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Die Bedeutung der Marktgröße | APuZ 34/1967 | bpb.de

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APuZ 34/1967 Artikel 1 Politische Optionen der europäischen Einigung Die Bedeutung der Marktgröße

Die Bedeutung der Marktgröße

Patrick Jenkin M. P.

Großbritannien in den Gemeinsamen Markt?

Angesichts des neuerlichen Ersuchens Großbritanniens um Aufnahme in den Gemeinsamen Markt ist es vielleicht nützlich, sich noch eimal mit einem der wirtschaftlichen Argumente zu befassen, das für viele Geschäftsleute und Industrielle am überzeugungskräftigsten für die Schaffung eines ausgedehnten wirtschaftlichen Zusammenschlusses in Europa spricht. Diese Argumentation befaßt sich — kurz gesagt — mit der Bedeutung des Markt-umfangs für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Im Hinblick auf Großbritannien und seine Beziehungen zu Europa läuft die Argumentation darauf hinaus, daß Großbritannien keine Chancen hat, als bedeutende Industrie-macht bestehen zu können, wenn seine Industrie sich auf einen Binnenmarkt von nicht mehr als 52 Millionen Menschen stützen muß. Der Gemeinsame Markt, der mehr als 160 Millionen Menschen umfaßt, und die USA (mit einer Bevölkerung von 180 Millionen) bieten ihren Industrien einen so unvergleichlich größeren Binnenmarkt, daß kein Unternehmen und kein Industriezweig, die nur den kleinen britischen Markt als Rückhalt haben, auf lange Sicht wettbewerbsfähig bleiben können.

Der Produktionsumfang Dieser Argumentation liegt häufig folgender Gedankenzug zugrunde: Der wichtigste Vorteil, den ein großer Markt der Industrie bietet, besteht in der Möglichkeit, Investitionen für einen größeren Produktionsausstoß vorzunehmen. Daraus ergeben sich größere Serien, geringere Kosten pro Produktionseinheit, schließlich mehr Produktion überhaupt. Mit anderen Worten, in solchen Industriezweigen, wo der Produktionsumfang ein wichtiger Faktor ist (und ihre Anzahl ist ständig im Steigen begriffen), ist die Marktgröße entscheidend für den Wettbewerbserfolg. Verarbeitende Industrien (wie z. B. die chemische Industrie), Industrien mit Massenproduktion (z. B. Fahrzeugbau), Industrien, die auf ausgedehnter wissenschaftlicher Forschung basieren (z. B. Kernenergie), usw. gehören zu den Zweigen, die als schlagende Beweise für diese Argumentation angeführt werden können.

Diese Überlegungen haben auf den ersten Blick viel für sich. Jeder, der in einer kapitalintensiven Industrie gearbeitet hat, wird feststellen, daß sie sich mit seinen Erfahrungen decken. In der chemischen Industrie zum Beispiel sind höchst komplizierte Untersuchungen über die Wechselbeziehung zwischen der Größe eines Werkes, das ein bestimmtes chemisches Erzeugnis herstellt, und den Kosten pro Tonne der produzierten Chemikalie angestellt worden. Für die meisten Produkte dieses Industriezweiges mit Massenausstoß trifft es zu, daß die Produktion um so wirtschaftlicher ist, je größer das Werk ist.

Ferner zeigt die Erfahrung, daß es zweifellos Mindestgrenzen für wirtschaftliche Lebensfähigkeit gibt. So kann selbst eine sehr kleine Volkswirtschaft eine Textilindustrie tragen. Eine solche Industrie ist ohne Schwierigkeiten aufzubauen und steht daher oft am Beginn der Einführung von verarbeitenden Industrien in einem Entwicklungsland.

Komplizierte Produkte erfordern jedoch größere Märkte. Ein sehr kleines Land wäre zum Beispiel schwerlich in der Lage, einer vom Ausland unabhängigen Automobilindustrie die notwendige Existenzgrundlage zu verschaffen, denn es wäre einfach unwirtschaftlich, eine hochkomplizierte Anlage zu errichten, um dann pro Jahr einige wenige tausend Autos zu produzieren.

Hier muß jedoch bereits eine Einschränkung gemacht werden. Volkswirtschaftler pflegten zu behaupten, daß eine Autoindustrie nur in einem Lande bestehen könne, das einen Binnenmarkt von mindestens 20 Millionen Menschen aufweist. Dies hat sich als falsch erwiesen, denn Schweden verfügt über eine wettbewerbsfähige und höchst leistungsfähige Auto-industrie, obwohl seine Bevölkerung nicht mehr als 7 1/2 Millionen Menschen umfaßt. Schweden ist damit das kleinste Land mit einem Unternehmen, das Kraftfahrzeuge im modernen Massenproduktionsverfahren herstellt.

