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Nation und Nationalismus | APuZ 31/1967 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 31/1967 Nation und Nationalismus

Nation und Nationalismus

Eugen Lemberg

Mit der umfassenden Darstellung von Professor Dr. Eugen Lemberg, die in dieser und in der nächsten Ausgabe veröffentlicht wird, setzen wir die Diskussion des Themas „Nation und Nationalismus" fort. In späteren Ausgaben erscheinen — in der Reihenfolge der Veröffentlichung — Aufsätze von Dr. Herbert Eichmann, Altenkirchen/Westerwald, Dr. Kurt Fackiner, Bad Homburg, und Bundestagspräsident D. Dr. Eugen Gerstenmaier sowie weitere Beiträge. Der Herausgeber ist bemüht, in dieser Frage die unterschiedlichsten Positionen zu Wort, kommen zu lassen, um einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Diskussion zu vermitteln.

Vorbemerkung

Abbildung 1

Es ist unstreitig eine der wichtigsten Aufgaben der politischen Bildung im nachnationalsozialistischen Deutschland, das Wiederaufkommen eines exzessiven Nationalismus zu verhindern. Auf der anderen Seite muß sie aber auch ein möglichst klares und vernünftiges, von Emotionen freies Verhältnis des Einzelnen zur Nation herzustellen suchen, schon weil eine demokratische Gesellschaft ohne ein gewisses Engagement ihrer Mitglieder nicht leben kann und weil sich die Demokratie nun einmal auf der Basis von Staaten oder Nationen abspielt. Das auf diese zweifache Weise gegebene Problem des Nationalismus zu lösen ist nicht möglich, wenn man die Nation auf Grund der besonderen deutschen Erfahrungen als Überbleibsel einer vergangenen Epoche, die Bindung an sie als Rückständigkeit, Verirrung, als geistige und moralische Schwäche erklärt und die soziologischen und sozialpsychologischen Sachverhalte, Kräfte und Verhaltensweisen ignoriert, auf Grund derer sich die Gesellschaft in Staaten, Völker, Nationen gliedert. Erst eine auf breitem Vergleichsmaterial aus der Geschichte und der zeitgenössischen Welt beruhende Analyse und Theorie des Nationalismus kann die Voraussetzungen für eine dauerhafte pädagogische Lösung dieses Problems schaffen.

Eine solche Analyse und einführende Darstellung der im Bereich von Nation und Nationalismus gegebenen Begriffe und Kräfte wird hier als Diskussionsgrundlage und Arbeitsmaterial zur Verwendung in der politischen Bildung vorgelegt. Sie muß naturgemäß mit knappen Formulierungen arbeiten und — abgesehen von einem Literaturverzeichnis am Schluß — auf Belege im einzelnen verzichten. Zum eingehenderen Studium verweist sie auf die zweibändige Arbeit des Verfassers: Nationalismus, Bd. 1: Psychologie und Geschichte; Bd. 2: Soziologie und politische Pädagogik. Reinbek b. Hamburg 1964 = rowohlts deutsche enzyklopädie 197/198 und 199.

Eine solche Darstellung, die sich aus Gründen wissenschaftlicher Methode allzu früher und festgelegter moralischer Urteile enthält, gerät leicht in den Verdacht, sie wolle den Nationalismus rehabilitieren. Allein die Einsicht in die Relativität der Nationen und Volksbegriffe, in die zeitbedingte Funktion wie in die Unwiederholbarkeit bestimmter Formen des Nationalismus, die sich daraus ergibt, dürfte eine bessere Hilfe für die Überwindung des Nationalismus bedeuten als die moralische Entrüstung, mit der auf diesem Felde vielfach bis heute gearbeitet wird.

Einführung

Staats- und Volkstumsgrenzen in Europa vor dem zweiten Weltkrieg (1937)

Von Nation und Nationalismus ist heute wieder vielfach die Rede. Nachdem ein Exzeß des Nationalismus Europa und die Welt in einen vernichtenden Krieg gestürzt hatte und als Folge dieses Krieges zwei große ideologische Blöcke — jeweils mehrere Nationen zusammenfassend — einander gegenüberstanden, hatte es geschienen, als sei das Zeitalter des Nationalismus vorbei. Nicht nur der Abscheu vor den Verbrechen, die aus Nationalismus oder Rassismus begangen worden waren, schien dieses Ende des Nationalismus bewirkt zu haben, sondern auch der Fortschritt der Technik, der es den bisherigen Nationen unmöglich machte, sich selbständig zu verteidigen, ohne enge wirtschaftliche Verflechtung mit der übrigen Welt zu leben und die Nation als höchsten Zweck und absoluten Wert des menschlichen Daseins zu betrachten. Insbesondere jenen Menschen und Völkern, die un-ter dem Krieg und den Exzessen des Nationalismus am meisten gelitten haben, mußte die Entwicklung der Mensheit zu einer brüderlichen Gemeinschaft ohne nationale Grenzen und rassische Unterscheidungen als das Ideal der Zukunft erscheinen. Wo dieses noch nicht zu erreichen war, sollten wenigstens übernationale Zusammenschlüsse die Aufhebung der Grenzen und die Überwindung des Nationalismus einleiten.

Heute sehen wir uns gezwungen, die Dinge nüchterner zu betrachten. Der kalte Krieg der ideologischen Blöcke, der die Konflikte der Nationalstaaten endgültig abgelöst zu haben schien, hat sich zusehends als eine Angelegenheit von Machtkörpern erwiesen, die nach Struktur und Verhaltensweise wiederum nichts anderes waren als Nationen — wenn auch Nationen eines größeren Formats, Groß-nationen oder Imperien, die ihrerseits über ganze Systeme von Völkern und Staaten eine Hegemonie ausübten. Damit war das ganze Problem des Nationalismus nur auf eine andere, höhere Ebene verschoben, aber keinesfalls ausgeräumt.

Aber selbst diese höhere Ebene der Großnationen oder ideologischen Blöcke erweist sich in den letzten Jahren als keineswegs gegen den Nationalismus der früheren Nationen und Nationalstaaten gesichert. Vom Nationalismus der Entwicklungsländer mit ihren vielfach erst entstehenden, um Integration, Abgrenzung und Souveränität ringenden ethnischen Gruppen selbst innerhalb der abgesehen:

beiden ideologischen Systeme Ost und West versuchen sich die alten Nationalstaaten von der jeweiligen Hegemonialmacht zu emanzipieren. Im Osten hatte man schon gegen die Zwingherrschaft Stalins vom sogenannten eigenen, nationalen Weg zum Sozialismus geschwärmt, bis sich die italienische Formel vom Polyzentrismus des kommunistischen Systems durchsetzte. Polen und Ungarn haben 1956 einen nationalen Kommunismus eigener Art erzwungen. Die Tschechoslowakei ist in den letzten Jahren, wenn auch weniger spektakulär, dem gleichen Modell gefolgt. Besonders weit ist Rumänien mit seiner eigenwilligen Staats-und Wirtschaftspolitik vorgestoßen. Von allen diesen Ländern aus erscheint Mitteldeutschland vergleichsweise wie eine konservative, stalinistische Zustände bewahrende Insel.

Im Westen hat der Souveränitätswille der alten Nationalstaaten gegen alle supranationalen Einheitsbestrebungen neues Leben gewonnen. Die EWG-Krise läßt sich nicht einfach aus dem Eigensinn eines in Nationalstaatsvorstellungen des 19. Jahrhunderts befangenen alten Mannes erklären. De Gaulle stützt sich gewiß auch auf einen durchaus noch vorhandenen —-wenn auch von ihm wohl überschätzten — französischen Nationalismus. Auch in Deutschland, dessen Jugend nach dem Krieg von einer leidenschaftlichen Europabegeisterung erfüllt war, womit sie weniger die Ausbildung eines widerstandsfähigen Wirtschaftsund Machtkörpers meinte als die Überwindung des Nationalismus und der nationalen Grenzen, verzeichnet man Äußerungen alter und neuer nationaler Ressentiments.

Beobachtungen dieser Art lassen immer noch die Deutung zu, als handle es sich bei diesem Wiedererwachen des Nationalismus nur um einen zeitweiligen Rückfall in einen Zustand, der an sich schon der Vergangenheit angehört, um die Verzögerung eines im Grunde unaufhaltsamen weltgeschichtlichen Prozesses. Man müsse nur für die Verbreitung von Vernunft und Aufklärung unter den Menschen sorgen, dann würden die nationalen Vorurteile und mit ihnen der Nationalismus allmählich schwinden wie der Aberglaube angesichts der ständig sich erweiternden naturwissenschaftlichen Einsichten.

Aber dieser Glaube gerät ins Wanken, wenn wir Teil der jenen Welt überblicken, der mit dem Nationalismus noch nicht so verheerende Erfahrungen gemacht hat wie die industrialisierten Nationen Europas und Amerikas mit den vom Nationalismus heraufbeschworenen Weltkriegen. In dieser Welt der sogenannten Entwicklungsländer, in der sich die Bevölkerungen ehemaligen von Kolonien der der Herrschaft Kolonialmächte emanzipiert haben oder eben erst im Begriff sind sich zu emanzipieren, spielt der Nationalismus eine ganz andere Rolle. Hier fördert und begleitet er das Entstehen neuer oder das Widererwachen alter Nationen. Hier erscheint er als das notwendige Ordnungsprinzip der sich neu formenden Gesellschaften, als eine moderne Idee, als eine fast religiöse Erlösungslehre. Während er also in dem einen Teil der Welt, in dem wir leben, als Vorurteil, als rückständig oder gar sittlich verwerflich gilt, preist ihn der andere als fortschrittlich, als Voraussetzung menschlicher Würde und Freiheit und als politische Tugend.

Das alles zwingt uns dazu, dem Problem des Nationalismus und allem, was mit ihm zusammenhängt, nicht einfach aus unserer Situation heraus mit moralischer Entrüstung oder auch trotziger Begeisterung gegenüberzutreten, sondern ihn sachlich, mit dem notwendigen weltgeschichtlichen und gegenwartskundlichen Vergleichmaterial als Gegenstand der Psychologie und der Soziologie zu studieren. Grundbedingung eines solchen Studiums ist, daß es uns gelingt, über die eigenen, räumlich und zeitlich begrenzten Erfahrungen hinauszugelangen und die moralische Erregung — Entrüstung wie Begeisterung —, die einen angesichts der politischen Wirkungen des Nationalismus wohl erfassen kann, auszuschalten, zumindest zurückzustellen, bis eine umfassende Kenntnis und Analyse dieser Erscheinung ein besser begründetes — und freilich auch sittliches — Urteil darüber ermöglicht.

Dabei wird es notwendig sein, neben dem Nationalismus, den man als eine den Einzelnen charakterisierende Haltung oder Einstellung, aber auch als eine in den Einzelmenschen wirkende, sie zu großen Gruppen nationaler oder nationähnlicher Art bindende (integrierende) und von anderen abgrenzende Kraft auffassen kann, auch die möglichen Objekte dieser Kraft zu betrachten, nämlich Volk, Nation, Staat, Vaterland, Heimat. Schließlich untersuchen wir auch die mit dem Nationalismus zusammenhängenden, mit ihm zum Teil synonym gebrauchten Erscheinungen wie Vaterlandsliebe, Patriotismus, Heimat-liebe, Provinzialismus, Rassismus, nationale Vorurteile, Diskriminierung und Entnationalisierung und manche andere.

Bevor in einem zweiten Teil die Psychologie und Soziologie des Nationalismus, seiner Objekte und Erscheinungsformen entwickelt wird, soll im folgenden zunächst die Geschichte der Menschheit auf das Auftreten, die Erscheinungsformen und Wirkungsweisen des Nationalismus hin untersucht werden. Denn die Geschichte enthält das empirische Material, dessen Sichtung, Vergleich und Analyse erst jene psychologischen und soziologischen Einsichten ermöglicht, die die Voraussetzung eines politisch und sittlich reifen Urteils über Nation und Nationalismus und über die damit zusammenhängenden Erscheinungen und Probleme bilden. Die Art freilich, wie diese Geschichte hier aufgefaßt und dargestellt wird, erfordert einige Vorbemerkungen:

Wollte man aus dieser Geschichte nur jene Erscheinungen herausgreifen, die man nach dem heute bei uns üblichen Sprachgebrauch als Nationalismus bezeichnet, dann hätte man sich die Aufgabe sehr vereinfacht, aber auch in unzulässiger Weise eingeengt. Man ließe dann den Nationalismus — wie das einige Historiker auch wirklich tun — im 18. Jahrhundert unter den Westeuropäern auftauchen, sich im 19. Jahrhundert über Europa und im 20. über die restliche Welt verbreiten und sich gegen seine Erfinder kehren. Was man damit aber eingefangen hätte, das wäre nur die eine Erscheinungsform des Nationalismus, die die Ausbildung moderner, bürgerlicher, gewerblich und industriell produzierender Gesellschaften stimuliert und begleitet hat und heute in der Tat fast der ganzen Welt spürbar und geläufig ist. Für die Erkenntnis der psychologischen Wurzeln, des Wesens und der gesellschaftlichen Funktion des Nationalismus wäre damit freilich nur wenig gewonnen. Denn die Ausbildung, Machtentfaltung und der Untergang von Nationen und die sie jeweils begleitenden Erscheinungen der Hingabe, des Glaubens, aber auch des Fanatismus und des Hasses sind zu allen Zeiten und in allen Teilen der Welt zu beobachten. So typische Erscheinungen wie das Auftreten eines nationalen Messianismus oder einer engen Verbindung, ja Identität von Nationalismus und Religion, schließlich auch die verschiedenen, nicht nur in unserem Sinne „nationalen" Kriterien für das Zustandekommen einer Nation wären ohne breites Vergleichsmaterial aus den übrigen Epochen der Weltgeschichte gar nicht zu erklären. Die Kräfte der Bindung und Integration, die zwischen dem Einzelnen und seiner Nation oder Großgruppe wirken, lassen sich also nur verstehen, wenn man den Begriff des Nationalismus weit genug faßt und tief in die Weltgeschichte hinein verfolgt.

Eine zweite, für den Zweck unserer Untersuchung ebenso unvorteilhafte Einengung würde es bedeuten, wollte man als Nationalismus aus der Geschichte nur diejenigen Fälle hervorheben, in denen die Hingabe an die Nation oder nationähnliche Gruppe den unvernünftigen und sittlich bedenklichen Grad des Fanatismus angenommen hat. Das entspricht zwar einem verbreiteten Sprachgebrauch. So stellt man etwa dem bösen Nationalismus als dem Haß gegen andere den braven Patriotismus als die Liebe zum eigenen Vaterland gegenüber. Das klingt geistreich, ist aber unscharf, weil es die Verschiedenheit der Objekte verwischt, die in diesen Begriffen mit gemeint sind. Außerdem verbaut man sich das Verständnis einer psychologischen Erscheinung, wenn man nur deren exzessive Form studiert, den zugrunde liegenden normalen Sachverhalt jedoch außer acht läßt. Es wird im Gegenteil notwendig, aber auch möglich sein, an vergleichbaren historischen Situationen die Grenze zu bestimmen, an der die zur Integration nationähnlicher Gruppen notwendige Hingabe ins sittlich Verwerfliche um-schlägt. Um eben diese Grenze aber geht es bei der Analyse des Nationalismus und den daraus zu ziehenden Folgerungen für die politische Bildung.

Schließlich wird es eine Geschichte des Nationalismus auch vermeiden müssen, den Nationalismus als die Bindung an die in unserem Sprachgebrauch als national bezeichneten Gruppen oder Institutionen von anderen Bindungen zu isolieren, die psychologisch und soziologisch von der gleichen Art sind, auch wenn sie sich auf Objekte beziehen, die wir nicht als Nation, Volk oder Staat oder mit einem in dieses Begriffsfeld gehörenden Wort bezeichnen. Denn es wird sich zeigen, daß politisch relevante, arbeitsteilige und aktionsfähige Großgruppen auch anderer als sprachlicher, biologischer, staatlicher, ethnischer Art, etwa Religionsgemeinschaften, ideologische Gruppen, durch die gleichen psychologischen Kräfte in sich gebunden — integriert — und von anderen abgegrenzt werden, ja daß sie auf gleiche Art reagieren und zu ähnlichen Organisationsformen tendieren wie jene Gruppen, die wir auf dem Hintergrund unserer Epoche und unseres Kulturkreises als national zu bezeichnen pflegen. Um also die psychologischen und soziologischen Gegebenheiten und Kräfte zu verstehen, auf denen der Nationalismus beruht, um die Voraussetzungen und Formen seines Auftretens zu erkunden, müssen wir in der Geschichte der Menschheit alle jene Erscheinungen aufsuchen, in denen irgendeine große, politisch relevante Gruppe durch die Hingabe ihrer Mitglieder integriert und von anderen Gruppen ähnlicher Art abgegrenzt, damit aber zum Bewußtsein ihrer selbst und zur Übernahme einer Rolle unter ihnen befähigt wird. Die im folgenden ersten Teil dieser Abhandlung über Nation und Nationalismus zu entwickelnde Geschichte des Nationalismus wird also in Wirklichkeit die Geschichte aller jener Kräfte und Wirkungen sein müssen, die große, politisch relevante Gruppen nationalen oder nationähnlichen Charakters integriert und gegen andere abgegrenzt haben, auch wenn diese Kräfte nicht ethnischer oder nationaler, sondern etwa religiöser oder ideologischer Natur waren.

So aufgefaßt, würde aus der Geschichte des Nationalismus freilich eine Art Weltgeschichte werden; denn solche Kräfte haben in der Geschichte immer und überall gewirkt, solche Prozesse haben sich in der Geschichte unaufhörlich vollzogen. Man könnte fast sagen, die Weltgeschichte bestehe schlechterdings aus ihnen. Deshalb sollen im folgenden nur einzelne, besonders charakteristische unter ihnen, wie Szenen, aus der Weltgeschichte herausgehoben werden, vor allem solche, aus denen für die beabsichtigte psychologische und soziologische Theorie des Nationalismus wichtiges zu lernen ist.

I. Geschichte des Nationalismus

1. Nationalismus und Messianismus im Alten Testament Das jüdische Volk des Alten Testamentes, das uns aus der Bibel bekannt ist, stellt nicht nur Quelle und Nährboden einer der großen Welt-religionen dar; seine Geschichte enthält auch klassische Beispiele für wesentliche Erscheinungsweisen und Wirkungen des Nationalismus.

