„Europa ist kein Ziel, auf das hin konkret geplant werden könnte. Der Planer muß wissen, ob er ein . integriertes'Europa oder ein . Europa der Vaterländer'ansteuern soll. Er muß wissen, ob er zunächst die politische Durchformung des Sechser-Europas anstrebt, ob er auf die alsbaldige Einbeziehung Englands zielen will (und ob er Aussicht hat, zu diesem Ziel zu gelangen), ob und in welchen zeitlichen Rhythmen er die Konzeption eines Europas . vorn Atlantik bis zum Ural'ernst nehmen kann, ob das geplante Europa , eine dritte Kratt'in der Welt bilden kann und bilden soll, ob es zum mindesten die Befähigung hat, ein gleichberechtigter und gleichwertiger Partner der USA in einer . atlantischen Partnerschaft'zu werden."
Diese Äußerung macht deutlich, daß es angesichts des veränderten Kräftevergleichs in der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg verschiedene Optionen über eine neue Rolle Europas in der Weltpolitik gibt. Allerdings hat sich noch keine der Vorstellungen verbindlich durchsetzen können. „Hin-und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach Größe, der Versuchung, sich nicht festzulegen, und dem Willen zu einer übernationalen Verschmelzung, fehlt es den ehemaligen Großen Europas an den nötigen Hilfsquellen, um Kräfte ersten Ranges zu werden, sie bewahren aber zu viele Hilfsquellen, um im Verzicht Sicherheit finden zu können."
Eine Option sieht eine erneute europäische Bedeutung in der Welt nur in der Integration in Form einer Föderation mit enger Anlehnung an die USA verwirklicht. „Ein geeintes Europa soll sich seiner Bedeutung und Identität bewußt sein, gleichzeitig aber eingegliedert sein in eine Atlantische Gemeinschaft als Partner der Vereinigten Staaten von Amerika."
Die Bedeutung der Marktgröße . . . . S. 15 staaten wiedergewonnenen Handlungsfreiheit zwischen den beiden Weltmächten.
Es stehen sich also „zwei grundsätzliche Auffassungen zur internationalen Staatenstruktur gegenüber, nämlich die These von der wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit der Gesellschaft und die These von der Rückkehr zur staatlichen Unabhängigkeit"
Die Konzeption der atlantischen Partnerschaft
Sowohl die erste wirtschaftliche Organisation der westeuropäischen Staaten als auch die erste effektive Verteidigungsorganisation des Westens (OEEC und NATO) war mit der tatkräftigen Unterstützung der Vereinigten Staaten von Nordamerika zustande gekommen. Mit dem wirtschaftlichen Erstarken und dem Erwachen des europäischen Selbstgefühls ergab sich aber das Problem, wie das Verhält-1 nis zu den USA auf wirtschaftlichem, militärischem und politisch-psychologischem Gebiet neu gestaltet werden könnte.
Die USA haben dieses Problem bereits Anfang der sechziger Jahre erkannt und sich darauf eingestellt. „Aufgespalten auf wenn auch lose zusammgengefaßte souveräne Staaten stellt sich das Problem Europa/Amerika als ein Verhältnis Amerikas zu den einzelnen Nationalstaaten, das aber angesichts der gewaltigen Militär-und Wirtschaftskraft der Vereinigten Staaten schwerlich als ein Verhältnis unter Gleichen aufgefaßt werden kann."
Von den USA kamen die Vorschläge für eine umfassende atlantische Partnerschaft auf der Basis der Gleichberechtigung und wechselseitigen Abhängigkeit; auf militärischem Gebiet das Projekt einer gemeinsamen atlantischen Streitmacht (MLF), auf wirtschaftlichem Gebiet das Angebot einer handelspolitischen Partnerschaft zwischen den USA und der um Großbritannien erweiterten EWG, für den politischen Bereich die Bereitschaft zur politischen Partnerschaft zwischen einem vereinten Europa und den USA
In der Paulskirche in Frankfurt/Main erklärte der amerikanische Präsident Kennedy am 25. Juni 1963: „Wir sind Partner bei der Sicherung des Friedens — nicht in einem eng umschriebenen zweiseitigen Verhältnis, sondern im Rahmen der atlantischen Partnerschaft. Der Ozean trennt uns weniger noch, als früher das Mittelmeer die antike Welt der Griechen und Römer zu trennen vermochte. . . Unsere Rollen sind verschieden, jedoch ergänzen sie einander — unsere Ziele sind die gleichen: Friede und Freiheit für alle Menschen, für alle Zeiten und in einer Welt des Überflusses und der Gerechtigkeit."