Viele Ausnahmen von der Regel Dies waren Beispiele für Industriezweige, auf die die oben angeführte Argumentation im großen und ganzen zutrifft. Man muß jedoch sogleich hinzufügen, daß es zahllose Fälle gibt, die nicht in diese Schablone passen. Eine Industrie braucht zum Beispiel in ihrem Absatz nicht in erster Linie vom Binnenmarkt abhängig zu sein. Die Schweiz etwa, eine sehr kleine Nation, hat eine blühende chemische Industrie, zu der einige der erfolgreichsten Firmen der Welt, wie etwa CIBA und Sandoz, gehören. Die Herstellung von Whisky in Schottland wiederum stützt sich auf einen sehr viel größeren Markt als den britischen. Weit mehr als die Hälfte der Produktion wird in die ganze Welt exportiert. Ohne Zweifel gibt es noch viele andere Ausnahmen von der allgemeinen Regel, aber im großen und ganzen sind es offensichtliche Ausnahmen. Der Satz, daß ein Zusammenhang zwischen der Größe des heimischen Marktes und der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie besteht, bleibt gültig. Man kann infolgedessen einer Anzahl von Feststellungen zustimmen: 1. Um eine bestimmte Industrie lebensfähig zu halten, bedarf es eines Marktes von einem bestimmten Mindestumfang. Allerdings ist der exakte Mindestumfang für die verschiedenen Industriezweige strittig. 2. Der Mindestumfang des erforderlichen Marktes mag durchaus geringer sein, als allgemein angenommen wurde. 3. Der Umfang des Marktes tendiert dazu, mit der Komplexität der Industrie anzusteigen, wenn dies auch mehr eine Funktion der Technik als von sonst etwas sein mag. Für hochtechnisierte Industrien kann der Mindestumfang des Marktes außerordentlich groß sein, so daß sich nur die bedeutendsten Industrie-mächte auf diesem Gebiet betätigen. Dies gilt etwa für die Weltraumforschung und mag mehr mit den hohen Kosten Zusammenhängen als mit dem Umfang des Marktes im engeren Sinne, überdies gibt es zahlreiche Ausnahmen von dieser Regel.

Wenn man die Dinge so betrachtet, liegt es auf der Hand, daß die eingangs aufgestellte Behauptung einer Anzahl von wichtigen Einschränkungen unterworfen werden muß. Wirtschaftsfachleute, die früher ohne weiteres unterstellten, daß es immer eine klare Wechselbeziehung zwischen Marktumfang und Wettbewerbsfähigkeit der Indsutrie gebe, sind in ihren Feststellungen heute wesentlich zurückhaltender.

Umfang der Produktion ist nicht der einzige Faktor Es muß offenbar eine direkte Beziehung zwischen der Größe eines bestimmten Werkes und dem Radius seiner Betätigung geben. Mit jeder zusätzlich produzierten Tonne steigen die Vertriebskosten an, wenn auch die Produktionskosten sinken. Daraus folgt, daß es in jedem speziellen Fall eine optimale Größe des Werkes geben muß, wo Produktions-und Vertriebskosten in einem wirtschaftlich sinnvollen Verhältnis zueinander stehen. Neue technische Methoden, etwa die Einführung von Pipelines über große Entfernungen hinweg in der Erdölindustrie, können die bisher akzeptierten Voraussetzungen ändern.

Das Verhältnis von Produktionskosten und Vertriebskosten ist jedoch nur ein Faktor, und vielleicht nicht einmal der wichtigste. Wäre es der einzige relevante Faktor, so würden nur wenige Industriezweige Märkte über die nationalen Grenzen des Landes hinaus benötigen, in denen sie sich betätigen. Die Tatsache, daß so viele Industriezweige heute ein größeres Betätigungsfeld zu benötigen scheinen, deutet darauf hin, daß es noch weitere, weniger offen zutage liegende Faktoren gibt.

Die verschiedenen Kommentatoren mögen das Schwergewicht auf unterschiedliche Faktoren legen, der Verfasser sieht die folgenden als entscheidend dafür an, daß sich die Industrie auf größere Produktionseinheiten konzentrieren muß, wenn sie überleben will.