Es fühlt sich als eine Abstammungsgemeinschaft, die unter dem besonderen Schutz Gottes steht, der es unter den übrigen Völkern auserwählt hat. Dieser Gott erscheint zunächst als ein Stammesgott, wie ihn auch andere Völker kennen. Er ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Er hat mit seinem Volk einen Vertrag geschlossen, der Israel auf die Einhaltung bestimmter Gebote, also auf ein es von den übrigen Völkern unterscheidendes Werte-und Normensystem verpflichtet. Er wacht streng über die Erfüllung dieser Gebote und schickt Propheten, die das Volk und selbst seine Könige zum Gehorsam wie zur Unterwerfung unter die göttliche Lenkung mahnen sollen. Er befreit sein Volk aus der ägyptischen Sklaverei Und führt es nach jahrzehntelangen wunderbaren Wanderungen in das Land, das er ihm verheißen hat. Er duldet keine anderen Götter neben sich und bestraft das Volk, wenn es durch Anbetung fremder Götter — etwa des phönikischen Baal — von ihm abgefallen ist, mit anderen Worten: Anzeichen nationaler Desintegration oder Entnationalisierung erkennen läßt.

So ist Israel nach Verfassung und Geschichtsbewußtsein eine Theokratie, durch den Willen eines als Träger der politischen und ideologischen Herrschaft zugleich auftretenden Gottes integriert und gegen die Umwelt abgegrenzt. Haben die historischen Bücher der Heiligen Schrift diese Herrschaftsform, die Lenkung des nationalen Schicksals durch Gott, die gesamtnationale Belohnung und Bestrafung dargestellt und damit ein nationales Geschichtsbild entwickelt, so wirken die Psalmen wie nationale Hymnen, Schutz-und Trutzlieder, Kampfgesänge, in denen Gott zum Schutz Israels gegen seine Feinde aufgerufen, für die Niederwerfung dieser Feinde gepriesen wird, der Feind als böse, die eigene Nation als gut erscheint. Hier wird — ein typisches Kennzeichen des Nationalismus — die Sache der eigenen Nation ohne weitere Begründung als gut und gottgewollt, die der feindlichen Nation als unmoralisch und gottfeindlich erlebt. In Bedrängnis geraten, ins Exil verschleppt, schließlich von den Römern unterworfen, entwickelt dieses Volk den für ähnliche Gruppensituationen charakteristischen Glauben an einen Messias, einen Erlöser oder Führer, der, von Gott gesandt, aus der Mitte des Volkes erstehen, das Volk unter einer Idee zusammenfassen und zu seiner Befreiung, ja zur Herrschaft über seine Unterdrücker führen wird. Der jüdische Messianismus ist so nicht nur zum Kern einer übernationalen Erlösungslehre, sondern auch zum Vorbild für nationale Messianismen zahlreicher anderer Völker in ähnlich bedrängter Lage geworden. Allen diesen Messianismen liegt nämlich die gleiche Struktur der nationalen Psychologie zugrunde: die Kompensation von Inferioritäts(Minderwertigkeits-) gefühlen, die durch Bedrohung, Unterdrückung, Diskriminierung, wirkliche oder vermeintliche Geringschätzung einer nationalen Gruppe entstanden sind.

Neben der gewaltigen Verbreitung und Wirkung, die das nationale Schrifttum der Juden durch das Christentum gefunden hat, ist es eben die hier angedeutete Ähnlichkeit mit bestimmten historischen Situationen und der jeweiligen nationalen Reaktion darauf, was dieses jüdische Grunderlebnis von Auserwählung durch eine übermenschliche Instanz, von Zusammenbruch und Erlösung, von Befreiung und Triumph durch einen gottgesandten, aber aus dem eigenen Volk hervorgegangenen Messias zu einer der typischen Erscheinungsformen des Nationalismus in der Geschichte unseres Kulturkreises gemacht hat. Die Engländer haben in einem Frühstadium ihres Erwachens zur modernen Nation, nicht zuletzt unter dem Eindruck der spanisch-katholischen Gefahr, das jüdische Volk des Alten Testaments zu ihrem Vorbild erhoben. Sie haben sich als von Gott auserwählt erklärt. Sie haben ihren Kindern alttestamentarische Namen gegeben, die bis heute im angelsächsischen Kulturkreis beliebter sind als anderswo. Ja, sie haben im Stil barocker Philologie eine Ähnlichkeit und Verwandtschaft ihrer eigenen mit der hebräischen Sprache konstruiert. Das alles, um die Impulse der jüdischen National-geschichte für ihre eigene nationale, mit einem religiösen Messianismus unterbaute Entfaltung fruchtbar zu machen. Die Polen haben nach den Teilungen, insbesondere aber nach der Niederwerfung ihres Aufstandes von 1830/31 einen visionären Messianismus entwickelt, den unter anderen ihr größter Dichter, Adam Mickiewicz, in biblischem Stil verkündete: In seinen dem Alten Testament nachempfundenen „Büchern der polnischen Nation und Pilgerschaft" hat er die gottgelenkte Geschichte und Sendung der Polen gefeiert, die wie der Heiland am Kreuz ausgestreckt für die Freiheit der Völker verbluten.

Auch sonst hat in nationalen Krisen das Motiv der göttlichen Auserwählung der eigenen Nation, eines besonderen göttlichen Auftrags für sie, ja die Erweckung eines Messias aus ihrer Mitte zu ihrer Befreiung und zur Herrschaft über ihre Unterdrücker — weitgehend nach dem Modell des jüdischen Messianismus — eine wichtige Rolle bei der Wiederbelebung des Nationalbewußtseins wie der ideologischen und politischen Einigung und Erhebung der Nation gespielt.

Noch bedeutsamer für die Weltgeschichte wie für die Geschichte der ideologisch begründeten Großgruppenbildungen ist die Übertragung und Ausweitung des jüdischen Nationalismus ins übernationale, ja Universale. In einer darauf freilich besonders vorbereiteten Epoche und Kultur — nach Aufrichtung des Römischen Weltreichs, im Bereich der hellenistischen Kultur, auf dem Hintergrund der stoischen Philosophie und der übernationalen Ausbreitung mystischer Kulte — wendet Paulus, der hellenisierte Jude, die nationalen und messianischen Hoffnungen seines Volkes, die eben in der Gestalt Jesu eine Verwirklichung gefunden zu haben scheinen, auf eine nicht durch jüdische Abstammung, sondern durch den Glauben an diesen Messias neu integrierte und abgegrenzte, durch Einbeziehung der Heidenchristen ins übernationale erweiterte Gruppe an, auf die Christusgläubigen. Sie nun, nicht die Stammesjuden, preist der Apostel Petrus als das auserwählte Volk (genus electum), als die königliche Priesterschaft (regale sacerdotium), als das neue Volk (neon ethnos). Durch diese Übertragung hat die Erlösungstat des Messias von der ihr ursprünglich zugeschriebenen nationaljüdischen Bedeutung eine Ausweitung ins übernationale, Universale erfahren, wenn auch freilich nur, um die so entstandene übernationale Gruppe wiederum gegen eine ihr fremde, feindliche Umwelt, die Welt der Ungläubigen, durch Gnade und Taufe nicht Auserwählten, abzugrenzen. Mit anderen Worten: Die Zusammensetzung und Abgrenzung der Gruppe, ja auch das Kriterium ihrer Abgrenzung — dort jüdische Abstammung, hier Glaube und Gnadenwahl — hat sich geändert, aber der „Mechanismus", die Struktur der Gruppe, Integration nach innen und Abgrenzung gegen die Umwelt, sind geblieben. Ähnliche Beispiele der Erweiterung und Neuabgrenzung eines Nationalismus ins scheinbar Universale, bei Fortdauer der psychologisch-soziologischen Kräfte der Gruppen-integration werden uns in der Weltgeschichte noch mehrfach begegnen.

Dieses erste hier herausgegriffene und unvermeidlich isolierte Beispiel vom Auftreten eines Nationalismus, nämlich des jüdischen, alttestamentarischen Nationalismus, hat uns bei all seiner Skizzenhaftigkeit schon einiges über Auftreten und Erscheinungsformen des Nationalismus in der Geschichte gelehrt:

Einmal, daß ein solcher Nationalismus gelegentlich dazu neigt, eine über den Menschen stehende Macht für die Rechtfertigung, die Existenz der eigenen Nation und ihre Hervorhebung — Überlegenheit — vor den anderen in Anspruch zu nehmen.

Es ist dann — zweitens — diese übermenschliche Instanz — Gott —, die eine an gemeinsamer Abstammung oder einem ähnlichen Merkmal erkennbare Gruppe erst eigentlich integriert und von ihrer Umwelt abgrenzt.

Damit erweist sich — drittens — eine Abgrenzung religiöser (ideologischer) und nationaler Kräfte der Gruppenintegration als problematisch. Im Gegenteil: solche an sich religiöse (ideologische) Kräfte können eine nationale oder nationähnliche Gruppe stärker binden als die Gemeinsamkeit irgendeines biologischen, rassischen, sprachlichen, mit einem Wort ethnischen Merkmals.

In Krisensituationen — bei Gefahr, Unterdrükkung, Desintegration — ist eine so integrierte Gruppe in der Lage, ihre Unterlegenheit durch Berufung auf jene transzendente Macht zu kompensieren, das heißt, sich bei aller Ohnmacht durch den Schutz, durch ein besonderes Eingreifen, durch eine besondere Sendung und Sinngebung von Seiten dieser Macht als existenzwürdig und überlegen zu erweisen. Dieses göttliche Eingreifen zugunsten der auserwählten Nation nimmt Gestalt an in einem Messias, Erlöser, Held, Führer, der, von Gott gesandt, gleichwohl aus jener Nation stammt und also die Identität von Nation und Transzendenz personifiziert. Der Glaube an ihn und an die von ihm zu verwirklichende Befreiung, Erlösung, Herrschaft stellt eine weitere, höchst wirksame Integrationskraft für die so hervorgehobene Gruppe — Nation — dar.

Eine letzte Beobachtung: Kraft der Berufung auf jene transzendente Macht ist eine solche Gruppe imstande, ihre Gruppenideologie, -moral, -werteordnung über sich selbst hinaus zur Geltung zu bringen, für einen größeren Personenkreis, der Theorie nach für die gesamte Menschheit, verbindlich zu machen. Der Nationalismus wird, eben durch die Verklammerung im Religiösen, zum Universalismus, wenn auch — wie sich zeigen wird — nur, um sich dann wiederum gegen eine draußen stehende, fremde, feindliche Umwelt abzugrenzen. 2. Spätantiker Universalismus als Nationalismus Die Entstehung der Weltreiche im Mittelmeerraum und Vorderen Orient, zunächst des Reiches Alexanders des Großen, dann des Römischen Reiches, mußte das Weltbild ihrer Zeitgenossen entscheidend verändern. Jetzt wurde es möglich, sich über alle Völker-und Staatsgrenzen hinweg eine Menschheit vorzustellen als eine alle Menschen umfassende Gesellschaft unter einem Sittengesetz, von einem Herrscher regiert, von einem Gott erschaffen. Das war die Grunderkenntnis der stoischen Philosophie, die die Gebildeten des hellenistischen Kulturkreises und damit auch des Römischen Reiches in ihren Bann zog.

Selbst die griechische Vorstellung von einem über die Stadtstaaten hinausgreifenden — also gewissermaßen übernationalen — Hellenentum, das nur noch den Unterschied zur barbarischen Umwelt kannte, war jetzt auf dem Wege, sich zu einem wirklichen Universalismus zu weiten: Von Alexander dem Großen rühmte Plutarch, er habe nicht Griechen und Barbaren, sondern nur noch gute und böse Menschen unterschieden.

Dieses Erlebnis einer über den Völkern stehenden politischen und ideologischen Gemeinsamkeit und das aus ihr abgeleitete Weltbild war auch die Voraussetzung dafür, daß sich der jüdische Monotheismus so schnell über die ganze damals bekannte Kulturwelt verbreitete. An Stelle der Stammes-und Volksreligionen, deren Götter aus allenTeilen derWelt in Rom zusammenströmten, trat eine Weltreligion. Sobald sie als die für das Römische Weltreich geeignete Integrationsideologie erkannt war, stand der staatlichen Anerkennung der bisher Verfolgten nichts mehr im Wege.

Die alle früheren ethnischen und politischen Besonderheiten aufhebende politische und ideologische Einheit der damaligen Kulturwelt erweckt in uns den Eindruck eines Universalismus, den wir geneigt sind, der modernen Aufsplitterung des gleichen Raumes in zahlreiche Nationen und ihrem Nationalismus gegenüberzustellen. Dieser spätantike Universalismus ist aber mit unserem modernen, aus der leidvollen Erfahrung der unaufhörlichen Konflikte zwischen souveränen Nationen geborenen Menschheitsideal nicht zu verwechseln. Je stärker nämlich die Bevölkerung des Römischen Weltreichs in den ersten christlichen Jahrhunderten den Druck der von außen andrängenden Barbaren zu spüren bekam, desto deutlicher wurde dieser scheinbare Universalismus als das Einheitsbewußtsein einer gegen eine Umwelt abgegrenzten und von ihr bedrohten Gesellschaft erkennbar. Damit aber erwies sich dieser Universalismus in Wirklichkeit als eine dem Nationalismus genau entsprechende Bindung: eine von ihm erfüllte Gruppe integrierend und von ihrer Umwelt abgrenzend, dieser Gruppe eine besondere Qualität, einen höheren Wert ihrer Umwelt gegenüber zuerkennend, die Angehörigen dieser Gruppe zur Hingabe an sie, zu ihrer Verteidigung verpflichtend. Was hatte es demgegenüber zu bedeuten, daß diese „Gruppe" den früheren Abstammungs-und Sprachgemeinschaften, Stämmen, Völkern, Staaten überlegen war, auf einer höheren, übernationalen Ebene stand: ihrer Struktur und Funktion nach, in ihrem Verhältnis zum Einzelnen wie in ihrer Abgrenzung gegen eine außer ihr vorhandene Umwelt existierte und reagierte sie nicht anders als eine Nation.

Dementsprechend zeigte das übernationale Einheitsbewußtsein des Römischen Reiches immer deutlichere Kennzeichen eines Nationalismus: In der Völkerwanderungszeit war von diesem Einheitsbewußtsein nur ein stolzer, elegischer Romgedanke übriggeblieben, der dann das ganze Mittelalter beherrscht hat. Ihm erscheint Rom als die Hauptstadt der Welt, aber von Barbaren bedrängt und gegen sie zu verteidigen, schließlich auch im Kampf um die geistige und politische Selbstbehauptung gegenüber dem „zweiten Rom", dem seine politische Selbständigkeit tausend Jahre länger (bis 1453) behauptenden, jahrhundertelang auch kulturell überlegenen Byzanz-Konstantinopel. Ein charakteristischer, an den modernen Nationalismus erinnernder Zug ist auch die an ein Geschichtsbild von einstiger Größe geknüpfte Sehnsucht nach der Erneuerung der alten Macht und Ordnung, nach der Renovatio Imperii, die ebenfalls ein Grundmotiv der mittelalterlichen Politik und politischen Ideologie bildet und in der Renaissance tatsächlich die Anfänge des modernen Nationalismus beflügelt hat.

Der hier beobachtete Funktionswandel des spätantiken Universalismus läßt die Frage ent9 stehen, inwieweit und wie lange ein solches Einheitsbewußtsein der — zur gegebenen Zeit überblickbaren — Menschheit existieren kann. Denn der hier in Rede stehende Universalismus ist nicht erst durch das Auftreten einer das Römische Weltreich bedrohenden Barbarenwelt in Frage gestellt worden. Kaum hatte sich über das zur Universalmonarchie geeinte Römische Reich die Pax Romana ausgebreitet, als aus einem Volk am Rande dieses Reiches ein Prophet erwuchs, dessen Lehre zwar übernational konzipiert, zumindest verstanden wurde, trotzdem aber die Welt vom ersten Tage an in zwei Lager spaltete: in die Gläubigen und durch Christus in die Gnade Einbezogenen auf der einen, die Ungläubigen, von der Gotteskindschaft Ausgeschlossenen auf der anderen Seite. Wir haben gesehen, wie die Apostel die so entstandenen beiden Gruppen mit Bildern voneinander schieden, die aus der Sprache des Nationalismus genommen sind, ihre Gruppe als das auserwählte, das neue, das heilige Volk bezeichnend. Wenige Jahrhunderte später erscheint bei Augustinus eine ähnliche Dichotomie in Gestalt der Civitas Dei, des Gottesstaates, dem im gleichen Raum und Personenkreis die Civitas Terrena gegenübersteht, die weltliche Herrschaftsstruktur. Diese Gegenüberstellung hat bekanntlich das politische — und religiöse — Denken des gesamten Mittelalters beherrscht und bildet bis heute die Voraussetzung des „westlichen" Staats-und Nationsbegriffs, der dem Staatsbürger den Rückzug in eine staatsfreie Sphäre ermöglicht, damit aber auch die Mitwirkung am Staat aus einer autonomen Position heraus.

So aber entsteht der Verdacht, daß es zu den Konstruktionsprinzipien der menschlichen Gesellschaft gehört, in Gruppen, zumindest in zwei einander gegenüberstehende Gruppen geteilt zu sein und daraus grundlegende Kräfte für eine Unterscheidung der eigenen Gruppe von einer andersartigen Umwelt, damit aber auch eine Art Gefälle zu gewinnen, wie es in der Physik die Voraussetzung für das Entstehen eines elektrischen Stromes bildet: eine Dialektik nicht der Zeit, sondern des Raumes.

Der kurzlebige Charakter jener „Einen Welt", wie sie mit der Entstehung des Römischen Weltreiches gegeben schien, wird aber auch an dem Wiederaufbrechen der nationalen Unterschiede und Gegensätze offenbar, das die Verfallsperiode dieses Reiches charakterisiert und im 4. Jahrhundert zu einer Auflösung auct der einheitlichen hellenistischen Kultur führte. Damals erkämpfte sich die griechische Sprache und nationalgriechische Überlieferung gegen das Latein des Hofes neue Geltung. Gegen das eben als Staatsreligion anerkannte Christentum wurden nationalistische Argumente ins Feld geführt: Seine die nationalen Überlieferungen verfälschende Wirkung sollte durch eine Wiedergeburt dieser Überlieferungen bekämpft werden. Auch nichtgriechische Sprachen und Kulturen erlebten eine Renaissance, so das Latein gegen das in Westrom zur Sprache der Elite gewordene Griechisch. In den Provinzen traten betont nationale Philosophen-und Rednerschulen hervor. Selbst die Kirche begann in verschiedenen Mundarten zu sprechen: das Syrische, das Koptische und das Armenische wurden kult-und literaturfähig. Vieles erinnert an das nationale Erwachen des 19. Jahrhunderts.

