Eine Skizze
Arnold Toynbee, bekannt für seine oft eigenwilligen Ansichten, hat kurz nach dem Zweiten Weltkrieg den Ausspruch getan, wir Europäer seien die einzigen, deren Geschichtsbild noch dasjenige aus der Zeit vor Vasco da Gama sei. Was wollte er mit diesen paradox scheinenden Worten sagen? Daß die Europäer wohl seit ungefähr 1500 die Welt, das heißt, die andern Kontinente zu entdecken und zu erobern begonnen, daraus aber bis in unsere Zeit nicht die Konsequenzen gezogen hätten für ihr geschichtliches Denken und ihr politisches Handeln. Die Europäer betrachteten also auch im 20. Jahrhundert die Weltgeschichte immer noch innerhalb eines auf Europa begrenzten Horizontes, gerade so, als ob Europa immer noch mehr oder weniger allein in der Weltgeschichte vorhanden wäre. Sie seien nicht zur Einsicht vorgedrungen, so kritisiert der erwähnte Engländer weiter, daß die Existenz der außereuropäischen Völker im Begriff sei, für das eigene europäische Schicksal ein mitbestimmender Faktor zu werden.
Weltgeschichte Europas
In früheren Jahrhunderten mochte eine Betrachtungsweise der Weltgeschichte, die Europa im Zentrum der Weltereignisse sah, verständlich sein; denn die Zeit seit dem Beginn der großen Entdeckungsfahrten stand ganz im Zeichen europäischerWelteroberung und Weltgeltung, aber auch Weltordnung. (Diesen letzten Punkt sollte man gerade angesichts der gegenwärtigen antikolonialistischen Hysterie hervorheben. Heute jedenfalls haben wir noch keine neue Weltordnung, sondern wohl eher Weltanarchie.) Völker wie die Spanier und die Portugiesen, die Engländer, Holländer und Franzosen eroberten sich große überseeische Kolonialreiche, unter denen das britische Empire das größte und mächtigste Gebilde wurde. In der Tat wurde bis tief ins 19. Jahrhundert hinein die Welt von Europa aus regiert. Allerdings hat die Entstehung eines unabhängigen nordamerikanischen Staates, nämlich der USA, schon im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts eine, wenn auch zunächst kaum spürbare, Bresche in diese europäische Weltmachtstellung geschlagen.
Wie wenig man indessen auf ein solches Ereignis gefaßt war, nämlich auf die Entstehung eines unabhängigen und souveränen Staates außerhalb des traditionellen europäischen Systems, geht etwa daraus hervor, daß man in den europäischen Staatskanzleien zunächst durchaus geneigt war, Amerika als Teil des europäischen Systems anzusehen. Der Gedanke der weltbeherrschenden Stellung Europas war so selbstverständlich, daß man sich einen souveränen Staat außerhalb des europäischen Systems gar nicht vorstellen konnte. Aber auch die Amerikaner schwankten, wo-Thilo Castner:
Politik und Moral bei Karl Jaspers Entgegnung zu Bernhard Sutors Aufsatz „Existenzphilosophie und Politik" ... S. 14
Bernhard Sutor:
Antwort auf Thilo Castners Kritik .... S. 19 hin sie eigentlich gehören sollten, und es hat vierzig Jahre gedauert, von 1783 bis 1823, bis endgültig entschieden war, daß die USA keinen Teil des europäischen Systems bildeten, sondern Kern eines neuen, eben amerikanischen Systems darstellten. Vom heutigen Standpunkt aus ist es besonders reizvoll, daran zu erinnern, daß vor allem eine Regierung immer wieder versucht hat, die USA in das europäische System samt Heiliger Allianz zu inkorporieren, nämlich die russische.
Durch Jahrhunderte hindurch waren jedenfalls die Völker der anderen Kontinente mehr oder weniger Objekte europäischer Weltpolitik, die Völker Afrikas und teilweise auch Asiens bis in unsere Epoche hinein. Man hat infolgedessen auch mit Recht von einer „Weltgeschichte Europas" gesprochen.
Die weltgeschichtliche Bedeutung der Kriege 1914— 1918 und 1939— 1945
Dieses europäische Weltzeitalter begann sich um die letzte Jahrhundertwende zu Ende zu neigen, sichtbar vor allem am Aufstieg der USA und Japans zu Großmächten, die in weltpolitischen Angelegenheiten mitzureden begannen. Man kann den Eintritt dieser beiden Mächte in die Weltpolitik sogar auf das Jahr genau feststellen: 1898 und 1902. Was verbergen sich hinter diesen nackten Zahlen für weltgeschichtliche Ereignisse? 1898 ist das Jahr des spanisch-amerikanischen Krieges, durch welchen die USA in ihre imperialistische Phase eintreten und wichtige Positionen des alten und schwachen spanischen Imperiums erben, einerseits in der karibischen See (Puerto Rico und Cuba), andererseits in Ostasien (Philippinen). Die Entscheidungen von damals wirken bis in unsere Zeit hinüber und haben die Entwicklung der internationalen Politik im 20. Jahrhundert in hohem Maße bestimmt. Der bekannte amerikanische Diplomat und Historiker George Kennan ist bei seiner Suche nach dem Ursprung des amerikanisch-japanischen Gegensatzes, der im Zweiten Weltkrieg so ungeheure Ausmaße angenommen hat, eben auf dieses Jahr 1898 gestoßen. Damals wurde entschieden, daß die USA auch eine ostasiatische Macht sein würden. Und nun zu Japan: Das Jahr 1902 bringt den Abschluß eines Bündnisses mit England, das gegen Englands Hauptgegner Rußland gerichtet ist. Japan ist somit als gleichberechtigte Großmacht anerkannt — weniger als fünfzig Jahre nach seiner gewaltsamen Erweckung aus jahrhundertelangem Dornröschenschlaf. Schon zwei Jahre später folgt der russisch-japanische Krieg, der zum erstenmal in der Geschichte mit dem Sieg einer asiatischen Macht über eine europäische Großmacht endet. Dieses Ereignis sollte auch eine große Wirkung haben im Sinne einer Beförderung der asiatischen Emanzipationsbestrebungen von der europäischen Vormundschaft.
Durch den Ersten Weltkrieg trat das europäische Weltsystem in eine Krise und endete infolge des Zweiten Weltkrieges und seiner machtpolitischen Ergebnisse mit einem völligen Zusammenbruch europäischer Weltgeltung und Weltordnung. Wir haben deshalb in den beiden Weltkriegen und ihren Folgewirkungen, also in der Zeit von 1914 bis auf unsere Tage, eine Umbruchzeit weltgeschichtliB chen Ausmaßes zu sehen. Die beiden Weltkriege bringen eine große weltgeschichtliche Epoche zum Abschluß, nämlich das europäische Weltzeitalter, und sie führen eine neue herauf, die wir als das „globale" Zeitalter bezeichnen könnten. Dieses neue Zeitalter, in dessen Anfängen wir leben, ist dadurch gekennzeichnet, daß die Welt einen einheitlichen Wirkungszusammenhang darstellt. Zum erstenmal können wir jetzt von einer Weltgeschichte im eigentlichen Sinn sprechen, im Sinne einer planetarischen Interdependenz.