Marketing Während es jedermann klar ist, daß die Produktion um so wirtschaftlicher ist, je stärker der Umfang der Produktion ansteigt, ist man sich nicht immer dessen bewußt, daß die Wirt-

schaftlichkeit des Marketing (der Absatzpolitik) einen noch größeren Einfluß hat. Die modernen Marketing-Techniken sind inzwischen außerordentlich verfeinert worden. Zu ihnen tragen Wirtschaftler, Marktforscher, Verpakkungsexperten, Anzeigenfachleute und ein Netz von Generalvertretern mit ihren Unter-vertretern bei. Wenn daher eine Firma einen ausgedehnten neuen Markt erschließen will, so kann sie das nur auf der Grundlage einer Massenproduktion großen Stils tun. Nur eine solche Massenproduktion wird die Investition an Marketing-Kosten rechtfertigen. Die Einführung eines neuen Haarwaschmittels oder eines Pulverkaffees oder eines anderen Verbrauchsgutes erfordert so hohe Werbungskosten, daß dies nur gerechtfertigt ist, wenn der erwartete Umsatz außerordentlich groß ist. Wenn nun ein Produkt auf mehreren Märkten gleichzeitig neu eingeführt wird, so ist nicht die Wirtschaftlichkeit der Produktion entscheidend; der wichtigste Faktor ist die Wirtschaftlichkeit des Marketing.

Neben dem Umfang der Produktion und des Marketing gibt es noch einen dritten Faktor, der sich in zunehmendem Maße bei vielen Industriezweigen auswirkt, die auf wissenschaftlicher Basis arbeiten. Es ist das Ausmaß an Forschung. Ganz simpel ausgedrückt, handelt es sich darum, daß die Kosten für ausreichende Forschung und Entwicklung auf einem bestimmten Gebiet so angestiegen sind, daß sie nur für solche Firmen tragbar sind, die im internationalen Maßstab arbeiten. Dieses Faktum ist zu unterscheiden von der anderen, weiter unten erwähnten Tatsache, daß bestimmte Bereiche der modernen Technik massiver Unterstützung durch die Regierung bedürfen. Hier geht es um Forschungs-und Entwicklungsarbeiten auf Gebieten, wo kein Land bisher große Summen aus öffentlichen Mitteln zu investieren für notwendig hielt, um eine angemessene Forschung zu sichern. Beispiele bieten sich hier in der chemischen, der Plastik-und Kunstfaserindustrie, in der Werkzeugmaschinenindustrie und auf dem Sektor der Rundfunk-und Fernsehgeräteproduktion usw. an. Dies sind alles Industriezweige, wo Fortschritte in erster Linie davon abhängen, daß neue Produkte und neue Produktionsmethoden in den Laboratorien entwickelt werden. Tatsächlich betreiben zunehmend nur solche Firmen eine nennenswerte Forschung, die es sich auf Grund ihres Absatzumfanges leisten können.

Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen. Die eigene Forschung braucht sich nicht allein dadurch bezahlt zu machen, daß mit ihrer Hilfe Waren hergestellt und verkauft werden. Es gibt Firmen, die beträchtliche Einkünfte erzielen, indem sie die Ergebnisse ihrer Forschungs-und Entwicklungsarbeit in Lizenz weitergeben. Sogar hier muß man im internationalen Maßstab arbeiten, und es ist üblich, daß Lizenzen für Erzeugnisse und Produktionsverfahren solcher Firmen in allen bedeutenderen Industrieländern vergeben sind.

Wir haben somit bereits gesehen, daß der Umfang der Produktion, so wichtig er ist, nicht der einzige auf der Ebene des individuellen Unternehmens wirksame Faktor ist, der die Ausdehnung dieses Unternehmens über den Binnenmarkt hinaus wirtschaftlicher macht. Marketing und Forschung sind nicht weniger einflußreiche Faktoren und sind in vielen Fällen von weit größerer Bedeutung als die Produktion selbst. Äußere Faktoren Dies alles ist jedoch den „inneren" Faktoren zuzurechnen, innere Faktoren, weil sie direkt zum betrieblichen Prozeß gehören. Darüber hinaus müssen noch eine Anzahl äußerer Faktoren erwähnt werden, das heißt Faktoren, die aus den sich wandelnden wirtschaftlichen Gegebenheiten herrühren, innerhalb deren sich die Industrie betätigt. Es handelt sich um Faktoren, die — in einem größeren oder geringeren Maße — dazu beitragen werden und es auch jetzt schon tun, daß die Industrie im internationalen Maßstab operiert, anstatt auf das Gebiet innerhalb der nationalen Grenzen beschränkt zu bleiben. Ich nenne sie „äußere" Faktoren, weil sie nicht mit den spezifischen Eigenheiten eines bestimmten Industriezweiges oder eines bestimmten industriellen Prozesses zu tun haben, sondern die allgemeinen wirtschaftlichen Gegebenheiten betreffen.