So zeigt die Spätantike auf unserer Suche nach empirischem Material für eine Theorie des Nationalismus zunächst eine im Erlebnis der großen Reichsgründungen wurzelnde Über-windung der kleinräumigen Volksbegriffe und Nationalismen zugunsten einer universalistischen Philosophie, der Stoa, und der von ihr verkündeten Vorstellung von der Einheit des Menschengeschlechtes. Dieses Denken in der Kategorie der Menschheit ermöglicht die Ausbreitung einer monotheistischen Weltreligion, die schließlich in gewissem Sinne die Funktion einer das Römische Weltreich integrierenden Ideologie übernimmt. Indes erweist sich der damit gegebene Universalismus als unhaltbar. Obwohl auf ihm — auf der Ausweitung des jüdischen Nationalismus — beruhend, spaltet gerade diese Weltreligion die Menschheit in zwei Gruppen: in Gläubige und Ungläubige — ein Dualismus, der sich später, wenn auch in anderen Kategorien, in Gestalt des Augustinischen Dualismus von Gottes-reich und weltlichem Reich fortsetzt, der das politische Denken des Mittelalters bestimmt und für unsere moderne Staatsauffassung und Demokratie grundlegend wird.

Als sich die Umwelt des vermeintlichen Universalreiches durch den Druck der herandrängenden Barbaren immer fühlbarer macht, da nimmt jener Universalismus die Gestalt und Funktion eines Nationalismus an, dem das Weltreich wie ein bedrohtes, zu verteidigendes Vaterland erscheint, das seine Angehörigen — wiewohl den überlieferten Völkern und Staaten um eine Ebene überlegen — mit Motiven und Bindekräften, die dem Nationalismus sehr ähneln, an sich bindet. Er wird also selbst der Funktion nach zu einer Art Nationalismus. Gleichzeitig geht eine Renaissance der früheren Volksbegriffe und Nationalkulturen, verbunden mit neuen kleinräumigen Nationalismen, vor sich — ein Prozeß, der in vielem an das nationale Erwachen er-B innert, wie es seit der Renaissance zu Beginn unserer Neuzeit die modernen europäischen Völker aus der Einheit des Abendlandes herauslöste. Das läßt — mit ähnlichen Prozessen in der übrigen Weltgeschichte verglichen — zumindest vermuten, daß die Aufeinanderfolge von Großraumbildung und -auflösung, Integration und Desintegration zu einer in der Struktur der Gesellschaft angelegten Dialektik der Weltgeschichte gehört. 3. Das christliche Abendland des Mittelalters als Nation Die Versuche, Europa — nach den heillosen Kriegen seiner souverän gewordenen Nationen — zu einigen, haben das Bild des einmal schon, im Mittelalter, geeinten Europa wieder in unser Bewußtsein gehoben. Damals habe es, so schien es den leidgeprüften Europäern des 20. Jahrhunderts, den Nationalismus noch nicht gegeben, der jene übernationale Einheit des Abendlandes in eine Reihe eifersüchtiger, auf ihre Souveränität bedachter nationalistischer Nationen aufgespalten habe. Da nun jene Einheit — zumindest der Theorie nach — in Gestalt des Römischen Reiches politisch geformt, durch die christliche Religion in ihrer abendländischen Auspräguncj ideologisch unterbaut war, entstand der Eindruck, sie stamme aus einer dem Nationalen überlegenen, nämlich religiösen und also universalistischen Sphäre-, denn diese Religion war, ihrem Grundgedanken nach, universal angelegt.

Bei aller Richtigkeit dieser Rangordnung vom universal Religiösen zum eingegrenzt Nationalen dürfen wir jedoch nicht übersehen, daß hier die Religion zugleich eine durchaus nationale Funktion ausübte, indem sie nämlich die von ihr erfüllte abendländische Christenheit ideologisch integrierte und gegen eine andersartige Umwelt abgrenzte. Es war die gleiche Funktion, die sonst, auf eine üblicherweise als national bezeichnete Gruppe bezogen, der Nationalismus ausübt. Der gleiche psychologisch-soziologische Sachverhalt, nämlich die Integration und Abgrenzung von Groß-gruppen, ist in beiden Fällen gegeben; der Unterschied besteht nur in der Größenordnung und in den der Integrationsideologie zugrunde liegenden Motiven.

Und in der Tat, nach Funktion und Struktur wie nach der psychologischen Wirkung auf ihre Angehörigen wirkt die politische und ideologische Einheit des christlich-mittelalterlichen Abendlandes nicht anders als eine der modernen, uns geläufigen Nationen.

Sie hatte zunächst einen durchgehenden, hierarchisch gegliederten Gesellschaftsaufbau. Ihre Führungsspitze war, wenn auch — der Au-gustinischen Zwei-Schwerter-Theorie entsprechend — dualistisch, dem Abendland gemeinsam: Kaiser und Papst. Ebenso gesamteuropäisch war die geistige Führungsschicht, der Klerus. Rom unterstellt, durch Orden, die exempt, das heißt den geistlichen Lokalgewalten entzogen waren, verklammert, einheitlich ausgebildet, ja sogar — wie das einer modernen Nation zukommt — durch eine gemeinsame Hochsprache, das Latein, gebunden und auf die gleichen Denkkategorien wie auf ein gemeinsames Brauchtum — die Liturgie — ausgerichtet, war diese Führungsschicht gewiß weniger pluralistisch als es die Intellektuellenschicht der modernen Nationen zu sein pflegt. Ähnlich gesamtabendländischen Charakter hatte auch die politische Führungsschicht, der Adel. Die gemeinsame wirtschaftliche und militärische Funktion des europäischen Adels erforderte überall den gleichen Bildungsgang und schuf die gleichen gesellschaftlichen Formen. Die ritterliche Dichtung lebt, wenn auch in verschiedenen Sprachen, von den gleichen Stoffen, Motiven und Kunst-formen. Wertbegriffe, Normen und Ideale waren in dieser Schicht gesamteuropäisch. Auch Bürger und Bauern lebten in ganz Europa nach den gleichen, ihrem Stand entsprechenden Rechts-und Siedlungsformen, Produktionsmethoden und Bräuchen, Machtkämpfen und Herrschaftsformen.

Die Schlachten und Kriege innerhalb des mittelalterlichen Abendlandes lassen sich, wie sehr sie die modernen Nationen als ihre eigenen Heldentaten umzudeuten und zu feiern bemüht sind, mit den modernen Kriegen zwischen diesen europäischen Nationen nicht vergleichen. Erst die gegen die andersgläubige Umwelt gerichteten Kriege, die Kreuzzüge und die gemeinsamen Heidenfahrten, entsprachen — was die seelischen, rechtlichen und soziologischen Probleme anlangt, die sie auf-warfen — den heutigen Kriegen zwischen den europäischen Nationen. Das ist an dem religionskriegartigen Charakter abzulesen, den diese Nationalkriege angenommen haben, die heute wieder aus der Mode kommen, während sich ihr erbitterter Ernst auf die Kon-B flikte zwischen den großen ideologischen Blökken verlagert.

So haben Gesellschaftsaufbau, Führungsstruktur, Ideologie und Außenpolitik jene mittelalterlich abendländische Christenheit zu einer Art Nation geformt, der zwar das Merkmal der gemeinsamen Sprache nur in ihrer Oberschicht zukam, dafür aber die gleiche soziologisch-psychologische Funktion bei allen ihren Angehörigen: sie zu einer ihrer Einheit und Eigenart bewußten, ideologisch integrierten, von einer als fremd und feindlich empfundenen Umwelt abgegrenzten Großgruppe zu binden. Genau dies aber ist die Funktion modernen Nationalismus.

Besonders deutlich wird der nationartige Charakter der abendländischen Christenheit, wenn man ihre Abgrenzung nicht nur gegen die als barbarisch empfundene — wenngleich durchaus nicht überall kulturell unterlegene — heidnische und islamische Welt, sondern auch gegen Ostrom, gegen die byzantinische Macht und Kultur ins Auge faßt. Gegen sie hat sich eine tiefe Feindschaft entwickelt, leidenschaftlicher als die gegen Heidentum und Islam. Sie zeigt ausgesprochen nationalistische Züge. Schon die Kaiserkrönung Karls des Großen (800) erscheint wie eine Rebellion des Westens gegen den damals kulturell überlegenen Osten. Seither reißen die Versuche einer abendländischen Emanzipation von Byzanz nicht ab. Sie sind von erbitterten Äußerungen des Minderwertigkeitsgefühls und seiner Kompensation, von Aufbegehren gegen byzantinische Arroganz begleitet. In der Eroberung und Plünderung von Konstantinopel durch westliche Kreuzfahrer (1204) erreicht dieser lateinische Nationalismus einen Höhepunkt. Die Renaissance ist schließlich nichts anderes als die Selbstbefreiung einer abendländischen — man ist versucht zu sagen — nationalen Eigenart von der inzwischen durch die Türken geschwächten Überlegenheit und Vormundschaft des oströmischen Reiches. Der ganze Prozeß erinnert in vielen Einzelheiten an die nationale Emanzipation der modernen Völker von ihrem jeweils überlegenen und fortgeschritteneren westlichen Nachbarn; sie wiederum verläuft ähnlich der gegenwärtigen Emanzipation der Entwicklungsländer von den Kolonial-mächten samt begleitenden leidenschaftlichen sie Nationalismus.

Im ganzen erweist sich so das Gemeinschaftsgefühl des mittelalterlichen Abendlands, das wir als einen Universalismus aufzufassen geneigt waren, psychologisch gesehen als eine Art Nationalgefühl, wenn auch nicht auf die heutige, nach Sprache und Abstammung oder Staatszugehörigkeit abgegrenzte Nation bezogen, sondern auf eine größere, durch ideologische Motive gebundene Gemeinschaft. Was also das „vornationalistische" Mittelalter unseres Kulturkreises zum Unterschied von der „nationalistischen" Neuzeit charakterisiert, ist nicht ein Vakuum an jenen für den Nationalismus typischen Bindekräften, Abgrenzungen, Hingabe nach innen und Ablehnung nach außen. Ein Vakuum an solchen für den Nationalismus wesentlichen Kräften scheint es überhaupt nicht zu geben; denn zu allen Zeiten sind irgendwelche großen gesellschaftlichen Gruppen in sich gebunden und nach außen abgegrenzt, mögen die dabei wirkenden Kräfte und Motive auch noch so verschiedener Art sein, sich an noch so verschiedenen Merkmalen orientieren: an der gemeinsamen Abstammung, Sprache, Staatszugehörigkeit oder auch Religion und Ideologie.

Nun wird auch klar, was sich von jenem Mittelalter zu unserer Neuzeit in Wirklichkeit vollzogen hat: Es war kein Wandel vom Universalismus zum Nationalismus, sondern eine Verlagerung der zu allen Zeiten wirkenden, für das Funktionieren der Gesellschaft unerläßlichen Integrationskräfte von einer großräumigen, vor allem durch eine religiöse Ideologie gebundenen Großnation auf kleinräumige, von Landesherren organisierte oder auch nach Sprache, Abstammungs-und Geschichtsideologie abgegrenzte Nationen.

Für die moderne europäische Geschichte, ihre Volks-und Staatsbegriffe, ist es grundlegend, daß sich diese Verlagerung der Bindekräfte auf zwei verschiedenen Wegen vollzog: einmal als Ausbildung dynastischer Territorial-staaten durch die Landesherren, die ihre Untertanen zu einheits-und eigenartbewußten Nationen erzogen, zum andern durch das Bewußtsein einer auf außerstaatlichen Merkmalen, auf Sprache, Kultur, Abstammung, Geschichtsbewußtsein oder Ideologie beruhenden Gemeinsamkeit. Wir werden im folgenden diese beiden Entwicklungslinien zu verfolgen haben, um die modernen Staats-und -Volks begriffe, die verschiedenen, auf sie bezogenen Arten von Nationalismus und die zwischen ihnen bestehenden Spannungen und Probleme zu verstehen. 4. Die nationbildende Rolle des Staates Daß sich die kulturell so bedeutsame Einheit des mittelalterlichen Abendlandes trotz ihres nationähnlichen Charakters schließlich auflöste und einer Vielfalt souveräner, ihrer Einheit und Eigenart bewußter, keine übernationale Autorität über sich anerkennender Nationen und Nationalstaaten wich, wie sie das neuzeitliche Europa kennzeichnen, das erklärt sich weitgehend aus einer Verlagerung der Macht von den zentralen Autoritäten — Kaiser und Papst — auf die mittlere Ebene der Landesherren. Diese — die Könige, Fürsten, Herzöge, Landgrafen und ähnlich — verstanden es, von mehreren Umständen begünstigt, ihre zunächst von jener Spitze abgeleitete Autorität zu festigen, zu verselbständigen, zu intensivieren, ihre Besitzungen zu einem einheitlich verwalteten Territorium abzurunden und die Bewohner dieses „Staates" allmählich zu einer ihrer Einheit und Eigenart bewußten Nation zu erziehen. An diesem Modell läßt sich beobachten, wie ein Staat — gelegentlich auch über verschiedene Sprachen und Stammesüberlieferungen hinweg — nationbildend wirken kann.

Diese nationbildende Rolle des Staates, die sich auch sonst in der Weltgeschichte — und eben auch in unserer Gegenwart — vollzieht, stellt die eine Wurzel der modernen Nationen dar. Die dabei — zum Teil planmäßig — entwickelten Kräfte der Integration und Abgrenzung der zur Nation zu erziehenden Gesellschaft konstituieren die am Staat orientierte Erscheinungsform des Nationalismus. Daß es daneben noch eine andere, auf außerstaatlichen Motiven beruhende Wurzel der modernen Nation und ihres Nationalismus gibt, wird später zu zeigen sein.

Die Ausbildung der modernen europäischen Nationen durch den Staat bereitet sich schon im Hochmittelalter vor. Die Hinrichtung des Hohenstaufen Konradin (1268) und die Gefangensetzung des Papstes Bonifaz VIII. (1303) durch den französischen König Philipp den Schönen sind die entscheidenden Daten dafür. Sie bedeuten den Sturz der zentralen Autoritäten, die bis dahin die nationartige Gemeinschaft der abendländischen Christenheit integriert und repräsentiert hatten. Zugleich mit der Spitze schwand auch — von der Erfindung der Feuerwaffen und vom Übergang zu Fernhandel und Geldwirtschaft verursacht — die Bedeutung und Selbständigkeit der breiten Führungsschicht, der Grundherren und Ritter. Sie sahen sich immer mehr gezwungen, in die Dienste jener mittleren Autoritäten zu treten, die, durch Bodensdiätze, Städte und

Industrien in ihren Territorien reich geworden, allein noch in der Lage waren, die infanteristisch kämpfenden Söldnerheere zu halten, die die neue Kriegstechnik an Stelle der einzeln kämpfenden, schweren Reiter erforderte. Dies nun waren die Landesherren, die Domini terrae. Nach dem Vorbild der Normannen, später des Deutschen Ordens, bauten sie die Verwaltung ihrer zielbewußt abgerundeten Territorien, nach Brechung feudaler Widerstände, zu einem Apparat von ihnen abhängiger, beamteter Kräfte um. Sie griffen mit Gesetzen und Verordnungen in die Einzelheiten des bürgerlichen und wirtschaftlichen Lebens ein und gewöhnten ihre Untertanen, die ihres Schutzes bedurften, an das gemeinsame Leben unter einer Herrschaft. Das in Bologna gelehrte, erneuerte Römische Recht, das dem Willen des Landesfürsten eine zentrale Rolle zuwies, kam ihnen dabei zustatten. Darüber hinaus entfalteten sie eine zielbewußte Kulturpolitik, wir würden heute sagen: Propaganda. Eine Art von Konversationslexika pries die Schätze und Schönheiten des Landes. Rechtsgelehrte — etwa die Legisten in Frankreich — mußten die Rechtmäßigkeit der königlichen Erbfolge, die Abstammung von Karl dem Großen, die Geltung territorialer Ansprüche beweisen; Historiker schrieben im Auftrag des Fürsten die Geschichte des Landes, nicht ohne die Ruhmestaten ihrer Vorfahren zu preisen. Einen dieser Vorfahren heiligsprechen und zum Landespatron erheben zu lassen, gehörte zu dieser Kulturpolitik. Ebenso die Entfaltung höfischen Glanzes, wie er uns etwa in den Schilderungen des burgundischen Hofes im Spätmittelalter und seiner vielen Nachahmer und Nachfolger überliefert ist. Die integrierende und nationbildende Wirkung der landesherrlichen Herrschaft steigerte sich in der Reformationszeit, als der Landesherr sogar die Verantwortung für das Seelenheil seiner Untertanen übernahm und zum Haupt der Landeskirche wurde. „Princeps papa in suis terris“ (Der Fürst ist Papst in seinen Landen) — dieser Rechtsgrundsatz brachte zum Ausdruck, daß der Landesfürst eine Funktion übernommen hatte, die früher nur der obersten Spitze der Christenheit zugekommen war. Die logische Folge davon war der Grundsatz des Augsburger Religionsfriedens (1555): „Cuius regio, eius religio“, nach dem der Herrscher die Konfession seiner Untertanen zu bestimmen hatte.

Auf diesem Wege, der in der Folgezeit zum Absolutismus führte, wurde das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu dem vom Landesherrn beherrschten Personenkreis und Territorium systematisch gesteigert, ebenso das Erlebnis der Schicksalsgemeinschaft mit den übrigen Untertanen dieses Herrn und seiner Dynastie, Die Gleichheit der Sprache und der — meist nur vermeintlichen — Abstammung stärkte dieses Bewußtsein, war dazu aber nicht unbedingt nötig. Mächtigen Landesherren in lange schon gefestigten Staaten gelang es — umgekehrt —, die verschiedenen, ihnen Untertanen Sprachgruppen wenigstens in der Oberschicht zu einer gemeinsamen Amts-, Hoch-und Literatursprache zu erziehen; so dem französischen Königtum, das die nordfranzösische Mundart bei recht verschiedenen lateinischen Tochtersprachen, später sogar bei Bretonen, Basken, Flamen und Deutschen durchsetzte; ähnlich in Spanien, wo das gleiche der kastilischen Mundart gelang, und im Bereich der britischen Könige, dessen Bewohner über das Gälische, Schottische und Irische hinweg schließlich englisch zu sprechen begannen.