Probleme ergaben sich zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet. Sie sollten in den als „Kennedy-Runde" bekannten Zollverhandlungen beseitigt werden. Das ursprüngliche Konzept der Kennedy-Runde, für das durch das Trade Expansion Act 1962 die Voraussetzungen geschaffen wurden, war ein sehr weitgehender Abbau des Einfuhrschutzes sowie eine vollständige zollpolitische Integration. Die USA und die Agrarexportstaaten wollten, daß die Industriestaaten und die EWG weitgehende Zusicherungen über die Zulassung von Agrarerzeugnissen zu ihren Märkten abgeben, denn manche westeuropäischen Staaten schützen ihre Landwirtschaft in einer Art und Weise, welche die Kritik der Agrarexportstaaten und vor allem der USA auslöste. Die EWG ihrerseits meinte, ihrem ziemlich ausgeglichenen Außenzolltarif stehe ein amerikanischer Zolltarif mit teils sehr niedrigen oder gar keinen Zöllen, teils aber sehr hohen, 50°/0 bis 150% erreichenden Zöllen gegenüber. Die von den USA vorgeschlagene Halbierung eines hohen amerikanischen Zolls würde deshalb handelspolitisch viel weniger ins Gewicht fallen als die Halbierung eines verhältnismäßig niedrigen EWG-Zolls.
Die USA sehen in der EWG eine Chance und Gefahr zugleich. Sie fürchten wegen des hohen gemeinsamen Außenhandelszolls der EWG um ihren Export nach Europa und hoffen, durch die Zollsenkungen einen Markt in Europa zu erhalten, was zur Überwindung ihrer Zahlungsbilanzschwierigkeiten mit beitragen soll. Tatsächlich werden in den meisten EWG-Staaten beispielsweise die Produkte an Tee und Kaffee mit hohen indirekten Steuern belegt. Frankreich erhebt eine Einheitssteuer mit einer Inzidenz von 34 Prozent auf den durchschnittlichen Kaffee-Preis und 20 Prozent auf den durchschnittlichen Tee-Preis
Demgegenüber schützen Großbritannien und die USA ihre Landwirtschaft zwar ebenfalls, bedienen sich aber direkter Subventionen oder Garantiepreise, die in der Regel nicht Gegenstand von internationalen Handelsverträgen sind. Andererseits hätte die EFTA, gemessen am Außenhandelsvolumen ihrer Mitgliedsländer, eine ähnlich große Berücksichtigung finden müssen wie die EWG. „Doch konnte die EFTA ihren Einfluß in Genf deshalb nicht gebührend zur Geltung bringen, weil eine Freihandelszone keinen gemeinsamen Außentarif kennt und ihrer Struktur nach keine gemeinsame Handelspolitik vorsieht. Ihre Mitgliedstaaten haben ihre bisherigen Außenzölle . . . beibehalten und bleiben in ihrer Außenhandelspolitik souverän."