Der Abbau künstlicher Handelsbeschränkungen Der erste Faktor kann mit dem Begriff Rationalisierung beschrieben werden. Damit meine ich den Prozeß der Beseitigung nationaler Handelsbeschränkungen, der Diskriminierung aus nationalen Gründen usw. Rationalisierung in diesem Sinne war das wichtigste Ziel der internationalen Handelspolitik seit dem letzten Kriege. Sie wurde zur Hauptaufgabe der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC). Sie war das wirtschaftliche Fundament, auf dem die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl errichtet wurde, und sie ist auch, zumindest teilweise, die Idee, die dem Allgemeinen Zoll-und Handelsabkommen (GATT) zugrunde liegt. Rationalisierung ist, kurz gesagt, als ein Mittel zu betrachten, das die Gewähr dafür bietet, daß wirtschaftliche Entscheidungen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten getroffen werden und nicht aus nationalen, historischen oder politischen Gründen. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die nunmehr sechzehn Jahre besteht, kann mit Recht beanspruchen, eine höchst erfolgreiche Verkörperung dieses Konzeptes der Rationalisierung zu sein. Die Beseitigung von Handels-schranken und von Wettbewerbsverbesserungen sind zwar in einem gewissen Sinne nur negative Maßnahmen, sie können aber trotzdem sehr wirksam dazu beitragen, den internationalen Wirtschaftsbeziehungen Auftrieb zu geben und zugleich die Rationalisierung der Industrie und des Handels voranzutreiben. Das Wachsen und der Ausbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ging einher mit einer beträchtlichen Anzahl von Fusionen, Zusammenschlüssen und anderen Versuchen einer Zusammenarbeit zwischen Firmen, die in verschiedenen Mitgliedsländern tätig sind. In gewissem Sinne kann man vielleicht sagen, daß dieser Rationalisierungsprozeß die Bedingungen schafft, unter denen die erwähnten inneren Faktoren wirksam werden und die Gesamtsituation der Industrie beeinflussen können.

Marktbeherrschung Ein anderer äußerer Faktor, der auf die „Internationalisierung" der Industrie hin wirkt, ist die antimonopolistische Gesetzgebung, die in den einzelnen Ländern in zunehmendem Maße wirksam wird. Es ist weithin anerkannt, daß eine der legitimen Waffen, über die eine Regierung zur Brechung der Monopolstellung in einem bestimmten Industriezweig oder hinsichtlich eines speziellen Erzeugnisses verfügt, darin besteht, die Einfuhrzölle zu senken und Importe mit den Produkten einheimischer Monopolinhaber konkurrieren zu lassen. Dies wirkt sich so zugunsten eines freieren Handels über die Grenzen aus und bringt Industrieunternehmen und Firmen dazu, ihre Tätigkeit über ihren Binnenmarkt hinaus auszudehnen. Einige der jüngsten Entscheidungen der EWG-Kommission und des Gerichtshofes laufen darauf hinaus, daß Marketing-Vereinbarungen (das heißt Vereinbarungen, die einer Firma das alleinige Vertretungsrecht einer ausländischen Firma oder das Allein-vertriebsrecht eines ausländischen Produktes übertragen), die im Falle einer Reihe selbständiger Binnenmärkte durchaus angemessen sind, keinswegs angebracht und auch nicht wünschenswert sind, wenn sich diese Märkte zu einem gemeinsamen Markt vereinigt haben. Auch hier handelt es sich wieder um eine Entwicklung, die sich zugunsten eines Wettbewerbs auswirkt, der auf echten wirtschaftlichen Faktoren, anstatt auf restriktiven Marketing-Vereinbarungen basiert.