Der Erste Weltkrieg begann zwar wie frühere Kriege innerhalb des europäischen Staaten-systems; aber er unterschied sich dadurch von allen früheren Kriegen in Europa, daß er nicht mehr durch europäische Kräfte allein zur Entscheidung gebracht werden konnte. Während das Frankreich Napoleons noch durch eine Koalition aller andern europäischen Großmächte, wenn auch erst nach langen und blutigen Kriegen, besiegt werden konnte, war hundert Jahre später der Eintritt der USA in den Weltkrieg nötig, um den Sieg der Alliierten über das zur Hegemonie strebende kaiserliche Deutschland herbeizuführen. Während 1815 auf dem Wiener Kongreß nur europäische Mächte vertreten waren, gab es unter den großen Fünf bei den Versailler Friedensverhandlungen von 1919 bereits zwei außer-europäische Großmächte, nämlich die USA und Japan. Das europäische System war zum Welt-system geworden, aber nicht im Sinne einer Ausweitung zu einem System europäischer Weltmächte — wie das historisch-politische Denken in Deutschland unter der Nachwirkung Rankes es erwartet hatte —, sondern im Sinne einer gleichberechtigten Teilnahme außereuropäischer Mächte. Amerika war zur stärksten Weltmacht aufgestiegen, ohne deren Mitsprache keine Neuordnung der weltpolitischen Verhältnisse möglich schien. Dafür war eine europäische Macht, die im Staaten-system unseres Kontinentes lange Zeit eine wichtige Rolle gespielt hatte, in ihre nationalen Bestandteile zerfallen: Osterreich-Ungam, die traditionsreiche Monarchie der Habsburger. Das europäische Staatensystem, in dem seit dem 18. Jahrhundert die fünf Großmächte England, Frankreich, Österreich, Rußland und Preußen tonangebend gewesen waren, erhielt damit einen ersten schweren Stoß.
Der Zusammenbruch der Donaumonarchie
Die Folgen des Zusammenbruchs der Doppel-monarchie für das europäische Staatensystem waren verhängnisvoll, weil im Donauraum ein Machtvakuum entstand, das nur scheinbar durch die neuentstandene Mittel-und Kleinstaatenwelt ausgefüllt wurde. Es ist bezeichnend, daß die in diesem Raum etablierte Neuordnung nur solange einigermaßen funktionierte, bis die wiedererstandene deutsche Macht unter dem nationalsozialistischen Regime ihre neoimperialistische Expansionspolitik begann. Und es ist ebenso symptomatisch, daß die außenpolitische Dynamik des Dritten Reiches zuerst diesen Teil Europas heimsuchte. Wir meinen damit keineswegs nur das militärische Vorgehen gegen Österreich und die Tschechoslowakei, sondern ebenso die wirtschaftliche Durchdringung Südosteuropas, das schon vor Kriegsbeginn zum „Großwirtschaftsraum" oder auch „Versorgungsraum des Groß-deutschen Reiches" deklariert wurde, in welchem andere Mächte nichts zu suchen hätten. „Großwirtschaftsraum" bedeutete aber, wie sich bald zeigen sollte, nur Vorstufe, Durchgangsstadium für den als endgültig gedachten Zustand des eigentlichen „Großherrschaftsraumes" Deutschlands; denn dem wirtschaftlichen Interesse folgte die politische Gleichschaltung auf dem Fuße, sei es durch direkten Anschluß an das Reich oder durch den indirekten Anschluß über den Dreimächtepakt, und schließlich, im Vorfeld des Krieges gegen die Sowjetunion, die militärische Sicherung bzw. Besetzung. Damit hatten die betreffenden Länder den letzten Rest an wirklicher Souveränität verloren. Es ist also rückblickend nicht zu bestreiten, daß der Zusammenbruch der Donaumonarchie die neoimperialistische Politik Deutschlands begünstigt, andere scheuen nicht davor zurück, zu sagen: herausgefordert hat.
Der britische Außenminister Palmerston hatte also richtig vorausgesehen, wenn er in einer Unterhausrede im Jahre 1849 sagte, die politische Unabhängigkeit und Freiheit Europas seien gebunden an die politische Unversehrtheit Österreichs als europäische Großmacht. Deshalb müsse alles vermieden werden, so rief er aus, was dazu führen könnte, „Österreich zu schwächen oder zum Krüppel zu machen". So dachte die britische Politik bis in den Ersten Weltkrieg hinein, und diese Auffassung wurde von der amerikanischen Politik durchaus geteilt. Noch in seiner Rede vom 4. Dezember 1917, mit welcher er ÖsterreichUngarn den Krieg erklärte, betonte der amerikanische Präsident Wilson ausdrücklich, „daß wir in keiner Weise wünschen, das österreichisch-ungarische Reich zu schwächen oder anders einzurichten". Und in den viel zitierten 14 Punkten war bekanntlich nur von Autonomie, keineswegs von völliger Unabhängigkeit der Nationalitäten des Vielvölkerstaates die Rede. Wenn Österreich dann doch zum Krüppel wurde, um das Wort Palmerstons anzuwenden, so kann das allerdings keineswegs, wie es auch heute noch gelegentlich geschieht, einfach den „Friedensmachern von 1919" in die Schuhe geschoben werden. Die Auflösung der Doppelmonarchie ist nicht auf den Friedensvertrag zurückzuführen, sondern vielmehr auf den Krieg, der ihm vorausgegangen ist. Der Krieg hat Österreich-Ungarn zerstört, nicht der Frieden. Daß dieser große Krieg die Monarchie zerstören würde, haben weitsichtige Österreicher übrigens schon sehr früh erkannt. Ja, man kann die Sache sogar umdrehen und die These aufstellen, daß die Staatsmänner von 1919 dieses Reich gar nicht mehr hätten erhalten können, selbst wenn sie gewollt hätten! Es ist also eine Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten, wenn da in doktrinärer Weise verlangt wird, man hätte die Donaumonarchie im Interesse des europäischen Gleichgewichts und Staatensystems erhalten sollen. Es gab nichts mehr zu erhalten, nachdem die Monarchie ihr Schicksal auf Gedeih und Verderb mit demjenigen Deutschlands verbunden hatte. Die von deutscher Seite pathetisch beschworene „Nibelungentreue" erfüllte sich dann wirklich im Sinne der altgermanischen Sage, nämlich im gemeinsamen Untergang — auch wenn dies natürlich ursprünglich nicht die Meinung gewesen war. All dies ändert indessen nichts an der historischen Erkenntnis, daß der Zusammenbruch der Donaumonarchie die beschriebenen verhängnisvollen Konsequenzen hatte, die weit über den betroffenen geographischen Raum hinauswirkten, wie Palmerston scharf-blickend vorausgesehen hatte. Mit diesem Ereignis beginnt der Zusammenbruch des europäischen Staatensystems. Ob diese Entwicklung schlechterdings unvermeidlich war und mit historischer Notwendigkeit abrollte, gleich einem altgriechischen Schicksalsdrama, oder ob es Möglichkeiten gab, sie aufzuhalten, darüber werden wir später noch einige Gedanken äußern.
