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Nation und Nationalismus | APuZ 32/1967 | bpb.de

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APuZ 32/1967 Nation und Nationalismus

Nation und Nationalismus

Eugen Lemberg

II. Nationale Gruppen und Bindungen, ihre Psychologie und Soziologie

Abbildung 1

1. Einige Ergebnisse des geschichtlichen Überblicks Die im vorausgegangenen I. Kapitel überblickte Geschichte des Nationalismus — der nationbildenden Kräfte, ihrer Erscheinungsweisen und Wirkungen — hat zu einigen Einsichten geführt, die sich etwa in den folgenden Thesen wiedergebenlassen:

1. Die menschliche Gesellschaft ist in große Gruppen gegliedert, die sich auf Grund gewisser Merkmale (Kriterien) ihrer Einheit und Eigenart mehr oder weniger bewußt sind. Sie sind arbeitsteilig organisiert und zur Entfaltung politischer Macht zumindest befähigt. Sie binden ihre Angehörigen an sich und formen sie zu einem Ganzen — integrieren sie —, nicht ohne sie dadurch von anderen Gruppen dieser Art — von ihrer Umwelt — abzugrenzen. Man kann diese Gruppen — um den vermutlich nicht für sie alle zutreffenden Namen „Nation" zu vermeiden — zunächst allgemein als „politisch relevante Großgruppen" bezeichnen.

2. Für die Entstehung und Abgrenzung solcher Gruppen haben sich — je nach Epoche und Kulturkreis — verschiedene Kriterien als maßgebend erwiesen: Sprache, wirkliche oder vermeintliche Abstammung, Kultur, Staatszugehörigkeit, Geschichtsbild, Ideologie, Religion. Dabei konnte einmal das eine, zu anderer Zeit ein anderes dieser Merkmale dominieren; es konnten mehrere davon gemeinsam wirken, indem man eine solche Gruppe etwa als Sprach-und Abstammungsgemeinschaft definierte; diese Merkmale konnten einander aber auch widersprechen, wenn zum Beispiel ein Südtiroler deutscher Sprache, aber italienischer Staatszugehörigkeit war. Das konnte dann jeweils zu typischen Konflikten (Nationalitäten-oder Minderheitenproblemen) führen.

3. An der Entstehung (Integration) wie an der Auflösung (Desintegration) solcher Gruppen, an ihrem Verhalten nach innen und außen und an ihrer Reaktion auf bestimmte Bedingungen (Druck, Gefahr, Inferiorität, Aufkommen neuer Produktionsweisen, Sozialstrukturen, Ideologien) ließen sich immer wieder die gleichen Kräfte und Strukturen, Erscheinungsformen und Abläufe beobachten. Das legt die Vorstellung nahe, daß es dabei um sozialpsychologische Motivations-und Verhaltensstrukturen — „Mechanismen" — geht, deren Kenntnis für die politische Pädagogik, aber auch für die Politik, nämlich für die Schaffung der Bedingungen, auf die solche Gruppen reagieren, bedeutsam ist.

4. Diese Gruppen konnten, wie die Geschichte zeigt, in verschiedenen Graden und Strukturen ihrer Organisation, mit mehr oder weniger intensiver Bindung des Einzelnen an sie, auftreten: a) als Staaten mit stärkerer oder schwächerer Inanspruchnahme des Einzelnen, von totalitären bis zu liberalen Herrschaftsformen, b) ohne staatliche Organisation, was aber — wie das Beispiel der Polen und der Juden zeigte — ein starkes Nationalbewußtsein und einen hohen Grad von Integration nicht ausschloß. 5. Die zur Bindung (Integration) und Abgrenzung der Großgruppen notwendigen seelischen Kräfte haben sich in ihren Wirkungsweisen und Erscheinungsformen als im wesentlichen gleich erwiesen, ob es sich nun um religiös motivierte, ideologische, nationale oder ethnische Gruppen handelte. Diese Kräfte sind also offenbar von der Art der jeweiligen gruppenbildenden Merkmale unabhängig. Man kann sie mit einigem Recht unter dem Namen Nationalismus zusammenfassen, auch wenn sie nicht immer nationale Gruppen im engeren Sinne, sondern auch „quasinationale" oder nationähnliche Gruppen integrieren; denn es fehlt bis jetzt ein gemeinsamer Name für den alle diese Integrationskräfte kennzeichnenden Oberbegriff.

6. So verstanden, hat sich der Nationalismus in seinen verschiedenen historischen Erscheinungsformen als ambivalent erwiesen. Das heißt, er hat — an sich ethisch neutral — auf der einen Seite zu geistigen und sittlichen Leistungen, zu Hingabe, Selbstaufopferung und Heroismus im Dienst der nationalen oder quasinationalen Gruppe, auf der anderen Seite zu Überschätzung dieser Gruppe, zu Fremdenhaß, zu Fanatismus und Verbrechen geführt. Damit wird dieser Nationalismus, an sich ein notwendiges Konstruktionsprinzip der menschlichen Gesellschaft, an einer bestimmten Grenze sittlich fragwürdig oder verwerflich.

7. Diese Grenze, an der die gesellschaftliche Integrationskraft — der Nationalismus — ins sittlich Verwerfliche umschlägt, ließ sich an mehreren geschichtlichen Beispielen genau bestimmen. Sie liegt dort, wo die nationale oder quasinationale Gruppe — Volk, Nation, Staat, Religionsgemeinschaft und ähnliche — absolutgesetzt, an die Spitze der Wertetafel gerückt wird. Dann nämlich wird zugunsten einer Moral, der „das Volk alles, der Einzelne nichts" ist, jede andere, über dem nationalen einen allgemein menschlichen Wert anerkennende sittliche Ordnung ausgeschaltet: Im Dienst oder vermeintlichen Dienst der Nation oder nationähnlichen Gruppe erscheint damit jedes Opfer, aber auch jedes Verbrechen als gerechtfertigt. Diese die Nation absolutsetzende Haltung ist in der neueren europäischen Geschichte als „integraler Nationalismus" bekannt. Auch Nationalsozialismus und Faschismus sind Erscheinungsformen dieses integralen Nationalismus.

8. Sowohl aus der Natur der nationbildenden und -abgrenzenden Kräfte als auch aus dem geschichtlichen Tatsachenmaterial geht hervor, daß die uns heute geläufigen Nationen — wie die nationalen und quasinationalen Großgruppen überhaupt — nichts Ewiges und Unabänderliches sind, sondern sich in einem ständigen Prozeß des Entstehens (der Integration) und des Vergehens (der Desintegration) befinden. Je nach dem Vorherrschen des einen oder des andern nationbildenden Kriteriums im Bewußtsein der Zeitgenossen treten demnach Nationen verschiedener Motivierung und Größenordnung in den Vordergrund. Daher könnte man die Geschichte nach den verschiedenen Größenordnungen in Perioden einteilen, in denen die für eine Epoche jeweils charakteristischen Großgruppen auftreten.

9. Demnach waren es in der uns geläufigen, unsere Nationsbegriffe bestimmenden Epoche von der Renaissance bis heute ethnische Merkmale (Sprache, Abstammung, Kultur) und ihnen entsprechende Herrschaftsbereiche (Nationalstaaten), die Großgruppen — Staaten und Nationen — von einer mit den gegebenen Sprachgemeinschaften etwa übereinstimmenden Größenordnung ausgebildet haben, so daß uns heute die Menschheit in solche „Nationen" eingeteilt erscheint. In einer andern Epoche, in der die Religion als nationbildendes Kriterium der Sprache überlegen ist — z. B. im christlich-abendländischen Mittelalter —, kommt es dagegen zur Ausbildung nationähnlicher Großgruppen auf der Grundlage der Religion; dann sind es diese, die im Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft die gleiche Funktion ausüben wie heute die uns gewohnten Nationen. Wieder zu einer andern Zeit können sich auf Grund einer Ideologie Groß-nationen ausbilden, die mehrere Sprachvölker zusammenfassen, weil sich etwa — wie heute — die Sprachgemeinschaften als zu klein erwiesen haben, um die nach dem Stand der Technik erforderlichen Großgesellschaften zu integrieren; dafür sind etwa die Sowjetunion, China und in gewissem Sinne auch die Vereinigten Staaten von Amerika anschauliche Beispiele.

Mit diesen Einsichten haben wir gewisse Möglichkeiten gewonnen, die umstrittenen Begriffe Nation, Volk, Staat, Vaterland, Heimat und ähnliche wie die nicht minder umstrittenen Arten des Verhältnisses zu ihnen: Nationalismus, Nationalbewußtsein, Patriotismus, Vaterlandsliebe, Chauvinismus usw. nicht — wie das häufig geschieht — nach der augenblicklichen eigenen Lage, nach der zufälligen Erfahrung und mit den daraus kommenden Emotionen zu beurteilen, sondern mit Abstand und Kritik, sachlich und auf Grund eines vielseitigen Vergleichsmaterials. Das soll im folgenden mit Hilfe einer psychologischen und soziologischen Analyse der hierher gehörigen Sachverhalte und Begriffe versucht werden. 2. Zur Psychologie und Soziologie des Nationalismus Das Verhältnis des Einzelnen zu einer Gruppe läßt sich von zwei Ansatzpunkten aus betrachten: vom Einzelnen und von der Gruppe aus. Beim ersten dieser Zugänge fragt man danach, was den Einzelnen an die Gruppe bindet, welche Erscheinungsformen und Funktionen diese Bindung in seinem Seelenleben zeigt. Das sind Fragen vornehmlich psychologischer Natur. Mit dem zweiten Zugang fragt man nach den Wirkungen der Gruppe auf den Einzelnen, nach ihrer Struktur und Funktion wie nach dem Verhältnis verschiedener Gruppen untereinander. Hier geht es vor allem um soziologische Fragestellungen und Methoden. Das soll — mag es auch etwas mechanisch erscheinen — unser Vorgehen im folgenden bestimmen. Dabei versteht es sich, daß unsere Betrachtung nicht den vielfältigen kleinen Gruppen gilt, in die der Einzelne einbezogen ist, der Familie und dem Betrieb, dem Verein und der Freundschaft etwa, sondern eben jenen nationalen oder nationähnlichen Sozial-gebilden, deren Geschichte das I. Kapitel skizzierte und für die sich die Bezeichnung „politisch relevante Großgruppen" als hinreichend allgemein erwies. aDas Verhältnis des Einzelnen zu seiner Großgruppe Frühere Analysen haben den Nationalismus im Bereich der Triebe angesiedelt, wie sie die Psychologie zur Erklärung von Erscheinungen heranzuziehen pflegte, die aus der rationalen Entscheidung des Menschen nicht zu begreifen waren. Da verwies man zunächst auf den Herdentrieb als auf das Verlangen auch des Menschen, zum Schutz des eigenen Lebens und der eigenen Art das Verwandte, Gleichartige aufzusuchen, das Fremde zu meiden und sich dagegen abzugrenzen. Noch in Zeiten eines hochentwickelten Rationalismus, einer vermeintlichen Zurückdrängung alles Triebhaften, unterliegt der Mensch diesem Trieb. Er merkt oft nicht, wie ungerecht er zugunsten der eigenen Gruppe oder Art urteilt und Stellung nimmt. Diese instinktive Liebe zur eigenen Art, dieser instinktive Fremdenhaß veranlaßt gegenseitige Kritik, Stammesfehden und nationale Erbfeindschaften ohne erkennbare Ursache, bestimmt einen naiven Sippen-oder Lokalpatriotismus und wirkt in der Vaterlandsliebe großer Nationen mit. So erscheint der Nationalismus seiner Herkunft nach als eine primitive Haltung, bestimmt, bei höherer Bildung und Kultur allmählich gemildert und schließlich überwunden zu werden. Manche geschichtlichen Konstellationen haben den Eindruck verstärkt, daß es sich beim Nationalismus um ein Residuum älterer, primitiver Zustände, um Konservativismus und Reaktion handle.

Uns aber hat die Geschichte des nationalen Erwachens gezeigt, daß der Nationalismus gelegentlich auch als Fortschritts-und Bildungsbewegung auftritt, verschiedenen Gesellschaften wichtige Impulse zu politischer Organisation und zu kulturellen Leistungen gibt. Diese Beobachtung wiederholt sich in den Entwicklungsländern und läßt eine konservative bis reaktionäre Rolle des Nationalismus als zufällig und an bestimmte historische Situationen gebunden erscheinen. So mag die vom Nationalismus bewirkte Integration von Großgruppen an einen solchen „Herdentrieb" anknüpfen, ist aber aus ihm bei weitem nicht zu erklären. Nicht einmal die Kriege sind aus Anziehung und Abstoßung dieser naiven, triebhaften Art zu verstehen, geschweige denn die Rolle, die der Nationalismus als Strukturprinzip ganzer Kulturkreise und Epochen gespielt hat und spielt.

Ein zweiter Trieb, der zur Erklärung des Nationalismus herangezogen wird, ist der Macht-trieb. Besonders denen, die den Nationalismus — etwa einer benachbarten Nation — als rücksichtslosen Eingriff in die eigene Rechts-sphäre erlebt haben, ist er als Ausdruck wirklicher oder eingebildeter Macht, als Macht-rausch einer Nation oder eines Staates erschienen. Wer sich aber mit einer solchen Definition begnügt, der hat nicht ein Individuum, sondern ein Kollektiv — eben jene Nation oder jenen Staat — zum Subjekt des Macht-triebs gemacht. Nun haben nicht nur dichterische Vergleiche, sondern auch ernsthafte soziologische Theorien solche Kollektive mit der Qualität einer Person ausgestattet und sie zu Subjekten von Trieben und Instinkten erhoben. Wie weit immer man aber eine solche Personifizierung von Gruppen für zulässig halten mag: der Ursprung und die Funktion des Nationalismus im Seelenleben des Einzelnen sind damit nicht erklärt.

Im Einzelnen nämlich reflektiert sich der vermeintliche Machttrieb des Kollektivs als sein genaues Gegenteil: gerade darauf nämlich beruht die Bindekraft einer Nation, daß Macht und Geltung des Einzelnen aufgehoben werden zugunsten der nationalen Gemeinschaft. Mag auch der Einzelne durch den Dienst am Kollektiv erhöht und in seiner Wirkung gesteigert werden: er kann es nicht ohne Hingabe seiner selbst, ohne Einschränkung seiner Freiheit und Selbstbestimmung. Je extremer der Fall, desto deutlicher wird dieser Sachverhalt: Der Typ des Fanatikers beruht geradezu auf dieser Dreingabe seines Selbst zugunsten der Sache, der er dient oder zu dienen glaubt.