Spezialisierung Ein dritter Faktor ist der wachsende Trend zur Spezialisierung. Die Volkswirtschaften der fortgeschrittenen Industrieländer werden in zunehmendem Maße miteinander verflochten, und einzelne Firmen neigen dazu, sich auf Gebieten zu spezialisieren, wo sie über einen natürlichen Vorteil oder einen technischen Vorsprung verfügen. Hier wirkt sich das ökonomische Konzept der internationalen Arbeitsteilung in der Praxis aus, das unvermeidlich zu Industrieunternehmen führt, die bei der Planung ihrer Produktion, ihrer Forschung und ihrer Absatzpolitik in internationalem Maßstab arbeiten. (In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, daß dieser Trend einer der vielen Gründe ist, weshalb die merkantilistische Konzeption der Autarkie, der manche Nationen noch anzuhängen scheinen, sich absolut im Widerspruch zu den Entwicklungstendenzen in der übrigen Welt befindet, die in wachsendem Maße darauf hinauslaufen, Autarkie nicht nur als nicht erreichbar, sondern auch als nicht wünschenswert anzusehi n.) Freier Handel Das Wachsen des freien Handels ist ein weiterer Faktor, der einen tiefgreifenden Einfluß auf die Gesamtsituation der Industrie ausüben dürfte. Zwar mögen noch viele Jahre vergehen, bevor Schutzzölle, Einfuhrkontingente usw. vollständig abgeschafft sind, aber der Fortschritt, der seit dem letzten Kriege in Richtung auf den freien Handel gemacht worden ist, ist zweifellos ein bedeutender Faktor in der Förderung des Wirtschaftswachstums in der Welt gewesen, wie der ständige Anstieg des Welthandels erweist. Man erkennt immer mehr, daß Schutzzollpolitik nicht nur die Ein-fuhr behindert, sondern dadurch, daß sie die Kaufkraft auf die einheimische Produktion lenkt, auch den Export schädigt. Eine durch Zölle geschützte Wirtschaft ist infolgedessen eine auf den Binnenmarkt ausgerichtete Wirtschaft und ihre Industrie sieht Binnen-und Exportmarkt als zwei völlig verschiedene Dinge an. Wo es, wie in Großbritannien, eine lange Tradition von Investitionen in Übersee gibt, pflegt man dies als Alternative zu Investitionen im Mutterland anzusehen und nicht als deren logische Erweiterung. Mit anderen Worten: In einer durch hohe Zölle geschützten Wirtschaft wird ein Industrieller, der im Ausland verkaufen will, automatisch dazu neigen, dort Produktionskapazitäten zu errichten, anstatt die Kapazität im Inland zu erweitern und den ausländischen Markt von dort zu beliefern. Wo es nur niedrige oder keine Zölle gibt, ist das Gegenteil der Fall. Hier werden große Produktionsstätten im Inland errichtet werden, die Inland und Ausland beliefern, und nicht nur kleine Fabriken entstehen, die jeweils ihren kleinen Markt beliefern. Mit anderen Worten: Freierer Handel fördert Großunternehmen. Dies sind die vier äußeren Faktoren, die sich zugunsten wirtschaftlicher Betätigung über die Grenzen hinweg auswirken. Diesen muß noch ein fünfter hinzugefügt werden, der wegen seiner Bedeutung eine noch ausführlichere Behandlung rechtfertigt. Es ist sowohl ein innerer wie äußerer Faktor, und er läßt sich nicht ohne weiteres einer der beiden Kategorien zuordnen. Das ist der Vormarsch der modernen Technik.

Der Fortschritt der Technik Man kann die Bedeutung dieses Faktors für für die von uns erörterte Frage gar nicht genug hervorheben. Es ist gesagt worden, daß es die Technik ist, die — wenn alles übrige fehlschlägt — Großbritannien nach Europa drängen wird. Die Ereignisse der letzten Jahre bestätigen zweifellos die Richtigkeit dieser Behauptung. Ob man die Entwicklung der Weltraumfahrt, der Atomenergie oder der modernen Elektronik betrachtet, die Lehre ist dieselbe, nämlich, daß auf diesen Gebieten keine Nation allein erfolgreich arbeiten kann und daß vor allem wir in Europa Zusammenarbeiten oder völlig aus dem Rennen ausscheiden müssen, in einer Welt, wo Macht ebenso auf den Leistungen der Wissenschaft beruht wie auf dem militärischen Potential, können die Völker nur überleben, wenn sie ihre Kräfte vereinigen und ihren gemeinsamen wissenschaftlichen Anstrengungen ebensoviel Sorgfalt angedeihen lassen wie ihren militärischen Bündnissen. Obwohl Großbritannien für wissenschaftliche Forschung denselben Prozentsatz des Bruttosozialprodukts aufwendet wie die Vereinigten Staaten (und das ist das Doppelte von dem, was irgendein anderes westeuropäisches Land dafür ausgibt), ist es Tatsache, daß die Vereinigten Staaten mit ihrem neun-oder zehnmal so großen Bruttosozialprodukt einen technischen Vorsprung erreicht haben, mit dem Europa nur mit größter Mühe Schritt halten kann, ganz zu schweigen davon, ihn einzuholen. Um ein Beispiel für diesen Vorsprung anzuführen: Von 100 000 wissenschaftlichen Berichten, die im deutschen Atomzentrum in Karlsruhe zusammengetragen sind, stammen über 80 000 aus den USA. Der einzige Weg, es mit diesem Fortschritt aufzunehmen, besteht für die übrigen Nationen darin, ihre Anstrengungen zu vereinen, ihre Forschungs-und Entwicklungsausgaben zu koordinieren und eng zusammenzuarbeiten.