Auf militärischem Gebiet sind in den USA Zweifel wach geworden, ob die Drohung mit massiver nuklearer Vergeltung ausreichen würde, begrenzte Kriege auszuschließen. Demgegenüber fürchten immer mehr Europäer, auch nach der neuen NATO-Konzeption, die im Mai 1967 beschlossen wurde, zum Schlachtfeld zu werden und beginnen die Entschlossenheit der USA zu bezweifeln, für die Verteidigung Europas notfalls auch das Risiko eines nuklearen Krieges auf sich zu nehmen. Tatsächlich sind die USA bemüht, zu einem teilweisen Ausgleich mit der Sowjetunion auf mehreren Gebieten zu gelangen
De Gaulle hat unter anderem aus dieser strategischen Wandlung die Konsequenz abgeleitet, eine eigene force de frappe aufzubauen. Allerdings wurde der Beschluß für die Herstellung von eigenen Atombomben bereits am 11. Juli 1956 von der französischen Nationalversammlung unter der Regierung Guy Mollet gefaßt. Die konkreten Maßnahmen für die Durchführung wurden am 10. April 1958 noch unter der Regierung Felix Gaillard angeordnet
Auf dem Sektor der politischen Zusammenarbeit gingen die führenden Politiker der USA niemals soweit, von einer „Atlantischen Union" zu sprechen. Zu ihrem Wortschatz gehörte immer nur der Begriff der atlantischen Partnerschaft. J. F. Kennedy definierte die Partnerschaft als ein System der Kooperation und Übereinstimmung, das durch eine feierliche Interdependenz-Erklärung der USA bekräftigt werden sollte. Voraussetzung dieser Konzeption ist allerdings ausdrücklich die Ei-nigung Westeuropas. Daneben gibt es eine Gruppe von Atlantikern, die eine Union anstreben. Der Kern einer solchen Atlantischen Union soll bestehen aus den ursprünglichen zwölf Signatarstaaten der NATO, ferner der Bundesrepublik Deutschland und den beiden Commonwealth-Mitgliedern Australien und Neuseeland. Dazu könnten nach Ansicht der Vertreter dieser Option noch die neutralen Länder Schweden, die Schweiz und Österreich, die beiden restlichen NATO-Länder Griechenland und die Türkei sowie Irland, Finnland und Spanien kommen. Am Ende einer Übergangszeit soll eine zentrale Behörde der Atlantischen Union mit Befugnissen bei Zöllen, Steuern und Außenhandel, bei Außenpolitik und Verteidigung stehen
In dem Glauben, daß „eine echte atlantische Gemeinschaft die Voraussetzung für unser überleben als freie Menschen und die nötige Grundlage des Fortschritts für alle Menschen darstellt", hat der Atlantische Konvent der NATO-Staaten bei seiner Gründung im Januar 1962 empfohlen, die Konferenz der NATO-Parlamentarier zu einer „Beratenden atlantischen Versammlung" auszubauen, die sich in ihren Debatten mit der Arbeit aller atlantischer Institutionen befassen und diese überprüfen soll
Tatsächlich bestehen im atlantischen Bereich Probleme, die einer Lösung bedürfen: „Erstens ist die Konferenz der NATO-Parlamentarier, das einzige bestehende transatlantische parlamentarische Gremium, in ihrem Wirkungsbereich begrenzt, da in ihr nicht ganz Westeuropa vertreten ist. Österreich, Irland, Schweden und die Schweiz haben es konsequent abgelehnt, sich an der offiziösen NATO-Versammlung zu beteiligen." Zwei andere OECD-Mitgliedstaaten, Spanien und Japan, sind aus anderen Gründen nicht Mitglieder der NATO. „Zweitens hat die Ausweitung der NATO-Interessen auf Gebiete, die nicht unmittelbar mit der Verteidigung zu tun haben, überschneidende Kompetenzen zwischen NATO und OECD geschalten. . . Drittens wird in der OECD, die eine reine Exekutivorganisation ist, die Notwendigkeit eines atlantischen parlamentarischen Organs empfunden, das ihr beigegeben werden sollte."
Zwei Grundkonzepte für eine beratende atlantische Versammlung mit offiziellem Status werden diskutiert, die alle Mitgliedstaaten der OECD ungeachtet ihrer Mitgliedschaft in der NATO einzubeziehen wünschen: Erstens „eine Plenarsitzung der Parlamentarier aus den NATO-Ländern zur Diskussion und Prüfung von NATO-Fragen; eine getrennte Plenarsitzung der Parlamentarier aus den NATO-Ländern mit den Parlamentariern aus den übrigen westlichen Ländern zur Diskussion und Prüfung der OECD-Fragen"
Die nationalstaatliche Konzeption
Eine andere Option läßt sich von dem Bestreben leiten, die beiden ideologisch getrennten Teile Europas von der vermeintlichen Vorherrschaft der beiden Weltmächte USA und UdSSR zu befreien und sie zu einem neuen „Konzert der Mächte" zusammenzufassen, das vom Atlantik bis zum Ural 22a) ein neues Gleichgewicht, eine „dritte Kraft" herstellt, wie es insbesondere vom Frankreich de Gaulles angestrebt wird.