1917 — Entscheidungsjahr der Weltgeschichte
Dazu kam indessen ein weiteres Ereignis, das für die Folgezeit, das heißt also für unsere Epoche, von einer Bedeutung sein sollte, die damals wohl kaum jemand richtig vorausgesehen hat: die Machtergreifung der Bolschewisten in Rußland. Sie fällt wie der Kriegseintritt der USA ins Jahr 1917. In der Tat: wenn man ein bestimmtes Jahr als Ausgangspunkt unseres globalen Zeitalters nehmen wollte, dann müßte es unbedingt dieses Jahr 1917 sein.
Die Sowjetrussen sind natürlich sehr stolz darauf, daß auch die westliche Geschichtswissenschaft diesem Jahr so große Bedeutung zuzumessen beginnt; denn das Jahr 1917 bedeutet für alle gläubigen Kommunisten den Beginn eines neuen Zeitalters. Auf dem internationalen Historikerkongreß in Rom im Jahre 1955 meinte ein Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, wenn wir auch noch den Eintritt der USA in den Krieg erwähnen wollten, so sollten wir das ruhig tun, zu vergleichen sei dieses Ereignis mit der bolschewistischen Machtergreifung indessen keineswegs. Ich glaube, daß dies ein Irrtum ist. Denn auch der amerikanische Entschluß, in einen europäischen Krieg einzugreifen, war eine revolutionäre Tat, weil sie mit der hundert Jahre alten Tradition des Isolationismus gebrochen und die Monroedoktrin einseitig außer Kraft gesetzt hat. Wie 1823 das Jahr ist, wo europäisches und amerikanisches System endgültig, das heißt für hundert Jahre getrennt werden, so ist 1917 das Jahr, mit welchem das europäische und das amerikanische System wieder zusammenzuwachsen beginnen, bis durch den Zweiten und nach dem Zweiten Weltkrieg daraus das atlantische System entsteht. Der Atlantik, der im 19. Jahrhundert Europa und Amerika politisch getrennt hat, wird im 20. Jahrhundert zum Faktor der Einigung. So ist der amerikanische Entschluß von 1917 von mindestens so großer Bedeutung lür die internationale Politik geworden wie die Machtergreifung der Bolschewik! in Rußland. Dazu kommt der ideologische Aspekt, von dem gleich noch mehr zu sagen sein wird.
Beide Ereignisse, der Eintritt der USA in den Krieg und die Machtergreifung der Bolschewik! in Rußland, sind begleitet von ideologisch-politischen Programmen, die in sich den Anspruch tragen — und ihn auch expressis verbis verkünden —, die Welt umzugestalten. Ja, diese ideologischen Programme scheinen recht eigentlich die politischen Ereignisse legitimieren zu sollen: Amerikas Kriegseintritt soll den Krieg zugunsten der Demokratie und gegen die Autokratie entscheiden und die Welt „safe for democracy" machen, wie Präsident Wilson sich ausgedrückt hat; die bolschewistische Revolution nur Vorstufe und Anlauf einer umfassenden Weltrevolution sein, die nach geschichtlichem Gesetz die ganze Welt kommunistisch machen wird. Beide Ereignisse spielen sich also, nach der Deutung ihrer Urheber, sozusagen in einem höheren Weltinteresse ab.
Bolschewistische und demokratische Weltrevolution
Wenn von Weltrevolution die Rede ist, dann denken wir unwillkürlich an den Bolschewismus. Tatsächlich hat Lenin, im Anschluß an Marx, den Sinn der Weltgeschichte in der Vollendung einer sogenannten sozialistischen Weltrevolution gesehen. Auch die Revolution in Rußland war für ihn nur sinnvoll als Auftakt einer solchen Umwälzung, die die ganze Welt ergreifen sollte. Er und seine Leute haben denn auch in den ersten Jahren des bolschewistischen Regimes geglaubt, daß diese Revolution unmittelbar bevorstehe. Es gibt Äußerungen von Lenin und Trotzki, die der Hoffnung Ausdruck geben, die Weltrevolution werde innerhalb einer Woche erfolgen! Dabei fiel besonders Deutschland eine entscheidende Rolle zu. Aber wir sollten beim Begriff „Weltrevolution" auch an das amerikanische Programm denken. Auch Wilson wollte, gleich Lenin, mit seinem Programm die ganze Welt erfassen, und er hat es auch offen ausgesprochen. (Auch bei ihm nimmt übrigens Deutschland eine Schlüsselstellung ein!) Und dieses revolutionäre Pathos entsprach einer alten amerikanischen Tradition. Hundert Jahre vor Wilson hat der amerikanische Staatssekretär John Q. Adams — er war der Außenminister des Präsidenten Monroe — die Erwartung ausgesprochen, daß das amerikanische Beispiel alle europäischen Regierungen ins Wanken bringen werde. „Ich halte diese Revolution für so gewiß“, sagte er im Jahre 1823, „wie die Erde sich in einem Jahr um die Sonne dreht." Die Revolution, die er meinte, war dieselbe, die Wilson hundert Jahre später entfachen wollte, nämlich die Verwandlung aller Staaten in demokratische Republiken. Es gibt also neben dem bolscheB wistischen ein amerikanisches Weltrevolutionsprogramm. Und wie Lenin glaubte, nur eine sozialistisch bzw. kommunistisch gewordene Welt werde eine friedliche Welt sein, so formulierte Wilson sein Credo in dem Satz: „Die einzige Hoffnung für einen dauerhaften Frieden zwischen allen Nationen hängt von der Begründung demokratischer Institutionen in der ganzen Welt ab." Sinngemäß konnte er sich den Völkerbund nur als Verein demokratischer Staaten vorstellen, was oft übersehen wird.
Hinter den beiden Programmen stehen also zwei Männer, Wilson und Lenin, der amerikanische Präsident und der Führer der russischen Bolschewiken, die beide in wahrhaft weltpolitischen Kategorien und Zusammenhängen denken, während die kontinentaleuropäischen Staatsmänner in Versailles mit ihrem europa-zentrischenGeschichtsbild kaum über ihre nationalen Grenzen und Interessen hinauszusehen vermögen. Lenin wird in Versailles nicht dabei sein, Wilson seine weltpolitische Konzeption nur sehr unvollkommen realisieren können. So wird dieser Frieden von 1919/20 nochmals im wesentlichen ein europäischer Vertrag sein, der eine europäische Ordnung, ja eine europäische Weltordnung zu schaffen versucht — in einem Augenblick, da das Gesetz des weltpolitischen Handelns den europäischen Mächten zu entgleiten beginnt. Wilson und Lenin haben den Sinn des Ersten Weltkrieges, seine weltgeschichtliche Bedeutung, wenn auch jeder auf seine Weise, besser verstanden und abzuschätzen gewußt als die angeblichen Realpolitiker Europas. Kein Wunder, daß ihnen bzw. ihren Programmen die Zukunft gehören sollte.