Man erkennt immer deutlicher, daß im Bereich der modernen technischen Forschung die Regierungen eine entscheidende Rolle zu spielen haben. Ein erheblicher Teil dieser Forschung gilt natürlich militärischen Projekten, und hier war der Anteil der Regierungen schon immer sehr groß. So gab es Aufträge zur Entwicklung von Flugzeugen, Lenkraketen, Kommunikationssystemen usw. In den Vereinigten Staaten, wo dies schon viel früher als in Europa üblich wurde, gehen 80 Prozent der Forschungs-und Entwicklungsaufwendungen der Flugzeugindustrie auf Regierungsaufträge zurück.

Militärtechnik Es lohnt sich daher, das System der Aufwendungen für Verteidigungszwecke etwas näher zu betrachten, denn es zeigt eindrucksvoll, in welchem Maße technischer Fortschritt von internationaler Zusammenarbeit abhängt. Forschung und Entwicklung sind auf diesen Gebieten natürlich ungeheuer kostspielig, und da die Regierung dabei die Hauptrolle spielt, kommt hier unvermeidlich der Steuerzahler ins Spiel, der den riesigen Verteidigungsetat finanzieren muß. Voraussetzung dafür ist ein sehr hohes Steueraufkommen. Keine europäische Nation könnte aus eigener Kraft die notwendige Entwicklungsarbeit finanzieren, um mit Amerika zu konkurrieren.

Wenn die unentbehrliche Vorbedingung ein hohes Steueraufkommen ist, so ist die unvermeidliche Folge dieser Aufwendungen ein enormer Druck, die Ergebnisse der Forschung auch zu verkaufen. Es ist kein Zufall, daß die europäischen NATO-Verbündeten der USA in den vergangenen Jahren ihre Streitkräfte immer mehr mit amerikanischem Material ausrüsteten. In der Tat gehört es ausdrücklich zur amerikanischen Verteidigungspolitik, den Absatz amerikanischen Kriegsmaterials im Ausland zu fördern. Dies wird offiziell das „Internationale Beschaffungsprogramm" genannt, und der amerikanische Verteidigungsminister McNamara räumt ihm höchste Priorität ein. Seine Ziele sind dreierlei: a) die Abwehrkraft der Verbündeten der USA zu stärken, b) die Konzeption der Zusammenarbeit mit den Verbündeten bei Beschaffung und Standardisierung von Ausrüstungen zu fördern und c) die ungünstige amerikanische Zahlungsbilanz auszugleichen.

Dies mögen durchaus löbliche und folgerichtige Ziele sein. Vom amerikanischen Standpunkt dient der Kauf von amerikanischen Waffen und Ausrüstungen dazu, in gewissem Maße die beträchtlichen Ausgaben wettzumachen, die die Vereinigten Staaten zur Verteidigung der freien Welt auf sich geladen haben.

Diese Politik ist erfolgreich gewesen, und zwar vom europäischen Standpunkt erschreckend erfolgreich. Die Einnahmen aus Exporten militärischer Ausrüstung sind von 300 Millionen Dollar im Jahre 1961 auf über 1250 Millionen Dollar drei Jahre später gestiegen. Nach einer Aufschlüsselung der New York Times haben die USA von Mitte 1949 bis Mitte 1966 Waffen im Wert von 16, 1 Milliarden Dollar verkauft (im gleichen Zeitraum haben sie Waffen im Wert von 30, 2 Milliarden Dollar kostenlos abgegeben). Henry J. Kuss jr., der Mann, dem McNamara diese hochwichtige Aufgabe anvertraute, hat in dem kurzen Zeitraum zwischen Mitte 1961 und Mitte 1966 Waffen im Wert von 11, 1 Milliarden Dollar verkauft, davon 89 Prozent an NATO-Mitglieder sowie an Japan und Australien. Er umschrieb die amerikanische Politik mit den Worten: „Es ist unser Ziel — und ich glaube, das ist noch bescheiden —, die Einnahmen für den Rest des Jahrzehnts auf der Höhe von einer Milliarde Dollar zu halten."