Die „Motive der französischen Regierung dürften einmal in der . . . Vorstellung liegen, daß es einer geschickten Politik möglich sein sollte, die Sowjetunion wieder in das europäische Konzert hineinzuführen, und zum anderen in der Auflehnung gegen das, was man in Paris als eine amerikanische Hegemonie über Europa empfindet"
Am 22. November 1959 hat de Gaulle in Straßburg erklärt: „Europa vom Atlantik bis zum Ural. . , Das ganze Europa wird über das Schicksal der Welt entscheiden. Wenn die Völker Europas, auf welcher Seite des Eisernen Vorhangs sie sich auch befinden, eines Tages ein Einvernehmen herstellen, dann wird der Frieden der Welt gesichert, sein; wenn sie dagegen in zwei entgegengesetzten Gruppen geteilt bleiben, wird der Krieg früher oder später die menschliche Rasse auslöschen." Hier aber setzt die Problematik einer solchen Politik ein. „Einerseits fragt es sich, ob sich ein Europa, wie General de Gaulle es vorschlägt, vom Atlantik bis zum Ural erstrecken kann. Zum zweiten ist die Frage strittig, ob das integrierte Europa im Sinne Jean Monnets und Robert Schumans der Ansatzpunkt für eine Vereinigung mit Osteuropa sein kann, oder ob das Konzept de Gaulles — ein Europa souveräner Staaten — die bessere Grundlage bietet. Die dritte Frage ist die, ob ein solches Europa ohne die Einbeziehung der Vereinigten Staaten in ein künftiges europäisches Sicherheitssystem denkbar ist."
Das Wiederaufleben der nationalstaatlichen Konzeption beruht auf der Vorstellung, die Nachkriegszeit sei zu Ende, die militärische Bedrohung durch die Sowjetunion und ihre Herrschaft über Osteuropa seien im Schwinden begriffen, die wirtschaftlichen, militärischen und politischen Erfolge Westeuropas erlaubten es diesem, seinen Wohlstand und seine Sicherheit ohne Hilfe der USA zu gewährleisten und so das Gleichgewicht mit einem heute geschwächten und morgen ausgesöhnten Gegner herzustellen. „Der Neo-Nationalismus, der sich hier zu erkennen geben will, beruht nicht auf eigenen Potenzen, sondern auf der Immobilität der Giganten, zu der diese auf Grund wachsender eigener Potenz aus Vorsicht gezwungen sind."
Kritikern dieser Option erscheint die Bildung einer dritten Kraft allerdings unrealistisch, „obwohl Europa geographisch und ideologisch zwischen den beiden Weltmächten liegt und ihnen an Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und technologischem Können nicht viel nachsteht. Die Idee Europas als seperate dritte Kraft ist unrealistisch, weil die gesamte Welt in das System internationaler Beziehungen einbezogen ist, weil Europa in einem Spannungsfeld dieses Systemes liegt und der Sache der freien Welt verbunden ist."
Demgegenüber verweisen die Vertreter der nationalen Souveränität darauf, daß bei einer europäischen Integration ein hohes Maß an Übereinstimmung hinsichtlich der als verbindlich anerkannten Werte vorausgesetzt werden müsse. Angesichts der unterschiedlichen historischen Entwicklung und politischen Ideen in den Staaten Europas sei diese Übereinstimmung vorerst aber nicht zu erwarten. Die Nation wird als Wert an sich gesehen, die EWG als Kern, um den sich der weitere Einigungsprozeß in kooperativer Form vollziehen werde, allerdings in Abwendung vom atlantischen Bereich und allein auf Zentraleuropa begrenzt.
Tatsächlich ist die Konfrontation von West und Ost zwar noch nicht zu Ende, aber in ihrer eigentlichen Bipolarität überwunden und infolgedessen auf dem Wege der Auflockerung und der Kooperation begriffen. Konsequenterweise verbinden sich mit einer neuen Beurteilung der Gesamtlage bestimmte Anderungsbestrebungen. So wäre die Reorganisation der NATO auch ohne de Gaulle in Schwierigkeiten geraten, weil im Rahmen einer Ost-West-Annäherung zwar die militärische Schutzfunktion der NATO erhalten bleibt, ihre politische Rolle sich aber wandelt. Nach skandinavischen und britischen Vorstellungen soll die NATO daher zum Instrument einer Annäherung umgestaltet werden.
Ministerpräsident Pompidou erklärte am 13. April 1966 unumwunden: „Die NATO-Integration ist die Tochter des kalten Krieges."