Europäische Scheinherrschaft in der Zwischenkriegszeit
Damit sind wir auch bereits auf den ersten der historischen Entwicklungsprozesse gestoßen, die unserem Zeitalter das bestimmende Gepräge geben: Es ist der Aufstieg der USA und der Sowjetunion zu den entscheidenden Weltmächten unserer Epoche.
Aber diese Entwicklung wird nach 1919 zunächst noch dadurch verdeckt, daß sowohl die USA wie auch das bolschewistische Rußland sich auf sich selbst zurückziehen und weltpolitische Enthaltsamkeit üben (soweit die bolschewistischen Führer im Kreml ihren Einfluß nicht durch die kommunistische Internationale ausüben und die Amerikaner über ihre finanziellen Investitionen und Transaktionen). Das nachleninsche Rußland verlegte das Schwergewicht auf den „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“, das nachwilsonsche Amerika kehrte zur traditionellen Haltung des Isolationismus zurück. Welteroberungsplan auf der einen Seite, Weltbefriedungsplan auf der anderen Seite wurden — vorläufig wenigstens — aufgegeben. Die Zeit zwischen den Kriegen stand so im Zeichen einer europäischen Scheinherrschaft. Aber die Weltmächte der Zukunft, deren Aufstieg Alexis de Tocqueville bereits im Jahre 1835 in einer großartigen Vision prophezeit hatte, hatten sich nur vorübergehend zurückgezogen. Hitlers frivol vom Zaun gebrochener Krieg sollte sie aufwecken — mit den bekannten Folgen bis auf den heutigen Tag.
Die weltgeschichtliche Bedeutung des Jahres 1917 besteht darin, daß zwei Programme, zwei Männer, zwei Mächte in merkwürdiger, zeitlicher Übereinstimmung in die Arena der Weltgeschichte treten. Keiner von ihnen vertritt eine europäische Macht, wenn sie beide auch ein europäisches Erbe in sich tragen, der liberale Präsident Amerikas wie der bolschewistische Diktator Rußlands. Dies ist ein Zeichen dafür, daß die weltgeschichtliche Entwicklung politisch über Europa hinweg zu gehen beginnt, ohne ihre Prägung durch den europäischen Geist verleugnen zu können.
Dies wird, wie gesagt, zunächst kaum spürbar dank dem fast gleichzeitigen Rückzug Amerikas und Rußlands in die Isolation, wobei der entscheidende Unterschied allerdings darin besteht, daß es für die USA ein selbst-gewählter Rückzug auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung als Weltmacht war, für das bolschewistische Rußland aber ein durch die inneren Umstände erzwungener Rückzug auf dem Tiefpunkt seiner Ohnmacht. (Es war territorial in die Zeit vor Peter I. zurückgeworfen!) Trotzdem muten den rückblickenden Historiker die Jahre 1917— 1919 an wie das Aufblitzen der geschichtlichen Möglichkeit, daß der Gang der weltpolitischen Entwicklung eine antieuropäische Richtung nehmen könnte — im Sinne einer Infragestellung der europäischen Weltherrschaft, die das Kennzeichen der neueren Weltgeschichte war. Denn daß sich nicht nur das bolschewistische Weltrevolutionsprogramm, sondern durchaus auch das amerikanische Weltbefriedungs-und -befreiungsprogramm gegen das geschichtlich gewordene und nun in Versailles im Prinzip neu bestätigte europäische Weltsystem richtete, darüber kann kein Zweifel bestehen.
Kampfansage an das europäische Weltsystem
Augenfällig ist dies natürlich zunächst im russischen Programm; denn das 1917 zur Macht gekommene bolschewistische Regime verkündete urbi et orbi, daß der neue Sowjetstaat nicht ein Mitglied der bestehenden Staatengemeinschaft werden wolle wie alle anderen Staaten, sondern vielmehr den Kristallisationskern einer neuen Weltordnung darstelle, den ersten Schritt zur Schaffung eines weltumspannenden revolutionären Bundes von Sowjetrepubliken. Es erging der Aufruf an die proletarischen Massen der Welt, das bestehende Staatensystem als ein kapitalistisches zu zerstören und die Welteinheit durch einen proletarischen Internationalismus zu erzwingen. Demgemäß dachten die Bolschewiki zunächst auch gar nicht daran, eine herkömmliche Außenpolitik im Sinne von Beziehungen zwischen Staaten überhaupt zu führen. Wenn wir dazu noch die Propagierung des Selbstbestimmungsrechts ins Auge fassen, von dem gleich noch die Rede sein wird, so erkennen wir, daß mit diesem bolschewistischen Programm dem geschichtlich gewordenen „imperialistischen" Weltsystem, das in erster Linie immer noch das europäische Staatensystem plus zugehörige Kolonial-Imperien war, recht eigentlich der Kampf auf Leben und Tod angesagt wurde. Lenins These von der Identität der nationalen und kolonialen Frage führte ganz von selbst zu einer weltrevolutionären Strategie, in welcher der Kampf der proletarischen Massen um Befreiung vom „kapitalistischen Joch" ergänzt werden sollte durch den Kampf der kolonialen Völker um Befreiung vom „imperialistischen Joch". Zweifellos ein genialer Plan, der nichts weniger vorsah, als das bestehende System durch einen Doppelangriff aus seinen Angeln zu heben und damit zu zerstören. Sinngemäß sah Lenin den Hauptfeind seiner Bestrebungen im mächtigsten dieser Imperien, im britischen Empire.
Aber auch Wilsons Konzeption richtete sich gegen das bestehende System, wenn ihre ganze Radikalität auch nicht zum Ausdruck kam, da er taktische Rücksichten auf seine Verbündeten nehmen mußte. Dies zeigte sich etwa an seiner Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts, das er für die farbigen Völker nur Stuten-und phasenweise verwirklichen zu können glaubte. In dem propagandistischen Wettrennen um die Seele des farbigen Mannes stand Lenin hier von vornherein in günstigerer Ausgangsposition, weil er völlig bedingungslos und bindungslos operieren konnte. Aber es kann kein Zweifel bestehen, daß auch im amerikanischen Programm weder das herkömmliche europäische Staatensystem noch das mit ihm korrespondierende Kolonialsystem prinzipiell einen Platz hatte. Das traditionelle Staatensystem Europas sollte überwunden werden durch den Völkerbund — kollektive Sicherheit statt europäisches Gleichgewicht oder, wie Wilson selbst sich ausgedrückt hat: „not balance of power but Community of power" hieß die Parole —, während auch nach amerikanischer Auffassung die Idee des Selbstbestimmungsrechts das bestehende Kolonialsystem allmählich auflösen sollte. Roosevelt hat diese Linie während des Zweiten Weltkrieges durchaus konsequent weitergeführt, so daß Winston Churchill einmal ausrufen mußte, er sei nicht Premierminister seiner Majestät geworden, um das britische Empire zu verkaufen. So unterschiedlich, ja gegensätzlich die Weltordnungskonzeptionen des Russen Lenin und des Amerikaners Wilson auch waren, in diesem Punkte waren sie völlig einig: das historische europazentrische Weltsystem war dem Untergang geweiht.
Die weltgeschichtlichen Entwicklungsprozesse des 20. Jahrhunderts
Was man damals, unmittelbar nach dem großen Krieg, noch nicht so ohne weiteres zu sehen vermochte, was wir aber rückblickend mit voller Sehschärfe feststellen können, ist der Umstand, daß auch die europäische Kolonialherrschaft ihren Höhepunkt im Grunde schon damals überschritten hatte. Der äußeren kolonialen und imperialen Machthöhe der europäischen Mächte entsprach nicht eine innere Festigkeit dieser Reiche oder auch nur des imperialen Willens. Die Emanzipation der farbigen Völker, die wir als eine weitere säkulare Entwicklungstendenz unseres Jahrhunderts ansehen müssen, nimmt durchaus schon vom Ersten Weltkrieg ihren Ausgang, oder sie wird, so weit sie älteren Ursprungs ist, durch das Kriegsgeschehen und seine Folgen deutlich sichtbar beschleunigt. Das Tempo dieser Bewegung wird sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte zusehends verschärfen und durch den Zweiten Weltkrieg dann auf höchste Touren gebracht werden — wie der Erste, so hat ja auch der Zweite Weltkrieg als europäischer Krieg begonnen. Und hier wird nun ein für die Geschichte unserer Zeit wichtiger, ja entscheidend wichtiger Zusammenhang sichtbar: Der aus der europäischen Selbstzerfleischung resultierende Substanzverlust der europäischen Staaten wird sehr bald als europäischer Machtverlust in Übersee, im außer-europäischen Raum, registriert und führt zu den Entwicklungsprozessen, die unsere Zeit in so hohem Maße charakterisieren: zum Aufstieg der außereuropäischen Mächte, zunächst vor allem Japans und der USA, später auch Sowjetrußlands, das man, besonders nach der intensiven Kolonisierung und Industrialisierung der asiatischen Gebiete durch Stalins Fünfjahrespläne, nur noch sehr eingeschränkt als europäische Macht bezeichnen kann; es ist eher als eurasische Macht zu definieren, was auch seine weltpolitische Position und seine weltpolitischen Interessen prägnanter zum Ausdruck bringt und übrigens seinem Selbstverständnis entspricht. Der europäische Machtverlust in der Welt begünstigt und fördert also einerseits diesen Aufstieg außer-europäischer Mächte, andererseits auch die beschriebene Emanzipation der Kolonialvölker.
Emanzipation im Zeichen des Selbstbestimmungsrechtes
Die Unabhängigkeitsbewegung der farbigen Welt, die die kolonialen Völker von Objekten zu Subjekten der Weltpolitik machen wird (wenn deren Führer heute gelegentlich auch dazu neigen, ihre weltpolitische Rolle zu überschätzen), vollzieht sich im Zeichen einer revolutionär wirkenden Idee: dem Gedanken des nationalen Selbstbestimmungsrechts, des Rechtes jedes Volkes, über sein Schicksal frei bestimmen zu können. Und hier wird nun insofern ein innerer Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der beiden Weltmächte und der afroasiatischen Emanzipationsbewegung sichtbar, als beide Programme von 1917, dasjenige Wilsons wie dasjenige Lenins, gerade diesem Selbstbestimmungsrecht der Völker einen wichtigen Platz eingeräumt haben. Während dieser Grundsatz für den amerikanischen Präsidenten zum Baustein des von ihm gewünschten weltumspannenden Völkerbundes demokratischer Nationen hätte werden sollen, hat Lenin dieses Recht nie anders verstanden denn als Vorstufe und Instrument der bolschewistischen Weltrevolution.
Gleich anderen hohen Idealen, wie Demokratie, Frieden, Freiheit, Koexistenz, muß auch die Idee des Selbstbestimmungsrechts dem Sozialismus bzw. Kommunismus untergeordnet werden, wodurch jene Ideale allerdings zu rein taktischen Instrumenten im Kampf um die Weltrevolution erniedrigt werden. „Kein einziger Marxist kann, ohne mit den Grundsätzen des Marxismus und Leninismus überhaupt zu brechen, bestreiten, daß die Interessen des Sozialismus höher stehen als die Interessen des Selbstbestimmungsrechts der Völker", sagte Lenin schon 1917. Und Stalin sekundierte ihn: „Das Prinzip der Selbstbestimmung muß ein Mittel im Kampf für den Sozialismus sein und den Prinzipien des Sozialismus untergeordnet werden.“ Was die Bolschewik! den nichtrussischen Nationalitäten des ehemaligen Zarenreiches feierlich versprachen, nämlich das Recht zur Lostrennung und zur Bildung eigener Staaten, wurde durch dieses typisch dialektische Kunststück wiederum völlig entwertet. Tatsächlich versuchten die Bolchewiki auch sofort, nachdem sie sich stark genug fühlten, diese nichtrussischen Nationalitäten mit Waffengewalt unter ihre Botmäßigkeit zu zwingen, weil diese nicht die geringste Lust zeigten, freiwillig unter russische Herrschaft zurückzukehren, auch wenn es jetzt nicht mehr die zaristische, sondern eben die bolschewistische war. Das Schulbeispiel sozusagen für diese Synthese russischer Macht-politik und bolschewistischer Dialektik stellt der Fall Georgien dar.
Die doppelte Bedeutung des Jahres 1917 wird klar sichtbar: Wilson und Lenin stellen zwei Programme auf, die gleichzeitig verkündet werden und deren Kampf miteinander das Bild unserer Zeit bestimmt. Für die Entwicklung der Emanzipationsbewegung der farbigen Völker wird es besonders bedeutsam werden, daß Wilson und Lenin ihnen nicht als Gegensatz, sondern als Synthese erscheinen. Ihre in Europa geschulten Intellektuellen nehmen in derselben Weise die Schlagworte Wilsons und Lenins auf und schaffen sich daraus, eventuell unter Zugabe eigener Ingredienzien, ihre Ideologie für die Befreiung ihrer Völker. Die Begriffsverwirrung, die wir bei so vielen Intellektuellen dieser Völker immer wieder feststellen müssen, ist nicht nur ein Resultat der kommunistischen Propaganda der letzten Jahre, sondern sie setzt bereits mit dem Jahre 1917 ein.
Zusammenbruch Europas im Zweiten Weltkrieg
Der Zweite Weltkrieg hat die Entwicklungsprozesse, die das globale Zeitalter bestimmen, in hohem Maße beschleunigt. Der von Hitler entfesselte opferreichste Krieg der bisherigen Weltgeschichte hat dem traditionellen europäischen Staatensystem und damit auch der europäischen Weltstellung recht eigentlich den Todesstoß gegeben. Rufen wir uns dieses folgenschwere Geschehen in großen Zügen rasch in Erinnerung. 1940 bricht Frankreich unter den Schlägen der deutschen Wehrmacht zusammen, und es vermochte seither seine Stellung als „puissance du premier rang", als Macht ersten Ranges, nicht mehr zurückzugewinnen. Insofern müssen die entsprechenden Bemühungen der gegenwärtigen französischen Politik als im Endeffekt nutzlos bezeichnet werden. De Gaulle scheint einem Mißverständnis zum Opfer gefallen zu sein, was seine Tat von 1940 anbetrifft. Man tut dieser historischen Tat keinen Abbruch, wenn man nüchtern feststellt, daß de Gaulle damals wohl die Ehre Frankreichs gerettet hat, nicht aber die Größe Frankreichs; die Größe Frankreichs konnte er nicht retten, falls darunter die Größe als Welt-macht verstanden wird, weil diese unter den weltpolitischen Bedingungen des neuen Zeitalters gar nicht mehr möglich ist. Frankreich hätte diese Stellung als Weltmacht auch dann verloren, wenn es die Niederlage von 1940 nicht erlebt hätte — man denke an England! —, wie Frankreich andererseits als unabhängige Nation auch dann wiederhergestellt worden wäre, wenn es die Tat von de Gaulle von 1940 nicht gegeben hätte. Die Unabhängigkeit Frankreichs bzw.deren Wiederherstellung hing nach 1940 nicht mehr von Frankreich selbst ab, sondern vom Ausgang des Ringens, das wir Zweiten Weltkrieg nennen, und in welchem Frankreich nach 1940 keine mitbestimmende Rolle mehr zu spielen vermochte. 1943 erlitt Italien, 1945 Deutschland eine totale Niederlage. Die Schlußphase des Zweiten Weltkrieges hat im Zeichen einer Befreiung Europas von der deutschen Hegemonie gestanden. Diese Befreiung aber — und das ist nun für unser Thema das Entscheidende — ist nur möglich geworden durch außereuropäische Mächte! Es sind die USA, welche im Westen die Hauptlast tragen, während im Osten die eurasische Sowjetunion der Hauptgegner Deutschlands ist. Dazu treten, neben Großbritannien selbst natürlich, das 1940/41 ganz allein den Kampf gegen das übermächtige Deutschland geführt hat, die Völker des britischen Commonwealth, das heißt, die kanadischen, südafrikanischen, australischen und neuseeländischen Verbände, so daß man mit Fug und Recht sagen kann: alle außereuropäischen Kontinente haben an der Befreiung Europas von der deutschen Hegemonie teilgenommen, und ihr Kampfbeitrag war um ein Vielfaches höher als derjenige der europäischen Völker selbst.
Was bedeutet dies für Europa? Daß am Ende dieses Zweiten Weltkrieges keine kontinental-europäische Großmacht mehr vorhanden ist. Das europäische Staatensystem, in das 1918 eine erste schwere Bresche geschlagen worden war, ist 1945 vollkommen zusammengebrochen. Als die Spitzen der amerikanischen und der russischen Armeen im April 1945 bei Torgau an der Elbe aufeinandertrafen, war dies das militärische Symbol dafür, daß Europa ein Machtvakuum geworden war.
Rußland als Nutznießer des Zweiten Weltkrieges
Wir haben absichtlich gesagt, daß keine kontinental-europäische Großmacht mehr übrig-blieb; denn die Sowjetunion ist keine europäische, sondern eine eurasische Macht, Großbritannien keine kontinentale, sondern eine maritime und koloniale Macht (wenn man ihm den Titel einer Großmacht im Weltmaßstab 1945 überhaupt noch zusprechen will). Am Ende des Zweiten Weltkrieges steht somit Rußland zum ersten Male in seiner Geschichte auf der eurasischen Landmasse keine Großmacht als Rivale gegenüber. Der die ganze neuere Geschichte erfüllende Kampf zwischen Hegemonie und Gleichgewicht, in dem nacheinander Spanien unter Philipp II., Frankreich unter Ludwig XIV. und Napoleon und Deutschland unter Wilhelm II. und Hitler ihr Glück als Beherrscher Europas versucht haben, und der immer wieder zugunsten eines pluralistischen Mächtesystems ausgegangen war, schien zum erstenmal endgültig zugunsten der Hegemonie einer Macht entschieden. An sich war zwar die Situation, in welcher Rußland wie ein schweres Bleigewicht auf dem europäischen System lastete, keineswegs völlig neu. Vielmehr war sie seit den polnischen Teilungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts latent immer vorhanden gewesen. Nach der endgültigen Niederlage des napoleonischen Frankreichs ist die Gefahr einer russischen Hegemonie deutlich sichtbar und spürbar geworden. Die Politik Metternichs war in jenem historischen Moment ganz überwiegend der Verhütung einer solchen Entwicklung gewidmet, und er wurde darin von den Engländern unterstützt. Die drohende russische Hegemonie hat bekanntlich auch damals die Koalition der Siegermächte zu sprengen gedroht, sogar noch rascher als das nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Aber im Unterschied zu 1945 konnte dem „Schwergewichtler" Rußland 1815 ein entsprechendes, zum mindesten imponierendes europäisches Gewicht entgegengestellt werden, indem sich Österreich, England und Frankreich zusammenschlossen. So mußte Rußland von seinen Maximalforderungen abgehen, und das „europäische Konzert" hatte freie Bahn. Der sozusagen naturgegebene Druck des russischen Kolosses auf Europa blieb allerdings trotzdem bestehen. Aber er wurde im 19. Jahrhundert durch die beiden Großmächte Österreich und Preußen, später Deutschland, ausgeglichen — wenn wir rein machtpolitisch urteilen; denn ideologisch herrschte ja zwischen den drei konservativen Großmächten weitgehende Harmonie, die lange Zeit ihre Beziehungen auf einen friedlichen Ton abstimmten. Daß diese beiden Gegengewichte nach dem Ersten Weltkrieg ausfielen — Österreich endgültig, Deutschland zum mindesten vorübergehend —, wirkte sich, wie wir sahen, nur deswegen zunächst nicht aus, weil Rußland sich in einem Zustand der Schwäche, ja der Ohnmacht befand. Die Abfallbewegung der nichtrussischen Völker des ehemaligen Zarenreiches führte dazu, daß Rußland die ganzen Gewinne aus den polnischen Teilungen, ja sogar die baltischen Eroberungen Peters des Großen wieder verlor. Es war territorial um 200 Jahre zurückgeworfen. Der russische Druck verschwand von Europa, nachdem schon Lenin die revolutionäre Kriegführung hatte aufgeben müssen und sein Nachfolger Stalin völlig zu einer introvertierten Politik überging.
Die letzte Chance Europas
Es war eine große geschichtliche Chance Europas, die letzte Chance, wie der rückblickende Historiker feststellen muß, soweit es die Wiederherstellung eines funktionierenden europäischen Staatensystems betrifft — und das will heißen: eines Systems, in welches sich alle partizipierenden Staaten aus freiem souveränen Entschluß einordnen können, wofür sie aber ein Minimum von Regeln und Normen anerkennen müssen, wie sie damals vor allem durch die Satzung des Völker-bundes, aber auch durch weitere, auf diesem Grundgesetz des zwischenstaatlichen Lebens basierende Verträge gegeben waren; eines Systems aber auch, in dem ein gewisser Machtausgleich herrschte, ob man den damals an sich verpönten Begriff des Gleichgewichts dabei nun ins Spiel bringen wollte oder nicht. Daß das Locarnovertragssystem von 1925 ein solches Ziel anvisierte, ist offensichtlich. An die Stelle der Unterscheidung von Siegern und Besiegten trat wiederum die Gleichberechtigung. Die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund mit ständigem Sitz im Völkerbundsrat kam prinzipiell einer Wiederanerkennung dieses Staates als einer gleichberechtigten Großmacht gleich (auch wenn weiterhin finanzielle und militärische Verpflichtungen aus dem Friedensvertrag ihre Souveränität noch einschränken mochten). Diese Aktion ist daher mit der Wiederaufnahme Frankreichs in das „europäische Konzert" auf dem Kongreß von Aachen 1818 durchaus zu vergleichen. Man könnte sogar auch für die Zeit nach 1925 von einer gewissen Erneuerung des „europäischen Konzerts" sprechen, insofern, als es nicht nur um machtpolitische, sondern durchaus auch um ideelle Prinzipien ging, die allerdings schon damals von einer der Groß-mächte, nämlich vom faschistischen Italien, in Frage gestellt wurden, wenn wir an die Bedeutung der gemeinsamen demokratischen Staatsform als der neuen „Legitimität von 1919" denken.
Es ist richtig: es war ein europäisches System ohne Rußland, das darin zweifellos einen historischen Platz beanspruchen konnte. Aber die bolschewistische Führung hatte sich ja selbst außerhalb des bestehenden Staatensystems, als eines „kapitalistischen", gestellt, und es erntete nun die Früchte seiner Isolierungspolitik. Übrigens hatte dieses System von Locarno zu keiner Zeit eine offensive antisowjetische Tendenz, wie man im Kreml argwöhnte und in der sowjetischen Geschichtsschreibung bis auf den heutigen Tag behauptet; der Ton lag voll und ganz auf der Aussöhnung mit Deutschland, wenn es auch klar war, daß damit zugleich ein engeres deutsch-sowjetisches Zusammengehen hätte verhindert werden sollen. Zehn Jahre später bemühte sich dann die Diplomatie der europäischen Westmächte, insbesondere Frankreichs, das Westpaktsystem von 1925 durch ein Ostpaktsystem zu ergänzen, mit anderen Worten, auch die Sowjetunion wiederum in das europäische Staatenystem aufzunehmen. Diese hatte nämlich unter Stalin Schritt für Schritt ihre Ver11 bindung mit „kapitalistischen" Staaten ausgebaut — durch Friedensverträge bereits zur Zeit Lenins, dann durch Neutralitätsverträge und Nichtangriffspakte und schließlich 1934 durch Eintritt in den Völkerbund — und die weltrevolutionäre Komponente der sowjetrussischen Außenpolitik war allmählich völlig in den Hintergrund getreten bzw.der Staatsräson des Sowjetstaates unterworfen. Aber jetzt weigerte sich Deutschland, an einem solchen „ Ostlocarno" mitzumachen. Hier hatte sich inzwischen nationalsozialistische Regime das etabliert, das weder an kollektiver Sicherheit noch gar an Garantie der Grenzen von 1919 interessiert war. Seine Machthaber hegten ganz andere Pläne, deren schrittweise Realisierung das 1925 wiedererstandene „europäische Konzert" alsbald wieder zerfallen ließen. An seine Stelle traten wiederum gegnerische Allianzen, welche die Gefahr eines neuen Krieges heraufbeschworen, der dann auch vom deutschen Diktator in verantwortungsloser Weise entfesselt wurde. Damit war, wie sich zeigen sollte, die letzte Chance eines funktionierenden europäischen Systems vertan, aber auch der europäischen Weltstellung das Grab geschaufelt. Der Zweite Weltkrieg hat das eine wie das andere vernichtet.
1945 gab es, so sahen wir, keine nennenswerte europäische Gegenmacht . mehr, die dem übermächtig dastehenden Rußland hätte entgegengesetzt werde können: Deutschland war total besiegt, Frankreich schwach, England, was es immer gewesen war, mehr Seemacht als Land-macht. Die Rolle des Gegengewichtes konnte nur noch eine außereuropäische Macht übernehmen: die USA. Europa so schließlich wurde Teil eines Weltgleichgewichts, das durch die beiden großen Sieg. ermächte des Zweiten Weltkrieges gebildet wurde — ein Gleichgewicht, das allerdings kein harmonisches im Rahmen eines „Weltkonzerts" bleiben sollte — wie es dem Wunsch der Amerikaner entsprochen hätte —, sondern immer antagonistischer wurde, wie es dem Willen Stalins entsprach oder jedenfalls mit innerer Notwendigkeit aus seiner Politik sich ergab. Die Einflußsphären der beiden Weltmächte schlossen Europa ein, und zwar so, daß es ungefähr da geteilt wurde, wo die Armeen der beiden Mächte am Ende des Zweiten Weltkrieges aufeinandergestoßen waren.
Das amerikanische „grand design" von 1945
Wenn heute oft behauptet wird, diese Entwicklung von der Siegerkoalition zum Antagonismus, von der Freundschaft im Kriege zur Feindschaft im Frieden, sei sozusagen natur-notwendig gewesen, so bedarf dieses Urteil der Korrektur. Es ist nämlich keineswegs so gewesen, daß 1945 russischer und amerikanischer Machtwille mit innerer Notwendigkeit aufeinandergestoßen wären. Vielmehr steht fest, daß die USA unter der Führung des Präsidenten Roosevelt gerade keinen Machtwillen entfaltet haben, der über die Zerschlagung der gemeinsamen Gegner Deutschland und Japan hinausgegangen wäre. Die USA zeigten nicht die geringste Lust, zu einem weltumspannenden Kräftemessen mit dem bolschewistischen Rußland anzutreten. Infolgedessen demobilisierten sie denn auch in völlig überstürzter Weise ihre Streitkräfte und machten dem Herrscher im Kreml das Angebot, im Rahmen der neugegründeten Vereinten Nationen eine friedliche Nachkriegswelt aufzubauen, in der die Großmächte so etwas wie ein patriarchalisches Kondominium ausüben sollten. Die Amerikaner dachten nicht, wie es die Europäer aus alter Traditon zu tun pflegen, an das Gleichgewicht der Macht, wenn sie an die Sicherung des Friedens herangingen, sondern an die Welteinheit — „the one world" war die Parole — und damit an die Gemeinsamkeit der Macht, wie es schon Wilson getan hatte und wie sie in einem neuen Anlauf in den Vereinten Nationen verwirklicht werden sollte. Diese Weltfriedensorganisation war nach amerikanischem Willen auf dem Konsensus der Großmächte, insbesondere der USA und der Sowjetunion, aufgebaut, nicht auf natürlichen Machtgegensätzen. Aus dem Umstand, daß Rußland „nach der Niederlage der Achse ohne Frage die Vorherrschaft in Europa haben wird" und daß es nach Deutschlands Zuammenbruch keine Macht mehr geben werde, „die sich Rußlands gewaltiger militärischer Kraft entgegenstellen könnte", wird nicht der für ein in den Kategorien der Machtpolitik geschultes Denken naheliegende Schluß gezogen, es werde nun Aufgabe der USA sein, diese Gegenmacht aufzubauen. Vielmehr heißt es in dem Gutachten, das für die Politik von Teheran und Jalta maßgeblich wurde, infolgedessen sei „die Entwicklung und Aufrechterhaltung der freundschaftlichsten Beziehungen zu Rußland nur um so wichtiger". Von naturgegebenem Machtgegensatz ist keine Rede. Es erweist sich dies bei näherem Zusehen vielmehr als dem amerikanischen politischen Planen — wie es damals vorherrschte — fremdes europäisches Element. Harry Hopkins, Roosevelts engster Berater während des Krieges, sah die Hauptschwierigkeit im Verhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion nach dem Kriege keineswegs in einem allfälligen Machtgegensatz — er meinte sogar, „daß Rußlands Interessen, soweit wir sie voraussehen können, außenpolitisch keinen Anlaß zu schweren Differenzen bieten". Hingegen müßten die Beziehungen zwischen den beiden Staaten „schwer beeinträchtigt werden", und zwar „wegen unserer verschiedenen Grundbegriffe hinsichtlich der menschlichen Freiheit". Und er fährt fort: „Die Amerikaner wünschen nicht nur Freiheit für sich selbst, sondern auch für die Völker in aller Welt ..."
Die Entstehung des Kalten Krieges
Uns scheint, daß diese Worte, die sich Roosevelt, aber auch sein Nachfolger Truman, offensichtlich voll und ganz zu eigen machten, mehr aussagen über das Wesen der amerikanischen Politik nach 1945 als eine höchst fragwürdige Projektion typisch europäischer Vorstellungen auf das amerikanische Denken. Ein solches Vorgehen führt vielmehr dazu, daß wir uns die Möglichkeit einer wahrhaft historischen Erkenntnis selbst verschütten. Wir gelangen höchstens zu einem europäischen Mißverständnis der amerikanischen Politik. Nein: nicht machtpolitische Gegensätze führten zu dem, was wir als „kalten Krieg" bezeichnen. In der Umgebung Roosevelts dachte man gar nicht daran, die Tatsache der sowjetischen Vorherrschaft im Bereiche der von der Roten Armee besetzten Länder in Frage zu stellen. Man hatte volles Verständnis für die russische Forderung, daß die betreffenden Länder Regierungen haben müßten, die der Sowjetunion „freundlich gesinnt" seien. Man erkannte in Washington nur zunächst nicht, welch tiefere Bedeutung diese Forderung hatte.
Um so rascher begriff man in London, um was es wirklich ging. Churchill reagierte sofort, als er merkte, wie die Russen die Bildung einer wahrhaft demokratischen Regierung in Polen zu hintertreiben suchten und auf dem Balkan sogar dazu übergingen, unter Gewalt-androhung ihnen genehme kommunistisch bestimmte Regimes einzurichten. Schon Ende Februar 1945 betonte er in einer Unterhausrede, daß es nicht die territoriale Umgrenzung Polens sei, die Sorgen bereite, sondern die innere Gestaltung dieses Staates. Ob Polen wirkliche Freiheit genießen werde oder aber „eine bloße Widerspiegelung des Sowjetstaates" werden solle, das sei die Frage; ob das polnische Volk wirkliches Selbstbestimmungsrecht ausüben dürfe oder ob ihm durch eine Minderheit ein totalitäres Regime aufgezwungen werden solle. „Hier ist ein weit empfindlicherer und gewichtigerer Prüfstein als die Festlegung der Grenzen." Es war Churchill klar, daß die Sowjetrussen sich daran machten, die feierlich unterzeichnete „Erklärung über das befreite Europa", die auf der Jalta-Konferenz beschlossen worden war, zu mißachten. Aber vergeblich versuchte er, den amerikanischen Präsidenten für eine gemeinsame Intervention bei Stalin zu gewinnen. Es ist symptomatisch für das Denken und Planen Roosevelts und seiner Leute, daß sie glaubten, es handle sich dabei um einen britisch-russischen Streit im Stile der traditionellen europäischen Machtpolitik, in dem den USA die Aufgabe zufalle, den „mediator" zu spielen. Washington verdächtigte die Engländer, in die verruchten Gedankengänge europäischen Gleichgewichtsdenkens oder gar des britischen Imperialismus zurück-zufallen, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Aber noch in seinen letzten Lebens-tagen mußte Roosevelt erkennen, daß es tatsächlich um etwas anderes ging, daß es um etwas ging, das auch die amerikanische Politik im Innersten berührte. In einem seiner letzten Briefe an Stalin, vom 1. April 1945, beschwor nun auch er den „Geist von Jalta" und die „Deklaration über das befreite Europa", die den vom Nazismus befreiten Völkern eine freiheitliche und demokratische Entwicklung im Sinne des Selbstbestimmungsrechts garantieren sollte. Und auch er äußert nun tiefe Besorgnis über die Haltung der Sowjetunion, ohne allerdings die Hoffnung auf eine friedliche Lösung der Probleme und eine Erhaltung der Einheit der Alliierten aufzugeben.
Nun, diese Hoffnung des bereits vom Tode gezeichneten Präsidenten sollte sich nicht erfüllen. Die Siegerkoalition, deren erste Risse wir hier kurz skizziert haben, sollte bald endgültig auseinanderfallen. Der eigentliche Ursprung dieser zweifellos verhängnisvollen Entwicklung, in deren Schatten die ganze Nachkriegszeit gestanden hat, ist indessen nicht machtpolitischer Natur. Der „kalte Krieg" geht nicht auf eine machtpolitische Konfrontation USA—Sowjetunion zurück, sondern auf eine geistige Konfrontation Demokratie—totalitärer Kommunismus. Nur widerwillig zogen die USA aus diesem geistigen Gegensatz die machtpolitischen Konsequenzen. Sie bestanden darin, daß das Streben nach Welteinheit unter den obwaltenden Bedingungen als Illusion und der Aufbau und Ausbau der eigenen Macht zur Herstellung eines Weltgleichgewichtes mit der Sowjetunion als geschichtliche Notwendigkeit erkannt wurde.