Anstatt eines Machttriebs oder Machtrausches liegt also dem Verhältnis des Einzelnen zu seiner Nation oder nationähnlichen Gruppe ein Verzicht auf Macht und Selbstbestimmung, eine Hingabe an jenes Kollektiv zugrunde. Eine solche Selbstbeschränkung aber muß in irgendeinem seelischen Bedürfnis begründet sein. Es ist das Bedürfnis nach Selbstrechtfertigung und Selbststeigerung, nach einem nur von einer überindividuellen Instanz ableitbaren Sinn des Lebens. Dieses elementare Streben des Menschen nach geistiger Selbstbehauptung hat Eduard Spranger als Selbsterhaltungstrieb der Seele bezeichnet. Er ist stärker als selbst der Trieb zur Erhaltung des leiblichen Lebens. Denn wir finden den Menschen bereit, dieses leibliche Leben zu opfern, wenn er damit seine „Seele" retten, das heißt das Bedürfnis nach Selbstachtung befriedigen kann.

Für die Bindung an einen überindividuellen Wert, eine Gruppe oder „gute Sache" ist es nun grundlegend, daß der Mensch diese Selbstrechtfertigung und Sinngebung nicht in sich selbst finden kann. Er sucht sie im Dienst an Gott, an einer überindividuellen Ordnung, in dem Bewußtsein, Beauftragter oder Werkzeug einer höheren Macht zu sein, im Dienst an einer Idee oder Gemeinschaft, die ihm wertvoller erscheint als er selbst, in jenem Dienst, der seinem Leben erst einen Sinn gibt. Darum bedarf der Mensch der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Gemeinschaft. Er muß diese Gemeinschaft lieben und achten können. Er muß sie auch bei ihrer Umwelt geachtet und bewundert sehen. Sie muß ihm gegen diese Umwelt abgegrenzt, von ihr durch besondere Vorzüge hervorgehoben erscheinen. Dann erhöht sie ihn über sich selbst. Dann rechtfertigt sie ihn als Glied einer besonders wertvollen, vielleicht „auserwählten" Gemeinschaft. Das ist nicht immer Dünkel oder Überheblichkeit. Selbst der Kosmopolit (Weltbürger), der über das nationale Vorurteil erhaben ist, seine Nation hätte besondere Vorzüge vor den anderen Nationen, fühlt sich doch als Glied einer Gruppe von Menschen, die mit ihm gemeinsam nationale Vorurteile bei den anderen, nicht ebenso Aufgeklärten, bekämpft. Diese Zugehörigkeit zu den Fortschrittlichen, über das Vorurteil Erhabenen, ist seine Rechtfertigung und die Quelle seines Selbstgefühls.

Manche Politologen halten dieses Bedürfnis des Menschen nach Hingabe an eine überindividuelle Sache oder Ordnung für gefährlich, für einen Ansatz-und Ausgangspunkt von Irrationalismen und Fanatismen aller, insbesondere nationalistischer Art. Sie sehen deshalb in der Rückführung des Individuums auf sich selber, auf die rationale Verfolgung seiner richtig verstandenen Interessen, eine wichtige Aufgabe der politischen Erziehung. Das ist nach den üblen Erfahrungen, die eine für den Dienst an einer solchen überindividuellen Sache fanatisierte Jugend gemacht hat, verständlich. Aber man kann die im Menschen angelegten, zum Reifen der menschlichen Persönlichkeit wie zur Ausbildung menschlicher, insbesondere demokratischer Gesellschaften, Institutionen, Kulturen unentbehrlichen Einstellungen und Verhaltensweisen nicht ungestraft ignorieren. Sie würden sich unvorhergesehen und unkontrolliert Bahn schaffen, ob nun auf nationale oder auch andere Gruppenbildungen gerichtet. Die pädagogische Aufgabe liegt vielmehr darin, die hier wirksamen seelischen Kräfte erziehlich in den Griff zu bekommen, vor der Absolutsetzung ihres Gegenstandes zu bewahren und zum Aufbau einer sich selbst regelnden demokratischen Gesellschaft zu lenken.

Wenig Hilfe erhält die politische Erziehung aber auch von einer Psychologie, die das Bedürfnis nach Selbstbestätigung durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe als das Kennzeichen eines unvollkommenen, ich-schwachen, autoritätsbedürftigen Persönlichkeitstyps ansieht, als eine Schwäche also, die durch Erziehung und Aufklärung allmählich verdrängt werden sollte, ähnlich wie der Aberglaube durch naturwissenschaftliche Bildung mit der Zeit an Anhängern verliert. Allein das ist nur die eine Seite des hier offensichtlich vorliegenden Problems. Wer nämlich die Hingabe an überindividuelle Ordnungen so ins Reich der menschlichen Schwäche und Pathologie verweist, dem muß das Werk der Religionsstifter und Staats-gründer, der Erwecker von Völkern und geistigen Bewegungen als Ausfluß ichschwacher, pathologischer Persönlichkeiten erscheinen, als Versäumnis der Erziehung und Aufklärung, die doch die Menschheit von dem Bedürfnis nach Selbstbestätigung durch Hingabe allmählich hätten befreien sollen. Die großen gesellschaftlichen Gruppen, Religionen, Nationen, Träger von Kulturen, und damit diese Kulturen selbst, wären dann das Ergebnis eines noch nicht zur vollen Ratio entwickelten Menschentyps. Jeder weiß, daß solche Zusammenhänge bestehen. Aber sind dann nicht jene Schwäche der Persönlichkeit, jenes Autoritäts-und Hingabebedürfnis — bei allen Problemen, die sie aufwerfen — notwendige Bauelemente, unentbehrliche Bindemittel für das Zustandekommen von Gesellschaften und Kulturen: nicht nur Fluch, sondern auch Segen für die Menschheit? Beide Aspekte in Betracht gezogen, lassen erst das menschliche und sittliche Problem erkennen, das in dem Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe liegt, insbesondere zu den Gruppen jener Entwicklungsstufe und Größenordnung, wie sie die Nationen darstellen. Es liegt in der Spannung zwischen der Rationalität, Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums auf der einen Seite und seiner Hingabe an eine überindividuelle Ordnung, Sache, Gemeinschaft auf der andern. Diese Spannung zwischen den beiden dabei möglichen Extremen — dem nur der Befriedigung egoistischer Bedürfnisse lebenden und dem einer überindividuellen Sache fanatisch ergebenen Menschen — im Gleichgewicht zu halten, darin erst besteht die Reife der Persönlichkeit. b) Strukturgesetze und Funktionsweisen der Großgruppe Die Großgruppen der hier gemeinten Art, Nation und Staat eingeschlossen, gehören zu jenen Schöpfungen des Menschen, die, einmal zustande gekommen, sogleich ein eigenes Leben gewinnen und, vom Willen des Einzelnen relativ unabhängig, nach eigentümlichen, anscheinend in ihrem Wesen liegenden Gesetzlichkeiten reagieren und funktionieren. Dazu war aus dem geschichtlichen Überblick des I. Kapitels schon einiges zu entnehmen. (1) Die Aulgliederung der One World Ein ewiger Traum der Menschheit, der vor allem nach verheerenden Kriegen an Faszinationskraft gewinnt, richtet sich auf die Über-windung der nationalen Unterschiede und Konflikte durch die Vereinigung der Menschheit zu einer brüderlichen Gemeinschaft. Beispiele dafür waren das Aufkommen der Menschheitsidee in der stoischen Philosophie, die chiliastischen Visionen des Mittelalters, die Friedenspläne des 18. Jahrhunderts, schließlich der vom Emery Reves nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Vorschlag einer „One World". Die internationalen Organisationen unserer Zeit, obwohl dem gleichen Geist entsprungen — der Völkerbund nach dem Ersten und die Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg —, waren realistischer als jene Utopien, weil sie mit dem Fortbestehen der Staaten und ihrer Konflikte rechneten.

Sie wußten, daß sich die One World, einmal verwirklicht, vom ersten Tage ihres Bestehens an in neue Großgruppen und Organisationen gliedern würde, wie sich auch die Gesellschaft innerhalb eines Staates unvermeidlich in Gruppen und Parteien gliedert. Das folgt notwendig aus der Freiheit des Menschen, aus seiner Möglichkeit, die Welt zu deuten, Gesellschaftsbilder zu entwickeln, Vorstellungen von der richtigen Ordnung der Gesellschaft und von den Mitteln, sie aufzurichten. Es wird schließlich immer Interessengruppen geben, die ihre Ziele gegeneinander vertreten werden. Vermutlich werden sie auf ihre Anhänger wiederum gewisse Integrationskräfte ausstrahlen, ihnen den Unterschied zu anderen Gruppen klarzumachen suchen, ihre Hingabe in Anspruch nehmen und diese Hingabe durch Rechtfertigung, Selbststeigerung und Sinn-erfüllung des Lebens belohnen.

Eine solche Gliederung der menschlichen Gesellschaft in Gruppen, auf Grund welcher Kriterien, in welcher Größenordnung immer sie erfolge, scheint also nicht nur unvermeidlich, sondern der notwendige Preis für die Freiheit, aber auch die unerläßliche Voraussetzung für die Entstehung, die Fülle und den Reichtum von Kulturen zu sein, ein Konstruktionsprinzip der Menschheit, das nicht nur als ein zu überwindendes Durchgangsstadium, eine Art Kinderkrankheit betrachtet werden kann, sondern als eine Bedingung des gesellschaftlichen Lebens der Menschen hingenommen und gemeistert werden muß. (2) Integration und Desintegration Die Geschichte des Nationalismus hat gezeigt, daß die Entstehung nationaler oder nationähnlicher Großgruppen (Ethnogenese) oder ihr Hervortreten im Bewußtsein der Zeitgenossen (nationales Erwachen u. ähnl.) fast jedesmal das Vergehen oder Zurücktreten anderer Gruppen oder Organisationen zur Voraussetzung hatte. Um dem Einzelnen die Hingabe an die Nation zu ermöglichen, um ihm dazu das Bild dieser Nation faszinierend erscheinen zu lassen, müssen andere Bindungen, die ihn vorher verpflichtet hatten, aus seiner Seele geschwunden oder darin zumindest geschwächt worden sein.

Unter den Negern Afrikas, die den Einzelnen bis fast zur Auslöschung seiner Individualität in die Sippe banden, erwies sich das Heraustreten aus dieser Sippe durch ein Studium in Europa, schon durch den Eintritt in die Missionsschulen und in die Kolonialverwaltung als Voraussetzung für das Entstehen von nationalen Ideologien. In China mußte der Kommunismus den Ahnenkult und damit den dem Staat an Bindekraft überlegenen Sippenverband zerschlagen, um die vielen Millionen für den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft und ihres neuen Nationalismus freizubekommen. Am Beginn des nationalen Erwachens in Europa steht nicht nur die Krise der Religion, sondern auch die Auflösung der alten Gesellschaftsstruktur mit der Aufhebung der Leibeigenschaft, der Desintegration religiöser Verbände, dem Zurücktreten der Großfamilie agrarisch-patriarchalischen Gepräges, der Abschaffung der Zünfte, der Beseitigung der Patrimonialgerichtsbarkeit und der grundherrschaftlichen Verwaltung. Die Lockerung und Lösung aller dieser Bindungen hat erst die Integration der solcherart freigewordenen Individuen auf anderer Ebene und auf Grund anderer Kriterien ermöglicht.

So wäre die Entstehung der modernen Nationen und ihr steigender Anspruch an den Einzelnen ohne die Auflösung der vielfältigen Bindungen, in die er vorher verflochten gewesen war, gar nicht zu denken. Erst eine Masse freigesetzter, aus früheren Gruppen und Gemeinschaften entlassener Menschen steht für die Bindung in die neuen Großgrup7 pen und Großorganisationen, wie sie die moderne Technik und die industrielle Produktion erfordert, zur Verfügung. Andererseits: Wäre es nicht der Nationalismus gewesen, der die freigewordenen Massen integrierte, dann hätte eine andere Ideologie diese Funktion übernehmen müssen, zum Beispiel — wie in mehreren Fällen tatsächlich -— der Kommunismus. Was sich hier abzeichnet, das wirkt — cum grano salis gesprochen — wie eine Physik oder Energetik der gesellschaftlichen Binde-kräfte. Es kennzeichnet diese fast berechenbare Gesetzmäßigkeit der Binde-oder Integrationskräfte, daß es bei der Neu-Integration nationaler oder nationähnlicher Gruppen ausgerechnet eine Mittelschicht von Intellektuellen zu sein pflegt, die die neue nationale Integrations-Ideologie entwickelt, nicht aber die traditionelle nationale Elite. In Frankreich hat sich der Dritte Stand (durch Abbe Sieyes) mit der Nation identifiziert, nicht ohne den Adel — bis dahin die Nation schlechthin — aus seiner Gleichsetzung mit der Nation zu verdrängen. Auch sonst haben im „Risorgimento" bürgerliche Schichten den territorial-personalen Nationsbegriff des Adels durch eine neue, die bürgerliche Gesellschaft als Nation proklamierende Ideologie abgelöst, wobei der Adel nicht selten physisch und juristisch aus der Nation ausgeschlossen, die Nation neu — etwa nach der Sprache —-abgegrenzt wurde. In Afrika wie in Indien waren es gerade die aus den Stammestraditionen gelösten, entwurzelten Schichten, die einen neuen, in Europa gelernten Nationsbegriff durchsetzten. Das alles zeigt, daß gerade die Entwurzelten, „Freischwebenden", aus früheren Bindungen Gelösten zu den Gründern der neuen nationalen Gesellschaft und ihrer Ideologie werden, schon weil sie — aus der alten nationalen Elite ausgeschlossen — auf eine Gesellschaftskonstruktion angewiesen sind, die ihnen einen Ort und eine Funktion zuweist Eine andere Beobachtung bekräftigt dieses geradezu mathematische Verhältnis der Binde-kräfte: Bei Ausbruch von Diktaturen oder Errichtung von Fremdherrschaften sind es meist nicht die „freischwebenden", bindungsfreien Intellektuellen, die jenem Herrschaftssystem den stärksten Widerstand entgegensetzen, sondern gerade Menschen und Gruppen aus bestimmten Bindungen weltanschaulicher, staatlich-organisatorischer oder traditioneller Art. Gegen Hitlers Diktatur waren es gläubige Christen und Sozialisten, Offiziere und Beamte preußischer Tradition, Gelehrte aus der Bindung an einen bestimmten Wissenschaftsbegriff. Integrierte, zu irgendeiner Gruppe Gebundene sind — das lehrt diese Beobachtung — für eine neue Bindung an die Diktatur und ihre Ideologie nicht frei und also auch nicht anfällig. (3) Strukturmodelle der nationalen Gesellschaft Der hier verwendete Vergleich gesellschaftlicher Gegebenheiten mit Erscheinungen der Physik — übrigens geeigneter als die früher üblichen biologischen Vergleiche — legt es bei aller notwendigen Vorsicht, nahe, nach verschiedenen Strukturen und Strukturmodellen zu fragen, zu denen die bisher nur nach ihrem Stärkeverhältnis untersuchten Bindungen führen können. Am chinesischen Beispiel etwa ist uns der Unterschied, ja die gegenseitige Ausschließung von Sippenstruktur auf der einen, Massenstruktur einer ideologisch gebundenen Großnation auf der andern Seite aufgefallen.