Es ist denkbar, daß sich nach Auflösung der Bipolarität und zunehmender nationalstaatlicher Bedeutung neben den beiden Weltmächten, deren militärische und wirtschaftlich-technische Überlegenheit vorläufig allerdings erhalten bleibt, Zentren mittleren Ranges bilden, die noch eine Weltrolle spielen wollen. Eine solche Rolle klingt (außerhalb eines „europäischen Konzepts") beispielsweise in der britischen „East of Suez" -Politik an, das heißt, eine Politik der militärischen und wirtschaftlichen Einflußnahme in Asien
Letztlich bestehen tiefe Gegensätze über den nuklearen Status. Auf der einen Seite wird in einem gewissen Umfang eine militärische Unabhängigkeit Europas erstrebt, am stärksten von der französischen Politik, auf der anderen Seite wird von allen Staaten einschließlich Frankreichs anerkannt, daß der amerikanische Nuklearschirm für die europäische Situation notwendig und unentbehrlich ist. Unter dem gegenseitigen atomaren Gleichgewicht der beiden Weltmächte wächst aber die Bewegungsfreiheit der mittleren und kleineren Mächte in der Weltpolitik. „Die Abhängigkeit der mittleren und kleineren Mächte von der Schutzmacht der USA bzw. UdSSR läßt sich zwar auf keine Weise ganz aufheben, aber kleine nukleare Potentiale können durchaus größere diplomatische Beweglichkeit verleihen und damit auf längere Sicht auf Situationen hinwirken, in denen der Schutz der nuklearen Vormacht an Bedeutung verliert und die übernationale Sicherheit wieder in stärkerem Maße eine Frage des politischen Manövrierens wird."
In einem solchen Europa der Kooperation souveräner Staaten soll dann auch die Möglichkeit der Wiedervereinigung Deutschlands erörtert werden. Die französische national-staatliche Option bedeutet also eine westeuropäische Desintegration sowie eine Herstellung eines bilateralen Verhältnisses unter Führung Frankreichs, das unter den kontinentalen Partnern allein Atomwaffen besitzen will.
Die Rolle Westeuropas in der Welt steht also in engem Zusammenhang mit der Frage, ob Westeuropa integriert oder nationalstaatlich aktiv werden soll und ob es in enger Partnerschaft mit den USA oder durch intensive Kooperation mit Osteuropa verbunden sein soll.
Supranationale und internationale Konzeption
Die Bezeichnung „Supranationalität" findet sich in Artikel 9 des Montanunion-Vertrages. Supranationalität besteht darin, „den Nationalstaaten ihre Souveränität zunächst noch weitgehend zu belassen, aber Teile aus dieser Souveränität . . . einer übernationalen Gemeinschaft zu übertragen."
Die Funktion der Supranationalität zeigte sich bei der Hohen Behörde der Montan-Union unter anderem darin, daß die sechs Mitgliedstaaten hier gemeinsam über die Einsetzung von acht Mitgliedern der Hohen Behörde beschloß und diese selbst dann das neunte Mitglied bestimmten. Die Neuartigkeit dieser Bestimmung zeigte sich bei einem Vergleich mit internationalen Organisationen. So heißt es in Artikel 14 des Statuts des Europarats über die Zusammensetzung des Ministerrats: „Jedes Mitglied hat im Ministerrat einen Vertreter; jeder Vertreter hat eine Stimme.“ In ähnlicher Weise bestimmt das Übereinkommen zur Errichtung der EFTA in Artikel 32 in bezug auf den Rat: „Jeder Mitgliedstaat ist im Rat vertreten und hat eine Stimme." Und in Arikel 7 des Statuts der OECD heißt es: „Ein aus allen Mitgliedern bestehender Rat ist das Organ, von dem alle Rechtsverhandlungen der Organisation ausgehen." In allen diesen Fällen ist Mitglied gleich Nation. Jeder Vertragspartner hat seinen nationalen Vertreter, der nach Weisungen seiner Regierung handelt. Demgegenüber verlangte der Montanunion-Vertrag von den Mitgliedern der Hohen Behörde, „bei der Erfüllung ihrer Pflichten weder Anweisungen von einer Regierung . . . einzuholen noch solche Anweisungen entgegenzunehmen".
