B. Sutor hat in Nr. 16/67 dieser Zeitschrift zu Karl Jaspers Aufsehen und Ärger erregendem Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?" ausführlich Stellung genommen. Auf acht Seiten befaßt er sich mit der Existenzphilosophie des Baseler Gelehrten und erweist sich hier als großer Kenner der zahlreichen Schriften Jaspers — Sutor promovierte 1965 mit dem Thema „Der Zusammenhana von Geschichtsphilosophie und Politik bei Karl Jaspers". Auf den letzten vier Seiten seines Aufsatzes versucht dann Sutor den Nachweis zu erbringen, daß Jaspers sich in seiner politischen Studie über die Situation in der Bundesrepu-blik gründlich irre, daß er in „doktrinärer Befangenheit" falsche Analysen gebe, sich durch sein Moralisieren „um Kredit und Resonanz" bringe, daß seine Argumentation „teils böswillige, teils ärgerliche Formen" annehme. Ich begrüße die kritischen Äußerungen insoweit, als jede Auseinandersetzung mit den Jaspersschen Vorstellungen einen Teil jener freiheitlichen Gesinnung widerspiegelt, auf die wir mit Recht stolz sind. Ich glaube aber auch, daß gewisse Darstellungen Sutors nicht stichhaltig sind und die Ideen und Vorschläge Jaspers in ein Licht rücken, das der Größe und Bedeutung dieses Mannes nicht gerecht wird.
Die Frage der Verjährung
Jaspers'Kritik an der Bundesrepublik Deutschland wurde ausgelöst durch die Bundestagsdebatte über die Verjährung von Morden des NS-Staates. Er hat seine Enttäuschung darüber nicht verhehlt, daß der Bundestag es versäumte, vor der Weltöffentlichkeit darzulegen, wie sehr man die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen an der Menschheit nicht nur mit Worten verabscheut, sondern auch faktisch, das heißt, durch entsprechende Maßnahmen (z. B. Ausschluß ehemaliger Nazi-Größen aus leitenden Staatsstellungen, Aufstellung neuer juristischer Normen zur Bestrafung von Verbrechen an der Menschheit während des NS-Regimes) bewältigt. Jaspers bedauerte es, daß sich die Diskussion im wesentlichen auf formal-juristische Überlegungen beschränkte und man lediglich durch den „Trick" der Verschiebung des Berechnungstermins einen vierjährigen Aufschub der Verjährung erreichte. So blieb nach Jaspers wieder einmal eine große Chance ungenutzt, das deutsche Volk zu einer „sittlich-politischen Umkehr" und Selbstbesinnung zu führen und die Kontinuität zum Nazistaat radikal zu unterbrechen.
Sutor kritisierte nun an Jaspers, er tue so, als sei nur eine „nicht durch Verjährung endende strenge Verfolgung der Verbrechen" Beweis für den Willen der Deutschen zur Umkehr. Dies ist sicherlich nicht der Fall, und Jaspers hat es auch so nicht gemeint. In seinem Gespräch mit Augstein hatte er bereits vor der Bundestagsdebatte darauf verwiesen, daß es gar nicht so sehr wichtig sei, was der Bundestag beschließen werde — Verjährung oder nicht —, sondern ob und wie die Verbrechen an der Menschheit in ihrer ganzen Tiefe diskutiert und eindeutige moralische Maßstäbe gesetzt würden
Gibt es einen Kompromiß zwischen sittlicher Norm und der bestehenden Rechtslage? Doch erst dann, wenn moralische Wertbegriffe anerkannt und der Abgrund von Schuld und Verantwortung gesehen werden. Jaspers hat in einer genauen Analyse der Debatte nachgewiesen, daß sich der Bundestag primär nicht als moralische Instanz empfand und deshalb sittliche Überlegungen bei der Beurteilung auf ein Nebengleis abschob
Ist Jaspers „maßlos"?