In unserem Kulturkreis stehen sich — für das Verhältnis des Einzelnen zur Nation bedeutsam — zwei Strukturmodelle dieser Art gegenüber: das von der Französischen Revolution installierte, rationale Modell der nationalstaatlichen Gesellschaft und das diesem gegenüber schon von Edmund Burke formulierte, als konservativ und romantisch bezeichnete Modell.

Das erste dieser beiden Strukturmodelle stellt die Nation (den Staat) als Zusammenschluß von gleichen und gleichberechtigten Individuen dar, die aus allen von früher überlieferten, mit Emotionen angereicherten, in ihrer ursprünglichen Rationalität nicht mehr durchschaubaren, also irrationalen Bindungen befreit und damit ohne andersartige Gruppeninteressen an der Nation (am Staat) in gleicher Weise beteiligt und interessiert sind. So steht hier der Nation (dem Staat) eine homogene Summe von Individuen gegenüber, die sich durch freien und stets widerruflichen Entschluß zu Gruppen und Parteien vereinigen können, Gruppierungen also, die dem Einzelnen nicht schicksalhaft vorgegeben sind und daher wechselnde Mehrheiten und Minderheiten garantieren.

Das andere Modell erkennt außer dieser einzigen Bindung freier und homogener Individuen an Nation oder Staat noch die vielfältigen anderen Bindungen als politisch relevant an, in die der Einzelne durch Geburt, Erziehung, Kultur, Religion, Beruf usw. integriert ist. Dieses vielfältig abgestufte System von Bindungen, die vorgegeben, vom freien Entschluß des Einzelnen nicht ohne weiteres abhängig sind, komplizieren das im rationalen Strukturmodell so einfach scheinende Verhält-B nis zwischen Individuum und Nation in hohem Maße. Eben damit aber trägt es den wirklichen menschlichen Gegebenheiten, zumal in Gebieten, in denen eine völlige gegenseitige Dekkung sprachlicher, religiöser, kultureller Gruppierungen mit den staatlichen Grenzen nicht gelungen ist, besser Rechnung. Es läßt sich unschwer erkennen, daß jenes rationale Strukturmodell der nationalen Gesellschaft den alten, konsolidierten, frühzeitig zu sprachlicher, zum Teil auch religiöser Einheit gediehenen Nationalstaaten besonders Westeuropas angepaßt ist. Das „romantische" Modell dagegen entspricht den komplizierten Nationalitäten-und Siedlungsverhältnissen Mittel-und Ost-europas, aber auch zahlreicher anderer Gebiete in der übrigen Welt besser, in denen Staats-, Kultur-, Sprach-und Religionsgrenzen nicht übereinstimmen und die jeweilige Staatsbevölkerung nicht homogen ist; denn hier liegt die Gefahr im Auftreten konstanter Mehrheiten und Minderheiten, damit aber auch in der für die Demokratie tödlichen Majorisierung und den daraus folgenden typischen Konflikten: Nationalitätenproblemen im früheren Ostmitteleuropa, in Belgien, Kanada, Zypern, Südtirol, Stammesfehden in Afrika, Religionskämpfen in Indien und Pakistan. Eben diesen Gefahren soll die im „romantischen" Modell gegebene Möglichkeit abgestufter Autonomie begegnen.

Vor allem in Europa ist nach dem Zweiten Weltkrieg — als Reaktion auf eine dem Faschismus und Nationalsozialismus zugeschriebene Affinität zu jenem zweiten, „romantischen" Strukturmodell der nationalen Gesellschaft — eine Klassifizierung der beiden Modelle üblich geworden, die das rationale als allein und echt demokratisch, das andere als irrational, reaktionär, für Diktatur und Totalitarismus anfällig bezeichnet. Nach dem, was wir vorhin über die Energetik der nationalen und quasinationalen Bindekräfte beobachten konnten, bedeutet diese Klassifizierung eine gefährliche Simplifizierung. Gerade der Wegfall aller übrigen Bindungen zugunsten der ausschließlichen Bindung an Nation oder Staat schafft eine wesentliche Voraussetzung für den Totalitarismus staatlicher Herrschaft oder nationaler Ideologie; umgekehrt bedeuten die vielfach abgestuften Bindungen außerstaatlicher und nichtnationaler Natur Vorbeugung und Gegengewicht gegen einen solchen Totalitarismus. Die vielfach zitierte Anfälligkeit des einen gesellschaftlichen Strukturmodells für totalitäre Diktaturen ist deshalb nicht auf dieses beschränkt; sie ist bei beiden gegeben, nur bei beiden in verschiedener Art, den jeweils gegebenen Konstruktionsproblemen entsprechend. c) Merkmale oder Kriterien der Nationbildung und -abgrenzung Bei allen Einblicken in die Wirkungsweise der Kräfte, die eine Nation oder nationähnliche Gruppe integrieren, ist die Frage offen geblieben, welche Merkmale oder Kriterien darüber entscheiden, ob ein bestimmter Personenkreis als Nation oder nationähnliche Gruppe anzusehen sei, mit anderen Worten: was denn eine Nation zur Nation mache.

Die bisherigen Beobachtungen lassen darüber keinen eindeutigen Schluß zu. Einmal war die Sprache, ein anderes Mal die — wirkliche oder vermeintliche — Abstammung, dann wieder die gemeinsame Kultur oder das Bewußtsein einer solchen bestimmend; in anderen Fällen schien es richtiger, einer Gruppe erst dann den Charakter einer Nation zuzuerkennen, wenn sie als Staat organisiert war, das heißt, wenn ihr nationbildendes Merkmal in der gemeinsamen Staatszugehörigkeit bestand. Um darin Klarheit zu erlangen, bleibt nichts anderes übrig, als die einzelnen, gelegentlich als entscheidend für die Zusammengehörigkeit oder Abgrenzung einer Nation angesehenen Merkmale der Reihe nach auf diese ihre Funktion hin zu überprüfen. (1) Die Sprache Nach europäischer Vorstellung ist es vor allem die Sprache, die die Zugehörigkeit zu einer Nation bestimmt. Aber das ist — wie im geschichtlichen Überblick gezeigt — erst die Erfahrung des nationalen Erwachens von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert. Dieser Erfahrung steht die überlieferte Einteilung Europas in dynastische Territorialstaaten gegenüber, die Nationen ausgebildet haben, ohne damit in allen Fällen zugleich die sprachliche Einheit ihrer Bevölkerung sicherzustellen. Selbst in Westeuropa, wo diese Spracheinheit die Regel war, stellt das Zusammenleben verschiedener Sprachvölker in einem Staat das Nationalbewußtsein des Einzelnen vor das charakteristische Dilemma, ob er etwa Flame oder Belgier, Katalane oder Spanier sei. Eine von diesen alternativen Zugehörigkeiten wird ihm näher, wichtiger, verpflichtender vorkommen. In Mittel-und Osteuropa ist die Diskrepanz von Sprachvolk und Staatsnation viel häufiger. Hier wurde die Sprache als entscheidend für die nationale Zugehörigkeit angesehen: die Sudetendeutschen, tschechoslowakische Staatsangehörige, fühlten sich als Glieder deutschen Nation; die Polen im Deutschen Reich hatten trotz deutscher Staatsangehörigkeit ein polnisches Nationalbewußtsein.

Das nationale Erwachen hat sich, vor allem in Mittel-und Osteuropa, an der Sprache orientiert. Ohne Rücksicht auf überlieferte Staats-9 grenzen haben sich hier die Sprachgemeinschaften als moderne Nationen durchgesetzt und zum Teil auf dieser neuen Grundlage Nationalstaaten begründet oder gewonnen. Dabei gab es Loyalitätskonflikte mit dem überlieferten, am dynastischen Territorium orientierten Nationsbegriff. Bismarck fühlte sich in erster Linie als Preuße, in zweiter erst als Deutscher; Tschechen und Sudetendeutsche wurden sich ihrer Nationalität erst auf Grund einer Spaltung der früheren „böhmischen" Nation bewußt; Slowaken, Deutsche, Rumänen, Serbokroaten im alten Ungarn merkten vielfach erst nach 1918, daß sie zwar Ungarn, aber keine Magyaren gewesen waren. Dieser nationbildenden Wirkung verdankt die Sprache die einmalige geistige Bedeutung, die sie im Risorgimento der europäischen Nationen gewann. Die größten Geister dieser Nationen haben an ihrer Reinigung und Pflege gearbeitet. Sprachforschung, Sprachphilosophie haben sie zur geistigen Macht erhoben: nun bildete nicht nur das Volk seine Sprache, sondern die Sprache ihr Volk. Sprachenkämpfe und Sprachenrechtsbestimmungen galten nicht nur der Möglichkeit des Einzelnen, sich vor Gericht und bei Behörden besser verständigen zu können, sondern dem Besitzstand und der Geltung der Nation; denn die Sprache war nicht nur Verständigungsmittel, sondern Symbol und Palladium der nationalen Kultur, ein Politikum ersten Ranges. Noch heute können so Sprachkonflikte — dem Fernerstehenden unbegreiflich — zu Bürgerkriegen werden wie in Indien, in Kanada, Zypern und Südtirol. Die Sprache wird dann zum nationbildenden Kriterium, zum Casus belli, wie zu anderen Zeiten die Religion.

Heute, nach Abschluß des Risorgimento in unserem Kulturkreis, scheint sie von dieser Rolle zurückzutreten. Was früher gegen die nationale Ehre gegangen wäre — die Verwendung einer Lingua franca neben und über der Muttersprache, wie des Englischen als Sprache der Luftfahrt — ist heute selbstverständlich. Zweisprachigkeit — wie im Mittelalter zwischen Latein und Volkssprache — breitet sich aus. Spracherneuerungen wie im Risorgimento gelingen nicht mehr; Beispiele dafür sind die Spracherneuerungsbestrebungen in Irland: neben der Sprache stehen hier, sie überflüssig machend, andere Kriterien der Nationbildung zur Verfügung. In vielen Entwicklungsländern konnte die Sprache ihre die Nation integrierende und abgrenzende Funktion — wegen der zahlreichen kleinen, den neuen Nationsbegriff gar nicht ausfüllenden Sprachgruppen — gar nicht erst übernehmen. Das alles zeigt: die gemeinsame Sprache ist — entgegen zahlreichen Definitionen — nicht das einzige und entscheidende, wenn auch ein sehr wichtiges Kriterium der Nation. (2) Die Abstammung Noch problematischer als nationbildendes Kriterium ist die gemeinsame Abstammung, ja selbst der bloße Glaube an sie. In früheren Kulturen, noch im juristisch und genealogisch denkenden Mittelalter wurden Stämme und Völker vornehmlich als Abstammungsgemeinschaften verstanden: Ein sagenhafter Ahnherr hatte sie begründet: ech die Tschechen, Lech die Polen. Nach dem Muster der Römer mußte jede Nation oder gar Stadtbevölkerung, die auf sich hielt, von einem geflüchteten Trojaner abstammen, wie die Franzosen von Francion, einem Sohn Hektors. Aber diese Mythen sind als solche längst erkannt. Selbst der Stamm ist — trotz seiner Bezeichnung — als Ergebnis politischer Zusammenfassung bewußt.

Mag also auch die neueste Forschung gewisse Realitäten entdecken, die hinter den Abstammungsmythen stehen: bei diesem Merkmal der gemeinsamen Abstammung als Kriterium für Bestehen und Abgrenzung nationaler Gruppen handelt es sich um ein im Erfahrungsschatz der Menschheit angelegtes, wenn auch für die modernen nationalen Groß-gesellschaften nicht mehr ausreichendes, trotzdem in bestimmten Situationen hochgespieltes Mittel der Integration und Abgrenzung, keineswegs aber um ein für die Definition dieser Gruppen brauchbares Kriterium. Jedes andere Merkmal läßt sich ebenso und besser hoch-spielen, wenn in einer Gesellschaft das Bedürfnis empfunden wird, sich der Einheit und Eigenart als nationale Gruppe zu vergewissern. (3) Die Kulturgemeinschait Viel befriedigender scheint es zu sein, wenn man die Nation als Kulturgemeinschaft definiert. Es hat nur den Nachteil, daß Kultur für diesen Zweck ein sehr vager und schwer ab-grenzbarer Begriff ist. Zwar gilt von der Kultur als Kriterium der Nationalität ähnliches wie von der Sprache: Die Tatsache, daß sie als nationbildendes und -abgrenzendes Merkmal verwendet wurde, daß sich die erwachenden Nationen als Kulturgemeinschaften verstanden und legitimierten, hat eine große Bedeutung als Stimulans für die Entfaltung nationaler Kulturen. Wenn etwas die Gliederung der Welt in einander oft widerstreitende Nationen rechtfertigt, dann ist es die großartige Mannigfaltigkeit der einander im Wettbewerb hoch-steigernden nationalen Kulturen.

Aber diese Rolle der Kultur als Kriterium der Nation ist durch die Verschiedenheit der schichtenspezifischen Subkulturen beeinträchtigt, die die gleiche Sozialschicht mehrerer Nationen verbinden und von der — wiederum gemeinsamen —-Kultur anderer Sozialschichten abheben. So hat schon der frühe Marxismus auf die gemeinsame Kultur und Klassen-situation des Proletariats über alle nationalen Grenzen hinweg hingewiesen, wie sich andererseits die Kulturschicht zumindest der zivilisierten Nationen von der Grundschicht abhob. Jedes internationale Fußballspiel oder Musikfestival belehrt uns heute über diese quer durch die Nationen verlaufenden Kultur-grenzen. Der an der Kultur orientierte Nationsbegriff, der die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg veranlaßte, die immer noch ausstehende Integration der beiden Kultur-sphären — des „Deutschlands August Bebels" und des „Deutschlands Kaiser Wilhelms" — zur nationalen Einheit dadurch zu verwirklichen, daß sie den Arbeitern durch eine Erwachsenenbildungsbewegung Anteil an der deutschen Hochkultur vermittelten, hat sich weitgehend als utopisch erwiesen.