Das Ergebnis dieser Politik ist, daß Amerika jetzt über eine große und erfolgreiche Rüstungsindustrie verfügt. Ihre Bedeutung erweist sich, wenn man sie mit der westeuropäischen vergleicht. In den Vereinigten Staaten produzieren anderthalb Millionen Menschen jährlich Ausrüstung im Werte von 21 Milliarden Dollar. In Europa produzieren eine halbe Million Menschen Ausrüstung im Werte von 2, 5 Milliarden Dollar. Die europäische Rüstungsindustrie ist, insgesamt gesehen, unter-dimensioniert, zersplittert und hat eine weit geringere Produktivität als ihre amerikanische Konkurrenz.

Es erhebt sich daher die Frage, ob es sinnvoll ist, eine europäische Rüstungsindustrie am Leben zu erhalten. Meine Antwort ist: „Ganz sicher!" Zuerst und vor allem könnte es sich Europa niemals leisten, auf dem Sektor der militärischen Ausrüstung vollständig von den Vereinigten Staaten abhängig zu werden. Dies würde bedeuten, daß Europa in seiner Außenpolitik auf ewig am amerikanischen Schürzen-zipfel hängen würde. Zweitens, überließe man Amerika das Monopol in der Produktion von Militärflugzeugen, so würde dies unvermeidlich auf ein amerikanisches Monopol in der Herstellung von Zivilflugzeugen hinauslaufen. Die Entwicklung neuer Flugzeuge für zivile Zwecke pflegt den militärischen Entwicklungen zu folgen, und es wäre unrealistisch zu erwarten, das eine könnte ohne das andere fortbestehen. Drittens, es ist kaum zweifelhaft, daß militärische Entwicklungsarbeiten einen beträchtlichen technischen „Abfall" hervorbringen, der von großem Wert im zivilen Bereich ist. Viertens, es gibt überall in der Welt ausgezeichnete Absatzmöglichkeiten für militärische Ausrüstung, und es liegt absolut kein Grund vor, weshalb nicht eine sinnvoll organisierte europäische Rüstungsindustrie sich ihren Anteil an diesem Markt sichern sollte.

Die Standardisierung der Ausrüstung innerhalb der NATO oder der anderen Verteidigungspakte braucht dadurch nicht beeinträchtigt zu werden. Aber Standardisierung bedeutet nicht Unterordnung.

Es erhebt sich nun die Frage, wie die europäische Industrie angesichts dieser gewaltigen amerikanischen Konkurrenz fortbestehen kann. Die Antwort heißt Verschmelzungen, Zusammenarbeit, Rationalisierung von Forschung, Produktion und Absatzpolitik und vor allem gemeinsame Unterstützung durch die Regierungen in Form von Entwicklungsaufträgen. Im Jahre 1965 stellte Großbritannien fest, daß sein neues Aufklärungs-und Tiefangriffsflugzeug TSR 2, obwohl technisch seinen Konkurrenten weit voraus, in der Herstellung um so vieles kostspieliger sein würde, als es die Beschaffung eines demnächst in den Vereinigten Staaten greifbaren vergleichbaren Flugzeuges, der F 111 A, wäre, daß die Herstellung aufgegeben, die Entwicklungsarbeiten gestoppt und ein umfangreicher Auftrag im Werte von hunderten von Millionen kostbarer Devisen nach den Vereinigten Staaten gegeben wurde. Ebenso erobert auf dem zivilen Gebiet das amerikanische Düsenflugzeug vom Typ Boeing 707 nahezu jeden ausländischen Markt, während die britische Vickers Super VC-10 trotz vieler überlegener Konstruktions-Merkmale anscheinend nicht konkurrieren kann.