Sutor wirft Jaspers in zahlreichen Punkten vor, er habe seine politischen Stellungnahmen „zu maßloser Kritik gesteigert“. Wir wollen diesen Vorwürfen im einzelnen nachgehen. 1. Jaspers warnt vor der Verabschiedung der Notstandsgesetze. Er hält sie nicht für notwendig, weder zur Behebung zukünftiger innerer oder äußerer Gefahr, und verweist zugleich auf profilierte Literatur, in der der gleiche Standpunkt eingenommen wird
Es gibt bis heute kein restlos überzeugendes Argument für die Einführung der Notstandsgesetze. Sogar der CDU-Abgeordnete Bernhard Vogel bestreitet in seiner kritischen Besprechung des Buches die Richtigkeit der Jaspersschen Argumentation nicht
2. Als maßlos falsch empfindet Sutor auch die Äußerung, die Gefahr des Kommunismus sei heute ein „Phantom". Adenauer äußerte sich vor Jahresfrist ganz ähnlich. Die Weltlage hat seit 1945, als die UdSSR allerdings eine Bedrohung für die Welt war, inzwischen ein völlig anderes Gesicht erhalten: durch die Ablösung Stalins und Chruschtschows, durch die zunehmende Verselbständigung der Satellitenstaaten und vor allem durch die revolutionäre Haltung Chinas. Jaspers hat in seinem Antwort-band die Weltlage, so wie er sie sieht, eindrucksvoll umrissen
3. „Weltpolitisch wäre erforderlich die Vernichtung der Herstellungsstätten der Atombomben in China", so steht es bei Jaspers, schreibt Sutor. Viele Kritiker haben daraus voller Empörung gefolgert, Jaspers wolle den Krieg gegen China und sei ein Kriegshetzer. Aber Jaspers meinte dies: China sei eine Gefahr für den Weltfrieden, seit es die Atombombe besitzt, und hat wiederholt — ähnlich wie einst Hitler — dunkle Drohungen ausgestoßen, daß es vor einem Atomkrieg nicht zurückschrecken werde. Darum müsse es nach Jaspers wirtschaftlich isoliert und gezwungen werden, seine imperiale Haltung aufzugeben. Geschehe das, so werde es wieder in den Kreis der freien Völker ausgenommen. Verstärke es jedoch seine Aggressivität, so müßten unter allen Umständen Rußland und die USA zu einem Bündnis kommen, das im Ernstfall Chinas Machtausdehnung verhindere, notfalls durch Vernichtung der chinesischen Atombombenindustrie. Jaspers hat bei dieser Gelegenheit seine Bewunderung vor den gro-ßen kulturellen Taten des chinesischen Volkes nicht verschwiegen. Trotzdem gebietet es die politische Vernunft, Tendenzen bedenkenloser Machtentfaltung aufzuzeigen und zu bekämpfen. Jaspers erwähnt auch, daß schon 1918 der Europäer de Groot eine vollständige Umwälzung im geistigen Leben Chinas vorausgesehen hat, „nach welcher China kein China, die Chinesen keine Chinesen mehr sein werden"
Sind sie alle politisch unreif oder nicht kompetent für politische Urteile, wie dann auch Waldemar Besson, der damals von einer „schweren Orientierungskrise" sprach
Die deutsche Frage
Außenpolitisch hält es Jaspers für unumgänglich, die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen. Wir könnten mit gutem Gewissen keinen aus der nationalsozialistischen Zeit herrührenden Rechtsanspruch auf die verlorengegangenen Ostgebiete geltend machen, also beispielsweise nicht auf dem Münchener Abkommen bestehen. „Wer jedes Recht vernichtet hat, darf nachher nicht für sich aus einer Vergangenheit, die nun nicht mehr ist, Rechtsansprüche erheben. Er muß . . . aus dem jetzt Gegebenen sein neues Dasein gestalten"
Nun billigt Sutor Jaspers in diesem Zusammenhang zwar zu, er könne seine Thesen vertreten, aber es geschehe ohne „politischen Sachverstand". Aber die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie wird auch von vielen Parlamentsabgeordneten gefordert; wir verweisen nur auf die heftige Auseinandersetzung innerhalb der FDP beim diesjährigen Parteitag in Hannover. Doch auch innerhalb der Bevölkerung wächst die Meinung, man müsse die Oder-Neiße-Linie anerkennen. Nach der repräsentativen Befragung des Allensbacher Instituts äußerten 1959 noch 67 Prozent der B(fragten, man solle sich nicht mit der jetzigen deutsch-polnischen Grenze abfinden, 1962 waren es jedoch nur noch 50 Prozent. Noch nachdenklicher sollte die Befragung unter Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Jahre 1959 stimmen, nach der nur 38 Prozent sagten, sie würden, wenn ihre Heimat wieder zu Deutschland gehörte, bestimmt dorthin zurückkehren
Jaspers hält die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie aber nicht nur als Ausdruck einer inneren Umkehr, sondern auch aus politischen Gründen für nötig. Die Tatsache, so meint er, daß die Bundesrepublik immer wieder die Anerkennung versage, gefährde den Weltfrieden. Polen fürchte, die Gebiete eines Tages wieder zu verlieren, möglicherweise durch Gewalt. Wenn auch im Augenblick keinerlei derartige Tendenzen in der Bundesrepublik Deutschland sichtbar wären, so sei dennoch die Besorgnis der östlichen Nachbarn verständlich. Die Tatsache, daß einige bundesdeutsche Politiker in der Vergangenheit die Grenzen Deutschlands von 1937 zurückverlangt hätten, sei als Provokation empfunden worden, verstärke im Ausland das Mißtrauen und die Furcht vor Deutschland. Denn: „Die Kriegsgefahr geht von dem aus, der bestehende Grenzen verändern, nicht von dem, der sie bewahren will" !
Sutor argumentiert, der Hinweis auf den verlorenen Krieg und die Gefährdung des Welt-friedens sei „Erpressung" und negiere somit die völkerrechtlich garantierte Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes einer Nation. Dagegen betont Jaspers auch hier, daß die Umkehr der Bundesrepublik nur glaubwürdig werde, wenn man sich zu politischen Opfern bekennt. Wie problematisch, ja welche Zumutung das Recht auf Selbstbestimmung und der Grundsatz der Gleichheit für Entwicklungsländer darstellen kann, führt Jaspers in seinem Antwortband näher aus
Jaspers als Gefahr für die Demokratie?