Gleichwohl hat die Definition der Nation als einer Gemeinschaft gleicher Kultur einen tiefen Sinn. Sie weist darauf hin, daß es nicht nur der Staat sein kann, der eine bestimmte Bevölkerung, nämlich seine Untertanen oder Bürger, zur Nation macht. Es gibt Nationen, die ihrer Einheit über Staatsgrenzen hinweg sehr bewußt sind oder durch lange Epochen bewußt waren, etwa die Juden und die Polen. Eben weil der in Westeuropa übliche, ausschließlich am Staat orientierte Nationsbegriff in vielen Fällen nicht ausreichte, hat man der „Staatsnation" die „Kulturnation" gegenübergestellt. Das klassische Beispiel dafür sind die Deutschen, denen 1848, 1871 und 1918 die Gründung eines alle Deutschen umfassenden Nationalstaates mißlang, weshalb sie ihre lebendig empfundene Einheit als die einer Kulturnation definierten, die gerade den außerhalb Gebliebenen als wertvoller und verpflichtender erschien.

Für unsere Frage nach einem die Nation definierenden Merkmal oder Kriterium ergibt sich aus all dem: Das Kriterium „gemeinsame Kultur" ist hilfreich, in manchen Fällen — besonders bei der Gegenüberstellung zur Staats-nation — sogar unentbehrlich, aber nicht präzise und stabil genug, um die Nation allein hinreichend zu definieren. (4) Die Staatszugehörigkeit Viele Soziologen sind geneigt, eine ethnische, nationale oder nationähnliche Gruppe erst und nur dann als Nation zu bezeichnen, wenn für sie das Merkmal der gemeinsamen Staats-zugehörigkeitzutrifft, mit anderen Worten: die Nation als die Summe der Staatsbevölkerung zu definieren. Das entspricht dem besonders im Bereich von alten und stabilen Nationalstaaten gebräuchlichen Nationsbegriff. Es hat auch die klare Abgrenzbarkeit der so definierten Nation für sich: der Reisepaß weist eindeutig aus, wer zur Nation gehört und wer nicht. So lassen sich auch die sittlichen Verpflichtungen, die sich aus der Nationalität ergeben, am Staat ausrichten, der ja zugleich Rechtsquelle ist; andersgerichtete nationale Loyalitäten, etwa die Hingabe an die Sprach-oder Kulturgemeinschaft, sind dann leicht als illegal und unsittlich zu erweisen.

Trotzdem reicht diese Definition nicht aus. Wer wird etwa den Polen während der Jahrzehnte ihrer Aufteilung unter fremde Staaten den Charakter einer Nation absprechen, zumal sie während dieser Zeit ihre soziale Struktur und geistige Physiognomie ausgeprägt, die hervorragendsten Leistungen ihrer Dichtung und Kunst vollbracht haben. Ähnliches gilt von den Deutschen, die kaum je in der Geschichte einen die gesamte Kulturnation umfassenden Staat hatten. Auch die fast zweitausend Jahre lang im Exil verstreuten Juden sind nicht erst durch die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 zur Nation geworden. Die nichtstaatlichen Gruppen, auf die andere als staatliche Kriterien der Nationbildung zutreffen, als „ethnische Gruppen" oder „Völker" und erst die staatlich geeinten und abgegrenzten als „Nationen" zu bezeichnen, mag nützlich sein, wirft aber neue Probleme auf: terminologische, mit denen wir uns im folgenden zu beschäftigen haben werden, aber auch sachliche. Die Errichtung eines Nationalstaates nämlich macht nicht einfach die ihn anstrebende ethnische Gruppe zur Nation, sondern einen ganz anderen Personenkreis: Teile jener ethnischen Gruppen bleiben draußen, Teile anderer ethnischen Gruppen oder Völker werden mit einbezogen; der so zusammengefügten Staatsbevölkerung mag dann der Rang einer Nation weniger zukommen als einem jener Völker, die sich nun mit der Staatsbevölkerung nicht decken.

Auf jeden Fall erweist es sich als unmöglich, das Merkmal der gemeinsamen Staatszugehörigkeit absolutzusetzen und als allein ausschlaggebend für das Bestehen oder Nichtbestehen einer Nation anzusehen. Es sind nicht nur zu Staaten geformte und sich personell mit ihnen deckende Großgruppen, die intensive, mit dem Nationalismus gleichzusetzende Bindekräfte auf ihre Angehörigen ausstrahlen, sie zur Hingabe verpflichten und sie darin Selbst-rechtfertigung und Sinn des Lebens finden lassen. (5) Austauschbarkeit der nationbildenden Merkmale: Nationalismus als Ideologie Damit sind die am häufigsten zur Definition der Nation verwendeten Kriterien untersucht und als bedeutsam, aber nicht als ausschlaggebend befunden. So erhebt sich die Frage, ob es überhaupt an der Gleichheit oder Gemeinsamkeit irgendeines Merkmals liegen könne, daß sich eine große, politisch relevante Gruppe als Nation fühlt und wie eine Nation auftritt und reagiert. Gegen diese Erklärung aus der Gemeinsamkeit eines Merkmals ist eingewendet worden, daß eine solche Großgruppe doch eine arbeitsteilige Gesellschaft sei, bei der es schon um ihrer Funktionsfähigkeit willen gerade umgekehrt auf die Verschiedenheit der Eigenschaften und Fähigkeiten, des Status und der Funktion ihrer Mitglieder ankomme. Damit verlieren die althergebrachten Definitionen Nation, soweit immer sie wieder eine Gleichheit — der Sprache, der Kultur, der Staatszugehörigkeit usw. — heranziehen, viel an Wert. Die genannten Merkmale haben sich als bedeutsam, aber zugleich als austauschbar erwiesen. Je nach Epoche oder Kulturkreis sahen wir bald das eine, bald ein anderes als ausschlaggebend für das Selbstbild einer Groß-gruppe, für ihre Abgrenzung und für die Rechtfertigung ihrer staatlichen Organisation hervortreten. Es erhielt dann jedesmal einen besonderen Symbolwert, wurde gepflegt und mit einem Kult umgeben, teilte die Menschen in „gut" und „böse" und geriet in die Rolle eines Casus belli. Einmal war es die Religion, wie im christlichen Mittelalter und heute in Indien, dann waren es die von den Landesherren ausgebildeten Staaten, in unserem Europa wurde die Sprach-und Kulturgemeinschaft als nations-und staatswürdig angesehen. Fast wäre, hätte Hitler gesiegt, die Rasse über mehrere Sprachen und Staaten hinweg zum ausreichenden Grund für die Etablierung staatlicher Macht geworden. Heute scheinen sich, angesichts der Großräume fordernden Technik, Großnationen auf ideologischer Grundlage auszubilden, für die die Sprachgemeinschaften zu klein geworden sind.

Diese Vieldeutigkeit und Austauschbarkeit der für die Begriffsbestimmung der Nation herangezogenen Merkmale zwingt uns dazu, den Oberbegriff dieser Definition wie einen gemeinsamen Nenner anderswo zu suchen. Er liegt offenbar in der Tatsache, daß die Nation im Welt-und Gesellschaftsbild ihrer Angehörigen als eine durch irgendein Kriterium von ihrer Umwelt abgehobene Großgruppe erscheint, mit positiven Wertakzenten ausgestattet und den Einzelnen mit besonderen Normen und Bindekräften verpflichtend. Ein solches Welt-und Gesellschaftsbild mit dem daraus hervorgehenden Werte-und Normen-system aber nennen wir — ohne damit über seine „Wahrheit" oder „Falschheit" etwas aus-zusagen — eine Ideologie. Mit anderen Worten: Das Verhältnis des Einzelnen zu der von ihm als die seine anerkannten nationalen oder nationähnlichen Großgruppe, das wir — etwas vorläufig und allgemein — als Nationalismus bezeichnet haben, ist ideologischer Natur. Der Nationalismus ist somit eine Ideologie im genannten Sinne, das heißt, ein mit Wertetafel und Normensystem ausgestattetes Welt-und Gesellschaftsbild, in dem eine bestimmte Nation oder nationähnliche Großgruppe als die eigene, als besonders wertvoll und verpflichtend, der Hingabe würdig und diese Hingabe mit Sinnerfüllung belohnend erscheint. d) Subjektive und objektive Merkmale der nationalen Zugehörigkeit Die Praxis der Volkszählungen wie der Nationalitätenpolitik hat zum Streit darüber geführt, was denn für die Zugehörigkeit des Einzelnen zu dieser oder jener Nationalität — Nation, Volksgruppe, Minderheit — entscheidend sei: eines der eben erörterten „objektiven" Merkmale oder der freie Willensentschluß, also ein „subjektives" Merkmal. Ob man sich für die objektiven oder für die subjektiven Merkmale der Nationalität entscheidet, das hängt — wie Vergleiche zeigen — von der jeweiligen politischen Lage ab.

Wo sich etwa eine sprachlich abgegrenzte Nationalität gegen fremde oder übergreifende Staatsgewalten verteidigen muß, neigt sie dazu, Sprache und Abstammung als unabänderliche, vom Willen des Einzelnen verhältnismäßig unabhängige, also objektive Kriterien in den Vordergrund zu stellen, als gottgewollt und heilig gegenüber dem Menschenwerk militärischer Eroberungen und grenzenbestimmender Verträge. Wo es umgekehrt als notwendig erscheint, den Zusammenhalt einer Staats-nation gegen die auseinanderstrebenden Tendenzen sprachlich und kulturell verschiedener Bevölkerungsgruppen zu verteidigen, dort beruft man sich gern auf die freie Willensentscheidung des Einzelnen, also auf das subjektive Kriterium. So ist aus dem Wunsch, die 1871 an das Deutsche Reich abgetretenen deutschsprechenden Elsässer gegen alle diese objektiven Kriterien als Franzosen zu reklamieren, die berühmte Definition von Ernest Renan entstanden, derzufolge die Nation ein Plebiscite de tous les jours sei, eine tägliche Volksabstimmung. Den Anhängern dieses subjektiven Prinzips erscheint dann der Hinweis auf jene objektiven, „schicksalhaften" Gege-B benheiten als der Unterschicht zugehörig, als biologisch, folkloristisch. Eine Hervorhebung des subjektiven Prinzips läßt sich aber auch dort beobachten, wo sich eine sprachlich abgegrenzte Volksgruppe gegen die Willkür staatlicher Volkszählungsorgane behaupten will, die manchen Angehörigen dieser Minderheit gegen seinen Willen, auf Grund irgendwelcher objektiven Merkmale wie Namen oder Aussehen, für die Staatsnation in Anspruch nehmen. Darum haben sich etwa die minderheitlichen Volksgruppen Europas zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg allmählich auf jenes subjektive Kriterium der Volkszugehörigkeit geeinigt.

So entspricht das subjektive Prinzip, das dem Einzelnen die freie Wahl überläßt, zu welchem Volk er gehören will, der demokratischen Gesellschaft, die sich als eine Gesellschaft freiwillig an einem gemeinsamen Staatswesen zusammenwirkender Bürger versteht. Andererseits stellt es dieses Staatswesen dadurch in Frage, daß es dem Einzelnen freistellt, sich mit Berufung auf irgendein objektives Merkmal zu einer andern als der staatstragenden Nationalität zu rechnen.

Auf Grund des aus der Geschichte der politisch relevanten Großgruppen, ihrer Integration und Desintegration und der dabei auftretenden Kräfte, Haltungen und Reaktionsweisen gewonnenen empirischen Materials, das wir — wenn auch nur skizzenhaft und vorläufig — einer psychologischen und soziologischen Analyse unterzogen haben, können wir nunmehr versuchen, die im Bereich von Nation und Nationalismus gängigen Begriffe und Namen zu ordnen und zu erklären, soweit das — angesichts ihres verschiedenartigen Gebrauchs und ihres ständigen Bedeutungswandels — überhaupt möglich ist. Dabei werden zwei Wort-und Begriffsfelder abzuschreiten sein: zunächst jenes, das die nationalen und nation-ähnlichen Gruppen, Organisationen, Institutionen enthält wie Nation, Volk, Stamm, Staat, Vaterland, Heimat; also die Objekte jener Formen von Bindung und Hingabe, die wir vorläufig unter die Kategorie Nationalismus eingeordnet haben; dann aber das Feld aller zu dieser Kategorie gehörenden Begriffe, die das Verhältnis des Menschen zu diesen Gruppen, Organisationen, Institutionen betreffen, also den Nationalimus, Patriotismus, Chauvinismus, die Vaterlandsliebe, das Nationalbewußtsein und das Heimatgefühl. 3. Objekte des Nationalismus a) Nation — Volk In Reden von Staatsmännern, in der Publizistik und in der Umgangssprache, selbst in der Wissenschaft werden die beiden Begriffe Nation und Volk ohne klare Unterscheidung gebraucht, oft einfach gleichgesetzt. Dabei meint einer, der vielleicht volkstümlich wirken will, mit Volk dasselbe, was ein anderer als Nation bezeichnet. Die beiden Begriffe schließen einander also — so wünschenswert das vom Standpunkt der Logik wäre — nicht aus, sondern setzen nur verschiedene Akzente.

Der internationale wie der geschichtliche Vergleich zeigt, was dahintersteckt. Seit der Antike nämlich unterscheiden alle zivilisierten Nationen unseres Kulturkreises jeweils zwei Begriffe, von denen der eine die höher organisierte, politisch relevante, stärker personifizierte nationale Gruppe meint, der andere mehr die naturhafte, instinktive, stärker mit Kräften des Gemüts als der Organisation gebundene. So stand schon bei den alten Griechen das Demos (die politisch organisierte und tätige städtische oder nationale Gesellschaft, davon: Demokratie) dem Ethnos (der volk-haften, durch gemeinsame Abstammung, Sprache, Kultur usw. erkennbaren Gruppe) gegenüber. Die Römer unterschieden in gleicher Weise den populus von der gens, während natio (von nascor, nasci, natus = geboren werden) etymologisch die Abstammungsgemeinschaft bezeichnet. Die Tochtersprachen des Lateinischen haben diese Bedeutungen genau vertauscht: nation (engl. und franz.) bedeutet heute die politisch organisierte Nation, während pcuple, people das naturhafte — oder auch unterschichtliche — Volk bezeichnet. Man sieht: die Begriffe mit ihrer Nuance und Akzentuierung sind geblieben, nur die Wörter sind vertauscht. Das gleiche gilt für die slawischen Sprachen. Hier steht der politisch organisierte narod (roditi = gebären) dem lud, lid (die Leute), das heißt dem volkstümlichen Volk gegenüber, weshalb die Volksdemokratie (lidovä demokracie) kein solcher Pleonasmus ist, wie es uns Deutschen erscheint.