Auf diese vielfältige Weise haben Staaten ihre Angehörigen zu Nationen erzogen, sie mit einem Bewußtsein ihrer Einheit und Eigenart erfüllt, zur Hingabe an diese Nation, ja selbst zum Opfer ihres Lebens veranlaßt. Mag es zunächst die Person des Königs gewesen sein, zu dessen Ehre und Dienst Adlige solche Leistungen und Opfer vollbrachten; in der Folge trat hinter ihr immer stärker die Res publica, die gemeinsame Sache, die Nation ins Bewußtsein, im humanistisch-barocken Stil wohl — als La France, als Germania oder Bavaria — personifiziert, später abstrakt, ohne diese Hilfe.

Die hier angedeutete Ausbildung einer Nation durch den Staat hat nicht nur in diesem Zeitraum vom Mittelalter zum Absolutismus stattgefunden. Sie gehört offenbar zu den natürlichen Funktionen des Staates überhaupt. Auch ohne bewußte Bemühungen der Staatsführung wirkt das gemeinsame Leben unter dem gleichen Gesetz, im gleichen politischen Schicksal, in der gemeinsamen Gefahr vom gemeinsamen Feind, unter den gleichen Wirkungen von Sieg und Niederlage im Sinne einer Gewöhnung, Bindung, Integration. Hier kann eine demokratische Verfassung, wiewohl sie dem Einzelnen größere Freiheit gewährt, schon durch das gemeinsame Wirken an der Staatspolitik — und sei es auch nur durch den Wahlakt — stärkere Kräfte der Bindung und des Engagements ausstrahlen als ein nur passiv zu erduldendes Herrschaftssystem.

Die Geschichte, selbst schon unsere eigene Erfahrung, bietet zahlreiche Beispiele für diesen Mechanismus der Nationbildung. Die stärksten nationbildenden Kräfte haben — schon wegen der langen Dauer ihrer Wirkung — die großen westeuropäischen Nationalstaaten ausgestrahlt. Hier wird deshalb die Nation schlechthin mit der Staatsbevölkerung identifiziert, Nation bedeutet Staat, Nationalität Staatszugehörigkeit. Aber auch der erst 1871 von Bismarck zustande gebrachte deutsche Nationalstaat hat — obwohl er nur zwei Drittel der kurz vorher um die staatliche Einigung bemühten Deutschen zusammenfaßte — auf seine Bürger nationbildend gewirkt; unter deutscher Nation oder deutschem Volk meinen sie nur die innerhalb seiner Grenzen vereinigten Deutschen, während der früher noch sehr lebendige, an der Sprachgemeinschaft orientierte Nationsbegriff bei ihnen in Vergessenheit geraten oder gar verdächtig geworden ist. Es wird zu beobachten sein, daß insbesondere im östlichen Mitteleuropa und in Osteuropa, wo vielfach das Erwachen der Sprachvölker über die in der Ausbildung von Staatsnationen weniger erfolgreichen Staaten gesiegt hat, die Sprachgemeinschaft deutlicher bewußt, stärker verpflichtend wirkt als die Staatszugehörigkeit. Dort ist es nicht der Staat, der die Nation gebildet, sondern — umgekehrt — die Sprach-und Kulturgemeinschaft, die sich — oft gegen überlieferte dynastische Staatsgrenzen — ihren eigenen Nationalstaat erkämpft hat. Trotzdem sind auch dort, in den neuen, oft noch unsicheren Staaten, nation-bildende Kräfte ständig am Werke. Die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg in zwei staatähnliche Gebilde wirkt, ob diese Gebilde als Staaten anerkannt sind oder nicht, vom Niedergehen des Eisernen Vorhangs an im Sinne dieser automatischen Nationbildung durch die staatliche oder quasi-staatliche Organisation. Es ist durchaus möglich, daß sich eines Tages in Deutschland zwei deutsche Nationen in der gleichen Sprache gegenüberstehen. 5. Das Erwachen der Völker Die starken Bindekräfte und Leidenschaften, die die so entstandenen modernen Nationen bei ihren Angehörigen entwickelt haben, sind aus der nationbildenden Wirkung der Staaten, aus der allmählichen Gewöhnung der Staats-bevölkerungan ein Wir-Bewußtsein, nicht hinreichend zu erklären. Der moderne Nationalismus wird erst auf dem Hintergrund anderer, intimerer, schon vor dem Staat gegebener Motive und Kräfte verständlich. Neben dem Staat — seine nationbildende Wirkung manchmal fördernd, manchmal aber durchkreuzend — wirkten außerstaatliche Kriterien wie gemeinsame Abstammung, Sprache, Kultur, Geschichts-und Sendungsideologie auf die Entstehung der modernen Nationen und ihres Nationalismus ein.

Solche außerstaatlichen Motive haben sich, besonders im mittleren und östlichen Europa, den nationbildenden Kräften der bestehenden Staaten oft überlegen gezeigt: Die ihrer Einheit und Eigenart bewußte Sprachgemeinschaft hat in solchen Fällen dynastische Territorial-staaten zersprengt — wie die Türkei, Österreich, Ungarn, das westliche Rußland —, andere nach Maßgabe der Sprachgrenzen zusammengefügt — wie Deutschland und Italien. In diesen Fällen hat nicht der Staat die Nation gebildet, sondern — umgekehrt — eine an außerstaatlichen Merkmalen orientierte „nationale" Gemeinschaft, ein „Volk", einen Staat nach eigenem Bild und Gleichnis geschaffen.

Daß diese außerstaatlichen Kriterien und Integrationskräfte eine so gewaltige, den bestehenden Staaten mit all ihrer Macht, ihrem militärischen und Verwaltungsapparat oft überlegene Bedeutung gewinnen konnten, läßt sich nicht einfach aus der Wirkung von Propheten und Agitatoren, aus einem Wandel des Weltbildes und der Gesinnung erklären. Gerade dieser Wandel hat — wie jenes Hervortreten der Landesherren im späten Mittelalter — seine realen Voraussetzungen in der Geschichte der Gesellschaft, der Technik, der Wirtschaftsweise und der Herrschaftsstruktur. Eine wesentliche Voraussetzung dieser Art ist der Übergang von der feudalen, vornehmlich agrarisch wirtschaftenden Gesellschaft zur modernen Industriegesellschaft. Während es nämlich in jener feudal-agrarischen Gesellschaft genügte, wenn eine kleine Führungsgruppe, um den Monarchen geschart oder in Form einer Adelsoligarchie, durch gemeinsame Sprache, Kultur und Ideologie integriert, die Nation darstellte, bedarf die moderne Industriegesellschaft der bewußten und aktiven Mitarbeit aller ihrer Glieder. So war es die fortschreitende Demokratisierung der Gesellschaft, das immer stärkere Aufeinander-angewiesen-Sein bei den komplizierten arbeitsteiligen Verfahren in Verwaltung, Technik und Wirtschaft, was die Integration der breitesten Schichten in einen modernen, bis dahin unbekannten und unnötigen Nationsbegriff erforderte. Und eben diese Integration konnte erst auf Grund von allgemein sichtbaren und fühlbaren Merkmalen der Gemeinsamkeit, also der gemeinsamen Sprache, Kultur, Abstammungs-, Geschichts-und Sendungsideologie erfolgen.

Zu dieser außerstaatlichen — man könnte sagen: völkischen — Wurzel der modernen Nation und ihres Nationalismus haben die Humanisten durch die von ihnen getragene Renaissance antiker Vorstellungen wichtige Vorarbeit geleistet. Sie haben — nach dem Vorbild etwa von Caesar und Tacitus — Völker und Stämme mit einem geradezu folkloristisehen Interesse an ihren Lebensäußerungen studiert. Zu diesen — schon von den antiken Schriftstellern beobachteten — Lebensäußerungen aber gehörten Sprache und Abstammung, Verfassung und Verwaltung, Sitten und Bräuche, Religion und Geschichtsbild. Auch der Staat war demnach eine Lebensäußerung und Leistung des — offenbar also schon vor dem Staat vorhandenen — Volkes. Auf diesem Wege erst gewann der moderne Begriff des Volkes oder der Nation jene Farbe und Plastik, jene Geschichtstiefe und jene Bedeutung für das Selbstgefühl des Einzelnen, die der Nation Kräfte der persönlichen Bindung und Verpflichtung verliehen, wie sie bis dahin nur der religiös begründeten Gemeinschaft der Christenheit zur Verfügung gestanden hatten. So erst konnte im Bewußtsein der Europäer die Nation an die Stelle der Christenheit treten.

Auf solchen Voraussetzungen beruht das Erwachen der modernen Nationen, die, auf Grund jener außerstaatlichen Kriterien ihrer Einheit und Eigenart bewußt geworden, eine Integration durch alle Schichten, eine unerhörte Steigerung ihrer kulturellen Leistung, aber auch ihres Nationalismus erlebten und von sich aus Nationalstaaten schufen — die überlieferten dynastischen Staaten, wo Sprach-und Staatsgrenzen übereinstimmten, mit neuem Leben erfüllend, wo das nicht der Fall war, zerstörend oder neu abgrenzend. Dieses Erwachen ist, mit der Renaissance in Italien beginnend, wie eine Kettenreaktion im großen Bogen durch Europa gegangen, hat im 19. Jahrhundert Ost-und Südosteuropa erfaßt und setzt sich heute in Asien und Afrika als Emanzipation der Kolonialvölker fort. Den betroffenen Völkern wurde es meist nur als ihr eigener Aufstieg, als Befreiung vom übermächtigen, meist westlichen Nachbarn bewußt. Sie nannten es ihr risorgimento (ital.), obrozeni (tschech.) oder preporod (serbokrat.), also: Wiedergeburt, weil sie seine Wurzeln in ihrer eigenen Vergangenheit und Leistung suchten. Erst ein vergleichender Überblick und die dabei zutage tretende Gleichheit der Motive, der Phasen und Formen dieses Prozesses lassen erkennen, daß es sich um einen gemeinsamen, geistes-und sozialgeschichtlichen Vorgang handelt, um eben jenes, überall von der gleichen Art von Nationalismus stimulierte und begleitete Erwachen der Völker, um jene Kettenreaktion, zu der ein Volk dem andern entscheidende Impulse gab. Nach dem für diesen Vorgang klassischen italienischen Modell — vom Erwachen des Sprachbewußtseins bis zur Gründung des Nationalstaates — können wir ihn „Risorgimento" nennen, den dabei entwickelten typischen Nationalismus aber „Risorgimento-Nationalismus".Zunächst mag ein Überblick über die gemeinsamen, charakteristischen Phasen und Formen dieses Prozesses die übernationale Einheit des nationalen Erwachens dartun. a) Phasen und Formen des nationalen Erwachens im Überblick Zu Anfang wird die eigene Sprache gegen die bis dahin als Hochsprache gültige antike oder westlich benachbarte Sprache abgegrenzt und verteidigt. Bei allen Völkern, von den Spaniern bis zu den Ukrainern, entstehen zu diesem Zweck Sprachverteidigungsschriften, die überall gleich argumentieren: auch die eigene Sprache sei schön, für Dichtung und Wissenschaft verwendbar. Man wirbt für den Gebrauch und die Pflege der Muttersprache auch in der höheren Gesellschaft, die ihr nicht selten abtrünnig geworden ist. Diese Sprache muß freilich erst von Fremdwörtern gereinigt werden. Dazu bilden sich Vereinigungen und Institute, wie die Acadmie Frangaise, die deutschen Sprachgesellschaften und slawische Unternehmen, zur Herausgabe von Wörterbüchern. Die Philologie gewinnt unerhörte Bedeutung, einzelne Sprachen, nur noch als bäuerliche Mundarten im Gebrauch oder noch gar nicht zur Literatursprache gediehen, werden aus literarischen Überlieferungen rekonstruiert, in Regeln gefaßt, mit Anleihen aus dem Wortschatz verwandter Sprachen bereichert. Sie erhalten dabei manchmal einen archaischen Charakter, der der gebräuchlichen Volkssprache nicht entspricht. Im Griechischen entwickeln sich so zwei Sprachen nebeneinander, bis eine zweite Welle des Risorgimento der Sprache des Volkes literarische Geltung verschafft. Ähnlich verhält es sich im Norwegischen. Die erneuerte Sprache muß sich im Kreis der übrigen Völker als ebenbürtig und literatur-fähig erweisen. Das kann nur durch bedeutende Dichtungen geschehen. So entstehen die klassischen Literaturen der europäischen Völker, die Epen und Dramen der Spanier, die Werke von Corneille, Moliere und Racine, das Verlorene Paradies von Milton. Diesem englischen Werk ein deutsches von gleicher Bedeutung an die Seite zu stellen, ist die Absicht Klopstocks bei der Schöpfung seines Messias. Die Dichtungen von Mickiewicz, Sowacki und Krasinski dienen bei den Polen, die von Puschkin bei den Russen und die von Petöfi bei den Magyaren der gleichen Absicht. Daß die klassische Literaturperiode zumindest der europäischen Nationen nicht an einen bestimmten Stil gebunden ist, sondern jeweils in dieser frühen Phase des nationalen Erwachens eintritt, beweist deutlich, wie wenig dieses sprachlich-literarische Interesse mit der Romantik, wie viel es dagegen mit der beginnenden Selbstkonstituierung der modernen, am Kriterium der Sprache orientierten Nationen zu tun hat.

Eine wichtige Rolle beim nationalen Erwachen spielt die Geschichte. Vor allem dort, wo die Sprache, in der Oberschicht außer Gebrauch, als Kriterium der Abgrenzung gegen das Nachbarvolk nicht wirken kann, übernimmt ein wirksames Geschichtsbild diese Rolle. Das ist etwa bei den Tschechen der Fall, deren Oberschicht weithin deutsch spricht. Eine Helden-zeit wie die Reconquista und die Epoche der Entdeckungen bei den Spaniern, der Hussitismus bei den Tschechen, die Türkenabwehr bei den Polen hebt die erwachende Nation als überlegen von ihrer Umwelt ab. Frühere dynastische Staaten, ihrer Begründung und Struktur nach keineswegs Nationalstaaten, werden zu solchen umgedeutet; ihre Erneuerung erscheint als politisches Ziel der Nation.

Aus der Geschichte wird die Rolle oder Sendung abgeleitet, die die erwachende Nation in der Vergangenheit erfüllt und — ihrem Charakter entsprechend —• auch in der Zukunft zu erfüllen hat. Von ihr geht, da sie aus einer höheren Ebene abgeleitet ist, die stärkste Kraft der Selbstrechtfertigung, der Kompensation kultureller Minderwertigkeitsgefühle, der Integration zunächst wenig nationalbewußter Mitglieder aus. Das gilt vor allem im Osten, wo Herder und die Romantik den Glauben an die besondere Sendung jeder Nation verkündet haben. Aber auch im Westen merkt man bei genauerem Zusehen, daß es nicht eigentlich der Staat ist, der den göttlichen Auftrag empfängt, sondern die durch Sprache, Kultur, Geschichtsbild und Glaube verbundene Nation. Darum muß hier eine revolutionäre Bewegung, die diese Sendung trägt und von ihr durchdrungen ist, den Staat eigens erst erobern, um ihn zum Werkzeug dieser Sendung zu machen. So tut es die puritanische Revolution in England, die große Französische Revolution. Das gleiche erfolgt mit der Eroberung des spanischen Staates durch eine von Kastilien ausgehende Bewegung.

Die folgerichtige letzte Stufe des nationalen Erwachens stellt das Streben nach einem sou-veränen Nationalstaat dar. Daß ein auf Grund außerstaatlicher Kriterien seiner Einheit und Eigenart bewußt gewordenes Volk einen eigenen Staat haben müsse, ergibt sich nicht nur aus jenem von den Humanisten entwickelten Volksbegriff, sondern auch aus dem von der Französischen Revolution vorgeführten Gedanken der Volkssouveränität. Literatur, Kunst, Religion, Gesetze und staatliche Ordnung sind danach Leistungen eines solchen Volkes und spiegeln seinen Charakter, seine Fähigkeiten und Schwächen wider. Montesquieu hatte das an den Römern und an der Größe wie am Verfall des von ihnen errichteten Reiches gezeigt. Nach Hegel war eine Nation erst dann geschichtswürdig, wenn sie sich in einem souveränen Staat ausgeprägt hatte.

So sind die erwachten Völker, soweit sie nicht schon einen als Nationalstaat erklärbaren Staat vorfanden, nach einer Epoche der sprachlich-literarisch-kulturellen Selbstbesinnung und Organisation regelmäßig in eine Phase des politischen Kampfes um nationale Autonomie, schließlich um einen souveränen Nationalstaat eingetreten. Je nach der Macht, gegen die diese Selbständigkeit durchzusetzen war, fand dieser Kampf im Namen einer bürgerlich-liberalen oder einer sozialistischen Ideologie statt. Jede größere Machtverschiebung, etwa auf Grund eines Krieges, führte darum zur Entstehung von Nationalstaaten: 1867, nach der Niederlage von Königgrätz, mußte Kaiser Franz Joseph den Ungarn im so-genannten Ungarischen Ausgleich eine weitgehende Autonomie, praktisch einen Nationalstaat, gewähren. Die Kriege von 1859, 1866 und 1870 führten zur Entstehung eines italienischen und eines deutschen Nationalstaates. Die Balkankriege von 1912 gaben den schon im 19. Jahrhundert aus der Schwäche der Türkei entstandenen nationalen Staaten auf dem Balkan die volle Souveränität. Der Zusammenbruch Rußlands und Osterreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg (1917 u. 1918) ließ in ganz Ostmitteleuropa eine Reihe von Nationalstaaten entstehen, und noch das Vordringen Hitlers nach dem Südosten brachte den Slowaken und den Kroaten eine, wenn auch problematische, Staatlichkeit (1939/41). Der gleiche Vorgang setzte sich nach dem Erdbeben des Zweiten Weltkriegs in Asien und Afrika fort, wo sich die Kolonialreiche der Briten, Franzosen und Holländer in eine große Anzahl souveräner Staaten auflösten. Zu dieser Zeit hatte sich allerdings schon die Fragwürdigkeit der kleineren europäischen Nationalstaaten gezeigt, die sich, in neue, übernationale, ideologisch begründete Machtbereiche einbezogen, wesentlicher Teile ihrer Souveränität entkleidet sahen. b) Der Gang des Risorgimento durch Europa Italien Italien ist der Ausgangspunkt der Bewegung. Hierher kehrt sie, nachdem sie einen großen Bogen durch die Völker Europas beschrieben hat, zurück, um das Risorgimento des 19. Jahrhunderts zu bewirken.

Die italienische Renaissance ist die erste Phase dieses Erwachens. Sie hat eine durchaus nationale Bedeutung. Cola di Rienzo und Machiavelli erinnern, jeder in seiner Art, an die vergangene Größe und Weltsendung Roms. Cola di Rienzo versucht eine Erneuerung der römischen Republik unter dem Protektorat des Kaisers. Die Humanisten suchen in ganz Europa nach Zeugnissen der alten Größe. Ihre Geschichtsschreibung macht das italienische Geschichtsbild für ganz Europa verbindlich.

Gegen das noch herrschende Latein wird die Volkssprache durchgesetzt. In Dante und Petrarca finden die Italiener frühzeitig die überragenden Dichter, die die Schönheit und Kraft der neuen Sprache beweisen.

Im 18. und 19. Jahrhundert, unter dem Einfluß Giambattista Vicos und Johann Gottfried Herders und ihrer biographischen Betrachtung der Völker, vollzieht sich die zweite Phase des Erwachens, das Risorgimento. Guiseppe Mazzini sieht im Nationalismus die neue Religion, in der Nation den neuen Christus. Jede Nation hat eine Sendung, aber um sie erfüllen zu können, muß sie aus der Macht der Fürsten befreit, demokratisch sein. So erscheint ihm die Zukunft: eine bürgerlich freie Menschheit, in Nationen gegliedert, wie sie Gott nach Sprache und Geographie geschaffen hat. Trotzdem geht die Errichtung des Nationalstaates ähnlich wie in Deutschland erst mit Hilfe eines der Teilstaaten, Piemont, und der kühnen Einigungspolitik Cavours in mehreren Stufen vonstatten.

Spanien Nach jahrhundertelanger, kulturell überlegener Herrschaft des Islam gewinnt Spanien durch die christliche Wiedereroberung, die Reconquista, Freiheit und eigenes Gesicht, damit aber auch einen Geschichtsmythos. Aus den letzten Befreiungskämpfen erwächst auch die politische Einheit Spaniens, die eine Zeitlang sogar Portugal einschließt. Gegen die zunächst herrschende Sprache von Leon setzt sich der altkastilische Dialekt durch, der im 13. Jahrhundert Amtssprache wird, aber noch im 16. zur literarischen Hochsprache entwickelt und durchgekämpft werden muß. Spanien, nach Entdeckung Amerikas von Karl V. in ein imperiales System einbezogen, wird durch Philipp II. zum ersten Nationalstaat Europas und versucht, nunmehr von nationalstaatlicher Basis aus, eine Hegemonie über das zerfallene Europa aufzurichten. Als tragende Ideologie wirkt dabei die Rekatholisierung, für die es sich durch Türkenabwehr (Schlacht bei Lepanto 1571), durch das Unternehmen der Großen Armada gegen England (1588) und durch Beteiligung an den Kriegen der Gegenreformation zu legitimieren sucht. Das Absinken von diesem Goldenen Zeitalter ruft im 18. Jahrhundert ähnlich sentimentale Erinnerungen an einstige Größe, Geschichtsbilder, Sprachenerneuerungsbestrebungen (Akademie der Sprache 1714, Neuausgaben der Klassiker) hervor wie die anderen Erwachensbewegungen.

England Der Aufbau des englischen überseereiches nach dem Sieg über die spanische Armada ist in einer sprachlich-kulturellen Selbstbesinnung und religiösen Sendungsideologie begründet. Die durch das normannische Französisch für Jahrhunderte verdrängte angelsächsische Sprache erhebt sich aus der Unter-schicht, findet Verteidigung, Reinigung und Pflege. Mit der alten Sprache will man auch die alten germanischen Freiheiten wiederherstellen. S. Daniel bekämpft die Nachahmung antiker Muster, verteidigt den Reim und eine eigenständige englische Dichtung. W. Tyndale glaubt Wert und Würde der englischen Sprache aus ihrer Ähnlichkeit mit dem Hebräischen beweisen zu können.

Die aus dem Calvinismus stammende puritanische Revolution stellt den Engländern eine nationale Ideologie zur Verfügung: England habe die Sendung, den übrigen Völkern die religiöse Freiheit vorzuleben und zu erkämpfen. Noch im Ersten Weltkrieg und in manchen Motiven des Zweiten hat dieses Sendungsbewußtsein gewirkt, in dem der Anglist Wilhelm Dibelius die treibende Kraft des englischen Widerstandes erkannte. Im 19. Jahrhundert hat John Stuart Mill diesen Sendungsglauben in säkularisierter Fassung neu formuliert. Dabei zeigt sich die Fähigkeit, solche übernational konzipierten Ideologien in nationaler Funktion zu verwenden: Gerade in seinen Landsleuten sieht J. St. Mill die berufenen Vorkämpfer der rassischen und nationalen Vorurteilsfreiheit, geborene Einiger und Verwalter verschiedener Rassen und Völker, ohne sie zu unterdrücken oder zu assimilieren.

Die religiöse Sendungsideologie der Briten des 17. Jahrhunderts war inzwischen mit den Pilgervätern nach Amerika ausgewandert und bildete dort den Kern jenes Sendungsglaubens, der die Nation der Vereinigten Staaten formte und trug. Heute ist es diese Nation, die den puritanischen Sendungsglauben der Engländer, die ihm inzwischen kühler gegenüberstehen, in einer Art jugendlicher Schwärmerei ausgenommen und als Kampf für Freiheit und Demokratie in der Welt zur international konzipierten Ideologie ihrer nationalen Weltpolitik gemacht hat.

Frankreich Im Kampf gegen die universale Stellung des Reiches haben die französischen Könige vor allen anderen europäischen Nationen etwas wie eine nationale Ideologie entwickeln müssen. Die Legisten operierten nicht nur mit staatsrechtlichen und militärischen Argumenten, sondern schon mit dem Hinweis auf die geistigen und menschlichen Qualitäten der Franzosen. Im Kampf gegen England erschien Frankreich als das Königreich Christi: die typische Selbstlegitimierung aus der Transzendenz. Dem Stil des Risorgimento schließt sich Frankreich mit seinem von Minderwertigkeitsgefühlen und Kompensationsbedürfnis getragenen Kampf gegen das durch die Renaissance kulturell überlegene Italien und das politisch übermächtige Spanien an. Nun beginnt auch der Kampf nm die Einheit und Reinheit der französischen Sprache, die, bis dahin ein nordfranzösischer Dialekt, durch Sprachverteidigungen und offiziellen Gebrauch am königlichen Hof gegen die anderen Mundarten und gegen das Latein durchgesetzt, von Autoritäten wie Calvin systematisch entwickelt, von der 1634 gegründeten Academie Frangaise von Fremdwörtern gereinigt und in Pflege genommen wird. Die klassischen Dichtungen der Corneille, Moliere und Racine verleihen ihr Weltgeltung, zugleich jene eigentümliche Mischung von Klarheit, Eleganz und Strenge, die ihr bis heute das Gepräge gegeben hat.

Nationale Ideologie und Sendungsglaube erhalten die Franzosen aus der Französischen Revolution. Durch die Verbreitung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit über die Adel von Fürsten und geknechtete Welt legitimieren sie sich als die Grande Nation. Selbst nach dem Scheitern des von dieser Ideologie getragenen napoleonischen Hegemonialversuchs bleibt Frankreich die Sendung des Kampfes für die Zivilisation. Noch heute ist die französische Nation auf diese Formel geeinigt. Für die Zivilisation sind seine Toten R in den beiden Weltkriegen gefallen. Aus dem Kampf für die Zivilisation schöpft Frankreich auch sein mühelos positives Verhältnis zur Menschheit. Jules Michelet, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts die gesamte Nation zum eigentlichen Helden seiner Geschichtsdarstellung macht, gibt ihr damit Selbstgefühl, Heldenzeitalter und Menschheitsfunktion zugleich. In diesem Risorgimento-Nationalismus findet dann der aus der Niederlage von 1871 aufsteigencle integrale Nationalismus wesentliche Motive.

Deutschland Auch der Nationalstaat der Deutschen (1871) hat eine lange Vorgeschichte im Erwachen der deutschen Sprach-und Kulturnation. Schon die deutschen Humanisten lehnen das Geschichtsbild von der Translatio Imperii durch Karls des Großen Kaiserkrönung ab: durch eigene Kriegstüchtigkeit (Hermann der Cherusker) hätten die Germanen das Römische Reich erobert. Gegen die Verwahrlosung und Überfremdung der deutschen Sprache im Dreißigjährigen Krieg erscheinen Sprachverteidigungen (z. B. Martin Opitz), werden Sprachgesellschaften und Akademien gegründet. Die deutsche klassische Dichtung steigt aus der Abwendung vom französischen Muster (Bodmer und Breitinger gegen Gottsched; ebenso Klop-stock, Lessing) und der Zuwendung zu englischen (Shakespeare, Ossian) auf. Vorbildern Als Kompensation gegen den Zerfall des alten Reiches (1806) entsteht der Glaube an die geistige Bedeutung (Schiller: Deutsche Größe) und weltverbindende Kulturaufgabe (Goethe) der deutschen Nation, die, wenn auch nicht politisch, so doch kulturell geeint sei, aus der Kraft des „Volkstums" (E. L. Jahn) lebe und sich als Sprachgemeinschaft (E. M. Arndt) verstehe. Nationale Eigenart und menschliche Ideale werden nicht als Gegensätze empfunden, vielmehr als Korrelate, zumal seit J. G. Herder den Unterschied zwischen den egoistischen Staatsapparaten mit ihren Kabinetts-kriegen einerseits, den brüderlichen Vaterländern andererseits herausgearbeitet hat.

Die Romantik gibt diesem Volksbegriff mit ihrer Sprachforschung (Brüder Grimm), Rechts-geschichte (Savigny), Geschichtsforschung (Niebuhr, Ranke u. a.), Gotikbegeisterung (Goethe, Vollendung des Kölner Doms) die notwendige Geschichtstiefe und stellt eine Identität zwischen dem Römischen Reich des Mittelalters und dem — nun auf demokratische Weise, durch das Frankfurter Parlament zu schaffenden deutschen Nationalstaat her, der als Erneuerung des Reiches interpretiert und darum „Reich" genannt wird. Denn das

Nationalstaatsstreben des deutschen Risorgimento-Nationalismus konnte sich auf keinen der bestehenden dynastischen Staaten richten; es mußte sich gegen einen vom Staat her in Ansätzen geformten preußischen, bayerischen usw. Nationalismus und den Nationalismus einer — wenigstens in der staatstragenden Schicht bestehenden — österreichischen Nation durchsetzen (Beispiel: der Preuße Bismarck, der den deutschen Sprachnationalismus für die Errichtung einer preußischen Hegemonie benützte). Die Errichtung des deutschen Nationalstaats (1871) hat nur zwei Drittel der Deutschen einbezogen. So ist das deutsche Risorgimento unvollendet geblieben. Daher die Frustration, insbesondere der außerhalb gebliebenen Deutschen, die sich nun dem Risorgimento-Nationalismus der anderen Völker, später deren Nationalstaaten, ausgeliefert sahen. Sie ist eine der Wurzeln des aus dem Zusammenbruch von 1918 aufsteigenden „integralen" Nationalismus (ähnlich Frankreich nach 1871), dessen deutsche Ausprägung, der Nationalsozialismus, durch den „Österreicher" Hitler Gestalt gewann.

Tschechen und Slowaken Das tschechische Erwachen, von den Tschechen in seiner Bedeutung erkannt und als obrozen (Wiedergeburt) bezeichnet, vollzog sich als bewußte Herauslösung aus dem deutschen Kulturkreis, dem zumindest Adel und bürgerliche Oberschicht um 1800 schon angehörten. Es begann in deutscher Sprache, zunächst als Patriotismus einer aus Tschechen und Deutschen bestehenden böhmischen Nation, deren tschechischer Teil sich erst auf Grund der Spracherneuerungsbemühungen von Philologen (Dobrowsky, Jungmann) und Dichtern (Puchmajer, K. H. Macha u. a.), vor allem aber des von Franz Palacky entwickelten Geschichtsbildes, in seiner slawischen Eigenart und einstigen geschichtlichen Rolle erkannte. Dieses Geschichtsbild, auf geniale Fälschungen alttschechischer Dichtung gestützt, wies den Tschechen die Aufgabe zu, in einer deutschen — feudalen und kriegerischen — Umwelt für Freiheit und Demokratie — im Sinne des 19. Jahrhunderts — zu kämpfen, wie sie es schon in der hussitischen Revolution, ihrem Heldenzeitalter, ruhmreich getan hätten.

Diesen Sendungsglauben baute Thomas Masaryk zu einer ethisch-humanitären nationalen Philosophie aus, indem er ihn auf die Gegenwart bezog, wodurch er im Ersten Weltkrieg den Westalliierten das faszinierende Kriegs-ziel der Demokratisierung Mitteleuropas vor allem durch Befreiung der Völker ÖsterreichUngarns verschaffte. Der Lohn war die Errich21 tung eines tschechischen Nationalstaates, der Tschechoslowakischen Republik (1918), die, obwohl als Staat eines Sprachvolkes legitimiert, in ihrem westlichen Teil — mit Hilfe nationalstaatlicher Umdeutung des alten Territorialstaats — über drei Millionen Deutsche einbezog, was ihr ein unlösbares Nationalitätenproblem auflud.

Ein ebenso schweres, für den Risorgimento-Nationalismus typisches Problem bildete das Verhältnis zu den Slowaken, die, obwohl fast gleicher Sprache, auf Grund völlig anders — in Ungarn — verlebter Geschichte und besonderer Situation eine eigene Schriftsprache entwickelt hatten und zumindest eine Autonomie -— wenn nicht einen Nationalstaat — anstrebten. Das Nationalstaatsdenken veranlaßte die Tschechen zur Fiktion von einer „tschechoslowakischen" Sprache und einem ebensolchen Sprachvolk, die die Slowaken mit einem eigenen Erwachen und Nationalstaatsstreben beantworteten.

Polen Vom westeuropäischen, am Staat orientierten Nationsbegriff aus scheint der polnische Kampf um die Wiedererrichtung des 1795 unter Rußland, Preußen und Österreich aufgeteilten Staates aus dem Rahmen der anderen, als Erwachen von Sprachvölkern auftretenden Risorgimento-Prozesse herauszufallen. Gleichwohl handelt es sich auch hier um ein typisches Risorgimento.

Durch die Teilungen ihrer staatlichen und — vermeintlich — auch nationalen Existenz verlustig, haben die Polen erst auf Grund der — unter dem Eindruck Herders und der Romantik erfolgenden — Besinnung auf die außerstaatlichen Bindekräfte der Nation wie Sprache, Abstammung, Geschichtsbild und Sendungsglaube ihren Bestand als Nation über 130 Jahre der Staatenlosigkeit bewahrt. Diese Besinnung aber vollzog sich in den charakteristischen Formen des Risorgimento: Sprach-erneuerung und Sprachpflege (Samuel Linde), Geschichtsbild (J. U. Niemcewicz, J. Lelewel), klassische Dichtung (Mickiewicz, Slowacki, Krasinski), die die polnische Rolle und Sendung in der Geschichte (altslawische Freiheit, Schutzmauer der Christenheit, Märtyrertum für die Freiheit der übrigen Völker) in visionären Bildern beschwört, die bis in einen mystischen Messianismus wachsen.

Die im staatenlosen Zustand erfolgende Umformung der alten Adelsnation in eine durch alle Schichten integrierte bürgerliche Gesellschaft läßt den neuen Nationalstaat (1918) auf national-demokratischer, von der Konzeption des alten Polen sehr verschiedener Grundlage erstehen. Diese ungeklärte Umdeutung belastet ihn — wie andere Nationalstaaten — mit Nationalitätenproblemen, zumal sich im Osten ein analoges nationales Erwachen der Ukrainer, Weißrussen, Litauer gegen die polnische oder polonisierte Herrenschicht erhoben hat.

Magyaren Bei den Magyaren, dem Kernvolk des von vielen Völkern bewohnten Königreichs Ungarn, beginnt das Erwachen als Widerstand der Oberschicht gegen den aufgeklärten Absolitismus besonders Josefs II. Hier — wie bei den Tschechen — erkennt und fördert der weithin eingedeutschte Adel die nur noch in der bäuerlichen Unterschicht lebendige magyarische Kultur (Graf Stefan Szechenyi). Sprach-pflege, Dichtung (Petöfi), Nationalmuseum und Geschichtsbild bewirken und begleiten das Erwachen einer bürgerlichen Nationalbewegung, die in der Revolution von 1848 um einen liberalen Nationalstaat kämpft (Kossuth). Das — nicht ohne Mitwirkung der ebenfalls erwachenden Nationalitäten Ungarns, die sich gegen ihre Magyarisierung erheben — erfolgende Scheitern der Revolution läßt eine erste Verwirklichung des Nationalstaates erst 1867, nach der österreichischen Niederlage bei Königgrätz, in Gestalt des Ungarischen Ausgleichs zustande kommen.

Dieser „Nationalstaat", das ganze alte Ungarn und Siebenbürgen mit allen darin wohnenden Völkern umfassend und von dem Adel, daneben einem aus verbürgerlichtem magyarischen Kleinadel, aus magyarisierten Deutschen und Juden bestehenden Bürgertum getragen, sieht sich vor der Gefahr der Überfremdung durch die aufsteigenden Nationalitäten und eröffnet dagegen eine radikale Magyarisierungspolitik, die schließlich (1918) durch Abtrennung der Nationalitätengebiete von einem stark verkleinerten Ungarn scheitert.

Balkan Die Besonderheit des nationalen Erwachens in Südosteuropa besteht darin, daß sich die meisten der hier lebenden Völker gegen die jahrhundertealte Herrschaft der Türken zu erheben hatten, während sich ihr Risorgimento zugleich gegen die kulturelle Überlegenheit und Vormundschaft der Griechen richtete. Die Griechen, im Osmanischen Reich zu einer wirtschaftlich führenden Rolle gelangt, erlebten um 1800 vom Westen her (A. Korais in Paris) die Besinnung auf ihre wahre große Vergangenheit in der klassischen Antike und die Erneuerung ihrer Sprache mit Rückgriff auf das perikleische Zeitalter. Daß sie sich nun nicht mehr Romaioi nannten, wie ihre mittelalter-

lich byzantinischen Vorfahren, sondern Helle-

nes, kennzeichnet diesen Wandel ihres Geschichtsbildes. Die ideologische Verbindung mit der Antike aber weckte in ganz Europa Teilnahme und Hilfe für ihren Befreiungs-kampf gegen die Türken (Lord Byron, Griechenlieder, bayerische Dynastie).

Wie wandelbar die Kriterien der nationalen Abgrenzung bei diesem Erwachen sein können, das zeigt — neben dem Ersatz des zunächst erneuerten, fast klassischen Griechisch durch eine volkstümlichere Sprache (die Demotike) — die Wendung vom ursprünglich christlich gemeinten Erwachen der Serben zu einem modernen, philologischen Volksbegriff, dem erst, im Anschluß an die europäische Romantik, die Einsicht in die sprachliche Einheit der Serben und Kroaten gelang, die doch durch Geschichte, Kirche (Ost-West) und Schrift getrennt waren — und es nach Volks-und Geschichtsbewußtsein heute noch und wieder sind. So war der aus dem Erwachen resultierende gemeinsame Nationalstaat voller Nationalitätenprobleme und einander widerstreitender lokaler Risorgimenti (Jugoslawiens Föderativrepubliken).

Damit zeigt der Balkan verschiedene Grade von nationaler Integration, Autonomie und Staatsfähigkeit, ephemere Souveränitäten wie die der Kroaten, Beanspruchung nicht staats-fähiger Volksgruppen (z. B. Mazedonier) durch mehrere konkurrierende Nachbarn. Das wirft einiges Licht auf die eigentümliche Problematik des Risorgimento, das sprachliche Gruppen ohne Rücksicht auf ihre Größe und Staats-fähigkeit erfaßt und mit den gleichen Minderwertigkeitsgefühlen, Kompensationsbedürfnissen, Geschichtsbildern, Sendungsideologien und Souveränitätsträumen erfüllt wie größere Völker. Kleinere Gruppen dieser Art bleiben dann wohl auf dem halben Weg zur Souveränität notgedrungen stehen, andere erreichen bei zufälliger Mächte-Konstellation einen allein nicht lebensfähigen Nationalstaat, der bei politischer Lageänderung gleich wieder zerfällt (z. B. Slowakei und Kroatien), wieder andere sehen sich — wie heute die meisten Nationalstaaten Ostmitteleuropas — zu einem Satellitendasein verdammt.

Die Juden Genau nach dem Modell des Risorgimento ist die Entwicklung der ostmitteleuropäischen Juden von einer über Gettos verstreuten, rassisch-religiösen Gruppe, nach einer Krise der Assimilation an die Wirtsvölker und damit der Entnationalisierung, zu einem Nationalbewußtsein mit Spracherneuerung, Geschichtsbild und Nationalstaatsstreben vor sich gegangen. Der Zionismus ist die jüdische Version des Risorgimento.

Am Anfang steht, wie vor allem bei den kleineren Völkern, die Gefahr des Untergangs durch die Faszination der überlegenen Gast-oder Nachbarkulturen. Erst als das notwendige Scheitern der Assimilation erlebt wird — durch Theodor Herzl anläßlich des Dreyfus-Prozesses —, erfolgt die Selbstbesinnung auf die eigenen Werte der Sprache (Literaturfähigkeit des Jiddischen), der Geschichte (das Altertum und Exil vereinende Geschichtsbild der Graetz und Dubnow), der jüdischen Welt-sendung, und auf den völkischen Charakter des Judentums. Aus dem Streben frommer Juden, den Lebensabend im Heiligen Land zu verbringen, wird jetzt das Nationalstaatsstreben des Zionismus.

Die Gewinnung und Erhaltung des 1948 errungenen Nationalstaates Israel ist auch den Juden nur durch einen hochentwickelten Nationalismus im Stil der übrigen europäischen Völker (Hingabe des Individuums an die gemeinsame Sache, Arbeit an der Scholle, Wehr-bauerntum, militärischer und halbmilitärischer Einsatz, enge Verbindung der alttestamentarischen mit der neuesten Geschichte, Heroengalerie) möglich. Den extremsten Fall aller Spracherneuerungen stellt die Wiedergeburt des Hebräischen dar, das die Eltern von ihren Kindern lernen, denen man es in der Schule beigebracht hat. Ebenso extrem ist die Bewußtheit, mit der Angehörige höchst verschiedener Kulturen (westliche, osteuropäische und orientalische Juden) auf die bloße historisch-ideologische Überlieferung hin zu einer modernen Nation nach dem Volksbegriff des Risorgimento integriert werden. c) Nationales Erwachen in den Entwicklungsländern. Es überrascht nun nicht mehr, daß der Aufstieg der sogenannten Entwicklungsländer und die Emanzipation der Kolonialbevölkerungen fast genau nach dem Modell des Risorgimento vor sich geht. Hier sind sogar, wegen der von Europa verschiedenen Voraussetzungen, für unsere Analyse des Nationalismus wie der unterschiedlichen Volks-und Nationsbegriffe wertvolle Beobachtungen zu machen. So treten hier mehr als in Europa die im gleichen Raum auf verschiedenen Ebenen konkurrierenden Erwachensbewegungen und -ideologien — religiöser, staatlicher, sprachlich-völkischer Natur — vergleichbar nebeneinander. So spielen aber auch, neben der in Europa vorherrschenden Sprache, andere nationbildende Kriterien eine entscheidende Rolle: Religion, Stammes-und Staatstraditionen, neue Grenzziehungen der Kolonialmächte.

Islam Zunächst erwacht die Religionsgemeinschaft des Islam wie ein Volk: der gleiche Anstoß durch die naturwissenschaftlich-technische Überlegenheit der einst unterlegenen christlichen Nationen, mit Minderwertigkeitsgefühl und Kompensationsbedürfnis beantwortet; die gleiche Kompensation durch Rückgriff auf einstige Größe, auf die echtere Religiosität des Islam, der das göttliche Gesetz viel unmittelbarer im Staatsleben verwirklicht als die Sakrales und Profanes trennenden Christen; ähnliche Prophetengestalten wie die Erwecker, Historiker und Dichter der europäischen Völker (Gamal-ad-Din-Afghani, Mohammed Abduh u. a.).

Diese religiös orientierte Nationbildung wird durchkreuzt und paralysiert durch sprachlichvölkisches Erwachen im gleichen Raum. Am europa-ähnlichsten bei den halb-europäischen Türken, die sich aus der eigenen imperialen Vergangenheit und Ideologie des Osmanischen Reiches lösen und auf ein sprachlich-türkisches Risorgimento konzentrieren. Die türkische Spracherneuerung und -reinigung richtet sich gegen das als Sakralsprache übermächtig gewordene Arabisch und sucht dabei Hilfe an der griechisch-lateinischen Sprachüberlieferung. Ziya Gökalp, ein türkischer Mazzini, lernt von der europäischen Soziologie (E. Durkheim, Tönnies) und Kemal Atatürk schafft den türkischen Nationalstaat durch entschlossene Abstoßung der osmanischen Reichs-reste. Jener islamischen Wiedergeburt näher und mit ihr auf weite Strecken identifizierbar ist der Arabismus, für den der Islam mit seiner arabischen Sakralsprache eine wichtige Integrationsideologie darstellt. Vom Islam distanziert er sich durch seinen risorgimento-typischen Geschichtsmythos, der über die Religionsgründung Mohammeds hinaus tief ins Altertum, auf Hammurabi, auf die Assyrier, Babylonier und Altägypter zurückgreift und sie als Araber in Anspruch nimmt: eine unvergleichliche Möglichkeit, den europäischen Vorsprung zu kompensieren; denn damals haben die Europäer in Sümpfen und Höhlen gehaust. Auch hier ist mit der arabischen Liga und mit den Einigungsbestrebungen Nassers die Stufe des Nationalstaatsstrebens erreicht.

Auch diese arabische Wiedergeburt wird freilich durch den Nationalismus der Einzelstaaten durchkreuzt, der seinerseits auf einem Risorgimento von Staatstraditionen und -ideologien beruht; am deutlichsten vielleicht in Ägypten, wo das alt-ägyptische Volkstum, durch die christlichen Kopten mit-repräsentiert, gegen die frühere türkisch-tscherkessische Oberschicht aufgestanden, zu einem mit Islam und Arabismus nur schwer vereinbaren Kriterium nationalen Erwachens geworden ist.

Afrika In Afrika sind durch ahnungslose Grenzziehungen der europäischen Kolonialmächte alte Reiche gespalten, Stämme zerschnitten und anders zusammengefügt, im Gang befindliche Nationbildungsprozesse unterbrochen worden. Dafür haben die kolonialen Verwaltungsbereiche Voraussetzungen für das Entstehen neuer Nationen geschaffen. Einer solchen Nation steht dann als Integrationskraft das Erlebnis der gemeinsamen Kolonialverwaltung und die verhaßte Sprache der Kolonialmacht zur Verfügung. Daraus ergeben sich — mit den Impulsen der europäischen Überlegenheit, europäisch-amerikanischen Schulung und der europäischen Nationsbegriffe — verschiedene, einander oft durchkreuzende Erwachensprozesse mit ihren spezifischen Nationalismen. Ein Beispiel dafür ist Nigeria, das, im 19. Jahrhundert durch England über verschiedene Stämme, Staaten, Kulturen und Religionen hinweg begründet, einen nigerianischen Nationsbegriff und Nationalismus in englischer Sprache entwickelt hat, der aber durch risorgimento-artige, mit Spracherneuerung, Bibelübersetzung, Geschichtsbild und Abstammungsideologie vorgehende Bewegungen der führenden Stämme im Süden (Ibo und Joruba), zugleich aber durch das Wiederaufleben mohammedanischer Reichstraditionen der Fulbe im Norden in Frage gestellt wird. Ob sich die neuen, auf kolonialen Grenzziehungen beruhenden Nationen, die alten Reiche, die oft noch älteren Stämme oder der ganz neue, rassisch begründete Panafrikanismus durchsetzen wird, ist dabei eine offene Frage. Dabei offenbart sich am deutlichsten in Afrika, daß das nationale Erwachen nicht von den alten nationalen Eliten ausgeht, sondern im Gegenteil: von den durch Missionskirche oder Kolonialverwaltung der nationalen Tradition am stärksten entfremdeten Mittelschichten: eine Parallele zur Ablösung des Adels durch das Bürgertum zu Beginn der europäischen Risorgimenti.

Indien und China, Beispiele für asiatische Großreiche Die gleiche Gesetzlichkeit wirkt auch sonst. So besonders eindrucksvoll in Indien, das, von der englischen Kolonialmacht erst überhaupt zu einem Ganzen vereint und dadurch als Nation bewußt geworden, von einer — in England ausgebildeten, dadurch nach eigenem Geständnis (Nehru) den nationalen Traditionen entfremdeten, mit europäischen Nationsbegriffen im Widerspruch zu allen in Indien gegebenen religiösen und sozialen Gruppierungen und Tabus stehenden — Oberschicht zu einer, den europäischen Phasen und Stilen entsprechenden, im Streben nach nationaler Souveränität gipfelnden Bewegung erweckt wird.

Im indischen Erwachen spielt die Sprache als nationales Kriterium — angesichts der zahlreichen Haupt-und hunderten Nebensprachen — bei weitem nicht die entscheidende Rolle wie in Europa — zumindest bis jetzt nicht. Als Ausweg vor der Gefahr der Desintegration in zahlreiche Sprachvölker bleibt lange noch die integrierende Funktion der englischen Sprache. Um so bedeutsamer wirkt die Religion. Sie hat die Abtrennung eines als mohammedanisch aufgefaßten Staates — Pakistan — durch die Moslem-Liga verursacht. Der Indischen Union dagegen bereitet ihre Interpretation als säkularer Staat— an sich die Rettung vor dem Zerfall in mehrere religiös bestimmte Nationen — nicht geringe Schwierigkeiten. Man sieht: als Kriterium der Abgrenzung erwachender Nationen gegen ihre Umwelt ist sowohl die Sprache als auch die Religion verwendbar.

Eine weitere Lehre vermittelt das Bewußtwerden der chinesischen Großnation. Hier hat — nach weit zurückreichenden, vom Druck europäischer Kolonialmethoden ausgelösten Bemühungen um Wiederherstellung des Selbstbewußtseins und nationaler Einigung wie Souveränität europäischer Art — schließlich der Kommunismus in Gestalt der Lehre Mao Tsetungs die Rolle einer nationalen Ideologie übernommen. Deshalb macht der chinesische Kommunismus in aller Welt, selbst in der Sowjetunion, einen so nationalistischen Eindruck. Dazu mußte er aber die in China durch Jahrtausende beherrschende Bindekraft der Großfamilie zerschlagen. Das zeigt — mit der Ablösung von Territorialstaaten durch Sprach-völker im europäischen Risorgimento verglidien —, daß das nationale Erwachen im Grunde nur die Ablösung älterer, anders motivierter und darum auch andere Personenkreise erfassender Bindungen durch eine neue, im Bewußtsein der Zeitgenossen ein Monopol erringende Bindung — statt der religiösen oder familialen nun eben die nationale Bindung — bedeutet. d) Nationalismus und Kommunismus in Ruß-land und in der Sowjetunion In den europäischen, heute schon weltweiten Prozeß des nationalen Erwachens gliedert sich Rußland mit seiner aus zahlreichen Völkern und Volksgruppen bestehenden Bevölkerung nahtlos und zeitgerecht ein. Die Sowjetunion wirkt hier als ein auf einer nationalen Sendungsideologie — dem Marxismus-Leninismus — aufgebauter Nationalstaat, dessen übervölkischer Nationsbegriff und Nationalismus sich wiederum mit den sprachlich oder religiös orientierten Risorgimento-Nationalismen seiner Völker und Volksgruppen auseinanderzusetzen hat.

Das alte russische Nationalbewußtsein war religiös begründet: man legitimierte sich als Rechtgläubiger, nicht als Russe. Um 1800 erwacht eine zunächst dünne russische Intellektuellenschicht gegen deutsche Führungsgruppen und französische Sprachmode, aber doch auch aus Impulsen der französischen Aufklärung und deutschen Romantik. 1836 fragt Tschaadajew nach der Sendung, die Rußland im Gegensatz zum Westen nicht erfüllt habe. Endlose Diskussionen zwischen Slawophilen und Westlern über dieses Thema. Gegen Ende des Jahrhunderts scheint einem kleinen Kreis endlich der Marxismus die Erfüllung nationaler Sendungsideen zu bieten: Rußland wird durch eine Revolution das Proletariat der ganzen Welt befreien und damit das verheißene kommunistische Endzeitalter herbeiführen. Nach der — bei allem russischen Patriotismus — international denkenden Revolutionsperiode folgt unter Stalin die Erneuerung und Radikalisierung eines Risorgimento-Nationalismus mit allen seinen Motiven: Geschichtsbild und Heroengalerie, Führungsrolle der Sowjetunion, Inanspruchnahme der bedeutendsten Erfinder-und Entdeckerleistungen für Russen, schließlich — nach einer Periode übervölkischer Nationalitätenpolitik — die Rückkehr zu einem großrussischen Sprachnationalismus. Der Marxismus-Leninismus hat auch nach Stalin die Rolle einer für das Risorgimento typischen nationalen Sendungsideologie behalten. Das Anfangsmotiv des Risorgimento — „Einholen und Überholen“ der zeitweilig vorausgeeilten Nationen — ist für Chruschtschow, für Lenin und Stalin ebenso bestimmend wie schon für die Westler des 19. Jahrhunderts.

Da aber die übernational konzipierte Integrationsideologie der Sowjetunion nicht an der Sprache orientiert ist, kann die Sowjetunion zunächst eine großzügige, ihre nichtrussischen Völker in Sprache und Volktum fördernde Nationalitätenpolitik betreiben: ein Staat, der sich — zum Unterschied von den europäischen, aus dem Risorgimento entstandenden Nationalstaaten — nicht als Sprachgemeinschaft rechtfertigt, ist auf die sprachliche Einheit seiner Bürger nicht angewiesen. Erst das Erwachen seiner zahlreichen Nationalitäten im Stil des Risorgimento mit seinen dem Marxismus nicht konformen nationalen Geschichtsideologien veranlaßte das Stalin-Regime zu einer rigorosen Unterdrückung dieser Bewegungen, die dann allerdings humanitäre Hemmungen nach Art des Westens nicht kannte. Immerhin verstand es die Sowjetunion bei ihrer Machtausdehnung über Ostmitteleuropa, die dortigen Geschichtsbilder und Nationalideologien aufzunehmen und zu verwenden, indem sie ihre Sozialrevolutionären und gegen den westlichen Nachbarn gerichteten Tendenzen unterstrich und in das marxistische Geschichtsschema einbaute (z. B.den Hussitismus bei den Tschechen). e) Nationbildung und Nationalismus in den Vereinigten Staaten Zunächst scheint es, als kämen die Motive und Phasen des europäischen Risorgimento und ein dem entsprechender Nationalismus für die Nation der Vereinigten Staaten überhaupt nicht in Betracht. Erstens können die Amerikaner nicht an vergangene Größe anknüpfen, wie die nationalen Geschichtsideologien Europas. Zweitens haben für sie gerade die Merkmale, auf die das nationale Erwachen in Europa den größten Wert legte — Sprache, Abstammung, Geschichtsbild, Kulturtradition —, als nationbildende Kriterien keinen Sinn: sie würden die Nation in lauter einander bekämpfende Volksgruppen aufspalten. Deshalb können die Amerikaner dem europäischen Risorgimento-Nationalismus auch nur mit Kopfschütteln und Überlegenheitsbewußtsein gegenübertreten.

Trotzdem zeigt die Entstehung der U. S. -Amerikanischen Nation die für das Risorgimento charakteristische Struktur. Da dabei die in Europa üblichen Kriterien für die Integration und Abgrenzung der Nation nicht in Betracht kamen, übernahm diese Funktion gerade jenes Kriterium, das in Europa als besonders nationalistisch gilt: die Sendungsideologie. Danach ist es die Mission der Vereinigten Staaten, die im absolutistischen, ständisch gegliederten oder totalitären, religiös wie national intoleranten Europa Unterdrückten und Verfolgten in ihrer Sehnsucht nach Freiheit aufzunehmen und mit ihnen der Welt vorzuleben, was wahre Freiheit und Demokratie ist. Kraft dieses Vorzuges, den die Freiheitsstatue im New Yorker Hafen so eindrucksvoll verkündet, hätte die so entstandene Nation die Pflicht, Freiheit und Demokratie in der Welt zu verbreiten und zu verteidigen.

Allein wie schon Jefferson die absolute nationale Vorurteilsfreiheit naiv mit dem Anspruch auf die Beherrschung zumindest ganz Amerikas zu vereinen verstand, so macht auch diese Sendungsideologie die übrigen Motive des Risorgimento nicht gegenstandslos: Zunächst wurden englische Tradition und Kultur mit einigem Recht als eigenes Erbe in Anspruch genommen. Trotzdem blieb ein Minderwertigkeitsgefühl dem kulturstolzen Europa gegenüber, das zu überspielen das ganze 19. Jahrhundert bemüht war. Dabei versuchte man oft, wie die Europäer spotteten, Qualität durch Quantität zu ersetzen. In George Bancroft hat die junge Nation schließlich ihren Historiker gefunden, der Amerika als das wahre Rom pries, wie der russische Mönch Filofej in Moskau das dritte Rom gesehen hatte, das die Rolle des untreu gewordenen ersten und zweiten Roms übernehmen würde. Auch Mazzini hatte ja von einem dritten Rom gesprochen.

Für die Entstehung der Vereinigten Staaten und ihrer Nation war anderseits die geringe Rolle, die die im europäischen Risorgimento entscheidenden Merkmale spielten, ein wichtiger Vorteil. Sie nämlich ermöglichte es, die verschiedenen Sprachen, Volkstümer, Überlieferungen und Bräuche, die in Amerika zusammenströmten, ohne wesentliche Nationalitäten-probleme zur neuen Nation zu integrieren. Der berühmte Schmelztiegel der Nationen ist eine bewundernswerte Leistung; er verrät die Schmelzhitze, die ohne alle sonst der Nation zugeschriebenen Gemeinsamkeiten die bloße Sendungsideologie erzeugen kann.

Daß der Durchschnittsamerikaner trotz dieser Ideologie von nationalen, ja rassischen Vorurteilen nicht frei ist, die sogar unter bestimmten Druckverhältnissen eine ungeahnte Virulenz gewinnen können, das offenbaren die ungeheuren Schwierigkeiten des Negerproblems. Darin reagieren die Amerikaner nicht anders als andere Menschengruppen in ähnlicher Situation. Die amerikanischen Neger wiederum demonstrieren mit ihrem Verhalten — darin den Juden bei ihrer Wendung von der freiwilligen Assimilation zum Zionismus vergleichbar — den kritischen Anfangspunkt jedes nationalen Erwachens: Nach jahrzehntelangem Bemühen, sich den weißen Amerikanern an Lebensweise, Standard, Rechten und selbst im Aussehen anzugleichen — einem Bemühen, das von Minderwertigkeitsgefühlen diktiert ist und Diskriminierung als das zu bekämpfende Unrecht empfindet —, tritt an einem bestimmten Punkt — nach dem Ersten Weltkrieg in der Bewegung des Marcus Garvey, jetzt bei den Schwarzen Moslems — der Umschlag in den Willen zur Selbstbehauptung als Gruppe, zum Stolz auf die eigene Art, zum „Risorgimento" ein, dem nun nicht mehr die Diskriminierung, sondern — umge-kehrt — die Assimilation als das zu bekämpfende Unrecht erscheint. In eben diesem Umschlag aber besteht der Beginn des nationalen — rassischen, religiösen usw. — Erwachens. 6. Der integrale Nationalismus Das Erwachen der Völker, die eben überblickte Selbstkonstituierung, Integration und Abgrenzung der modernen Nationen, in die uns heute die menschliche Gesellschaft gegliedert erscheint, war — wie gezeigt — von einer charakteristischen Erscheinungsform des Nationalismus stimuliert und begleitet, die wir — nach dem klassischen italienischen Modell dieses Erwachens — den Risorgimento-Nationalismus genannt haben. Etwas von diesem Risorgimento-Nationalismus hat seither jede der durch diesen Prozeß ihrer Eigenart und Abgrenzung bewußt gewordenen, durch alle Schichten integrierten, bestimmte Leistungen und Vorzüge unter den übrigen Nationen für sich in Anspruch nehmenden, auf staatliche Souveränität, zumindest Autonomie bedachten Nationen oder nationalen Gruppen. Dieser Nationalismus mag zur Zeit des Erwachens besonders leidenschaftlich und eifersüchtig, bei Scheitern des Nationalstaatsstrebens oder bei Druck von außen besonders aggressiv sein, ja er mag, wo sich Staats-und Sprachgrenzen nicht decken, zu Nationalitätenkonflikten mit bürgerkriegsähnlichen Erscheinungen führen: er läßt sich nicht schlechterdings als Rückständigkeit und Verirrung verurteilen. Denn neben seinen unstreitigen, großen Schwächen und Gefahren — Vorurteile für die eigene und gegen die andere Nation, kollektive Eitelkeit und Verachtung, nationaler Egoismus, Diskriminierung — stehen doch auch Vorzüge und Notwendigkeiten: Er bindet die Gesellschaft zu großen, arbeitsteiligen und aktionsfähigen Gruppen, er gibt dem Einzelnen die nötigen Impulse zu Hingabe, Leistung und Opfer für eine überindividuelle Ordnung und zum politischen Engagement, das für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich ist. Man kann wegen dieser doppelten — positiven und negativen — Rolle des Nationalismus von seiner Ambivalenz sprechen.

Gleichwohl hat es unser Zeitalter selbst erlebt, daß der Nationalismus exzessive, zerstörende Formen angenommen hat und annimmt, daß er zu Massenverbrechen, -Verfolgungen und -morden führen konnte, die das Bewußtsein und Gewissen der Menschheit mit Entsetzen und Abscheu erfüllen, so daß es nach Mitteln sucht, solche Erscheinungen, aber auch ihre Voraussetzungen, für alle Zeiten zu verhindern. Wer die Geschichte nach empirischem Material über den Nationalismus, über nationale Gebilde und Beziehungen durch-forscht, wird deshalb nach den Bedingungen und Erscheinungsformen suchen müssen, unter denen der Nationalismus — die Bindung des Einzelnen an Volk, Nation, Vaterland usw. — zu solchen Exzessen führt. Er wird die Grenze zu bestimmen versuchen, an der die normale Form der Bindung an die Nation in das ethisch Verwerfliche umschlägt. Es liegt nahe, gerade die neuere Geschichte auf Beispiele dafür zu untersuchen, obwohl es auch in früheren Epochen besonders exzessive Formen des Nationalismus oder Rassismus, kollektive Verfolgungen und Verbrechen gegeben hat.

In der Tat bietet die neuere Geschichte neben dem Nationalsozialismus und Faschismus Beispiele solcher Art. Man faßt sie unter dem Begriff des „integralen Nationalismus“ zusammen.

Das Wort stammt aus dem durch die Niederlage von 1871 in eine tiefe seelische Krise gestürzten Frankreich und ist von Charles Maurras, dem Begründer der nationalistischen Action Franaise, geprägt. Die Ideologie des Nationalisme integral hat vor allem Maurice Barres entwickelt. Dem durch die militärische und politische Niederlage schwer erschütterten nationalen Bewußtsein erscheint die gefährdete Nation als der höchste, des äußersten Einsatzes würdige Wert. Sie tritt an die Spitze der Wertetafel, jedem anderen Wert, auch der überlieferten sittlichen Ordnung, überlegen. Auf diese Weise absolutgesetzt scheint die Nation alles an Heroismus und Opfer, aber auch an Fanatismus und Verbrechen zu rechtfertigen. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, das war die nationalsozialistische Formel für den gleichen Sachverhalt.

Daß es sich dabei nicht um einen besonders nationalistischen oder kriegerischen Volkscharakter handelt, sondern um die natürliche Reaktion einer Gruppe auf ein bestimmtes Erlebnis, auf einen Zusammenbruch, eine Krise des Selbstbewußtseins, auf die Gefahr der Desintegration, das zeigt die überraschend gleiche Art, mit der zwei so verschiedene Nationen — die Franzosen nach 1871, die Deutschen nach 1918 — auf ihre Niederlage reagiert haben. a) Die Franzosen nach 1871, die Deutschen nach 1918

Der eigenen Nation die Schuld am Versagen zuzuschreiben, verbot sich für die Patrioten beider Völker aus dem einfachen Grunde, weil man wohl sich selbst ein Versagen zuschreiben kann, nicht aber der überindividuellen Ordnung, aus der man sein Selbstbewußtsein schöpft. Es müssen also Verräter gewesen sein, die den an sich verdienten Sieg vereitelt haben: so entsteht die Dolchstoßlegende. Die Schuld muß bei fremden Elementen liegen, die die echte Art der Nation verfälscht haben: das ist die Ursache für den Antisemitismus, der bei den Franzosen nach 1871, bei den Deutschen nach 1918 ins Kraut schoß. Die schon vorher entwickelte Rassentheorie von Gobineau wurde jetzt ungeheuer populär, die Dreyfus-Affäre wurde Symptom und Peitsche des Antisemitismus; die verheerende Virulenz des Antisemitismus in Deutschland entspringt der Nachkriegspsychose nach 1918.

Beide Nationen betrachten ihre neuere Entwicklung als Irrweg und suchen Kräfte der Erneuerung in der Vergangenheit: die Franzosen im vorrevolutionären, mittelalterlichen, königlichen Frankreich, die Deutschen im vor-christlichen Heidentum, in der noch unverfälschten, germanischen Echtheit. Das ist eine Wurzel der Faszination des „Nordischen" auch auf durchaus nicht nordische Menschen. Aber der Rückgriff auf die Geschichte genügt offenbar nicht für die Erneuerung der Nation. Dazu bedarf es irrationaler, magischer Kräfte. Maurice Barres beschwört sie für die Franzosen mit seiner Formel „la terre et les morts“ (die Erde und die Toten), die genau dem deutschen „Blut und Boden" entspricht.

Selbst die Herausstellung eines charismatischen Führers, der die Nation aus ihrem Elend befreien würde, taucht als Motiv bei beiden Nationen auf. Die Schwäche des Generals Boulanger, der bei den Franzosen diese Rolle zu übernehmen schien, hat damals die französische Demokratie gerettet. Zum Unglück der deutschen war Hitler nicht so schwach.

Auch der Aufschwung des Faschismus im Italien der zwanziger Jahre ist nicht zuletzt aus der Enttäuschung über den zwar an der Seite der Alliierten gewonnenen, durch die Vorenthaltung seiner Früchte aber verlorenen Krieg von 1915— 18 zu erklären.

Da die deutsche Reaktion auf die Niederlage von 1918 zum Nationalsozialismus führte, ist sie im folgenden einer näheren Betrachtung zu unterziehen. b) Der Nationalsozialismus Nach dem vom Nationalsozialismus herbeigeführten Zusammenbruch Deutschlands im Zweiten Weltkrieg sind die Deutschen, aber auch andere schwer betroffene Völker geneigt, alles, was an Gedanken und Vokabeln nur von Ferne daran erinnert, als nationalsozialistisch zu bezeichnen und mit einem Tabu zu umgeben. Das ist eine zwar verständliche, aber der wirklichen Überwindung des Nationalsozialismus nicht förderliche Reaktion. Denn einmal kann der Mensch nur etwas überwinden, dessen Wurzeln — und Möglichkeiten auch in der eigenen Seele — ihm verständlich sind; zum zweiten gestattet erst ein differenziertes Bild die Isolierung des wirklich Verwerflichen, während ihm eine summarische Verdammung auch Gutes und Notwendiges in die Arme treibt.

Die Reaktion auf den Zusammenbruch von 1918 war vielfältig. Teile der das Wilhelminische Reich mittragenden Gruppen und Schichten konnten, zumal gegen die angesichts der bolschewistischen Revolution auftretenden Versuche, auch in Deutschland eine Räterepublik durchzusetzen, kein anderes Leitbild finden als eine der früheren ähnliche Ordnung. Aber auch für viele andere brachte die Weimarer Republik, mit viel gutem Willen errichtet und mit einer modernen Verfassung ausgestattet, angesichts ihrer Entstehung als Frucht der Niederlage, vor allem aber wegen ihrer von den Siegern mitverschuldeten Erfolglosigkeit und wirtschaftlichen Misere, nicht die Integrationskräfte auf, die ein solcher Staat braucht, damit sich seine Bürger mit ihm identifizieren. So schwebte ihnen hinter der unerfreulichen Wirklichkeit ein anderes Deutschland vor, das erst geschaffen werden mußte, um den Deutschen einen adäquaten Ausdruck ihrer Eigenart und ihrer Aufgabe unter den Völkern zu geben.

Nur für wenige war das eine Restauration des Wilhelminischen Staates. Näher lag die Anknüpfung an eine Vergangenheit, wie sie das für die Deutschen ja unvollendet gebliebene Risorgimento in faszinierende Erinnerung gebracht hatte. Es ist bemerkenswert, daß das „Reich", das dabei als Leitbild auftrat — von jedem nach seiner Weltanschauung zurechtgedeutet —, in seiner mittelalterlichen Konzeption gesehen wurde: nicht als Nationalstaat, sondern gerade als eine vielen Völkern und Gruppen Raum gebende, übernationale Ordnung im Gegensatz zu dem als uniform und mechanisch empfundenen Nationalstaat französischen Typs. Der schwärmerische, heute schwer erträgliche Stil, in dem es damals gefeiert wurde, die vom Nationalsozialismus nachträglich usurpierte Vision vom „Dritten Reich", läßt es heute übersehen, daß Ideologie und Nationsbegriff, die dieser Reichsvorstellung zugrunde lagen, von denen des Nationalsozialismus sehr verschieden waren.

Auch für die entschiedene Linke reichte die Integrationskraft der Weimarer Republik nicht aus. Selbst wo sie der Faszination des großen Experiments im Osten nicht erlag, hatte für sie der Staat Friedrich Eberts und Hindenburgs noch viel zu viel Obrigkeitscharakter. Gleichzeitig erstrebte der sogenannte Nationalbolschewismus eine Erneuerung der Nation durch den Kommunismus.

Mit der Bezeichnung „antidemokratisch" ist die vielfältige, die Weimarer Republik im Endeffekt untergrabende Erregung der zwanziger Jahre jedenfalls viel zu oberflächlich charakterisiert. Es ging vielmehr — sucht man nach ihrem gemeinsamen Nenner — im Grunde um etwas anderes: die durch Zusammenbruch und widerstreitende Einflüsse aus Ost und West von Desintegration bedrohte Gesellschaft unter irgendeiner Leitvorstellung oder Ideologie zu reintegrieren.

Der Nationalsozialismus war bekanntlich — zum Unterschied vom Kommunismus — kein durchdachtes philosophisches System. Seine Wirkung auf die verschiedensten, mit ihm weltanschaulich oft gar nicht übereinstimmenden, von ihm nachher sogar verfolgten und vernichteten Gruppen beruht vielmehr gerade darauf, daß Hitler von überall her mit nachtwandlerischer Sicherheit jene Ideen und Bilder aufzugreifen und in sein Programm einzubauen verstand, die dem Bedürfnis der durch Niederlage, Nachkriegskämpfe und Inflation an den Rand der Existenz gestürzten deutschen Gesellschaft nach Wiederherstellung des Selbstbewußtseins, nach Erneuerung der Nation und nach Erlösung aus materiellem und moralischem Elend entsprachen. Gerade die Widersprüchlichkeit, ja Unvereinbarkeit dieser Motive läßt diesen ihren einzigen gemeinsamen Nenner um so deutlicher hervortreten. So erwarteten das Bürgertum und die Wirtschaftsführung — nicht zuletzt auch die Völker besonders des südöstlichen Europas — Schutz vor der Sowjetunion, die preußisch und wilhelminisch Gesinnten Wiederherstellung der preußischen Zucht, die Militärs den Wiederaufbau der Wehrmacht, die Arbeiter Beseitigung der Arbeitslosigkeit und einen nationalen Sozialismus, die deutschen Volksgruppen in den neuen Nationalstaaten endliche Anerkennung ihres Selbstbestimmungsrechtes und eine wirkliche Lösung des Nationalitäten-problems. Achtung vor jedem Volkstum und Verzicht auf Entnationalisierung, von Hitler wiederholt verkündet, hatten diese trügerische Hoffnung erweckt.

Die Rassenlehre — wir haben ihre Rolle im Vergleich mit Frankreich nach 1871 beobachtet — bot auch Nicht-Antisemiten die Möglichkeit, sich eine Überlegenheit, zumindest Ebenbürtigkeit über andere Nationen einzubilden, denen man eben unterlegen war. Für die Führung aber war sie das Mittel, aus der vorgefundenen Gesellschaft die wahrscheinlichen Anhänger als rassisch hochwertig herauszuheben, die Gegner aber als rassisch minderwertig zu diskriminieren. Die gleiche gesellschaftgliederndeFunktion wird in anderen ideologischen Systemen einem anderen Motiv zugewiesen: im Kommunismus der Klassenzugehörigkeit, im Staat der Reformationskämpfe der Konfession, im Nationalitätenstaat der Sprache.

Die nationalsozialistische Rassenpolitik beruht so auf der für jede Revolution typischen, hier monoman gewordenen Einteilung der Welt in zwei Prinzipien: das absolut Gute im „nordischen Rassekern" des deutschen Volkes, das absolut Böse auf eine letzte Ursache zurückgeführt, auf „den Juden", der an allem Schuld ist: am Bolschewismus, an der Zersetzung des deutschen Volkes, der hinter den deutschland-feindlichen Mächten steht und nach der Weltherrschaft strebt. Dieser unheimlichen Macht gegenüber befindet sich das deutsche Volk in Verteidigung, in höchster Gefahr, aus der es nur durch rücksichtslosen Einsatz aller Kräfte unter einer von der Vorsehung gesandten Führung in letzter Stunde gerettet werden kann. Es ist diese Psychose der Verteidigung eines — wirklich oder vermeintlich — von Zersetzung und Untergang bedrohten hohen Wertes, die viel Idealismus und Hingabebereitschaft, gerade einer gläubigen Jugend, in Anspruch genommen hat. Die Vernichtung eines wehrlosen Gegners, die dann in den Judenmorden wirklich daraus wurde, ist kein so faszinierendes Ziel, daß es solche Kräfte hätte in Bewegung setzen können, wohl aber die Verteidigung eines absolutgesetzten Wertes gegen eine übermächtige Gefahr.

So erscheint der Nationalsozialismus, von unserer Fragestellung nach den nationalen Kategorien und Begriffen aus gesehen, als eine theoretisch unklare Zusammenfassung der heterogensten Reaktionen auf die Niederlage von 1918, auf die Frustration des nie ganz erreichten Nationalstaates wie auf die Psychose der drohenden Desintegration; alle diese Reaktionen aber monoman zu Ende gedacht und in den Dienst des einen absolutgesetzten Wertes gestellt, nämlich der zu rettenden Nation; alle Kräfte der Gruppenselbsterhaltung durch das Gefühl höchster Gefahr ins Explosive gesteigert und durch die Vorspiegelung eines für alles verantwortlichen Gegners auf ein Ziel konzentriert. Daß so jenem einen absolutgesetzten Wert das Leben und Schicksal des Menschen, ja ganzer Völker untergeordnet und geopfert wurde, bis zur Preisgabe der sittlichen Weltordnung und bis zum Völkermord, das hat diesen Wert — die Nation — im Ergebnis ebenso radikal in Frage gestellt, wie er absolutgesetzt worden war. c) Die nach-nationalsozialistische Krise Der Nationalsozialismus bedeutet aber auch, zumindest für unseren Kulturkreis, einen Gipfel und damit einen Wendepunkt des Nationalismus. Einmal schon insofern, als er im Begriff war, mit seiner Rassentheorie den bürgerlichen Volksbegriff des Risorgimento zu zerstören, auch wenn weite Kreise selbst der Nationalsozialisten den Unterschied zwischen dem Rassenbegriff des Nationalsozialismus und dem Volksbegriff des Risorgimento nicht verstanden. Allein schon nach Gobineau war den europäischen Nationen eine höherwertige nordrassische Gruppe gemein, die im Kampf mit der minderwertigen und zahlenmäßig wieder aufsteigenden Urbevölkerung lag. So identifizierte sich der Nationalsozialismus nicht mit der Gesamtheit der deutschen Staatsbürger oder gar der Deutschsprechenden, sondern mit eben jenem nordischen Rassekern, der auch in anderen Nationen vertreten war. Nicht mehr die Sprache, sondern die Rasse war damit das unterscheidende Merkmal oder Kriterium der so entstehenden neuen „Nation". In Rauschnings Gesprächen ist eine Äußerung Hitlers überliefert, nach der ihm der überkommene Begriff der Nation als sinnentleert erschien. Das maßgebliche Einteilungsprinzip der Menschheit sah er statt dessen in der Rasse.

In der Tat schob sich — während des Zweiten Weltkriegs immer deutlicher erkennbar — über die rassisch doch sehr verschiedenartigen Deutschen eine nach rassischen Merkmalen hervorgehobene Schicht in Gestalt der SS, die zusehends rassisch verwandte Elemente aus anderen europäischen Völkern an sich zog. Es gab eine litauische, wallonische, norwegische und sogar eine ukrainische SS, die gegebenenfalls den enttäuschten und erbitterten Deutschen in fremder Sprache gegenübertrat. Am Ende dieser Entwicklung hätte ein anderes Europa gestanden als das nach Sprachnationen gegliederte, wie es sich das Risorgimento vorgestellt hatte: Eine in verschiedenen Sprachen sprechende „nordische" Oberschicht hätte über eine ebenfalls aus verschiedenen Sprachnationen bestehende Unterschicht geherrscht. Der Struktur nach wäre dieses Europa von der Sowjetunion nicht sehr verschieden gewesen; denn auch dort steht eine — nun freilich nach einem andern Prinzip herausgehobene — Führungsschicht einer mehrsprachigen Grundbevölkerung gegenüber.

In einer zweiten Hinsicht bedeutet der Nationalsozialismus einen Wendepunkt in der Geschichte des Nationalismus. Durch seinen Zusammenbruch und dessen vernichtende Folgen hat er zumindest für die Deutschen eine Krise ihres Verhältnisses zur Nation überhaupt heraufbeschworen. Nach vielen Parallelen in der Weltgeschichte wäre zu erwarten gewesen, daß der im Vergleich zu 1918 noch viel radikalere Zusammenbruch mit seiner schockartigen Wirkung auf das nationale Selbstbewußtsein, seiner totalen ideologischen Desorientierung und Frustration bei den Deutschen ein leidenschaftliches Bedürfnis nach Kompensation der Minderwertigkeitsgefühle und also einen verzweifelten Ausbruch des Nationalismus bewirkt hätte. Die ganze Welt hat das erwartet und erwartet es immer noch, zum Teil auch die Deutschen selbst.

Die Wirklichkeit ist hinter diesen Erwartungen bisher weit zurückgeblieben. Soviel man auch nach rechtsextremen oder neofaschistischen Gruppen forscht — die es natürlich gibt —, im Vergleich mit Italien oder gar Japan erscheinen sie selbst mißtrauischen Untersuchungen als verhältnismäßig bedeutungslos. In den großen Parlamenten sind sie kaum vertreten; auch wenn in bestimmten Milieus nationalistische Parolen und Ressentiments auftauchen, sogar zu Gruppenbildungen und einzelnen Wahlerfolgen führen: die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen hat sich für die Demokratie und gegen den Radikalismus entschieden. Von der schnellen Reaktion auf 1918 unterscheidet den heutigen nationalistischen Ansatz der Mangel an einer zukunft-weisenden Ideologie.

Die auf die Wiederherstellung des Individuums, seiner Freiheit und Selbstbestimmung, seiner Urteilsfähigkeit und seines gesunden Verhältnisses zur außerdeutschen Welt gerichtete politische Pädagogik — sowohl in Schulen und Erwachsenenbildung als auch durch die Massenkommunikationsmittel — hat insofern Erfolg gehabt, als schon heute führende Politiker aller Parteien besorgt feststellen, es fehle besonders in der Jugend an dem zum Funktionieren der demokratischen Gesellschaft notwendigen politischen Engagement, das nur aus der Hingabe an eine über-individuelle Ordnung kommen könne, mag man diese nun Vaterland oder Nation oder wie immer nennen. Daß indes die Bereitschaft zu einem solchen Engagement — weil jugend-gemäß — durchaus vorhanden ist, zeigt die verbreitete Neigung zu zielunklaren — und darum freilich leicht mißbrauchten — Protesten, aber auch die Zustimmung zur Vision einer künftigen rationalen Gesellschaft ohne nationale Grenzen.

Trotz allem fallen die Deutschen auch heute nicht aus dem Rahmen der in der übrigen Welt beobachteten Verhaltensmuster: Eine Kompensation der Krise ihres Selbstbewußtseins, in die sie der Zusammenbruch gestürzt hat, ist offenbar in der verzweifelten Energie zu erkennen, mit der sie das sogenannte Wirtschaftswunder entwickelten. Man mag es hinsichtlich seiner geistigen und moralischen Nebeneffekte skeptisch beurteilen wie immer; es ist doch auch als seelische Hilfe gegen Desintegration und Nihilismus zu werten. Weitere Kompensationsenergien kamen aus der Vorstellung, man bilde —-wie früher die Polen — ein antemurale des Westens gegen den Kommunismus. Schließlich hat sehr bald nach 1945 eine Übertragung des Gruppenselbstbewußtseins von der Staats-und Sprachnation auf das erst zu schaffende Europa stattgefunden und vor allem die Jugend fasziniert. Hier wurde die als Basis des kollektiven Selbstbewußtseins ausgefallene Großgruppe durch eine andere, großräumigere ersetzt.

Alle diese Beobachtungen am Verhalten der eigenen Gruppe in einer so extremen Situation, wie sie für die Deutschen nach 1945 eingetreten ist, zeigen das Fortbestehen der in der Geschichte festgestellten psychologischen und soziologischen Gesetzlichkeiten des Verhaltens großer nationaler oder nationähnlicher Gruppen. Damit ist aber auch die Notwendigkeit angedeutet, solches Gruppenverhalten politisch und pädagogisch pfleglich zu behandeln: nicht nur durch Belehrungen, Propaganda und die von allen Regimen empfohlene „Wachsamkeit“, sondern auch durch die Vermeidung allzu schwerer Frustrationen, die in der Tat eine nationalistische Reaktion hervorrufen können. 7. Neueinteilung der Welt in Großnationen?

Der Historiker soll nicht prophezeien. Er kann und muß nur Tendenzen feststellen, die sich in der Gegenwart abzeichnen. In Hinsicht auf unsere Fragestellung aber, auf die Integration und Desintegration von Großgruppen mittels einer Integrationskraft, die wir den Nationalismus genannt haben, hat der Ausgang des Zweiten Weltkrieges eine solche Entwicklungstendenz deutlich hervortreten Folgende Symptome sind dafür aufschlußreich:

Bei den Völkern Mittel-und Osteuropas, die das nationale Erwachen — von uns als Risorgimento beschrieben —-zuletzt erlebt und größtenteils mit der Errichtung eines Nationalstaates vollendet haben, ist ein Abflauen des für diese Periode typischen Risorgimento-Nationalismus zu beobachten. Wie das Risorgimento in den letzten Jahrhunderten von West nach Ost durch Europa ging und dabei von jenem Nationalismus begleitet war, so vollzieht sich jetzt, wiederum von West nach Ost fortschreitend, die Wiederherstellung ihres normalen Einbaues in die übernationalen Zusammenhänge und damit die Lösung vom nationalistischen Weltbild und Pathos des Risorgimento. Die Westeuropäer sind darüber — bis auf Krisenherde des Nationalitätenproblems — längst hinaus, die Deutschen befreien sich — wenn auch durch nationale Katastrophen in diesem Prozeß gehemmt — offensichtlich davon, und auch die ostmitteleuropäischen Nationen lassen deutliche Anzeichen dieser Normalisierung und Horizontöffnung erkennen.

Man kann zwischen Deutschen und Tschechen, Deutschen und Polen wieder über gemeinsame Probleme der Wirtschaft, der Bevölkerungsstrukturen, der Kultur sprechen, man streitet kaum noch über die Nationalität vorgeschichtlicher Kulturen und historischer Gestalten, das nationale Prestigebedürfnis hat an Reizbarkeit verloren und die jüngere Generation aller hier beteiligten Völker lächelt über die nationale Emphase und Sentimentalität ihrer Großväter. Die nüchternen Tschechen sind in diesem Prozeß am weitesten gediehen, aber auch die jüngeren Polen halten die nationalistischen Thesen der älteren Generation nicht mehr aufrecht. Nur noch die in ihrem Nationalstaatsstreben frustrierten Völker (wie die Slowaken) oder die sich bedroht fühlenden (wie die Rumänen in der slawischen Umwelt) lassen Anzeichen eines spezifischen Risorgimento-Nationalismus erkennen. Die einzigen Instanzen, die sich in ganz Ostmitteleuropa einen solchen Nationalismus noch aufrechtzuerhalten bemühen, sind die kommunistischen Parteien und Regierungen. Sie haben ihn nach 1945 zur Vertreibung der Deutschen und zur psychologischen Einführung des Marxismus-Leninismus benützt und verwenden ihn heute zur Integration und Abschirmung ihrer Bevölkerungen gegen den deutschen Westen, während diese Bevölkerungen im Grunde darüber hinausgewachsen sind. Eine zweite Entwicklungstendenz ist ebenfalls daran, den Nationalismus der bürgerlichen Epoche im Bewußtsein der Völker zu verdrängen: Fast gleichzeitig sind an mehreren Stellen der Welt Eiserne Vorhänge niedergegangen, die bestehende, zum Teil alte und einheitsbewußte Nationen gespalten haben und den Betroffenen einschneidender fühlbar sind als die früheren Nationalstaatsgrenzen: in Deutschland, in Korea und in Vietnam. Diese neuen Trennungslinien aber sind weder durch Sprachunterschiede noch durch Geschichtsbewußtsein oder Staatstradition motiviert — wie sie die bisherigen Nationen voneinander abgegrenzt haben —, sondern durch Ideologien: hie Kommunismus, hie westliche Demokratie. Hinter diesen Eisernen Vorhängen aber sehen sich die Bevölkerungen verschiedener Sprache und Volkszugehörigkeit durch je eine dieser Ideologien zusammengefaßt und organisiert, in Pflicht genommen und gemeinsamen Erlebnissen ausgesetzt. Selbst wenn sie mit der betreffenden Ideologie innerlich nicht übereinstimmen, das gemeinsame Schicksal wirkt — wir konnten das an der Erziehung neuer Nationen durch die Landesherren an der Schwelle unserer Neuzeit beobachten — mit vielfältigen Kräften der Gewöhnung und der Integration auf sie ein, mit anderen Worten: es integriert sie zu einer neuen Art Nation, nun nicht mehr auf Grund der Sprache und jener anderen bisher wirksamen Merkmale, sondern eben auf Grund der gemeinsamen — zwar übernational entworfenen, der Funktion nach aber nationbildenden — Ideologie. Verschiedenes deutet darauf hin, daß es sich dabei — trotz mancher rückläufigen Prozesse — nicht einfach um eine vorübergehende Machtausdehnung der eigentlichen Sieger des Zweiten Weltkrieges handelt, sondern um eine allmähliche Neueinteilung der Welt in neue, nun nicht mehr sprachlich, sondern nach Ideologien abgegrenzte Großnationen. Das ist vor allem die rasche Entwicklung der Technik, auch der Wehrtechnik und der Wirtschaft, die mit den kleinen Räumen, auf denen die Nationalstaaten des Risorgimento errichtet waren, schlechterdings nicht mehr auskommen. Schon jene Nationalstaaten nämlich haben sich, wenn sie souverän und lebensfähig bleiben wollten, Kolonialreiche aufbauen müssen, um sich die dazu nötigen Rohstoffgebiete und Märkte zu sichern: England, Frankreich, schließlich Deutschland.

Die Sprachvölker sind heute zu klein geworden, um die von der Technik geforderten Großräume auszufüllen. Statt der Sprache bedarf es einer anderen Bindekraft, die größere Gruppen über mehrere Sprachen hinweg bindet. Dies eben ist die Ideologie. Freilich bedürfen auch die ideologisch integrierten Großräume einer gemeinsamen Verständigungsund Verwaltungssprache. Aber diese Sprache wirkt dann eben als Lingua franca über den verschiedenen, an sich unbehelligten Stammesund Volkssprachen: in der Sowjetunion das Russische, in den Vereinigten Staaten und in Indien das Englische. Wer mit Angehörigen der Führungsschicht im sowjetischen Zentral-asien gesprochen hat, der weiß, daß sich diese — unter sich etwa usbekisch sprechenden — Leute, die dem Kommunismus alles verdanken, einer Großnation zugehörig fühlen, die zu Hause und in lokalen Angelegenheiten usbekisch oder wie immer spricht, in gemeinsamen Dingen aber russisch verkehrt und durch den Marxismus-Leninismus sowjetischer Observanz integriert ist.

Dieser epochalen Tendenz zur Ausbildung ideologisch, nicht mehr sprachlich integrierter Großnationen scheinen allerdings die eingangs beobachteten Emanzipationsbewegungen zu widersprechen, die die großen ideologischen Blöcke zur Zeit aufzulockern bemüht sind. Sie sind für die Konsistenz und Lebenskraft der im Risorgimento ausgebildeten, mittels der Sprache und eben auch einer Ideologie durch alle Schichten lebendig integrierten Nationen höchst aufschlußreich. Aber sie finden eine völlig veränderte Lage, von den des Risorgimento sehr verschiedene Voraussetzungen ihres nationalen Daseins und Bewußtseins vor: von Autarkie und absoluter Souveränität, von freier Wahl der Bundesgenossen und Feinde ist nicht mehr viel die Rede.

Welche dieser welthistorischen Tendenzen sich aber auch immer als Siegerin erweisen wird: ihr Auftreten allein schon gewährt einen tiefen Einblick in das Wesen der Kräfte, die Nationen oder nationähnliche Großgruppen in sich binden, wie in die Größenordnungen und Modelle, nach denen sie wirken. Wir erinnern uns an die nationartige Bindung und Struktur der abendländischen Christenheit des Mittelalters. Auch hier war, über die Sprachen und späteren Völker hinweg, etwas wie eine Groß-nation ideologisch gebunden. Beim Erwachen des Islam war ebenfalls eine über Sprachvölker und Staatsnationen hinwegreichende ideologische Integration zu beobachten. Etwas Ähnliches wie die heute sich abzeichnenden Großnationen hat es also in der Weltgeschichte schon mehrfach gegeben.

Das veranlaßt uns, zum zweiten, psychologisch-soziologischen Teil unserer Betrachtungen über Nation und Nationalismus mit einem größeren Verständnis für die Relativität und Epochenbedingtheit der uns so ewig und sicher erscheinenden Nationen überzugehen. (wird fortgesetzt!)

Fussnoten

Weitere Inhalte

Eugen Lemberg, Dr. phil., o. Professor für Soziologie des Bildungswesens an der Hochschule für internationale pädagogische Forschung, Frankfurt/Main; geb. 27. Dezember 1903 in Pilsen (Böhmen). Veröffentlichungen u. a.: Geschichte des Nationalismus in Europa, Stuttgart 1950; Osteuropa und die Sowjetunion, Salzburg 1956 2); Umdenken in der Verbannung. Ein neues Verhältnis zu Ostmitteleuropa, Bonn 1957 4); Die Vertriebenen in Westdeutschland, 3 Bde (Hrsg.), Kiel 1959; Beiträge zur Soziologie des Bildungswesens, bisher 3 Bde (Hrsg.), Heidelberg 1960 ff.; Geschichtsbewußtsein in Ostmitteleuropa (Hrsg.), Marburg/L. 1961; Das Bildungswesen als Gegenstand der Forschung (Hrsg.), Heidelberg 1963; Ostkunde. Grundsätzliches und Kritisches zu einer deutschen Bildungsaufgabe, Hannover 1964; Nationalismus I (Psychologie und Geschichte) und II (Soziologie und politische Pädagogik), 2 Bde (= Rowohlts deutsche Enzyklopädie, Bd. 197/198 u. 199), Reinbek b. Hamburg 1964.