Außerdem bestimmen Artikel 13 des EGKS-Vertrages, Artikel 132 für Euratom und Artikel 163 für die EWG, daß die Beschlüsse der Hohen Behörde bzw.der Kommissionen mit der Mehrzahl der Stimmen ihrer Mitglieder gefaßt werden. Dies bedeutet eine Abkehr von den internationalen Vereinbarungen über eine Beschlußfassung, die vom Einstimmigkeitsprinzip und der Garantie des Vetorechts bestimmt sind
In dieser Untersuchung soll nicht näher auf die Streitfrage eingegangen werden, ob eine europäische Integration durch Vollintegration mittels eines Bundesstaates oder durch Teil-integration, das heißt durch Zusammenschluß in begrenzten, integrationsbedürftigen Sachbereichen erfolgen soll
Ausgangspunkt der Diskussion ist die Tatsache, daß es eine Interdependenz gibt zwischen Umfang des vereinten Europas und dem Grad der Einheit. Entweder beteiligen sich nur wenige Staaten an der europäischen Integration, die bereit sind, einen erheblichen Teil an Souveränität zu opfern (kleineuropäische Lösung: die bisherigen Europäischen Gemeinschaften), oder eine größere Zahl von Staaten findet sich zur engeren Kooperation, erreicht aber nur einen niedrigen Grad an Einheit (großeuropäische Lösung: Europarat, OECD, angestrebtes Gesamt-Europa).
So geht die kooperative Methode natürlicherweise vom Grundsatz der Souveränität der Staaten aus. Am 15. Mai 1961 verkündete de Gaulle: „Die Staaten allein sind . . . zuständig, legitimiert und in der Lage, etwas zu verwirklichen. . . Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist kein anderes Europa möglich als das der Staaten, außer natürlich das der Mythen, der Phantasie, des Scheins. Was in der Wirtschaftsgemeinschaft geschieht, beweist das jeden Tag, denn die Staaten sind es, die Staaten allein, die diese Wirtschaftsgemeinschaft geschaffen haben, die ihr Kredite geben und ihr Beamte zur Verfügung gestellt haben."
Die Ausgangslage der gegenwärtigen Diskussion ist die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Katastrophe, in die ein zügelloser Nationalismus geführt hatte, schien zunächst das nationalstaatliche Prinzip als internationale Ordnungsmethode überhaupt unbrauchbar gemacht zu haben. Der Nationalstaat der klassischen Epoche verstand sich bis zum Zweiten Weltkrieg als „nationaler Kultur-staat"; die „allgemeine Bildung", die er vermittelte, war nationale Bildung; das Erziehungsprinzip, zu dem der Staat sich bekannte, war „Nationalerziehung". „Die inneren Voraussetzungen für diese Leitbilder: National-kultur, Nationalbildung, Nationalerziehung aber bestehen heute offenbar nicht mehr."
Zudem erzwangen technische Veränderungen ein Wirtschaftssystem, das nicht in national-wirtschaftlicher Abgeschlossenheit verharren kann, sondern auf weltweite Wirtschaftsverflechtung angewiesen ist. Im Zeitalter des Düsenflugzeugs sind die Grenzen der Nationalstaaten alten Stils technisch zu eng. „Sobald die Technik in eine Gemeinschaft eindringt, unterhöhlt sie traditionelle Anschauungen und Lebensstile."
Während die Vertreter der Integration einen hohen Grad an Souveränitätsaufgabe und den praktischen Verzicht auf das nationalstaatliche Prinzip verlangen, plädieren die Vertreter der Kooperation für die Beibehaltung aller wesentlichen Souveränitätsrechte und des Nationalstaats. Da jedoch zu einer supranationalen Lösung heute nur sehr wenige Staaten bereit sind, kann eine Integration immer nur eine kleineuropäische Lösung sein, die unter Umständen auch nur Teilbereiche des wirtschaftlichen, kulturellen, militärischen oder politischen Bereichs umfaßt. Demgegenüber sind zu einer kooperativen Zusammenarbeit natürlich mehr nationale Regierungen zu bewegen. Hierzu eine osteuropäische Stimme: „De Gaulle bezieht in seine Europavision bekanntlich die ganze östliche Hälfte nicht als Objekt ein, sondern als vollwertiges und vollberechtigtes Subjekt. Er geht hierbei von der Tatsache aus, daß Europa von souveränen Staaten gebildet wird, die sich radikal voneinander unterscheiden und demzufolge an eine Vereinigung durch eine mehr oder weniger gewalttätige Verwischung der bestehenden Unterschiede nicht gedacht werden kann, sondern nur durch eine Zusammenfassung von all dem, worin alle einzelnen Elemente bei voller Beibehaltung ihrer Individualitäten einig sein können." 46)
