seine Weise — gelehrt haben, und diese Lehre sollte nicht vergessen werden."

Ein ideologisches Dokument der SED Wir stehen so oder so, auch in Gestalt eines revisionistischen Reformkommunismus, einer totalitären Ideologie mit einem geschlossenen und wirkungsvollen Welt-und Gesellschaftsbild gegenüber. Als Dokument einer solchen neukommunistischen Ideologie möchte ich nur etwa das Kommunique der SED zu den Problemen der Jugend in der „DDR" erwähnen (vom 21. September 1963) Es vermittelt ein Zukunftsbild, eine Verheißung, die gerade junge Menschen anzusprechen vermag. Dort lesen wir u. a.:

„Das Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zeigt der Jugend den Weg: Die Mädchen und Jungen von heute werden in wenigen Jahrzehnten Hausherren des sozialistischen Deutschlands sein. Die Stunde der jungen Leute, der jungen Facharbeiter, Genossenschaftsbäuerinnen, Techniker, Lehrerinnen, Ingenieure, Ärzte, Künstler und Wissenschaftler ist nunmehr gekommen.

Die DDR, der erste deutsche Arbeiter-und Bauernstaat, ist dadurch, daß er erfolgreich sozialistische Produktionsverhältnisse schuf, Westdeutschland eine geschichtliche Epoche voraus. Wir haben den Beweis erbracht, daß echte Demokratie und wahre Freiheit nur möglich ist, wenn das von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen befreite Volk selbst seinen Staat leitet. Die Jugend der DDR hat dabei entscheidend mitgeholfen. Ohne die Jugend wären die großen Leistungen unserer Republik nicht möglich gewesen.

Jeder junge Mensch stellt sich früher oder später die Frage: Welchen Sinn hat mein Leben? Jeder junge Mensch möchte glücklich leben. Die meisten jungen Menschen haben den Wunsch, einen geachteten Platz unter ihren Mitmenschen einzunehmen. Sie träumen davon, etwas Großes zu vollbringen. ..

Die heutige Jugend lebt in einer Zeit, die selber jung ist: Im Zeitalter des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus und zum Kommunismus auf der ganzen Welt. Alles ist in diesen Tagen, Wochen und Monaten, Jahren und Jahrzehnten im Umbruch begriffen. Die Welt des Krieges, der Ausbeutung, der Konkurrenz und der Käuflichkeit verliert immer mehr an Boden. Hingegen entwickelt sich immer kräftiger die neue Welt des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit, der Freiheit, der gegenseitigen Hilfe und kameradschaftlichen Zusammenarbeit. In der Welt des Sozialismus und Kommunismus wird der Mensch immer mehr zum Herm seiner eigenen Verhältnisse und stellt in zunehmendem Maße Naturkräfte in seinen Dienst. Vor den Augen der jungen Generation von heute, unter ihrer tätigen Mithilfe, vollzieht sich der von Marx und Engels vorhergesagte Übergang des Menschen aus dem Reich der blinden Notwendigkeit in das Reich der Freiheit!

Während die Ausbeuterordnungen immer wieder Kriege hervorbrachten und der Jugend auch heute keine Perspektive bieten können, ist mit dem Sozialismus eine Gesellschaftsordnung des Humanismus und der Verwirklichung des Friedens entstanden... Die Mädchen und Jungen von heute haben die Möglichkeit, hier wirksame Abhilfe zu schaffen. Sie können auf vielfältige Weise dafür wirken, daß Ausbeutung und Unterdrückung vom Erdball getilgt werden können; sie können die nationalen Befreiungsbewegungen unterstützen und für eine menschenwürdige Ordnung in der Welt arbeiten und kämpfen! Sie können dafür sorgen, daß die gewaltigen Fortschritte der Wissenschaft und Technik zum Wohle aller Menschen wirken ... Es lohnt sich, in einer solchen Zeit zu leben, zu arbeiten und zu kämpfen.

Unsere bewegte Zeit stellt Euch vor weltgeschichtliche Entscheidungen: bei der Arbeit, beim Lernen, in der Schule, in den bewaffneten Kräften, in der Familie, in der Freizeit. Entweder Ihr seid auf der Höhe der Zeit, lernt fleißig, arbeitet schöpferisch, kämpft gegen alles Rückschrittliche... und führt ein glückliches Leben oder Ihr lebt in den Tag hinein, laßt andere für Euch denken, nehmt es mit der Arbeit nicht so genau, redet oder macht politischen Unsinn, gebt Euch mit schlechten Zensuren zufrieden, erschwert den Aufbau des Sozialismus... Diese tägliche Entscheidung kann Euch niemad abnehmen, ihr müßt Ihr Euch täglich stellen. Und wenn Euer Leben einen Sinn haben soll, so müßt Ihr Euch täglich für den Sozialismus entscheiden.. Natürlich kann man sagen, hier handle es sich um billigste und massivste Demagogie und ideologische Verführung. Eine genauere Sprachanalyse des Dokuments würde das sicher alles bestätigen. Natürlich ist uns dies alles zutiefst zuwider — hoffentlich! — mit seinem atheistischen Selbsterlösungspathos. Aber wir haben durchaus ein ideologisches Dokument vor uns, dessen Anspruch und Wirkungen wir ernst nehmen sollten Hier wird ein Gesamtbild der zu integrierenden Gruppe entworfen, dieser Gruppe und ihren Angehörigen eine Rollenbestimmung zugewie-sen und ihnen das Bewußtsein der eigenen Überlegenheit vermittelt, ein Bild der Welt, der Geschichte, eine Grundlage der Selbst-deutung usf. Ich meine nicht, daß unsere unter-kühlte „westliche“ Entideologisierung hierzu das letzte Wort sein sollte.

Die Ursachen westlicher Schwäche Natürlich darf unser Bild der künftigen Welt und Gesellschaft nicht unrealistisch und unkritisch sein; es muß aus den Erfahrungen unserer Epoche lernen, gerade aus der Auseinandersetzung mit den totalitären Ideologien. Natürlich vermögen wir auf Grund dieser Erfahrungen niemals von der Ambivalenz abzusehen, die mit der Bindung und Hingabe an die den einzelnen übersteigenden Welt-und Gesellschaftsbilder immer gegeben ist: große kulturelle Leistung und Selbstaufopferung einerseits, Fanatismus und Verbrechen andererseits. Doch kann unsere Antwort auf die totalitären Ideologien nicht in dem Verzicht auf eine geschichtlich belangvolle Existenz überhaupt bestehen. Politik und politisches Handeln und deshalb auch politische Erziehung sind niemals ohne „Leitbilder" und „absolute Werte" möglich. Heute zeigen sich in der westlichen Politik recht deutlich die verheerenden Folgen des positivistischen und pragmatischen Irrtums, wenn man glaubt, das „Leitbild" als ideologisches Voruteil diskreditieren und durch die rationale Analyse ersetzen zu können. Politik ist aber niemals in „Einsicht" aufzulösen, die Vertretung und Behauptung des eigenen Standpunktes nicht in „voraussetzungslose" Objektivität. Es gilt, den antiideologischen Aberglauben an die bloßen Tatsachen und an die eigene „Voraussetzungslosigkeit" zu durchschauen. Es besteht die Gefahr, daß dort, wo der elementare geschichtlich-politische Gestaltungswille erloschen ist, alle Garantien des geschichtlichen Fortbestandes selbst fehlen. Dann entsteht ein Vakuum, in dem sich zwar noch einige Zeit die vielen vorurteilslosen einzelnen in Privatheit, Erwerb und Konsum tummeln, das aber früher oder später, nach den Gesetzen des „geistigen Regelmechanismus", dem totalitären Zugriff offen steht, der Verheißung der totalitären Ideologie anheimfällt.

Dem Kommunismus dient seine geschichtsdeutende Ideologie als Antrieb zur Leistung hier und jetzt. Im Westen verlassen sich allzu viele Menschen auf die pragmatische „Entwicklung" als Ersatz für diese Leistung: „Infolgedessen wird es zum Hauptziel, am Leben zu bleiben. Das Ende wird gut — wenn wir es erleben." Für den Kommunismus ist seine Ideologie Ansporn zur Handlung, eine Garantie, daß das Opfer Sinn hat. „Im Westen herrscht hingegen die Neigung vor, die evolutionäre Theorie als Beruhigungsmittel zu nehmen. Er wartet, daß die Geschichte ihm die Aufgabe abnehme. . . Wer auf die Geschichte baut, um einen Despotismus zu mildern, weist nur die Opfer einer anderen Generation zu, Opfer, die dann immer schwieriger und im Lauf der Zeit immer sinnloser werden. Wie wäre wohl die Geschichte der westlichen Welt verlaufen, hätten die Ritter, welche die Araber bei Tours schlugen, kapituliert in dem Glauben an die historische Unbesiegbarkeit des Christentums? Mitteleuropa wäre heute mohammedanisch."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zum Beispiel Felix Messerschmid in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 2/1951, S. 159 ff., und Eugen Lemberg in: Gesellschaft — Staat — Erziehung, 2/1958, S. 57 ff. („Ideologie und Utopie in der politischen Erziehung"). Vgl. dazu Klaus Hornung, Politische Pädagogik heute, in: Zeitwende — Die Neue Furche, 9/1961, S. 584 ff., und: Menschlichkeit und Sachlichkeit als Problem der politischen Pädagogik. Eine Auseinandersetzung mit Friedrich Oetinger, in: Gesellschaft — Staat — Erziehung, 1/1961, S. 26 ff.

  2. Eugen Lemberg, Nationalismus II (Soziologie und politische Pädagogik), Flamburg 1964 — rowohlts deutsche enzyklopädie, Bd. 199, S. 134.

  3. Zum folgenden Friedrich Oetinger, Partnerschaft. Die Aufgabe der politischen Erziehung, Stuttgart 1953, 3. Ausl, von: Wendepunkt der politischen Erziehung — Partnerschaft als pädagogische Aufgabe, Stuttgart 1951; ferner Oetinger: Sachlichkeit und Menschlichkeit. Richtpunkte für die sittliche Erziehung in der Gegenwart, Stuttgart 1955.

  4. Partnerschaft, S. 85.

  5. Kerschensteiner, Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung, 1922°, S. 22.

  6. Lemberg, Nationalismus II, S. 132.

  7. Erich Weniger, Neue Wege im Geschichtsunterricht, Frankfurt 1949 (zuerst erschienen in der „Sammlung“).

  8. Gesellschaft — Staat — Erziehung, 2/1958, S. 57 ff.

  9. Lemberg: Nationalismus II, S. 133.

  10. Messerschmid in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1951, S. 162.

  11. Heinrich Newe, Der politische und demokratische Bildungsauftrag der Schule, Kiel 1961, S. 63 ff.

  12. Lemberg, Nationalismus.

  13. Ebda. S. 122. Zur „Großgruppe als Konstruktionselement der menschlichen Gesellschaft", ebda. S. 100 ff.

  14. Ernst Michel, Der Prozeß . Gesellschaft contra Person'. Soziologische Wandlungen im nachgoethesehen Zeitalter, Stuttgart 1959, S. 194 ff.

  15. Heinrich Popitz, Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, Tübingen 1957, S. 1 ff.

  16. Zum folgenden vgl. jetzt mein Buch: Politik und Zeitgeschichte in der Schule, Villingen 1966, hier bes. Kapitel 2: Die Pädagogik der Partnerschaft, S. 37 ff.

  17. Lemberg, a. a. O., S. 132.

  18. Kurt Gerhard Fischer, Karl Herrmann, Hans Mahrenholz, Der politische Unterricht, Bad Homburg v. d. Höhe 19652, S. 89.

  19. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929 (1. Ausl.), S. 134 ff.

  20. Ebda.

  21. Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 26, S. 53 und S. 55.

  22. Henry Kissinger, Die Entscheidung drängt, Düsseldorf 1961, S. 369 ff., S. 412 ff.

  23. Mannheim, a. a. O., S. 150.

  24. Ebda. S. 39.

  25. Vgl. Hornung, Politik und Zeitgeschichte in der Schule, S. 173 ff. Dazu George F. Kennan, Die industrielle Gesellschaft und das „gute Leben", in: Das Seminar von Rheinfelden, S. 223 ff.

  26. Kissinger, Die Entscheidung drängt, S. 337.

  27. Otto Heinrich v. d. Gablentz, Einführung in die politische Wissenschaft, Köln und Opladen 1965, S. 271 f.

  28. Boris Meißner, Totalitäre Herrschaft und sozialer Wandel in der Sowjetunion, in: Moderne Welt. Zeitschrift für vergleichende geistesgeschicht liehe und sozialwissenschaftliche Forschung, 3/1966, S. 272 ff.

  29. 1 Klaus Mehnert, Der Sowjetmensch, Fischer Taschenbuch Nr. 388, S. 230 ff.

  30. Wolfgang Leonhard, Kreml ohne Stalin, Köln 1959, bes. S. 504 ff. (10 Thesen über die Entwicklung nach Stalins Tod).

  31. Henry Kissinger, Die Entscheidung drängt, S. 358; vgl. Klaus Hornung, Wohin geht Deutschland?, München 1966, S. 90 ff. (hier eine Besprechung von Kissingers Buch unter dem Titel „Gefahren amerikanischer Politik").

  32. Theo Pirker, Die Moskauer Schauprozesse 1936 bis 1939, dtv-Dokumente Bd. 146, München 1963, S. 89.

  33. Abgedruckt in: Siegfried Dübel, Dokumente zur Jugendpolitik der SED, München 1964, S. 140 ff.

  34. Vgl. E. Lemberg über das Wesen der Ideologie, a. a. O., S. 132 sowie S. 54 ff.

  35. Kissinger, a. a. O., S. 339 f.

  36. Kissinger, a. a. O., S. 359 f.

Weitere Inhalte

Klaus Hornung, Dr. phil., Professor für politische Wissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen, geb. 26. Juni 1927 in Heilbronn. Veröffentlichungen u. a.: Soldat und Staat. Gerechte Maßstäbe gegen alte Vorurteile, Stuttgart 1956; Der Jungdeutsche Orden, in: Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 14, Düsseldorf 1958; Etappen politischer Pädagogik in Deutschland, in: Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 60, Bonn 19652; Wohin geht Deutschland? Zur politischen Situation und Zeitgeschichte, München 1966; Politik und Zeitgeschichte in der Schule — Didaktische Grundlagen, Villingen 1966; Totalitäre Herrschaft im 20. Jahrhundert, in: Politik und Soziologie — Darstellungen und Materialien zur Gestaltung des politischen Unterrichts. Schriftenreihe der Landesanstalt für Erziehung und Unterricht, Stuttgart 1967.