Natürlich ist das Bild nicht überall schwarz. Das englisch-französische Flugzeugprojekt Concorde wird wahrscheinlich zu einer wirtschaftlich rentablen Produktion führen, obwohl die Entwicklungskosten fantastisch hoch sind und noch immer ansteigen. Das Projekt dürfte sich jedoch bezahlt machen, da bereits über einhundert Flugzeuge von Fluggesellschaften bestellt worden sind und die Concorde wahrscheinlich zwei oder drei Jahre vor ihrem amerikanischen Gegenstück fertig sein wird. Europa hat die Fähigkeiten und, wenn es sie zusammenfaßt, auch die Mittel, um mit Amerika selbst auf diesem Felde zu konkurrieren. Ganz ähnlich liegen die Dinge auf dem Gebiet der Rechenautomaten. Die größte amerikanische Firma, IBM, bestreitet 70 Prozent des Weltabsatzes von Computern, während die größte britische Firma, International Computers and Tabulators Ltd., einen Umsatz von weniger als 10 Prozent des von IBM hat. Ein derartiger Wettbewerb findet unter ungleichen Bedingungen statt und ist daher in gewissem Sinne unfair. Zum Teil handelt es sich um das innere Problem des Verhältnisses von Forschungsaufwand zum Umsatz. Die amerikanische Firma kann es sich leisten, um so vieles mehr für Forschung aufzuwenden, als ihre europäischen Konkurrenten, daß sie immer technisch in Führung ist. Manche Leute treten dafür ein, daß es europäischen Käufern, wie Universitäten, Forschungsstätten der Regierungen usw., freigestellt sein sollte, amerikanische Computer zu kaufen, und daß die europäische Computerindustrie, sollte sie zum Wettbewerb nicht in der Lage sein, untergehen sollte. Ich halte das nicht für richtig. Ein Sofortprogramm für Forschung und Entwicklung, zusammen mit einem beträchtlich erweiterten Beschaffungsprogramm der öffentlichen Hand, alles in europäischem Maßstab, könnte der europäischen Computerindustrie in wenigen Jahren die gleichen Wettbewerbsbedingungen wie ihren amerikanischen Konkurrenten verschaffen. Wiederum müssen Zusammenfassung, Zusammenarbeit, Verschmelzung und Rationalisierung die Antwort sein.

Aus der Raumfahrt schließlich, der vielleicht kostspieligsten unter den modernen technischen Wissenschaften, braucht Europa nicht völlig auszuscheiden. Es ist wohl richtig, daß die Kosten eines vollständigen Programms der Weltraumforschung so hoch sind, daß es selbst für ein vereintes Europa nidit vertretbar wäre, jenen Teil der ihm zur Verfügung stehenden Hilfsquellen dafür aufzuwenden, der erforderlich wäre, um mit den Amerikanern und Russen Schritt zu halten. Für dieses Gebiet liegt die Antwort zweifellos in atlantischer Zusammenarbeit. Es gibt bereits Projekte, bei denen europäische Instrumente mittels amerikanischer Raketen in den Weltraum geschossen worden sind. Die Vorstellung, daß irgendeine einzelne europäische Nation etwas erreichen könnte, was auch nur im entferntesten den Aufwand lohnt, indem sie selbst Raketen für eine wissenschaftlich sinnvolle Forschung im Weltraum zu entwickeln versucht, ist lächerlich. Vor zwölf Jahren vielleicht, als die ELDO-und ESRO-Raketensy-Sterne abgeschossen wurden, hatten die europäischen Raumforschungsunternehmen noch einen Sinn. Angesichts des russisch-amerikanischen Wettrennens zum Mond ist es höchst zweifelhaft, ob das noch der Fall ist. Ich habe bereits gesagt, daß die Technik die Macht sein mag, die zur Schaffung des Vereinigten Europas zwingt. Die Raumfahrttechnik mag ein Stimulans zur atlantischen Einheit sein.

Bis dahin — so meine ich — muß Europa weiter auf seine Einheit hinarbeiten. Dieser Artikel hat sich mit keinem der zwingenden politischen Argumente befaßt, denn sie gehörten nicht zum Thema. Die wirtschaftlichen Argumente sind jedoch nicht minder triftig. Bisher hat das Schwergewicht der Argumentation auf den Vorteilen der Großproduktion gelegen, aber so wichtig diese in bestimmten Bereichen auch sein mag, sie ist wahrscheinlich weniger wichtig als andere innere Faktoren, wie Marketing und Forschung, und auch weniger wichtig als eine Reihe äußerer Faktoren, wie Rationalisierung, Wettbewerbspolitik, Trend zur Spezialisierung und freier Handel. Im Hinblick auf die moderne Technik kommt es in erster Linie darauf an, eine ausreichend breite finanzielle Grundlage für öffentliche Entwicklungsaufträge zu schaffen, ohne die technische Überlegenheit auf diesen entscheidenden Gebieten nicht zu erreichen ist. Wenn Europa im Rennen bleiben will, muß es sich zusammenschließen.

Fussnoten

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