Diesen Bedeutungswandel der Wörter bei gleichbleibendem Dualismus der Begriffe mag die folgende Übersicht veranschaulichen: Die dritte Kolonne zeigt, daß es daneben noch das Bedürfnis gab, die Unterschicht, die schwer berechenbare, aber leicht zu manipulierende Masse zu bezeichnen, wofür die Römer das Wort vulgus hatten, das in der Gestalt Volk bei den Deutschen, als pluk bei den Slawen auch die Bedeutung von Kriegsvolk, militärischer Abteilung, Regiment annehmen konnte. Am klarsten und eindeutigsten wäre es, mit Nation nur die staatlich organisierte Gruppe, also die Staatsbevölkerung, zu bezeichnen, mit Volk dagegen die durch außerstaatliche Merkmale wie Sprache, Abstammung, Kultur gebundene Gruppe. So ist es auch des öfteren vorgeschlagen worden. Dem steht freilich — neben dem schwer in Ordnung zu bringenden Sprachgebrauch einer pluralistischen Gesellschaft — eine Reihe gewichtiger Gründe entgegen: Einmal schon die oben erwähnte Beobachtung, daß wir mehreren hochorganisierten, ihrer Einheit und Eigenart bewußten, kulturell höchst produktiven Gruppen das Prädikat einer Nation nicht absprechen können, auch wenn sie durch Jahrzehnte, Jahrhunderte, sogar Jahrtausende nicht als Staat organisiert waren. Die Polen und Juden waren Beispiele dafür, für die Deutschen, die Italiener und die Griechen gilt ähnliches. Wenn die Ausprägung als Staat zur unerläßlichen Bedingung für das Prädikat „Nation" würde, dann wäre ein neues Wort nötig, das die hochgradig integrierte, bewußte, aktive, wenn auch nicht staatlich souveräne Gruppe von dem „Volk“ unterscheidet, das, durch irgendein (außerstaatliches) Merkmal charakterisiert, jenen hohen Grad von Bewußtheit und Aktivität nicht zu besitzen braucht. Dafür hat der Historiker Friedrich Meinecke den Namen „Kulturnation" verwendet, während M. H. Boehm vom „eigenständigen Volk" spricht. Das zeigt, wie sehr ein solcher Mittelbegriff als nötig empfunden wurde, ohne daß sich bis jetzt eine terminologische Einigung hätte erzielen lassen.

Auf der anderen Seite gibt es Staatsbevölkerungen, die keineswegs so integriert und gegen ihre Umwelt abgegrenzt sind, daß man sie als Nation bezeichnen könnte. Sie wollen es manchmal selbst gar nicht sein, weil sie sich geistig-kulturell einer andern Nation zugehörig fühlen oder einen Teil der Staatsangehörigen von ihrem Nationsbegriff ausschließen. So betrachten sich die Österreicher geistig-kulturell nicht als besondere Nation, sondern als Teil der deutschen. Die Sudetendeutschen gehörten zum tschechoslowakischen Staat, aber nicht zur tschechoslowakischen Nation, sondern zur deutschen, wie die reichs-deutschen Polen zur polnischen. Von solchen Gruppen zu erwarten, sie sollten eine jahrhundertealte geistige Gemeinschaft und Kultur aufgeben, um sich der Nation und Kultur eines ihnen vielleicht oktroyierten Staates einzugliedern, ist — wenn auch üblich und administrativ bequem — einfach eine Barbarei. Ähnlich unscharf und uneinheitlich wie der Name „Nation" wird die Bezeichnung „Volk" verwendet. Auch sie hat ihrerseits den Bereich des Außerstaatlichen, Sprachlich-kulturell-Biologischen, des „Ethnischen" überschritten. Wenn der Bundeskanzler vom „deutschen Volk" spricht, dann meint er die in der Bundesrepublik zusammengefaßte und die von der Bundesrepublik mitvertretene Staatsbevölkerung innerhalb der Grenzen von 1937, nicht aber die Deutschen Österreichs und der Schweiz, die zum deutschen Volk zumindest dann gehören, wenn man Volk als Sprach-und Kulturgemeinschaft der staatlich organisierten Nation gegenüberstellt.

Auf der andern Seite ist der Name Volk noch nicht ganz von der Bedeutung vulgus in populo (d. h. das einfache Volk innerhalb des Gesamtvolkes) befreit, wie ihn die ältere Volkskunde auch für sich selbst verwendete, wie er die Volksschule von den Schulen für die höhere Gesellschaft und Bildung abhob, wie er Volkswagen und Volksempfänger als preiswerte Massenartikel empfahl und wie er noch im Eigenschaftswort „volkstümlich" steckt. Risorgimento und Nationalsozialismus, zugleich aber auch die Verbreitung sozialistischen Denkens haben den Begriff Volk vom Unterschichtlichen zum Gesamten, also in Richtung auf die Nation und auf das Nationale, ausgedehnt und aufgewertet.

Was ist angesichts eines solchen ständigen Bedeutungswandels — in dem sich ja die Lebendigkeit der Sprache und die Aktualität der um das Nationale kreisenden Begriffe aus-B prägt — für die größere Logik und Schärfe des Sprachgebauchs zu tun? Hier läßt sich nicht dekretieren und gleichschalten. Es bleibt nur übrig, im deutschen Sprachbereich — und soweit möglich darüber hinaus — für die Unterscheidung der Sachen zu werben: b) Stamm — Rasse Auf einer tieferen Ebene als Nation und Volk ist der Begriff des Stammes angesiedelt. Für ihn gibt es in den westeuropäischen Sprachen, weil er dort zugunsten des nationalen Einheitsstaates aus dem Bewußtsein verdrängt worden ist, keine gleichwertige Bezeichnung. Bei den Deutschen hat ihn die föderalistische Struktur des alten Reiches und des Deutschen Bundes, haben ihn schließlich die Dynastien am Leben erhalten, die Ländernamen der Bundesrepublik sogar zu neuem Leben erweckt.

Das mit Abstammung zusammenhängende Wort hat viele verleitet, den Stamm noch mehr als das Volk für eine Abstammungsgemeinschaft zu halten. Das trifft bis zu einem gewissen Grad für vorgeschichtliche Zustände zu, gilt aber schon im frühen Mittelalter nicht mehr. Ja, schon bei Tacitus sind die Stammesnamen meist Bezeichnungen für die Ergebnisse zielbewußter politischer Zusammenfassung von Bevölkerungen oft recht verschiedener Abstammung, sogar Sprache. So gibt es niederdeutsch, mitteldeutsch und oberdeutsch redende Franken. Niedersachsen und Ober-sachsen sind so verschieden, wie es zwei Stämme nur sein können. Die Sudetendeutschen, gewöhnlich als Stamm betrachtet, gehören, wie schon ihre Mundarten verraten, vier verschiedenen deutschen Stämmen an. Von anderen Völkern — etwa den Tschechen und Slowaken, Serben und Kroaten — ist uns die Streitfrage bekannt, ob es sich um zwei Stämme eines Volkes oder um jeweils zwei Völker handelt.

Ein historischer Rückblick zeigt, daß die Gruppen, die wir heute Stämme nennen, weil sie uns die Qualität von Völkern nicht zu erreichen scheinen, in früheren Epochen oft Völker waren, zumindest im Bewußtsein der Zeitgenossen als solche erschienen. Das mittelalterliche Europa kannte nicht Deutsche und Franzosen, sondern Franken, Sachsen, Schwaben, Bayern, Frangais (= Bewohner der Isle de France), Normands, Bourguignons (Burgunder), Poitevins (Bewohner des Poitou), Aquitanier, Lombarden u. a. Erst spätere politische Zusammenfassungen haben diese Völker zu Stämmen herabgedrückt, größere Einheiten als Völker bewußt gemacht.

Wir können also im Stamm nichts grundsätzlich anderes sehen als ein Volk, das aber, bevor sich das Prinzip der Volkssouveränität durchsetzte, in größere Einheiten einbezogen wurde und damit an politischer Relevanz verlor. Da jene größere Einheit meist auch eine gemeinsame Hochsprache entwickelte — wie die Deutschen, die Franzosen, die Engländer —, sank die Stammessprache zur „Mundart" herab, die Stammeskultur zur regionalen Variante einer Nationalkultur. Gleichwohl bedeuten Stamm, Stammessprache und Stammeskultur wertvolle Bereicherungen der National-kultur. Die in der europäischen Geschichte mehrfach bewährte Möglichkeit, solche Stämme auf einer ihnen überlegenen Ebene zu Nationen zu einigen, eröffnet die Aussicht, daß auf der nächsthöheren Stufe ähnliche Einigungsprozesse — bei Wahrung eigenartiger Kulturen und Sprachen — nicht ausgeschlossen sind. Im ganzen erscheint so der Stamm als Ergebnis einer Stufe der Nationbildung. Die Geschichte hat sie — vielleicht für einige Jahrhunderte, vielleicht für immer — fixiert. Sie ist manchmal über diese Stufe des Stammes hinausgeschritten, zu größeren Einheiten, Völkern oder Nationen. Sie zeigt aber auch Beispiele, in denen größere Einheiten gewissermaßen auf das Stammesniveau zurücksinken, indem sie sich auflösen.

Wirkliche Abstammungsgemeinschaft bedeutet die Rasse . Sie ist — bezeichnenderweise — nur in einzelnen Fällen politisch relevant geworden: in Gestalt einer auf der Rasse als Kriterium für Elite-oder Nationbildung aufgebauten politischen Ideologie (wie National-15 Sozialismus und Antisemitismus) und in den Konflikten, zu denen der Unterschied der Hautfarbe führte (Negerproblem in den Vereinigten Staaten, Emanzipation der Neger in Afrika u. ähnl.). Daß es wissenschaftlich erforschbare Rassenunterschiede und -Charakteristika gibt, die eine ernst zu nehmende Anthropologie zu untersuchen hat, darf über dem wahnsinnigen politischen Mißbrauch nicht vergessen werden, zu dem eine verfälschte und vulgarisierte Rassenlehre geführt hat. An solchen Fällen der Ideologisierung und Politisierung von Rassenunterschieden läßt sich aber auch beobachten, daß die Rasse oder Abstammungsgemeinschaft an sich keine politisch relevanten Großgruppen begründet. Das tut erst eine Ideologie, derzufolge ein Rassen-merkmal seine Träger zu Einheit und Zusammenarbeit wie zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet und von den Angehörigen anderer Rassen abgrenzt. Daß auf diese Weise eine Rassenideologie bestehende Völker oder Nationen aufspalten und Teile dieser Völker mit Teilen anderer zusammenführen kann, haben wir am Beispiel das Nationalsozialismus gesehen. Er hat den „nordischen Rassekern" der Deutschen wie der anderen Völker — theoretisch — zu einer elitären Oberschicht über den „rassisch minderwertigen" Teilen eben dieser Völker einschließlich der Deutschen vereinigt und damit den überlieferten Nationsbegriff zerstört. c) Staat — Reich Hier soll keine Staatslehre entwickelt werden. Es geht nur darum zu bestimmen, wieweit die Kategorie Staat Gegenstand einer Einstellung und eines Verhaltens sein kann, das wir summarisch als Nationalismus bezeichnet und untersucht haben.

Das ist immer dort der Fall, wo der Staats-bevölkerung, also der Summe der Staatsangehörigen, die Qualität einer Nation zuerkannt wird, wie in den alten und konsolidierten Nationalstaaten, besonders Westeuropas, oder in Staaten, die ihre Angehörigen durch eine nationale Ideologie integriert haben, zum Beispiel den Vereinigten Staaten. Je nach dem Stil und der Entwicklungsstufe der Epoche haben die Staaten ihre Angehörigen durch verschiedene Mittel integriert und von der Umwelt abgegrenzt; in früheren Epochen durch die symbolkräftige Person eines Herrschers, der — durch Wahl oder Geblütsrecht (Erbfolge) ausgewiesen, durch Gottes oder des Volkes Auftrag berufen — den Staat repräsentierte und die in ihm Vereinten zur Nation zu machen wenigstens bestrebt war. Um dieser integrierenden, nationbildenden Wirkung willen wurde ein solcher Herrscher wohl auch mit besonderem Glanz, ja mit einem Kult umgeben, über die Staatsangehörigen, gelegentlich bis in eine göttliche Sphäre erhoben — was demnach nicht einfach einen Aberglauben, sondern eine Staatsnotwendigkeit darstellte. Modernere Verfassungen, wie schon die römische, haben hinter dieser Person die Sache hervortreten lassen, die Res publica, die von dem Herrscher und von seinen persönlichen Unzulänglichkeiten abstrahieren kann. Auch sie kommen ohne einen gewissen Grad an Zeremoniell und Personifizierung nicht aus, etwa im Ritual des englischen Parlaments oder in allegorischen Gestalten wie La France, Germania, Bavaria. Die stärkste Integrationskraft aber hat das Erlebnis der Beteiligung und Mitbestimmung entwickelt, das der demokratische Staat seinen Angehörigen gewährt. Nun ist der Staat des Bürgers eigene Angelegenheit und nicht die eines noch so imponierenden Herrn. Durch strengen und kontrollierten Respekt vor der Verfassung gibt der demokratische Rechtsstaat seinen Bürgern die Möglichkeit, sich mit ihm zu identifizieren (der Staat sind wir selbst), und erzieht sie auch dadurch zur Nation.

Gerade daran aber wird merkbar, wie sehr es auf eine alle Staatsangehörigen einbeziehende Staatsideologie ankommt: Wo sich diese Staatsrechtfertigungslehre nur auf einen Teil der Bevölkerung bezieht, zum Beispiel auf den Adel, auf eine bestimmte Konfession oder Sprachgemeinschaft, dort wird es den von der Staatsideologie nicht mit gemeinten Gruppen unmöglich, sich mit dem Staat zu identifizieren; sie werden rechtlich und ideologisch zu Bürgern zweiter Klasse. In solchen Fällen ist die Staatsbevölkerung weit entfernt, eine Nation zu sein. Beispiele für dieses ideologische Zweiklassensystem waren und sind: das Osmanische Reich, das die Christen von der mohammedanischen Staatsideologie ausschloß, ähnlich die auf Sprachvölkern aufgebauten Nationalstaaten ihren minderheitlichen Volks-gruppen gegenüber, Pakistan als religiös motivierter Staat in Hinsicht auf seine Hindu-bevölkerung und andere, schließlich auch das Deutsche Reich zur Zeit der Sozialistengesetze. Unter den Deutschen bestand immer wieder das Bedürfnis, den Staat durch einen höheren, sakralen Begriff zu überhöhen, durch das „Reich". Das nationale Erwachen hat — wie bei anderen Völkern an frühere Staatsformen der eigenen Nation anknüpfend — das Römische Reich deutscher Nation in der Geschichte vorgefunden und den erstrebten Nationalstaat mit diesem identifiziert. So wurde der Staat von 1871 — obwohl nicht einmal alle Deutschen, geschweige denn andere Völker (wie das mittelalterliche Reich) umfassend — Deutsches Reich genannt. Erst nach dem Scheitern dieses „Reiches" im Ersten Weltkrieg erwachte die Erinnerung an den übernationalen Charakter jenes alten Reiches, und man begann es, im romantisch-pathetischen Stil der zwanziger Jahre, als dem zentralistischen Nationalstaat französischen Typs überlegen hinzustellen. Ein „Drittes Reich" sollte — nach Moeller van den Bruck — die Unzulänglichkeiten des anationalen (das heißt der Nationalität gleichgültig gegenüberstehenden) ersten und dec nationalstaatlich engen zweiten (Wilhelminischen) Reiches überwinden und der Eigenart der mitteleuropäischen Siedlungsverhältnisse, Sprachgruppen und Staatstraditionen durch ein auch für andere Völker verantwortliches übernationales Führungssystem gerecht werden. Dieses Leitbild einer politischen Neuordnung Mitteleuropas mußte — abgesehen von seiner Verfälschung durch die Rassenideologie — an der. nationalstaatlich egalitären Denk-und Gesellschaftsstruktur des modernen Europa, aber auch daran scheitern, daß seine Verkünder den politischen Reifegrad der durch das Risorgimento gegangenen Völker unterschätzten. Der Nationalsozialismus hat den — ihm an sich fremden — Reichsgedanken in seinen Sturz mitgerissen. d) Vaterland — Heimat Eine Reihe von Bezeichnungen haben alle europäischen Völker gemeinsam, um das Objekt eines wie immer gearteten „Nationalismus" in seiner emotionalen und moralischen Wirkung zu kennzeichnen. Den lateinischen Namen Patria, der im Französischen als palrie erscheint, haben die Deutschen mit Vaterland (engl. latherland) übersetzt, die Slawen mit o/czyzna (poln.) und otecesto (russ.), während die Tschechen mit dem gleichen Gemütswert den (von Macht, Herrschaft abgeleiteten) Ausdruck vlast verwenden. Ein solcher mit Gemütswerten aufgeladener Ausdruck unterliegt stark den Schwankungen des Zeitstils, wird rasch auf-und abgewertet.

In der Aufklärungszeit bezeichnete er die zum Bewußtsein ihrer politischen Relevanz erwachte Gesellschaft schlechthin. Der Patriot war — ohne Rücksicht auf ein bestimmtes Land — einfach der gesellschaftlich engagierte, aufgeschlossene, um das Gemeinwohl verdiente oder zumindest bemühte Mensch. Wie aber Kunst mit der Zeit zu Kitsch werden kann, so erhielt auch der Ehrenname Patriot allmählich einen spöttischen Beigeschmack und verschwand schließlich aus dem allgemeinen Sprachgebrauch. Ähnliches gilt bei den heutigen Deutschen vom Vaterland, zumal die vom Nationalsozialismus überanstrengte Hingabe an den Staat bei den davon geschädigten Generationen in ein Ressentiment gegen eine solche Verbindung von Staat und emotionaler Hingabe umgeschlagen ist. Die gegen Pathos aller Art, insbesondere gegen nationales Pathos empfindlich gewordene deutsche Jugend reagiert auf solche Begriffe geradezu allergisch. Ähnliches ist — wenn auch bei weitem nicht in so starkem Maße — bei der jungen Generation anderer Völker in Ost und West zu beobachten.

Es gehört zur politischen Bildung, über solche Schwankungen der Mode hinausblicken und hinter den wechselnden Zeichen die bleibende Sache sehen zu können. Von einem solchen Standort aus ist das Wort Vaterland (patria, patrie u. ähnl.) einer der möglichen, zur Zeit allerdings abgewerteten Ausdrücke für die gesellschaftliche Organisation — den Staat —, dem sich der Sprechende angehörig und verpflichtet fühlt, wobei in dem aus einem intimen menschlichen Verhältnis genommenen Bild (Vater-Kind) die emotionale Bindung oder Hingabe mitschwingt. Eine solche Hingabe ist die Grundlage jeder arbeitsteiligen, nach außen abgegrenzten Gesellschaft. Ohne sie kann eine Demokratie nicht funktionieren. Diese Hingabe mag rationaler — aus Vernunftgründen abgeleitet und an solchen orientiert — sein oder weniger rational, aus Kräften des Gemüts kommend, vom faszinierenden Bild — dem Image — jener Gesellschaft, jenes Landes oder Staates bestimmt. Man mag sie dem demokratischem Rechtsstaat widmen, in dem man als freier Bürger leben kann, oder der Freiheit, die man zu verteidigen bereit ist; es kann mehr das Land gemeint sein oder mehr die Gruppe von Menschen, die Gesellschaft: auf jeden Fall geht es um eine überindividuelle Ordnung, die den Einzelnen verpflichtet und — mit mehr oder minder Emotion — an sich bindet. Auf das — demnach ohnehin zu enge — Wort Vaterland kann dabei ruhig verzichtet werden, wenn nur die damit gemeinte Sache und die Bindung an sie gesichert ist.

Zu den emotional aufgeladenen, für viele abgewerteten, für andere dagegen um so stärker gemütsbetonten Begriffen gehört die „Heimat". Manche Sprachen haben dafür kein Wort, andere verwenden das gleiche wie für Vaterland; so das polnische ojczyzna, wie in Adam Mickiewicz’s berühmtem Vers „Litwo, ojcyzno moja, ..." (Litauen, meine Heimat, du bist wie die Gesundheit: erst wer dich verloren hat, weiß was du bedeutest). Der Heimat-verlust durch Massenvertreibungen — wie übrigens durch die Mobilität der industriellen Gesellschaft — hat den Heimatbegriff von seinem rein geographischen zum soziologi17 sehen Inhalt hin verschoben: Er meint heute weniger eine bestimmte Gegend als das gesellschaftliche Ordnungsgefüge, in dem der Mensch ausgewachsen ist und das ihn geprägt hat. In diesem Sinne spricht man auch von einer politischen Heimat in dieser oder jener Partei, in einer Weltanschauung oder Ideologie.

Daß es in anderen Sprachen keine genaue Entsprechung für das Wort Heimat gibt, beweist noch nichts für den spezifisch deutschen Charakter dieses Begriffs; denn die Dichtung in diesen Sprachen überliefert das Bestehen der Sache einschließlich der zugehörigen Gefühle, wie Heimweh, sehr wohl. Der für unsere Zeit typisch gewordene Heimatverlust ganzer Bevölkerungen durch Massenzwangswanderung — Umsiedlungen, Deportationen, Vertreibungen — hat den durch lange Zeiten auf das Folkloristische beschränkten Begriff Heimat zum Politikum gemacht. So wird das Recht auf Heimat — Heimatrecht — gefordert, das den Katalog der Menschenrechte ergänzen soll, da dieser zur Zeit seiner Entstehung wohl das Recht auf Freizügigkeit — durch die Leibeigenschaft — eingeschränkt sah, mit Massenzwangswanderungen der modernen Art aber nicht rechnen konnte. Menschengruppen, die die Heimat jahrzehntelang nicht als problematisch erlebt hatten, konnten die Forderung nach Heimatrecht allerdings als Territorial-forderung mißverstehen. e) Volkstum — Deutschtum — Judentum — negritude In Zeiten und in Bevölkerungen, die auf die Integration und Abgrenzung nationaler und nationähnlicher Gesellschaften konzentriert waren, wie während des nationalen Erwachens (Risorgimento) oder der Emanzipation der Entwicklungsländer, trat das Bedürfnis auf, die sich konstituierende, ihrer selbst bewußt werdende Großgruppe als beinahe personhafte Trägerin und Quelle von Kräften und Wirkungen, Leistungen und Normen zu kennzeichnen. Dafür fand die deutsche Romantik die Bezeichnung „Volkstum", der in anderen Sprachen das Wort nationalite, nationhood, nrodnost — wo es nicht nur die Volks-oder Staatsangehörigkeit meinte — entsprach. Auf einer intensiveren Stufe konnte sich diese Verdinglichung sogar auf eine bestimmte Nation oder Gruppe beziehen, so daß man etwa vom Deutschtum sprach und damit eben diese über-individuelle Person meinte und nicht nur die Summe der Deutschen. Auch dies war kein deutsches Spezifikum, sondern eine auch sonst empfundene Notwendigkeit, wie die Begriffe Judentum, Jewry, Polsko und ähnlich verraten, heute auch die international anerkannte und gefeierte negritude (das heißt die ideelle Summe des Negerseins in geistiger und rassischer Hinsicht).

Mit diesem Bedürfnis nach Aufwertung und Personifizierung der sich selbst konstituierenden Nation und nationalen Kultur hängen auch jene philosophischen und soziologischen Lehren zusammen, die in solchen Epochen immer wieder auftreten; etwa wenn Giambattista Vico im Italien des 17. /18. Jahrhunderts die Nationen mit Lebewesen verglich, die eine Lebensgeschichte, Jugend, Reife und Alter haben, wenn J. G. Herder die vielfältigen Schöpfungen des Volkes einem zentralen Prinzip, dem Volksgeist oder der Volksseele zuschrieb und dafür bei den erwachenden Völkern Mittel-und Osteuropas begeisterte Zustimmung fand. Schließlich haben der französische Soziologe Emile Durkheim, der bestimmten Gruppen einen überindividuellen Subjektcharakter zuschrieb, und der Deutsche Ferdinand Tönnies, der die „Gemeinschaft" als mit bestimmten Zügen eines überindividuellen Wesens ausgestattet über die „Gesellschaft“ stellte, das spätere nationale Erwachen, etwa der Türken, entscheidend beeinflußt.

Das alles zeigt — unabhängig davon, ob es sich bei diesem Ganzheitsprinzip um eine Realität oder eine gedankliche Fiktion handelt —, daß in solchen Lagen die Vorstellung mächtig wird, die erlebten Wirkungen und Kräfte der nationalen Gesellschaft seien als Produkte einer bloßen Summe von Individuen nicht hinreichend erklärt, das Ganze sei mehr als die Summe der Teile und müsse den Charakter eines Subjektes haben. Die idealistische Philosophie, die in solchen Kategorien dachte, verdankt einen Großteil ihres Einflusses nicht nur auf die Deutschen, sondern vor allem in Osteuropa diesem Bedürfnis nach Verdinglichung eines lebendig empfundenen Sachverhalts. Natürlich enthält diese Verdinglichung die Gefahr einer totalen Unterwerfung des Individuums unter das absolutgesetzte Prinzip. Der integrale Nationalismus hat sie — vor allem in seiner nationalsozialistischen Ausprägung — vollzogen und damit nach seinem Zusammenbruch geradezu eine Allergie gegen solche romantisch-idealistischen Objektivierungen der Nation und ähnlicher Gruppen hervorgerufen. Damit sind auch die dieses Prinzip bezeichnenden Vokabeln bei den nach-nationalsozialistischen Deutschen als vermeintlich nationalsozialistischer Herkunft einer energischen Ablehnung verfallen. Eine distanziertere Betrachtung wird sie als das werten, was sie sind: Namen für eine in bestimmten Situationen als wirksam erlebte, wenn auch fiktive Ganzheit. 4. Erscheinungsformen des Nationalismus Wenn schon in der Benennung nationaler oder nationähnlicher Gebilde Uneinigkeit und Unklarheit herrscht, so sind die Bezeichnungen für die verschiedenen Arten der Bindung an sie womöglich noch vieldeutiger und unklarer. Hier handelt es sich nämlich um menschliche Einstellungen und Verhaltensweisen, die der moralischen Beurteilung unterliegen, weshalb in den Namen dafür zugleich moralische Akzente, Billigung oder Mißbilligung, mitschwingen. Der Mensch ist erfahrungsgemäß zu solcher Billigung oder Mißbilligung schnell bereit, so daß seine Sprache für eine neutrale oder ambivalente Einstellung zu nationalen oder nationähnlichen Erscheinungen kaum Namen hat. a) Nationalismus — Patriotismus Der der deutschen Umgangssprache zur Verfügung stehende allgemeinste Ausdruck für jede positive Einstellung oder Bindung zu nationalen Gruppenbildungen heißt Nationalismus. Allein eben er hat — angesichts der Erfahrungen mit diesem Phänomen verständlich — einen moralisch abwertenden Akzent, bedeutet in den Augen vor allem des Kontinentaleuropäers Rückständigkeit, Enge, geistige Verirrung. Wer eine zu billigende Bindung an Nation oder Staat bezeichnen will, spricht statt dessen von Patriotismus. Patriotismus bedeutet die Liebe zum Eigenen, Nationalismus den Haß gegen das Fremde, so lautet ein bekannter Ausspruch. Er klingt bestechend, aber er ist unlogisch und unscharf; denn er bezieht sich auf verschiedene Objekte: Nationalismus auf nationale und nationähnliche Gruppen schlechthin, Patriotismus auf das Vaterland, den Staat. Wo der Unterschied zwischen Nation und Staat nicht bewußt ist, wie in den konsolidierten Nationalstaaten Westeuropas, dort mag man sich so behelfen; die komplizierten Überschneidungen nationaler und staatlicher Gegebenheiten und Grenzen in Mittel-und Osteuropa wie in vielen Teilen der übrigen Welt verbieten eine so primitive Gegenüberstellung.

Den allgemeineren Begriff Nationalismus nun auch ohne den bei uns üblichen Ton der moralischen Entrüstung zu verwenden, wo schlechthin die Bindung an nationale oder nation-ähnliche Gruppen bezeichnet werden soll, dazu ermuntert auch der Sprachgebrauch der Angelsachsen, die — von den Exzessen des kontinentaleuropäischen Nationalismus nicht so stark in Mitleidenschaft gezogen — den Ausdruck nationalism in durchaus ambivalentem Sinn verwenden, auch wo sie, weitgehend mit Recht, den heutigen Nationalismus als ein Durchgangsstadium der Menschheit ansehen, das nur noch für die Periode der Selbst-konstituierung der modernen Nationen zutrifft. Das Problem des Namens Nationalismus steckt aber nicht nur in dem voreiligen moralischen Akzent, den er begreiflicherweise erhalten hat, sondern auch in dem Umstand, daß er von seinem Objekt abgeleitet ist, von der Nation oder der nationalen Gruppe. Das richtet die Aufmerksamkeit auf eben dieses Objekt und läßt übersehen, daß sich die gleiche seelische Einstellung durchaus auch auf andere Objekte richten kann, auf Gruppen und gesellschaftliche Gebilde, die wir üblicherweise nicht als national bezeichnen, weil sie nicht auf Grund der geläufigen ethnischen oder nationalen Kriterien integriert sind, sondern auf Grund anderer, etwa religiöser oder ideologischer Motive. Die diesen Betrachtungen vorausgehende Übersicht über die Geschichte des Nationalismus hat viele Beispiele dafür gezeigt; sie hat auch die gleichen Wirkungen von Hingabe und heroischem Einsatz bis zu Fanatismus und Verbrechen, von Verhalten gegen die eigene Gruppe wie gegen die fremde Umwelt, von typischen Formen des Konflikts und der Abhängigkeit, der Integration und Desintegration erkennen lassen, ob es sich nun um nationale oder anders motivierte Gruppenbildungen handelte.

Das alles zwingt uns, für den Gebrauch in der Politik und politischen Pädagogik — ganz abgesehen von den Notwendigkeiten der wissenschaftlichen Analyse — einen Ausdruck für alle diese soziologisch wie psychologisch analogen Einstellungen und Verhaltensweisen zu suchen, die den im Nationalismus gegebenen Tatbestand allgemein und umfassend genug kennzeichnen. Nur: diesen Ausdruck gibt es in unserer Sprache nicht. Man müßte von der „Integrationsideologie politisch relevanter Großgruppen" sprechen, um das hier gemeinte hinreichend genau und umfassend zugleich zu definieren; aber wer kann der Umgangssprache eine solche Formel zumuten! Da nun mit Nationalismus die im neueren Europa geläufigste Erscheinungsform der hier gemeinten Einstellung von Menschen zu ihren Groß-gruppen bezeichnet wird, scheint es unter diesen Umständen noch am ehesten gerechtfertigt, den Ausdruck Nationalismus als eine Art pars pro toto für eben jene Integrationsideologie politisch relevanter Großgruppen zu verwenden. Gegen diese Verwendung von „Nationalismus" als pars pro toto spricht allerdings das heute in Europa herrschende Bedürfnis, die auf stärkere Souveränität der Nationalstaaten gerichtete Politik etwa Frankreichs oder Rumäniens im Gegensatz zu den bestehenden oder erstrebten übernationalen Zusammenschlüssen zu kennzeichnen. Hier ist tatsächlich das Objekt jener Haltung gemeint und nicht die Haltung selbst, die überlieferte Nation (im Gegensatz zu Europa) und nicht das eigentümliche psychologisch-soziologische Phänomen der Bindung an irgendein nationales oder quasi-nationales Gebilde.

Solange sich also für den psychologisch-soziologischen Sachverhalt einer Bindung an politisch relevante Großgruppen, einer sie integrierenden Ideologie kein brauchbarer Name einbürgert, mag man dafür den Namen Nationalismus verwenden, zumal diese Haltung und Ideologie mit seiner Hilfe tatsächlich am besten zu exemplifizieren ist; die wissenschaftliche Definition wird auf die Umschreibung des Phänomens mit „Integrationskraft (oder -Ideologie) politisch relevanter Groß-gruppen" nicht verzichten können. b) Nationalbewußtsein — Nationalgefühl Die Bezeichnung Nationalbewußtsein ist etwas aus der Mode gekommen, zumal sie — ähnlich wie Klassenbewußtsein — das Bewußtwerden einer vorher nicht bewußten Zusammengehörigkeit betont. Tatsächlich kam es während des nationalen Erwachens der Völker darauf an, ob einer nationalbewußt war oder dazu erst erweckt werden mußte, ähnlich wie der noch nicht klassenbewußte Proletarier eine zu überwindende Vorform des erwünschten proletarischen Kämpfers bezeichnete. Seitdem das Bewußtsein der nationalen Zugehörigkeit in Europa durch Nationalstaatsgründungen, Kriege und Nationalitätenkonflikte — mit wenigen Ausnahmen — selbstverständlich geworden ist, hat dieses Wort an Bedeutung verloren. Man kann jetzt die Bezeichnung Nationalbewußtsein dort verwendet finden, wo im Gegensatz zum suspekten Nationalismus ein gemäßigtes, legitimes Bekenntnis zur eigenen Nation ausgedrückt werden soll. Mißlich ist dabei nur, daß damit nur ein Bewußtsein bezeichnet wird, zunächst aber nicht alle seine Konsequenzen in Einstellung, Verhalten, Fühlen und Handeln: alles Elemente, die das Wort Nationalismus einbezieht.

Auf ähnliche Weise zu eng ist die Bezeichnung Nationalgefühl, die in einer nüchtern und sachlich gewordenen Generation kaum mehr gebraucht wird, weil sie zu leer und zu pathetisch klingt. Bewußtsein und Gefühl geben zusammen immer noch nicht das wider, was unter Nationalismus alles gemeint sein kann: Wissen, Zustimmung, Emotion und die Konsequenzen aus all dem in Haltung und Tun. Daraus aber geht hervor, daß die moralische Unterscheidung: legitimes Nationalbewußtsein (und -gefühl) gegen verwerflichen Nationalismus —• wiewohl gern verwendet — jeder logischen Begründung entbehrt. c) Chauvinismus — integraler Nationalismus Eindeutig abwertend ist die Bezeichnung Chauvinismus. Sie stammt von Chauvin, der karikierend gemeinten, einen bramarbasierenden Soldaten darstellenden Gestalt aus einem französischen Theaterstück von 1831 und bedeutet einen engstirnigen, überheblichen, fremde Existenz und Rechte nicht achtenden Nationalismus, zumal einen solchen, der Massensuggestionen zugänglich und für Realitäten blind ist. Diesem primitiven, auf Emotion und Vorurteilen beruhenden, uninteliigenten Nationalismus gegenüber bedeutet der überlegte, zu einer Theorie ausgebaute, die Nation absolutsetzende integrale Nationalismus eines Charles Maurras und Maurice Barres eine höhere und geistigere Stufe der Bindung an die Nation, gerade darum aber als ideologische Macht gefährlicher und weittragender als jener.

Wer — wirklich oder vermeintlich — vom Nationalismus nicht berührt, eine seiner hier als Chauvinismus und als integraler Nationalismus charakterisierten Erscheinungsformen gewissermaßen von außen erlebt hat, neigt dazu, diesen Unterschied zwischen primitiver Emotion und ausgebauter Ideologie, ja Philosophie zu unterschätzen. Nationalismus — welcher Art immer — erscheint ihm als ungeistig und undurchdacht, als Massenerscheinung oder als Äußerung des Primitiven oder des durch eine affektive Situation zum Primitiven gewordenen Menschen (G. Sorel). Diese auch heute noch anzutreffende Verkennung des Unterschiedes zwischen dem primitiven und dem ideologischen Nationalismus und die damit verbundene Unterschätzung der geistigen Kräfte und Möglichkeiten des Nationalismus überhaupt war und ist eine Quelle der Gefahr und des falschen Verhaltens allen ähnlichen Erscheinungen gegenüber. Deshalb muß hier auf die ganze Variationsbreite vom primitiven Nationalismus (Beispiel: Chauvinismus) zum ideologisch ausgebauten, zur Philosophie erhobenen Nationalismus (Beispiel: integraler Nationalismus) hingewiesen werden. d) Ethnozentrismus Die amerikanische Soziologie spricht seit W. G. Sumner (Folkways 1906) von Ethnozentrismus und meint damit eine Haltung, die die eigene Gruppe (ingroup) von anderen Grup-B pen (outgroups) unterscheidet und jener vor diesen einen Vorzug gibt. Nun ist auch hier wieder der Bezugsrahmen ursprünglich zu eng gewählt worden, soweit nur die ethnische Gruppe gemeint ist. Die spätere Erweiterung des Begriffs auf Gruppen aller Art (ingroup — outgroup) entspricht also unserem aus dem gleichen Grund erweiterten Gebrauch des Namens Nationalismus über sein ursprüngliches Objekt hinaus.

An den Untersuchungen zum — so erweiterten — Ethnozentrismus sind aber drei mögliche, grundsätzlich verschiedene Haltungen zur eigenen (ethnischen, nationalen oder anderen) Gruppe und zur derart diskriminierten Fremdgruppe (outgroup) klar geworden, die es verdienen, hier von einander abgehoben zu werden:

Die radikalste und ohne weiteres als sittlich verwerflich erkennbare Haltung der Fremd-gruppe gegenüber ist der Wunsch, diese Fremdgruppe vernichten zu wollen oder es auch nur für gerechtfertigt zu halten, daß sie vernichtet werde. Das ist eine auf Extremstufen des Nationalismus, Ethnozentrismus oder Rassismus nicht seltene Haltung.

Eine abgeschwächte, aber ebenso dikriminierende Haltung drückt sich in dem Wunsch aus, die Fremdgruppe unterdrückt oder von der eigenen abhängig zu halten, ihr einen minderen Rechts-oder Sozialstatus einzuräumen, um die Gefahr, die sie für die eigene Gruppe bedeutet oder bedeuten könnte, zu bannen. Auch diese Form des Ethnozentrismus wird mit Recht als Diskriminierung verurteilt. Beispiele dafür: die Haltung vieler Amerikaner gegen die Neger, die Nationalitätenpolitik vieler Nationalstaaten u. a.

Eine dritte Art des Verhältnisses zwischen ingroup und outgroup, als Ethnozentrismus gekennzeichnet, besteht in dem Wunsch, die Fremdgruppe zwar nicht vernichten oder in ihren Rechten einschränken zu wollen, sie aber doch von der eigenen sauber getrennt zu halten, um die Einheit und Eigenart der eigenen Gruppe zu bewahren. Auch dies wird von solchen Gruppen, die sich zu assimilieren wünschen, als diskriminierend empfunden und bekämpft (wie die Rassentrennung in der Südafrikanischen Union), ist aber nicht wie die beiden ersten Haltungen als unbedingt unsittlich zu erweisen. Denn eine solche Trennung hat nicht nur die diskriminierende, sondern auch die diskriminierte Gruppe oft durch Jahrhunderte in ihrer Eigenart und Kultur am Leben erhalten, wie die Juden vor der Emanzipation. Man muß ferner fragen, was denn aus der europäischen Kultur geworden wäre, hätten die Griechen die ihre nicht für besser gehalten als die der Perser und in ihrem Kampf gegen diese nicht durchaus ethnozentrisch reagiert. Es ist schließlich unverkennbar, daß ein absoluter Gleichmut gegen die gegenseitige Abgrenzung von Gruppen das Bestehen solcher Gruppen, damit aber auch ihrer Kulturen, Schöpfungen und Funktionen in Frage stellen würde. Gruppen nationaler, religiöser, sozialer oder anderer Art und ihre spezifischen Kulturen existieren ja aufgrund des Gruppenbewußtseins ihrer Mitglieder und also aufgrund einer wie immer gearteten Bevorzugung der eigenen Gruppe, das heißt einer Art Ethnozentrismus, der damit als ein Konstruktionsprinzip der menschlichen Gesellschaft erkennbar wird. Auch hier, wie bei den verschiedenen historischen Erscheinungen des Nationalismus, wird man also verschiedene und verschieden zu beurteilende Formen und Stufen des Ethnozentrismus — bei allen Vorbehalten gegen diesen Terminus — unterscheiden müssen. e) Diskriminierung — Assimilation Diese beiden Begriffe müssen einander gegenübergestellt werden, weil sie die beiden grundlegenden Formen des Unrechts bezeichnen, die im Konflikt von Großgruppen vorkommen, wobei allerdings — je nach Erlebnislage — jeweils nur die eine empfunden und bekämpft, die andere gar nicht gesehen wird. Wer den Gruppencharakter seiner Gruppe aufgeben möchte, um sich einer als überlegen betrachteten anderen Gruppe einzugliedern, der leidet darunter, von der erstrebten Gemeinschaft als außenstehend betrachtet, ferngehalten, diskriminiert zu werden. Er empfindet diese Diskriminierung als Unrecht und bekämpft sie. Beispiele für diese Haltung sind die Neger in den Vereinigten Staaten und die Juden in der westlichen Gesellschaft, soweit sie die Assimilation an ihre Umwelt, das heißt die Integration in die nationale Gesellschaft ihres Wohnsitzes, erstreben. Der Angehörige einer derart diskriminierten Gruppe empfindet es schon belastend, als solcher erkannt und angesprochen zu werden, und neigt zu einer Philosophie, die die Gleichheit aller Menschen und die Bedeutung der Umwelteinflüsse gegenüber der der erbbiologischen Elemente hervorhebt. Umgekehrt leiden viele Gruppen gerade darunter, daß sie in ihrem Gruppencharakter durch Assimilation an eine andere Gruppe — etwa an das im Besitz der Mehrheit oder der Staatsmacht befindliche Volk — bedroht werden, also durch Entnationalisierung, durch zwangsweise Bekehrung oder durch Beeinträchtigung ihrer kulturellen Eigenart und Selbständigkeit, ihres „nationalen Besitzstan-des". In dieser Lage befinden sich die meisten minderheitlichen Volksgruppen, Nationalitäten, aber auch viele Religionsgemeinschaften. Das Unrecht, das sie empfinden und bekämpfen, ist jener Diskriminierung gerade entgegengesetzt. Es heißt Assimilation oder Entnationalisierung (Germanisierung, Magyarisierung, Rekatholisierung, Russifizierung u. ähnl.). Die Angehörigen der davon bedrohten Gruppen wollen wiederum mit denen der assimilierenden Gruppe nicht verwechselt werden. Sie tragen ihre Eigenart zur Schau und neigen zur Abgrenzung wie zur Hervorhebung der Eigenständigkeit und der Personalität ihrer und aller anderen Gruppen — soweit es freilich nicht gefährlich ist, als Gruppenangehöriger erkannt zu werden.

Auch hierin ist man geneigt, das an sich selbst erfahrene Unrecht als moralisch verwerflich, das Gegenteil als löblich und erstrebenswert zu beurteilen. Und auch hier wieder ergibt sich aus der Einsicht in die hier vorliegende Ambivalenz die Notwendigkeit einer weisen Zurückhaltung im Urteil: Beides, Diskriminierung wie Assimilation, ist Unrecht, soweit es von der davon betroffenen Gruppe als solches empfunden wird. Beides zu vermeiden ist Staatskunst, weil sie die durch Diskriminierung wie durch Assimilation hervorgerufenen typischen Konflikte — Nationalitätenprobleme, Probleme der nationalen, religiösen oder rassischen Minderheiten — nicht aufkommen oder nicht bedrohlich werden läßt.

Zu solchem Respekt vor der Minderheit mit ihrem Wunsch nach Assimilierung oder Trennung veranlaßt auch die Einsicht in die Wandelbarkeit gerade dieser Standpunkte: Die nach Assimilierung strebende, die Diskriminierung bekämpfende Gruppe gelangt nämlich regelmäßig an einen Punkt, an dem sie ihr Inferioritätsgefühl kompensiert, ihre Eigenart als wertvoll empfinden lernt und nunmehr statt der Diskriminierung die Assimilation an ihre Umwelt zu fürchten beginnt. Das war jedesmal am Beginn des nationalen Erwachchens — der Selbstkonstituierung der modernen Nationen — der Fall, ebenso beim Umschlagen der jüdischen Emanzipations-und Assimilationsbewegung zum Zionismus, jener jüdischen Version des Risorgimento, aber auch beim Aufkommen von selbstbewußten Neger-bewegungen in den Vereinigten Staaten, als die Anhänger Marcus Garveys oder später die schwarzen Moslems plötzlich ihre eigene Rasse als ebenbürtig, wenn nicht überlegen, und vor Vermischung mit der weißen zu bewahren proklamierten.

In dieser Alternative zwischen Assimilierung und Diskriminierung sind die typischen Formen beschlossen, unter denen das Nationalitäten-, Minderheiten-oder Rassenproblem auftritt, das es immer geben wird, solange menschliche Gruppen — welcher Art und Motivierung immer — neben-und untereinander, vor allem aber untereinander vermischt, leben werden. Es ist deshalb notwendig, auch über das Zeitalter des Nationalismus im heutigen Sinne hinaus für Regelungen völkerrechtlicher, administrativer und moralischer Art zu sorgen, nach denen sowohl Einzelne als auch Gruppen neben-und miteinander leben können, ohne einander zu diskriminieren oder zu assimilieren, mit anderen Worten: eine konstruktive Lösung des Nationalitäten-oder Minderheitenproblems zu entwickeln. f) Internationalismus und Kosmopolitismus, übernationale Zusammenschlüsse und Menschheitsgedanke

Der Marxismus-Leninismus, der — wie bei totalitären ideologischen Systemen üblich — für alles ihm Wichtige eine Sprachregelung hat, unterscheidet genau zwischen Internationalismus und Kosmopolitismus. Jener ist ihm die notwendige und lobenswerte internationale Freundschaft und Zusammenarbeit der Arbeiterklasse, die die nationalen Eigenarten respektiert, aber dem gemeinsamen Ziel der Weltrevolution mit gemeinsamen Begriffen und Methoden zustrebt. Als Kosmopolitismus wird dagegen die verwerfliche Zusammenarbeit der Kapitalistenklasse bezeichnet, die die nationalen Unterschiede und Eigentümlichkeiten mißachtet und die ganze Welt im Interesse des Monopolkapitals einheitlich dirigieren will.

Betrachten wir die Dinge nicht von einem solchen ideologischen System aus, das auch die moralische Beurteilung seiner festen Kategorien mit vorschreibt, dann stellen auch wir verschiedene Arten und Grade übernationaler Zusammenschlüsse und der auf sie gerichteten Einstellungen fest. Sie gewinnen besonders nadi verheerenden Kriegen der bisher maßgebenden Großgruppen oder nach den Exzessen eines fanatischen Nationalismus erhöhte Bedeutung. Wir können zwei Typen dieser Über-windung des Nationalismus unterscheiden: Einmal den Zusammenschluß mehrerer bisher vielleicht entzweiter Nationen oder nation-ähnlicher Gruppen zu einer Art Übernation auf höhere Ebene. Solche übernationalen Zusammenschlüsse mögen vom lockeren Bündnis bis zur völligen Integration reichen: sie bedeuten den Verzicht der Gliedstaaten oder -nationen auf einzelne ihrer Bindekräfte, also eine Schwächung ihres Nationalismus, und das Auftreten gewisser Bindekräfte und Integrationstendenzen des neuen, größeren Ganzen. Ein Konkurrenzkampf der Integrationskräfte findet statt, der mit dem Sieg des größeren, „übernationalen" Gebildes oder auch des kleineren enden kann. Neben dem neuen, großräumigen Einheitsbewußtsein kann das der früheren, kleineren Einheit weiterbestehen, nicht selten als Loyalitätskonflikt in der gleichen Person: bayerisches Stammes-oder Staatsbewußtsein neben deutschem Nationalbewußtsein, französisches Nationalbewußtsein neben Europaidee. Daß der gleiche Konflikt und Prozeß auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Größenordnungen möglich ist, hat uns die Geschichte des Nationalismus gezeigt.

Solche Zusammenschlüsse auf höherer Ebene entstehen nicht von selbst. Sie haben ihre realen Voraussetzungen: psychologische Lage nach Krieg oder exzessivem Nationalismus, wirtschaftliche und technische Notwendigkeiten (z. B. Übergang zu Feuerwaffen oder zur Atomkriegführung, Erfindung der Eisenbahn, des Verkehrsflugzeugs, der Massenkommunikationsmittel), Druck von außen (z. B. Türken-gefahr für die habsburgischen Länder, Napoleonkriege für Deutschland, Druck des Sowjetsystems auf Europa nach 1945). Man sieht, wie solche Zusammenschlüsse nach Bindekräften, Motiven, Traditionen und nach faszinierenden Bildern suchen, um ihre Angehörigen und Teilgruppen zu integrieren (z. B. Tradition des abendländisch-christlichen Europa). Ihr Kampf gegen die überlieferten Nationalismen ist schwer, aber nicht aussichtslos. Diese Art der übernationalen Zusammenschlüsse hat nur den Nachteil, daß sie die Probleme und Konflikte der vorausgegangenen Epoche auf einer höheren Ebene wiederholen, daß sie im Grunde nur Übernationen sind, die psychologisch und soziologisch, nach innen integrierend und nach außen abgrenzend, nicht anders reagieren als vorher die Stämme, die Einzelstaaten oder die Nationen.

Der andere Typ der Überwindung des Nationalismus geht aufs Ganze. Er will überhaupt keine nationalen oder nationähnlichen Gruppierungen anerkennen, zumindest ihre Bedeutung auf ein solches Mindestmaß herabdrükken, daß darüber als einzig verpflichtende Ordnung die Menschheit erscheint, eine brüderliche Gemeinschaft von Individuen, die ihre Sympathien und Antipathien nicht von Gruppen und Gruppenvorurteilen bestimmen lassen, sondern lediglich von auf persönlicher Information beruhenden Urteilen über Wert oder Unwert des einzelnen Menschen. Dies erst wäre die wahre Überwindung des Nationalismus. Sie wiederum hat nur den einen Nachteil, daß sie eine Utopie ist. Trotzdem hat dieser ewige Traum der Menschheit, es müßte einmal eine einheitliche Welt ohne nationale und soziale Schranken geben, eine Gesellschaft aller jener Gleichen, die ein Menschenantlitz tragen, seine Berechtigung und seine Funktion. Er zeichnet einen eschatologischen Zustand, der orientiert, auch wenn — und gerade weil — er auf Erden nie verwirklicht werden kann.

5. Nation und Nationalismus in unserer politischen Erziehung

Abbildung 2

Das Verhältnis der Deutschen zur Nation und zum ganzen Komplex der nationalen Begriffe, Werte und Probleme ist gestört. Das ist nach den Exzessen und Verbrechen des Nationalsozialismus, nach der Katastrophe, die er heraufbeschworen, und angesichts des Abscheus vieler Völker, dem er die Deutschen überantwortet hat, durchaus verständlich. Dieses gestörte Verhältnis belastet die politische Reife und Ausgewogenheit der heutigen Deutschen, ihre Sicherheit in der Handhabung der Demokratie und wirkt bis in die Bereiche der Wissenschaft und der politischen Erziehung.

Zunächst ist — entgegen den Erwartungen der Welt und der Deutschen selbst — der durch den Nationalsozialismus hochgepeitschte Nationalismus in sein Gegenteil umgeschlagen. Die überanspruchte Hingabe an die von der Partei monopolisierten und verbindlich interpretierten Bedürfnisse der Nation verwandelte sich schnell in eine radikale Ablehnung aller überindividuellen Ansprüche an den Einzelnen überhaupt. Das erklärt die unter der deutschen Nachkriegsjugend, der „skeptischen Generation", weitverbreitete Ohne-mich-Haltung allen Ansprüchen dieser Art gegenüber.

Diese verständliche Reaktion hatte ihre höhere geistige Entsprechung in einer politischen Pädagogik, die dem Individuum seine Selbstbestimmung, sein eigenes Urteil, sein normales Verhältnis zur außendeutschen Umwelt wiederzugeben, nationale und rassische Vorurteile zu überwinden bemüht war. Um vor der gefährlichen Faszination durch eine — manipulierbare -— überindividuelle Ordnung bewahrt zu bleiben, sollte es den höchsten menschlichen Wert in sich selber und in seinen wohlverstandenen Interessen entdecken, deren vernünftiger Ausgleich mit Hilfe demokratischer Spielregeln das Wohl der Gesellschaft am besten gewährleisten würde. Dem entsprach der Abbau aller jener Motive, die den Einzelnen für die Hingabe an eine solche überindividuelle Ordnung, an eine nationale oder nationähnliche Großgruppe oder -Organisation disponierten. Den Hintergrund dieser Pädagogik bildete die steigende Entfernung von der idealistischen Philosophie und ihrem Glauben an überindividuelle, ganzheitliche Prinzipien.

Es wäre falsch, die große Bedeutung und das Verdienst dieser politischen Pädagogik zu verkennen. Sie stellt die notwendige Therapie nach dem Exzeß eines entpersönlichenden Nationalismus dar und hat wesentlich dazu beigetragen, die Deutschen auch künftiger Generationen zum Leben in einer demokratischen Gesellschaft zu befähigen. Aber sie hat gewisse Realitäten soziologischer und psychologischer Art, eben das Bestehen nationaler und nationähnlicher Großgruppen, das Kräftespiel ihrer Integration und Abgrenzung, aber auch die zur Vollendung der Persönlichkeit notwendige Orientierung des Einzelnen an einem ihn transzendierenden Wert aus den Augen verloren.

Auf die Auseinandersetzung mit Realitäten, die man ignoriert oder leugnet, kann man sich nicht vorbereiten. Das macht diese Pädagogik ungeeignet, die unvermeidlich, aus allerlei Verdrängungen und Enttäuschungen aufkommenden Zeichen eines unbewältigten Nationalismus richtig zu beurteilen und zu behandeln. Das enthält auch die Gefahr, das auf die Dauer nicht auszuschaltende Bedürfnis junger Menschen nach Lebensplanung und Sinn-erfüllungdes Lebens durch Dienst an einem überindividuellen Prinzip unbefriedigt zu lassen und es damit der Werbung freiheitsfeindlicher Ideologien zu überantworten.

Die demokratische Gesellschaft braucht, um zu funktionieren, die Hingabe ihrer Mitglieder, ihre Bereitschaft, die Freiheit zu verteidigen, die nur die Freiheit dieser Gesellschaft sein kann und nur gegen irgend jemand zu verteidigen ist, der sich außer ihr oder im Gegensatz zu ihr befindet. Darum muß die Freiheit dieser Gesellschaft ihren Mitgliedern als wertvoll erscheinen, als ein Wert, für den Einsatz und Opfer gerechtfertigt sind, der also über dem Leben und Vorteil des Individuums steht. All das macht die Bindung des Einzelnen an eine solche Gesellschaft, die Anerkennung ihres Wertes, ihre Integration und Abgrenzung zur notwendigen Voraussetzung demokratischen Lebens.

Wenn also im Vorstehenden versucht wurde, die Realitäten und Kräfte zu analysieren, die der menschlichen Vergesellschaftung in eben jenen Größenordnungen zugrunde liegen, in denen sich demokratische Aktion und Freiheit verwirklichen läßt, dann geschah das nicht etwa, um die politische Erziehung der Deutschen den wieder aufkommenden nationalen Regungen anzupassen, sondern um den Blick für diese — vorübergehend verdrängten — Realitäten und Kräfte zu öffnen, die für die demokratische Gesellschaft ebenso unentbehrlich sind, wie sie sie bedrohen.

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Fussnoten

Weitere Inhalte

Eugen Lemberg, Dr. phil., o. Professor für Soziologie des Bildungswesens an der Hochschule für internationale pädagogische Forschung, Frankfurt/Main; geb. 27. Dezember 1903 in Pilsen (Böhmen). Veröffentlichungen u. a.: Geschichte des Nationalismus in Europa, Stuttgart 1950; Osteuropa und die Sowjetunion, Salzburg 1956 2; Umdenken in der Verbannung. Ein neues Verhältnis zu Ostmitteleuropa, Bonn 1957 4; Die Vertriebenen in Westdeutschland, 3 Bde (Hrsg.), Kiel 1959; Beiträge zur Soziologie des Bildungswesens, bisher 3 Bde (Hrsg.), Heidelberg 1960 ff.; Geschichtsbewußtsein in Ostmitteleuropa (Hrsg.), Marburg/L. 1961; Das Bildungswesen als Gegenstand der Forschung (Hrsg.), Heidelberg 1963; Ostkunde. Grundsätzliches und Kritisches zu einer deutschen Bildungsaufgabe, Hannover 1964; Nationalismus I (Psychologie und Geschichte) und II (Soziologie und politische Pädagogik), 2 Bde (= Rowohlts deutsche Enzyklopädie, Bd. 197/198 u. 199), Reinbek b. Hamburg 1964.