Die Entwicklung einer Desintegration läßt sich gut am Beispiel der NATO und ihrer Krise zeigen. Der Entschluß Frankreichs, die NATO als Instrument der militärischen Integration zu verlassen, macht auf dem militärischen Sektor exemplarisch die Folgen eines solchen Schritts deutlich. Hier ist allerdings zuerst zu berücksichtigen, daß „das gaullistische Frankreich zwar den NATO-Vertrag mit der in ihm enthaltenen Bestandsgarantie akzeptiert, nicht aber die NATO-Organisation, das heißt die Unterstellung der militärischen Verbände unter integrierte Stäbe, die Integration der Infrastruktur usw., die durch Konsensus aller NATO-Partner Bestandteil des NATO-Vertrages geworden ist"
De Gaulle „entzog alle französischen Streitkräfte der Integration und bot sie in einer parallel geführten politisch-diplomatischen Aktion dem Bündnis wieder zur Zusammenarbeit (, im Falle eines nicht provozierten Angriffs) an"
Einmal sind die Ursachen zu nennen, die in erster Linie das Verhältnis der Allianzpartner untereinander betreffen, beispielsweise die veränderten Verhältnisse („was früher als Ausübung der amerikanischen Schutzfunktion galt, wird heute in Europa als Bevormundung angesehen"
Zweitens sind Usachen zu nennen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der NATO unmittelbar wirksam werden, beispielsweise das nukleare Problem, die Frage nach der atomaren Bewaffnung also, die die Allianz in zwei Lager zu spalten droht; sodann die unterschiedliche „Beurteilung der äußeren Bedrohung und Versuche, durch bilaterale Kontakte mit dem Osten Entspannungsabsprachen einzuleiten"
Als letzter Ursachen-Komplex sind die Beschlüsse und Maßnahmen der französischen Regierung zu nennen, das heißt der Rückzug Frankreichs aus der NATO-Integration. Mit diesen Maßnahmen gewinnt die französische Politik außenpolitische Bewegungsfreiheit nach Osteuropa; sie gewinnt bzw. behält die Verfügungsgewalt über die konventionellen und nuklearen Streitkräfte. Andererseits verliert Frankreich den Schutz des NATO-Luftverteidigungssystems und kann nicht mehr an der gemeinsamen Verteidigungsplanung teilnehmen. Auch bleibt das Problem der Standardisierung ungelöst. Schließlich entfällt theorethisch der automatische Schutz Frankreichs durch die USA.
Dieses Beispiel zeigt also eindrucksvoll, daß Teilintegrationen aus politischen Erwägungen rückgängig gemacht werden können: es gibt keine Automatik zur Vollintegration. Allerdings wirft eine Desintegration Probleme nicht nur für die Vertragspartner auf: Frankreich möchte beispielsweise weiterhin die Vorteile der Luftverteidigung nutzen und an der Planung teilnehmen.
Ausblick
Die Entwicklung, die seit 1957 auf eine strukturelle europäische Integration hinauslief, ist größtenteils aufgehalten worden bzw. hat sich stark verlangsamt. In den nächsten Jahren wird die europäische Politik höchstwahrscheinlich von den Nationalstaaten und nicht von supranationalen Institutionen bestimmt werden. So erklärte Helmut Schmidt in einer Rede vor dem Hamburger Ubersee-Club am 20. März 1967: „Wir haben in den fünfziger Jahren in Westeuropa eine starke Bewegung zu supranationalen Lösungen hin gehabt. Inzwischen sind diese Wünsche und diese Hoffnungen erheblich reduziert worden. Man muß heute von einem Prozeß der Renationalisierung Europas sprechen. Diese Entwicklung ist in Westeuropa nicht allein von de Gaulle, aber am sichtbarsten von ihm beschleunigt worden. Die westeuropäische Integration ist seit Jahren, ich will vielleicht nicht gerade sagen, auf dem Rückzüge, aber doch stationär verharrend. Und der auf jeden Fall wünschenswerte Beitritt Englands zur EWG wird keinen neuen supranationalen Europäismus, keine supranationale Begeisterung in Europa auslösen."
Der Katalog der britischen Forderungen für einen EWG-Beitritt umfaßt hauptsächlich wohl 5 Punkte: „ 1. Starke und bindende Sicherungen für den Handel und andere Interessen unserer Freunde und Partner im Commenwealth"