Sutor weist Jaspers, ganz ähnlich wie B. Vogel
Weiterhin hält Sutor Jaspers entgegen, er erkenne keinerlei Gegenargumente an, „weil in seinen Augen die Bonner Politiker eben nicht den rechten, das heißt seinen philosophisch-politischen Glauben haben". Dieser Vorwurf, von vielen Kritikern erhoben, ist durch das Erscheinen des Antwortbandes doch wesentlich entkräftet worden. Jaspers gab gewisse Mängel zu, verdeutlichte Argumente, die im ersten Band zu kurz weggekommen waren, und setzte sich zum Schluß mit einigen ernsthaften Kritikern auseinander.
Natürlich hat jeder das Recht, die Jaspersschen Thesen zu akzeptieren oder zu verwerfen, wenn er bereit ist, der Wahrheit zu dienen. Es geht freilich nicht an, Jaspers überhaupt das Recht abzusprechen, die Stimme zu erheben, ja ihm Schädlichkeit für den Fortbestand der Demokratie in Deutschland vorzuhalten. Mit Erstaunen lese ich bei B. Vogel: „Jaspers und seine vielen Leser müssen überzeugt werden, daß er auf dem falschen Weg ist, daß seine Darlegungen absurd und seine Lösungsvorschläge irreal sind. Es müssen die gefährlichen Folgerungen aufgezeigt werden, die ein Buch wie das vorliegende auslöst"
Sind seine politischen Schriften schädlich? Vogel bejaht dies mit dem Hinweis, sie seien für jeden Staatsbürger ein Freibrief, „weiter im Unpolitischen zu verharren" und „antiparlamentarisches Ressentiment" zu pflegen. Dabei ist es das erklärte Anliegen Jaspers, den Leser zu politischem Verantwortungsbewußtsein anzuspornen und dessen vielfach nicht vorhandene Bereitschaft, sich politisch zu betätigen, zu mobilisieren. „Sich beteiligen bei einer Partei; dort die heute unerläßlichen Erfahrungen gewinnen, die Regelmäßigkeit der Realität in ihren unerwünschten Folgen kennen lernen, wie Parteidisziplin und anderes; nicht gleich aus Besserwissen alles verwerfen, aber schweigen lernen und den Augenblick abwarten und ständig um Besserung der Partei von innen sich bemühen. — Die Hauptsache; nichts von oben und außen erwarten, sondern selbst Initiative ergreifen und im Zusammenhang mit der sachlichen Kritik an Zuständen, Vorgängen, Ereignissen zugleich Kritik an sich selber vollziehen"
Alt ist das Klagelied in Deutschland, der Gelehrtenstand kümmere sich nicht um das politische Alltagsgeschehen. Nun hat sich der Professor aus Basel zu Wort gemeldet; aber weil er mehr Tadel als Lob ausspricht, findet er in politischen Kreisen kaum Gehör. Man bemüht sich, Fehler in Detailfragen nachzuweisen und stößt sich an zu scharfen Formulierungen. Wo aber bleibt die politisch weiterführende Auseinandersetzung mit dem Werk als Ganzem? Ob Kant, Marx oder Hegel, sie alle haben sich in manchem widersprochen und in vielem geirrt. Trotzdem haben sie in der Vergangenheit zu der rationalen Bewältigung und Durchdringung des menschlichen Daseins Bedeutendes geleistet. Jaspers gegenüber war der fast einmütige Tenor seiner Kritiker, er habe wohl auch „sehr Treffendes und Beherzigenswertes" (Sutor) gesagt, das Werk als solches in seiner Konsequenz und Tragweite wurde aber fast immer abgelehnt. Dabei hat sich keiner der Mühe unterzogen, den unbequemen Nachweis zu führen, was die Schrift so irreal, gefährlich, dilettantisch oder ärgerlich mache.
In seiner Besprechung des Antwortbandes schreibt Erhard Eppler: „So ist auch die . Antwort'von Jaspers kein Schritt zum Dialog. Sie zeigt wieder einmal die besondere Misere, an der dieser Staat leidet: die Kluft zwischen denen, die das politische Geschäft betreiben, und vielen von denen, deren Aufgabe es ist, das politische Treiben kritisch zu beobachten. Keiner nimmt den anderen ernst, weil er sich nicht ernst genommen fühlt"
Leider ist diese Bemerkung Epplers nur allzu wahr. Es ist aber im Falle Jaspers sehr billig, ihm die Schuld an dem bis jetzt ausgebliebenen fruchtbaren Gespräch mit den Politikern zuzuschieben. Der Politiker darf nicht, wie Eppler glaubt, Rücksicht und Konzilianz seitens des politischen Schriftstellers erwarten. Der Beruf des Politikers bedeutet, so hat es schon 1919 Max Weber formuliert, „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß". Und er fährt fort: „Es ist ja durchaus richtig, und alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, daß man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre."