Ein Teil betrachtet sie teilweise oder ganz unter bayerischem Aspekt. Ein anderer Teil versteht sie als eine nicht unbedenkliche Frontbildung der Länder, die sich in zunehmendem Maße der auf der Straße liegenden Staatsgewalt des zumindest nicht handlungsfähigen Deutschen Reiches bemächtigte. Er stellt sie in die Reihe zonaler und interzonaler Bemühungen, Begegnungen und Besprechungen, die alte Beziehungen zu erhalten und neue Verbindungen zu knüpfen suchten.
Wilhelm Hoegner bezeichnet die Einladung nach München in seinen Erinnerungen „Der schwierige Außenseiter" als die Absicht Ehards, „gegen das ewige Gerede von der zweifelhaften Reichstreue Bayerns einen vernichtenden Schlag zu führen". Daß die Einladung von München auch durch einen Wandel von Auffassung und Stil der bayerischen Poli-tik veranlaßt war, war auch die Überzeugung der „Neuen Zürcher Zeitung", die am 10. Mai zu dem Schritt Ehards schrieb: „Ein derart weitgehendes Bekenntnis zur deutschen Einheit der Regierung von München wäre vor kurzer Zeit noch undenkbar gewesen. Es beweist, daß sich die Deutschen wieder auf sich besinnen." Die „Neue Zürcher Zeitung" unterläßt es — bedauerlicherweise, muß man hinzufügen —, den Zeitpunkt, bis zu dem ein solches Bekenntnis zur deutschen Einheit in München undenkbar gewesen wäre, näher zu bestimmen. Nicht nur die Phantasie ist geneigt, dafür den Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten im Dezember 1946 anzunehmen und anzusehen. Der Übergang von einer von der Militärregierung eingesetzten zu einer vom Landtag gewählten Staatsregierung, von Hoegner, der sich während seiner Emigration in der Schweiz vom Zentralisten zum Föderalisten gewandelt hatte, zu Ehard, für den der Fortbestand des Deutschen Reiches unzweifelhaft war, markiert eine Veränderung der bayerischen Politik. Indem Ehard die Einladung nach München aussprach, zerstörte er die wuchernden Spekulationen über Bayerns Stellung zu und in Potsdam-Deutschland und bereitete die bayerische Einflußnahme auf die verfassungsrechtliche Gestaltung des westlichen Deutschlands vor, wie sie sowohl auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee als auch vor allem in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates zum Ausdruck kam. Die Vorsitzenden der nicht mehr in Gründung, wohl aber in Sammlung und Aufbau befindlichen Parteien sahen in dem Tätigwerden des bayerischen Ministerpräsidenten und in der Konferenz der Regierungschefs der Länder eine Erstarkung föderativer Kräfte, die sie entweder grundsätzlich oder in der angenommenen Stärke ablehnten. Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei in den westlichen Besatzungszonen, Kurt Schumacher, bezeich3 nete München als den Versuch, die SPD in der Frage der „nationalen Repräsentation" des deutschen Volkes bewußt und vorsätzlich zu überspielen. Schumacher stand mit dieser Auffassung nicht allein. Auch Jakob Kaiser, der im Frühjahr 1947 die Notwendigkeit einer „nationalen Repräsentation" des deutschen Volkes ins Gespräch gebracht hatte, beobachtete die Entwicklung in München mit größter Aufmerksamkeit und betonter Zurückhaltung. Ihm schlossen sich zahlreiche Kommentatoren an, die entweder die Ansichten Schumachers modifizierten oder die Befürchtungen äußerten, Bayern wolle die durch die vom Alliierten Kontrollrat verfügte Auflösung Preußens freigewordene Führung Deutschlands an sich reißen. Der Ministerpräsident des Landes Württemberg-Baden, Reinhold Maier, bemerkt in seinen Erinnerungen: „Neben der unbestreitbar sachlichen Zielsetzung gab Bayern mit dieser Einladung vor der deutschen Mitwelt gleichzeitig eine Karte ab und meldete damit den Anspruch auf die Führungsmacht innerhalb der in Bildung begriffenen bzw. schon gebildeten deutschen Länder an."
Die dritte Gruppe von Meinungen und Urteilen sieht in der Konferenz den Versuch, die Entwicklung zur Spaltung hin entweder zu beschleunigen oder diese transparent zu machen. Der „Berliner Kurier" kommentierte den Exodus der Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone mit der Bemerkung: „Die Konferenz wird also nicht ... die Zusammengehörigkeit der deutschen Länder, sondern die Tiefe des Grabens, der den Westen vom Osten trennt, unterstreichen." Das Organ der SED „Neues Deutschland" polemisierte gegen die, wie es schrieb, „in München historisch gewordene Spaltung der deutschen Einheit". Es apostrophierte die Konferenzteilnehmer als die „kapitalistischen Föderalisten aus dem Westen". Der Vorsitzende der SED, Otto Grotewohl, nannte München eine Konferenz, die durch falsche Einschätzung der realen Tatsachen zu einem Fehlschlag werden mußte. Vor der Feldherrnhalle erklärte Walter Ulbricht am 9. Juni: „Dr. Ehard wollte nur eine Beratung der Ministerpräsidenten, um damit zu demonstrieren, daß auch bei den künftigen Friedensverhandlungen die Ministerpräsidenten der einzelnen Länder die offiziellen Vertreter des deutschen Volkes sein sollen. Dieser föderalistische Standpunkt Dr. Ehards, der unweigerlich zu einer bundesstaatlichen Aufteilung Deutschlands führen würde, steht im Widerspruch zur Mehrheit unseres Volkes, das ehrlich die Einheit Deutschlands will."
Die drei Gruppen von Meinungen, deren Urteile sich in den bereits vorliegenden Darstellungen niederschlagen, artikulieren die Frage nach der politischen Funktion und historischen Position der Münchner Ministerpräsidenten-Konferenz. Deren Beantwortung ist nur vor dem Hintergrund der weltpolitischen Situation, deren Schatten tief auf Deutschland fielen, und nur unter Berücksichtigung der Lage in Deutschland möglich. Allein eine Analyse der internationalen Konstellation und des nationalen Zustandes ist geeignet, den Platz der Zusammenkunft im damaligen Koordinatensystem internationaler Entscheidungen und nationaler Entwicklungen auszumachen. Losgelöst sowohl von den weltpolitischen Verflechtungen als auch von den Gegebenheiten in Deutschland bleibt das Treffen in der als Konferenzstadt weder rühmlich bekannten noch ausgezeichneten bayerischen Landes-hauptstadt ohne Konturen und Perspektiven. Es wirkt in diesem Falle als eine überbelich-tete Episode, die an der Peripherie des zeitlichen Geschehens anzusiedeln und dem Bereich der politischen Folklore zuzuordnen ist.
I. Tendenzen und Elemente der alliierten Deutschlandpolitik
Die Münchner Ministerpräsidenten-Konferenz vom 6. /7. Juni 1947 liegt zeitlich genau in der Mitte zwischen der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und der Verkündigung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland — ein Umstand, der ohne sach-liche Begründung zufällig sein könnte. Die Entwicklung weist ihm jedoch den Charakter eines Markierungszeichens zu. Indem die Konferenz die Zeitspanne zwischen 1945 und 1949 unterteilt, nimmt sie unbeabsichtigt eine Pe-riodisierung vor. Sie fixiert die Wende zwi-sehen einer Phase des Zuwartens, in der die durch die Besetzung Deutschlands eingeleitete Entwicklung nach außenhin ziellos zu treiben scheint, und einem Abschnitt vorbereitender Ereignisse, die der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland und der „DDR" vorausgehen.
Die Konferenz gehört aber auch in den politisch sehr dichten Ablauf des „Sommers der Entscheidung" — eine Formulierung, mit der die „Neue Zürcher Zeitung" am 13. Juni die Kumulation politischer Klärungen in der Mitte des Jahres 1947 ansprach. Ihr kommt die Funktion einer Wendemarke zu, bei der internationale und nationale Veränderungen sich durchdringen.
Zwei Jahre vor dem Zusammentritt der spektakulären Vorkonferenz in der Bayerischen Staatskanzlei an der Prinzregentenstraße, am 5. Juni 1945, übernahmen die Militärgouverneure der vier Besatzungsmächte in Deutschland in den Berliner Deklarationen die oberste Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands. Sie beendeten damit die inkommensurable Zwischenphase zwischen der Doppel-kapitulation von Reims und Berlin-Karlshorst, in der die Schizophrenie des Sieges der Mächte der Anti-Hitler-Koalition über Deutschlands erstmals sichtbar wurde, und der zunächst beabsichtigten, auf Grund der Weigerung der Sowjetunion jedoch unterbliebenen Konstituierung des Alliierten Kontrollrates für Deutschland. Die Militärgouverneure proklamierten in der von ihnen verabschiedeten „Berliner Erklärung" die totale Niederlage Deutschlands, indem sie auf die Tatsache verwiesen, daß es in Deutschland keine zentrale Regierung oder Behörde gab, die fähig gewesen wäre, die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung, für die Verwaltung des Landes und für die Ausführung der Forderungen der siegreichen Mächte zu übernehmen. Der Eintritt dieser Situation, die in der neueren Geschichte ohne Beispiel ist, wurde verursacht durch die Zwangsidentifikation zwischen der Nationalsozialistischen Partei und der öffentlichen Verwaltung und durch die Forderung der Mächte, in Deutschland einen neuen Anfang zu machen. Die bisherige Entwicklung des deutschen Volkes, die Geschichte Deutschlands, sollte zum Stillstand kommen — eine neue Entwicklung, verursacht und bestimmt durch die Mächte, sollte ihren Anfang nehmen.
Die dahinterstehende Vorstellung, die mit Verzögerung auch auf Deutschland Übergriff, veranlaßte Thomas Mann in seinem Brief vom 7. September 1945 an Walter von Molo zu dem Ausruf: „Man höre doch auf, vom Ende der deutschen Geschichte zu reden! Deutschland ist nicht identisch mit der kurzen und finsteren geschichtlichen Episode, die Hitlers Namen trägt. Es ist auch nicht identisch mit der selbst nur kurzen Bismarckschen Ära des Preußisch-Deutschen Reiches. Es ist nicht einmal identisch mit dem auch nur zwei Jahrhunderte umfassenden Abschnitt seiner Geschichte, den man auf den Namen Friedrichs des Großen taufen kann. Es ist im Begriffe, eine neue Gestalt anzunehmen, in einen neuen Lebenszustand überzugehen, der vielleicht nach den ersten Schmerzen der Wandlung und des Überganges mehr Glück und echte Würde verspricht, den eigensten Anlagen und Bedürfnissen der Nation günstiger sein mag als der alte." Mit seiner Ansicht über die Kontinuität der deutschen Geschichte stand Thomas Mann im Epochenjahr 1945 weithin allein;
seine Erwartungen auf eine gewaltsam herbeigeführte Mutation der deutschen Mentalität teilten auch die Besatzungsmächte, freilich mit sehr unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Vorstellungen und Zielsetzungen.
Die innere Problematik des durch den Angriff Hitlers auf die Sowjetunion, wenn auch nicht provozierten, so doch favorisierten Bündnisses zwischen der Sowjetunion, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika schlägt — bis zum gegenwärtigen Augenblick — in deren Deutschlandpolitik durch.
Die drei Mächte gaben zwischen 1941 und 1945 angenäherte und übereinstimmende Erklärungen über die grundsätzliche Behandlung Deutschlands ab. Deren deklamatorischer Charakter trat gerade im Frühjahr 1947 bei der Beratung des Staatsaufbaues Deutschlands voll in Erscheinung. Die drei Mächte trafen in der Europäischen Beratenden Kommission technische Vereinbarungen über die Besetzung und Kontrolle Deutschlands während einer zeitlich nicht festgelegten Besatzungszeit.
Sie waren jedoch weder in der Lage noch willens, die Verbindung zwischen ihren Kriegszieldeklamationen und den technischen Vereinbarungen durch die Verabschiedung praktikabler Grundsätze der gemeinsamen Regierung und Verwaltung Deutschlands eine Verbindung herzustellen. Die Deutschlandpolitik aller drei Großmächte der Anti-Hitler-Koalition ist vielschichtig. In ihr lassen sich Tendenzen und Aussagen sowohl für die Teilung als auch für die Beibehaltung der Einheit Deutschlands nachweisen. Es ist eine Unsicherheit und Mißtrauen offenbarende Politik des Als-ob — als ob es zur Teilung Deutschlands käme, als ob die Einheit Deutschlands unversehrt erhalten bleibe. Der permanente Pendelschlag zwischen den Extremen dieser Haltung verwirrt bei der Betrachtung der Deutschlandpolitik sowohl einer Macht als auch aller drei Mächte. Das antithetische Denken der drei originären Besatzungsmächte in bezug auf Deutschland ist nicht das Ergebnis diplomatischer Kurzsichtigkeit oder politischer Euphorie, Eigenschaften und Verhaltensweisen, die nachweisbar sind, es ist das Ergebnis der Unfähigkeit der Großmächte, sich über eine anwendbare Form der gemeinsamen Regierung Deutschlands, eines Kondominiums über eine Industrienation von 65 Millionen, zu verständigen. Diese Grundtatsache der internationalenDeutschlandpolitik ist Ausgang der unmittelbar nach der Doppelkapitulation einsetzenden Entwicklung. Wer sie übersieht oder zu leicht veranschlagt, wird bei allen Bemühungen um die Wiederherstellung der politischen Einheit des deutschen Volkes, soweit diese auf Grund der Erfahrung mit der Realisierung der national-staatlichen Idee in Deutschland ein erstrebenswertes Ziel ist, in die Irre gehen.
Vertreter aller drei Besatzungsmächte hielten die Möglichkeit einer juristischen oder faktischen Teilung Deutschlands nach dessen Besiegung vom Herbst 1941 an für möglich, ja für wahrscheinlich. In der sowjetischen Deutschlandpolitik lassen sich zwei Tendenzen verfolgen: Die Überlegung über eine Aufteilung Deutschlands, wie sie Stalin erstmals im Dezember 1941 äußerte, und das Bekenntnis zur Einheit Deutschlands, wie es Stalin im Februar 1942 abgab. Die britische Politik war zu sehr auch mit eigenen Problemen der Nachkriegsentwicklung beschäftigt, um sich ausschließlich oder überwiegend mit Deutschland zu befassen. Churchill verfolgte, offensichtlich aber nicht einmal selbst von der Chance der Verwirklichung überzeugt, die Idee einer Teilung Deutschlands an der Mainlinie. Seine Äußerung über eine Donauföderation vom Rheintal bis zur ungarischen Tiefebene irrlich-terte auch durch die ersten Stunden der bayerischen Nachkriegspolitik. Beinahe alle Politiker, Diplomaten und Publizisten der Vereinigten Staaten von Amerika beteiligten sich an dem großen Sandkastenspiel über Deutschland. Nicht nur der guten Quellenlage wegen gibt die amerikanische Diskussion über die Zukunft Deutschlands ein eindrucksvolles Bild von Vorstellungen und Ideen, Missionierungsbestrebungen und Umerziehungsattacken. Da die einzelnen Regierungen der drei Mächte nicht in der Lage waren, sich für eine Haltung gegenüber Deutschland zu entscheiden, war die Voraussetzung für eine Abstimmung unter ihnen nicht gegeben.
George F. Kennan versicherte in seinen im Spätherbst 1957 von BBC London gesendeten „Reith Lectures" mit großem Ernst, er kenne zwischen Rußland und dem Westen keine anderen bedeutungsschweren Streitfragen als jene Probleme, die sich aus der Art und Weise ergaben, wie man den Zweiten Weltkrieg zu Ende gehen ließ. Kennan fuhr fort: „Ich denke dabei besonders daran, daß die Macht der deutschen Reichsregierung auf deutschem Boden selbst und in weiten Gebieten Osteuropas beseitigt wurde, daß sich die Armeen der Sowjetunion und der westlichen Demokratien in der Mitte trafen und die Kontrolle dieses Territoriums in ihre Hand nehmen konnten, bevor über seine Zukunft entsprechende Vereinbarungen getroffen waren. Das ergab sich einerseits aus dem Grundsatz der bedingungslosen Kapitulation, der die Deutschen aller eigenen Verantwortung für die Zukunft dieses Gebietes enthob, andererseits daraus, daß die alliierten Regierungen während des Krieges untereinander zu keiner sachlichen Verständigung über dieses Problem gelangt waren. Da später eine solche Einigung nicht mehr zu erreichen war — den Fall Österreich ausgenommen verwandelte sich der Ubergangszustand in einen Dauerzustand." Kennan bemerkte abschließend: „Und vor diese Tatsache sind wir heute gestellt."
Im Zeitpunkt der Niederlage des vom nationalsozialistischen Parteiregime usurpierten Deutschen Reiches war diese Einsicht bei keinem westlichen Diplomaten und Politiker präB sent. Zwar wuchsen mit dem Nahen des Endes des Krieges in Europa die Zweifel an der Lösbarkeit des Problems Deutschland, verursacht durch die Beobachtung der Entwicklung auf dem Balkan und in Polen. Sie wurden jedoch zurückgedrängt durch die Hoffnung, die Kameraderie des Krieges werde zu einer Bruderschaft des Friedens. Unmittelbar vor oder nach der Doppelkapitulation äußerten autorisierte Vertreter der drei Besatzungsmächte die Überzeugung, Deutschland bleibe für immer geteilt. Stalin, offensichtlich verärgert über den auf der Konferenz von Jalta nicht zustande gekommenen Beschluß über eine Aufteilung Deutschlands, versicherte einer jugoslawischen Delegation: „Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, der legt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, soweit seine Armee vordringen kann." Die Briten waren, wie zuletzt Robert E. Murphy betonte, der Überzeugung, Deutschland werde für immer geteilt bleiben. Bei der Vorbereitung der Konferenz von Potsdam im späten Frühjahr 1945 verwiesen amerikanische Diplomaten auf die Notwendigkeit, im Falle, daß mit der Sowjetunion keine Verständigung über bestimmte Probleme, z. B. Reparationen, Refinanzierung der Ersteinfuhren und Sanierung der deutschen Währung, zustande käme, die Errichtung eines Weststaates in Angriff zu nehmen.
Keine Besatzungsmacht kam mit der Absicht nach Deutschland, unter allen Umständen den am 18. Januar 1871 proklamierten deutschen Nationalstaat zu erhalten oder wieder herzustellen. Die während des Zweiten Weltkrieges vorgenommenen Denkübungen darüber waren unverbindlich — eine Tatsache, die auf der Konferenz von Potsdam voll in Erscheinung trat. Diese gab zur Frage der Einheit Deutschlands nur eine Deklamation ab, deren Problematik nicht nur die Textexegese, sondern vor allem die bisher übersehene Genesis bezeugt.
Die nach der Konferenz von Potsdam beginnende Phase emsiger Betriebsamkeit des Alliierten Kontrollrates wurde nicht nur durch das Hinzutreten einer vierten Besatzungsmacht beeinflußt. Frankreich ist als Besatzungsmacht in Deutschland trotz des Ehrgeizes des Chefs der provisorischen französischen Regierung, des Generals de Gaulle, kein bestimmendes, sondern ein retardierendes Moment. Unfähig, seinen Ansichten sowohl zur territorialen Gestaltung der Westgrenze als auch zur politischen Struktur Deutschlands Gehör zu verschaffen, widersetzte sich Frankreich sowohl den Erörterungen des Kontrollrates, Staatssekretariate als Ersatzbehörden und Ansatzpunkte für zentrale Dienststellen zu schaffen, als auch dem Versuch, gegenüber der bereits in den ersten Wochen der Besetzung integrierten und isolierten sowjetischen Besatzungszone einen Weststaat zu schaffen. Indem Frankreich zur Verlängerung der Phase zwischen dem durch die Kapitulation herbeigeführten Ende der reduzierten Tätigkeit der Reichsverwaltung und dem Zeitpunkt partieller Staatsgründungen auf dem Gebiet des Deutschen Reiches beitrug, gab es sowohl den Besatzungsmächten als auch den allmählich hervortretenden deutschen Politikern Möglichkeiten zur Lösung des deutschen Problems.
Die Verantwortung für die Entwicklung in Deutschland verlagerte sich nach der Konferenz von Potsdam von der Ebene der Regierungschefs auf die Ebene der Außenminister und des Kontrollrats. Während der Kontrollrat mit großem Eifer Maßnahmen zur Liquidierung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft traf, ließ sich der Rat der Außenminister bei der Erörterung der deutschen Frage Zeit. Deutschland geriet in den Windschatten der internationalen Politik. Diese befaßte sich vor allem mit der Kapitulation Japans, mit Vorgängen im Iran, der Dardanellen und in Griechenland, mit der Ausarbeitung der Friedensverträge für die „Achsen-Satelliten" und vor allem mit der Entwicklung in China. Mit der temporären Abwendung von Deutschland verbanden die Mächte die Illusion, die Praxis gemeinsamer Regierung und Verwaltung Deutschlands trage zur Überwindung der vorhandenen Gegensätze und zur Lösung der anstehenden Fragen bei, die administrative Notwendigkeit erzwinge, was die politische Diskussion nicht erreichte.
Die Konfrontation mit den zielstrebigen Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht in ihrer Besatzungszone, als Vollzug des Abkommens von Potsdam deklariert, machte jedoch aus Zweifelnden Besorgte, aus Verbündeten Gegner. Die Meinungsverschiedenheiten über die Reparationslieferungen, die bereits bei der in Moskau tagenden Interalliierten Reparationskommission im September und Oktober 1945 in Erscheinung getreten waren, führten unter den Besatzungsmächten zu einer Gruppenbildung. Während die Sowjetunion ihr Vorgehen unter Berufung auf die Kommuniques von Jalta und Potsdam rechtfertigte, verwiesen die Vereinigten Staaten und auch Großbritannien auf ihre Auslegung der entsprechenden Bestimmungen. Frankreich hielt sich zurück, indem es auf seine unerfüllten Wünsche in bezug auf die innere Gestaltung Deutschlands und auf die Westgrenze verwies. Die Vorstellung, die gegensätzliche weltpolitische Positionen beziehenden Mächte würden gegenüber und in Deutschland in kriegs-euphorischer Eintracht verharren, war eine Chimäre. Der Zonenseparatismus drückte sich immer stärker in die deutsche Wirklichkeit ein. Der Versuch der Vereinigten Staaten, außerhalb des Kontrollrates zu einem Zusammenschluß der Zonen zu gelangen, wurde nur von Großbritannien unterstützt. Dessen Labour-Regierung verhielt sich zunächst reserviert gegenüber der Situation in Deutschland. Der Führer der Opposition im britischen Unterhaus, Winston S. Churchill, der exzellente Pragmatiker weltpolitischer Mobilität, sprach in Fulton am 5. März und in Zürich am 19. September 1946 offen aus, was viele Zeitgenossen auch in bezug auf Deutschland dachten.
Nicht politische Einmütigkeit, sondern die Abwanderung von Arbeitskärften aus der sowjetischen Besatzungszone und die Ernährungslage vornehmlich in Nordwestdeutschland veranlaßten alle vier Besatzungsmächte im Juni 1946, einem von der Sowjetunion eingebrachten Antrag auf Sperrung der Grenze zwischen der sowjetischen Besatzungszone einerseits und der britischen und amerikanischen Besatzungszone andererseits zuzustimmen. Dadurch wurde die Freizügigkeit in Deutschland aufgehoben — auf Grund eines einstimmig gefaßten Beschlusses des Alliierten Kontrollrates. Aus den militärischen Demarkationslinien wurden Grenzen, Barrieren, die die freie Bewegung der Deutschen innerhalb Deutschlands behinderten. Der Erlaß der Kontrollratsdirektive Nr. 42 vom 29. Oktober 1946 über die Ausgabe eines Interzonenpasses war die Folge.
Die Gespräche auf der zweiten Sitzung des Rates der Außenminister in Paris im Sommer 1946 verstärkten bei den vier Besatzungsmächten den Eindruck kaum lösbarer Schwierigkeiten in bezug auf Deutschland. Zu deren Fixierung beizutragen, war die erkennbare Absicht der Erklärungen, die im Herbst 1946 die Vertreter von drei Besatzungsmächten zur Situation in Deutschland abgaben. Frankreich artikulierte seine hinreichend bekannt gemachten Vorstellungen zu Beginn des Jahres 1947.
Am 6. September 1946 hielt der amerikanische Außenminister Byrnes seine berühmte Stuttgarter Rede — ohne Zweifel ein Wendepunkt der amerikanischen Deutschlandpolitik, die damit endgültig und unwiderruflich aus dem Schatten der Direktive 1067 trat, um deren Ersetzung sich vornehmlich General Clay seit dem Ende der Konferenz von Potsdam bemüht hatte. Die Sowjetunion antwortete darauf indirekt: Außenminister Molotow gab unmittelbar darauf eine Erklärung über die Westgrenze Polens ab. Stalin ging in einem Interview für den Korrespondenten der „Times", Alexander Werth, am 17. September 1946 auf die aufgeworfenen Fragen ein. Am 22. Oktober äußerte sich der britische Außenminister Bevin in einer in ihrer Bedeutung der Rede Byrnes nicht nachstehenden Erklärung vor dem Unterhaus zur Situation in Deutschland. Bevin analysierte die Möglichkeiten zur Lösung des bis zum gegenwärtigen Augenblick ungelösten Problems eines beständigen Friedens in Europa. Auf diese Rede nahm Stalin in seinem, dem Korrespondenten von United Press am 28. Oktober gewährten Interview Bezug.
Am 2. Dezember 1946 billigten die Außenminister Byrnes und Bevin das am 5. September von den Generälen Clay und Robertson unterzeichnete Abkommen über die wirtschaftliche Fusion der amerikanischen und britischen Besatzungszone. Dieser Umstand veranlaßte wenige Tage später den französischen Außenminister Bidault, vor der dritten Sitzung des Rates der Außenminister in New York Dispositionen administrativer Art im Saargebiet anzukündigen.
II. Internationale Bewegungen und nationale Entwicklungen im Frühjahr 1947
Die Erklärungen und Maßnahmen der Besatzungsmächte in den letzten vier Monaten des Jahres 1946, das James P. Warburg ein „Jahr der Unklarheit" nennt, lassen die allgemeine Richtung der von diesen angestrebten Entwicklung erkennen. Sie präjudizierten die Entscheidungen des Jahres 1947. Das deutsche Volk war durch die im Winter 1946/47 allgemein spürbaren Auswirkungen der totalen Niederlage und des politischen Schwebe-zustandes zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um diese Vorgänge bewußt zu registrieren und in ihren Auswirkungen zu übersehen. Bei einem Besuch in Nürnberg im März 1947 trug Max Frisch in sein „Tagebuch" ein: „Die Verlumpung erreicht einen Grad, den ich bisher nur in Serbien gesehen habe.“ Als Impressionen notierte der Reisende aus der Schweiz: „Schwindsucht, Schwarzhandel, Faustrecht, Syphilis“. Emil Brunner beendete den Bericht einer Reise durch Deutschland mit einer Bitte an die Welt: „Auch die Hasser mögen bedenken, daß ein verzweifeltes und völlig demoralisiertes Deutschland ein politischer und sozialer Seuchenherd für die ganze Welt wäre, und auch der kühle Rechner politische muß zugeben, daß eine Wiedergesundung Europas ohne diejenige Deutschlands undenkbar ist."
Aber nicht nur Deutschland verfiel. Die anhaltende europäische Kohlenkrise charakterisierte die wirtschaftliche Stagnation Europas. Sie erzwang vor allem in der deutschen Frage eine allmähliche Annäherung zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien einerseits und Frankreich andererseits.
Die Vereinigten Staaten von Amerika nahmen enttäuscht zur Kenntnis, daß die von ihnen einzelnen europäischen Ländern gewährte Hilfe nicht in der Lage war, als Initialzündung zu wirken. Der wirtschaftliche und soziale Niedergang erhöhte erkennbar die politische Anfälligkeit aller westeuropäischen Länder. In Osteuropa ging der mit dem Einmarsch der Roten Armee eingeleitete politische Assi-milierungsund Integrierungsprozeß unaufhaltsam weiter. Europa als Ganzes befand sich im Zustand einer beginnenden Agonie — eine Erkenntnis, die die Vertreter der Vereinigten Staaten zu einer Reihe richtunggebender Einzelentscheidungen veranlaßte. Die amerikanische Politik befand sich in der ersten Stunde des „Containment“, der „Eindämmung", die Kennan wenige Monate später, im Juli 1947, als „Mister X" in der Zeitschrift „Foreign Affairs" formulierte und postulierte.
In diesem Augenblick zunehmender Distanzierung der Mächte wendete sich die Vorkonferenz der stellvertretenden Außenminister in London und der vierten Sitzung des Rates der Außenminister in Moskau der deutschen Frage zu, die jetzt, im Frühjahr 1947, im Mittelpunkt der Diskussion stand, veranlaßt vor allem durch die Einsicht, daß Europa mit einem Vakuum in seiner Mitte weder leben noch überleben könne.
Während der Konferenz der stellvertretenden Außenminister vom 14. Januar bis 25. Februar 1947 legten sowohl die Besatzungsmächte Deutschlands als auch die Anrainerstaaten umfangreiche Denkschriften über die Bedeutung Lösungsmöglichkeiten des und deutschen Problems vor. So stellte die Regierung der Niederlande in ihrem der Vor-konferenz übergebenen Memorandum vom 14. Januar fest: „Die Niederländische Regierung ist beim Anblick des geistigen, moralischen und kulturellen Verfalls in Deutschland, der seit 1866 immer schneller zunahm und nach 1933 seine teuflische Vollendung im Nationalsozialismus erfahren hat, von tiefer Besorgnis erfüllt. Diese Besorgnis ist keineswegs verringert durch die geistige Leere, die nach dem Zusammenbruch des Traumes von der Weltherrschaft entstanden ist und die danach verlangt, durch positive Werte ersetzt zu werden." Das Memorandum der niederländischen Regierung verwies mit starkem Nachdruck auf den in Deutschland allenthalben anzutreffenden Nihilismus und betonte, sie halte die Ausbreitung eines solchen Nihilismus für eine Bedrohung nicht nur für die Deutschland benachbarten Staaten, sondern für die gesamte Welt. Die französische Regierung legte am 1. Februar der Vorkonferenz einen bis ins einzelne gehenden Plan eines Staaten-9 bundes in Deutschland vor; sie erwartete dafür amerikanische Unterstützung, hatte doch Außenminister Byrnes sich in seiner Stuttgarter Rede erneut zu einer Dezentralisierung Deutschlands bekannt. Sie rechnete nicht mit dem Beifall Großbritanniens, da Außenminister Bevin die Bereitschaft erkennen ließ, zur Reichsverfassung vom 11. August 1919 zurüdezukehren, die nach britischer Auffassung juristisch noch in Kraft war, da sie nur de facto, nicht aber de jure beseitigt war. Die französische Regierung war sich darüber im klaren, daß die Sowjetunion leidenschaftlich widersprechen werde, da diese einen zentralistischen Einheitsstaat befürwortete. An der Meinungsverschiedenheit über die verfassungsrechtliche Struktur Deutschlands fraßen sich die Beratungen der stellvertretenden Außenminister in London fest. Die Vorkonferenz war Vorspiel, nicht Vorbereitung der vierten Sitzung des Rates der Außenminister. Zwischen beiden Zusammenkünften fielen weitgreifende politische Entscheidungen.
Der anhaltende sowjetische Druck auf die Türkei und die Ausweitung der Kämpfe in Griechenland, in deren Verlauf die kommunistischen Truppen Unterstützung und Zuzug aus Albanien, Jugoslawien und Bulgarien erhielten, bestimmten Präsident Truman, am 12. März 1947 vor dem Kongreß folgende, in Anlehnung an die „Monroe-Doktrin“ als „Truman-Doktrin“bezeichnete Erklärung abzugeben: „Es muß . . .der außenpolitische Grundsatz der Vereinigten Staaten werden, allen Völkern, deren Freiheit von militanten Minderheiten oder durch einen von außen geübten Druck bedroht wird, unseren Beistand zu leihen . . . Unter einem solchen Beistand verstehe ich vor allem wirtschaftliche und finanzielle Hilfe zur Herstellung geordneter politischer Verhältnisse und zur Sicherung der Stabilität."
Die durch die Verkündung der „Truman-Doktrin" ausgelöste Scheidung und Verhärtung der weltpolitischen Fronten schlug sich in den Beratungen des Rates der Außenminister, der zwei Tage vorher, am 10. März, in Moskau zu seiner vierten Sitzung zusammengetreten war, nieder. Am 22. März sprach sich der sowjetische Außenminister Molotow gegen jede, wie er sagte, „Zwangsföderalisierung Deutschlands" aus. Er befürchtete, eine Föderalisie-rung Deutschlands würde die Idee der Einheit Deutschlands, die dem deutschen Volke offensichtlich teuer sei, den deutschen Militaristen ausliefern. Molotow nahm aber auch an, im Falle einer Föderalisierung Deutschlands werde es keine Zentralregierung und auch keine Zentralstelle geben, die für die Erfüllung der Verpflichtungen Deutschlands gegenüber den Verbündeten verantwortlich sei. Er schlug vor, über die Alternative „föderativer oder zentraler Staatsaufbau“ das deutsche Volk selbst entscheiden zu lassen — ein gesamtdeutsches Plebiszit über ein verfassungsrechtliches Problem, aus dem später „gesamtdeutsche Wahlen" wurden. Der britische Außenminister Bevin lehnte die sowjetische Empfehlung mit der Bemerkung ab, er sei nicht gewillt, die Sicherheit seines Landes einer Volksabstimmung durch die Deutschen auszusetzen. Er fügte hinzu, es sei ihm gleichgültig, ob die Deutschen Sozialisten, Konservative oder Kommunisten wären, wenn sie nur friedlich seien. Bevin versuchte, durch einen Plan, einen der zahllosen Deutschland-Pläne, die Unfähigkeit der Konferenz, sich über Deutschland zu einigen, zu überwinden. Molotow reagierte mit dem Hinweis, die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich hätten das Potsdamer Abkommen verletzt — eine stereotype Behauptung, deren Freilegung durchaus geboten ist. Auch über die Frage der Reparationen kam es in Moskau zu heftigen Meinungsverschiedenheiten. Sowjetische Forderungen auf Erfüllung der vereinbarten Reparationsleistungen und amerikanische Hinweise auf die Folgen einer weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation in Deutschland standen sich unversöhnlich gegenüber. Der von Außenminister Bevin unterstützte Vorschlag des amerikanischen Außenministers Marshall, die deutschen Gebiete ostwärts der Oder und Neiße für Deutschland wirtschaftlich verfügbar zu machen, wurde von Molotow scharf zurückgewiesen. Dieser versicherte mit Nachdruck, der Beschluß der Potsdamer Konferenz über die Westgrenze Polens sei ein endgültiger Beschluß, der keiner Revision unterliegt. Der französische Außenminister Bidault versuchte zu vermitteln, indem er bemerkte, das deutsche Grenzproblem müsse in seiner Gesamtheit behandelt und entschieden werden. Die Sitzung des Rates der Außenminister ging ergebnislos zu Ende. Sie hatte keine Annäherung der Auffassungen erbracht, sondern war zur Demonstration der sich rasch vergrößernden Distanz unter den geworden. Sie hatte den deklamatorischen Charakter der während des Krieges proklamierten Kriegsziele gegenüber Deutschland erneut bewiesen.
Stalin tröstete den wegen dieses Ausganges der Konferenz besorgten amerikanischen Außenminister mit der Versicherung: „Es sind ja nur die ersten Geplänkel der Vorhuten." Die Nachrichtenagentur TASS führte in einem Kommentar jedoch die Probleme an, über die gegensätzliche Meinungen bestanden: Staats-aufbau Deutschlands, Reparationen, Ostgrenze. Außenminister Marshall verwies nach seiner Rüdekehr aus Moskau die amerikanische Öffentlichkeit auf die Bedeutung des Zeit-faktors: „Die Gesundung Europas macht viel langsamere Fortschritte, als man erwartet hatte. Es machen sich zersetzende Kräfte bemerkbar. Der Patient wird schwächer, während die Ärzte beraten. Darum glaube ich nicht, daß wir einen Erschöpfungskompromiß abwarten müssen ... Es müssen unverzüglich alle nur möglichen Maßnahmen ergriffen werden, um diesen drängenden Problemen zu begegnen."
III. Die Meinungsverschiedenheiten über den Staatsaufbau Deutschlands
Das entscheidende Problem der vierten Sitzung des Rates der Außenminister war nicht, wie allgemein behauptet wird, die Reparationsfrage, sondern die Entscheidung über den Staatsaufbau Deutschlands. Sie stand an erster Stelle. Bei ihrer Behandlung stießen, stärker noch wie bei der Frage der Reparationen, die Meinungen der Besatzungsmächte aufeinander. Während Frankreich, wie sein Memorandum vom 1. Februar ausweist, einem extremen Föderalismus das Wort redete, befürwortete die Sowjetunion einen extremen Zentralismus. Die Vereinigten Staaten hielten an der Forderung der Konferenz von Potsdam nach Dezentralisierung der Verwaltung und einem Staatsaufbau von unten aus fest. Modifiziert sprach sich dafür auch Großbritannien aus. Die leidvolle, mehr von Empfindungen und Mißverständissen als von Einsichten und Erfahrungen bestimmte Alternative Föderalismus oder Unitarismus war damit erneut zur Diskussion gestellt. Sie schlug, wie noch darzulegen sein wird, in Vorbereitung und Verlauf der Münchner Ministerpräsidentenkonferenz durch. Andre Frangois-Poncet macht in seiner Betrachtung „Der Weg von Versailles bis Potsdam" darauf und vor allem auf die dahinterstehende Problematik aufmerksam: „Die Alliierten hielten es für richtig, die Frage der künftigen politischen Struktur des Reiches auf unbestimmte Zeit zu vertagen, und für möglieh, mit der inneren Einrichtung des Hauses zu beginnen, ehe das Dach vollendet war. Die Einteilung der Räume eines Hauses wird aber auch von der Anlage des Daches bedingt. Deutschlands künftige politische Struktur warf eine Grundfrage auf, die deutsche Frage per excellence, die schon die Verhandlungen der Weimarer Nationalversammlung am längsten aufgehalten hatte: Die Frage, ob Deutschland ein Einheitsstaat, ein Bundesstaat oder ein Staatenbund sein sollte." Die Auseinandersetzung darüber erreichte auf der Sitzung des Rates der Außenminister in Moskau im Frühjahr 1947 ihren Höhepunkt — ein Umstand, der ein grundsätzliches Problem auf-wirft. Die während des Zweiten Weltkrieges veröffentlichten Denkschriften, Untersuchungen und Kommentare zur politischen Zukunft Deutschlands bezeichneten die Form des deutschen Staatsaufbaues in Deutschland als die entscheidende Frage. Sie ließen sich von der Ansicht leiten, die Machtkumulation der nationalsozialistischen Herrschaft sei nur auf Grund eines unerträglichen Zentralismus möglich gewesen. Sie sprachen sich deshalb entweder für eine Dezentralisierung oder für eine Föderalisierung Deutschlands aus. Sie erwarteten sowohl von einer Dezentralisierung als auch einer Föderalisierung Deutschlands Verteilung der Verantwortung und — dadurch — Bändigung der Macht. Ein Teil derer, die sich in diesem Sinne äußerten, bedienten sich des Begriffes „Dezentralisierung", ein anderer Teil wählte die Bezeichnung „Föderalisierung". Das Kommunique der Konferenz von Potsdam stellt fest: „Die Verwaltung Deutschlands muß in Richtung auf eine Dezentralisation der politischen Struktur und der Entwicklung einer örtlichen Selbstverantwortung durchgeführt werden.“ Es erklärt an anderer Stelle: „In praktisch kürzester Frist ist das deutsche Wirtschaftsleben zu dezentralisieren . . Das Kommunique über die Konferenz von Potsdam gebraucht nicht die Begriffe „Föderation" oder „Föderalisierung" — meint es mit der Bezeichnung „Dezentralisation" das Gleiche? Sind, so ist zu fragen, die Begriffe „Dezentralisierung" und „Föderalisierung" identisch? Die Einstellung der Besatzungsmächte dazu ist für eine Beantwortung der Frage unergiebig. Jede interpretiert die entsprechenden Bestimmungen der Erklärungen von Jalta und Potsdam nach machtpolitischem Bedürfnis. Während 1648, 1814/15 und 1919 die europäischen Flügelmächte aus Rücksichtnahme auf die Deutschen das Problem des Staatsaufbaues Deutschlands, in dem sie den Schlüssel zu der von ihnen angestrebten Pazifizierung der Mitte Europas sahen, in einem den Deutschen zumutbaren Kompromiß lösten, müssen sie jetzt, 1947 — nach Ausschaltung der Deutschen —, als in Deutschland stehende Besatzungsmächte und unter veränderten weltpolitischen Gegebenheiten, die Frage allein beantworten. Sie waren und sind bis zum gegenwärtigen Augenblick dazu nicht in der Lage.
Dieser Umstand beweist, daß die Sitzung des Rates der Außenminister in Moskau nicht eine der vertanen Chancen zur Wiederherstellung der deutschen Einheit, wie Paul Sethe und zuletzt Helmut R. Külz behaupten, sondern eine Demonstration der gegensätzlichen Ansichten der Besatzungsmächte vor allem in der Frage des Staatsaufbaues Deutschlands war. Röpke bemerkte zu dem Ausgang der Konferenz: „Der Winter 1946/47 war vielleicht der schlimmste, den das deutsche Volk bisher durchgemacht hat. Um einer völlig unhaltbar gewordenen Lage ein Ende zu machen, traten im März die Vertreter der vier Siegermächte in Moskau zu einer Konferenz zusammen, auf der eine gemeinsame Politik des Wiederaufbaus in Deutschland und des Friedens mit den Besiegten beschlossen werden sollte. Das Ergebnis dieser Konferenz, das nur Naive hatte überraschen können, war vollkommen negativ . . . Dem letzten mußte klar geworden sein, daß Deutschland zu einem Land geworden war, in dem die unversöhnlichsten Gegensätze zwischen der freien Welt und der totalitären Tyrannis Sowjetrußlands in bedrohlichster Weise aufeinanderstoßen."
Diese Einsicht, der sich die Westmächte nicht verschlossen, führte zu Entscheidungen — auch über Deutschland. Bereits im April veröffentlichte Alan W. Dulles in den „Foreign Affairs" eine nüchterne Analyse der deutschen Situation unter der aufschlußreichen Über-schrift „Alternative for Germany". Am 13. Mai gab der britische Außenminister Bevin im Unterhaus eine ausführliche Deskription des Zustandes Deutschlands. Am 29. Mai unterzeichneten der amerikanische und britische Militärgouverneur ein Abkommen über die Bildung einer deutschen Zwei-Zonen-Verwal-tung auf parlamentarischer Grundlage, womit sie den von den deutschen Länderregierungen und vor allem von den deutschen Parteien erhobenen Wünschen Rechnung trugen. Am 5. Juni hielt Außenminister Marshall an der Harvard Universität seine wegweisende Rede über die wirtschaftliche Gesundung Europas. Er erklärte, die Überwindung der Stagnation der europäischen Wirtschaft liege in der Wiederherstellung des Vertrauens der europäischen Völker in die wirtschaftliche Zukunft ihrer Länder und Europas. Die Rolle der Vereinigten Staaten solle darin bestehen, den Entwurf eines europäischen Wiederaufbauprogramms freundschaftlich zu fördern und zu unterstützen.
An diesem Tage, dem 5. Juni 1947, traten die nach München eingeladenen Ministerpräsidenten und Bürgermeister zu ihrer Vorkonferenz zusammen. Zeitpunkt in Zu diesem war die -nere Entwicklung Deutschlands — die Wiederherstellung der alten und die Bildung neuer Länder, der Aufbau der Parteien und vor allem die Formierung einer eigenständigen öffentlichen Meinung — noch in vollem Gange. Im zeitlichen und sachlichen Ablauf dieses Prozesses reflektiert die Politik der jeweiligen Besatzungsmacht. Die größte Aktivität entwickelte die Sowjetunion, am langsamsten und unentschlossensten ging Frankreich zu Werke. Dazwischen stand die Besatzungspolitik der Vereinigten Staaten und Großbritanniens. Im Mai 1947 nannte die „Neue Zürcher Zeitung" die Politik der Besatzungsmächte „Das große Spiel um Deutschland" — den Wettlauf um Geneigtheit, Wohlwollen und Parteinahme der Deutschen: Aus dem gemeinsamen Kampf gegen Deutschland sei ein einzelgängerischer Kampf um Deutschland geworden.
IV. Zusammenarbeit zwischen SMA und SED
Im Besitz eines einmaligen subsidiären Apparats, der aus Moskau zurückgekehrten kommunistischen Emigranten und der Kommunisten, die überlebt hatten, forcierte die Sowjetunion vor der in Potsdam erfolgten Verabschiedung der „Politischen und wirtschaftlichen Grundsätze zur Behandlung Deutschlands" die Entwicklung ihrer Besatzungszone im Sinne ihrer ökonomischen Vorstellungen und des angenommenen Interesses der Deutschen für einen Einheitsstaat. Mit einer bestürzenden Zielstrebigkeit führte sie vom Tage des Eintreffens der „Gruppe Ulbricht" in Berlin, dem 2. Mai 1945, an eine Besatzungspolitik durch, die ohne Zweifel nach ideologischer und zeitlicher Planung, nicht nach praktischer Entsprechung gebotener Möglichkeiten erfolgte. Sie begann diese, indem sie entgegen freilich unverbindlicher Absprachen bereits am 10. Juni Parteien und Gewerkschaften für ihre ganze Besatzungszone zuließ. Sie zwang die Parteien, wie Aufzeichnungen von Hermes bezeugen, in eine Aktionseinheit, in die Vorstufe einer Volksfront. Sie führte, ohne Ausführungsbestimmungen des Kontrollrats abzuwarten, Boden-und Industriereformen durch. Sie erzwang die „Einheit der Arbeiterklasse", indem sie auf der Fusionierung von KPD und SPD bestand. Indem Kurt Schumacher unbeschadet der Haltung der westlichen Besatzungsmächte eine unter kommunistischen Vorzeichen erfolgte Herstellung der Einheit der Arbeiterklasse ablehnte, wies er sowjetische Erwartungen auf Einflußnahme auf ein wiedervereinigtes Deutschland zurück. Daran dachte der Parteivorstand der SED von Anfang an. Der von ihm am 14. November 1946 in Berlin veröffentlichte „Entwurf einer Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik", einer Verfassung für ganz Deutschland, nicht nur für Mitteldeutsch-land, stellte fest: „Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik, gegliedert in Länder". Dieser Verfassungsentwurf brachte die Vorstellungen der SED über den Staatsaufbau Deutschlands zum Ausdruck. Er stimmt — was nicht überrascht -— weithin mit den Auffassungen überein, die Außenminister Molotow auf der Sitzung des Rates der Außenminister in Moskau vortrug.
Das Zusammenspiel zwischen der Besatzungsmacht und einer ihr ideologisch und politisch ergebenen Partei ist das besondere Kennzeichen der Entwicklung in Mitteldeutschland.
Diese Zusammenarbeit erlaubte der Sowjetunion, die Vertretung ihrer Interessen weithin Deutschen zu überlassen.
Die amerikanische Besatzungszone holte im Laufe des Jahres 1946 einen Teil des Vorsprungs der sowjetischen Besatzungszone auf, da am Ende des Jahres in allen Ländern Volksvertretungen und von diesen gewählte Landesregierungen bestanden. Das Verhältnis zwischen den Landesregierungen und den Militärregierungen bedurfte jedoch dringend der Harmonisierung. Die Zusammenarbeit der Ministerpräsidenten im Länderrat in Stuttgart führte zu einer partiellen Annäherung.
Die Entwicklung in der britischen Besatzungszone wurde durch das Problem Preußen angehalten.
Die sehr früh auf Zonenebene zugelassenen Parteien erhielten dadurch eine Priorität, die die rivalisierenden Repräsentanten der beiden großen Parteien, Schumacher für die SPD, Adenauer für die CDU, durchaus wahrnahmen.
Frankreich untersagte zunächst jede über Stadt-oder Landkreis hinausgehende Entwicklung bis in das Frühjahr 1947 hinein, von der Vorstellung bestimmt, Deutschland als Staatenbund souveräner Stadt-und Landkreise zu konstituieren. Sowohl die Landesregierungen als auch die Parteien der französischen Besatzungszone waren gezwungen, selbst in sprachlichen Formulierungen auf die Wünsche der französischen Besatzungsmacht Rücksicht zu nehmen.
Einheitliche Repräsentation der Wünsche und Vorstellungen der Besatzungsmacht durch eine genuine Staatspartei in der sowjetischen Besatzungszone, Übergewicht der Länder in der amerikanischen Besatzungszone, Vorsprung der Parteien vor den in Bildung befindlichen Ländern in der britischen Besatzungszone und Beschränkung sowohl der Landesregierungen als auch der Parteien in der französischen Besatzungszone — in diesem Zustand befand sich Deutschland im Frühjahr 1947, in dem Zeitpunkt, in dem in Moskau die Ansichten über den Staatsaufbau Deutschlands unversöhnlich aufeinanderprallten. Warburg, Stolper und Kennan fixierten überzeugend diese Situation.
V. „Nationale Repräsentation" des deutschen Volkes
Die deutschen Politiker hatten sich mit dieser Situation auseinanderzusetzen. Kaiser hatte am 13. Februar 1946 festgestellt: „In der Gesamtheit Deutschlands ist zur Zeit nur ein politischer Wille entscheidend, nämlich der des Kontrollrates." Ein Jahr später, am 13. Januar 1947, erklärte Schumacher in München: „Die Sieger kamen ohne einen Plan in dieses Land, ohne zu wissen, was sie von Deutschland wollen oder mit Deutschland anfangen wollen. Totaler Sieg heißt totale Verantwortung. Deutschland kann heute nicht durch eigene Kraft gefährlich werden, sondern nur als Instrument einer siegreichen Macht gegen eine andere." In Kenntnis der mit diesen Äußerungen angesprochenen Beschränkungen verfolgten der so die Vertreter Parteien in -wjetischen und in der britischen Zone, teilweise auch in der amerikanischen Zone, das Hervortreten der Länder und ihrer Regierungschefs mit wachsender Besorgnis. Die Befürchtung, die Länder würden die suspendierte Gewalt des Reiches sich reißen, griff um sich. In an der von Kaiser am 14. März 1947, vier Tage nach dem Beginn der Sitzung des Rates der Außenminister, ausgesprochenen Forderung nach einer „nationalen Repräsentation' des deutschen Volkes verschmolzen der Wunsch, zur Bewahrung der Einheit des Reiches beizutragen, und das Unbehagen über die steigende Aktivität der Länder und ihrer Regierungschefs. Auf Veranlassung Kaisers forderte der Vorstand der CDU alle Parteien auf, eine „nationale Repräsentation" zu schaffen, da es gelte, sich so schnell wie möglich zusammenzufinden, um die erste Stufe einer gesamtdeutschen Vertretung des Volkes vorzubereiten und diese Vertretung bis zu ihrer Verwirklichung zu repräsentieren. Schumacher verhielt sich gegenüber dieser Forderung zumindest zunächst ablehnend. Er vertrat die Ansicht, der sowjetische Innenminister Berija sei der Initiator des Vorschlages, womit er diesen in unmittelbare Verbindung mit der sowjetischen Forderung auf Herstellung eines Einheitsstaates und auf Ablehnung einer Föderalisierung Deutschlands brachte.
Schumacher hatte nicht nur Einwände gegen eine „nationale Repräsentation"; er hatte auch Bedenken, sich mit der Teilnahme der Ministerpräsidenten der britischen Zone, die seiner Partei angehörten, an der Konferenz in München einverstanden zu erklären. Zur Begründung verwies er auf die Tatsache, daß mehrere Ministerpräsidenten keine Aktivlegitimation besäßen, da sie nicht gewählt, sondern von Militärregierungen eingesetzt worden waren. In der Auseinandersetzung sowohl über die nationale Repräsentation als auch über die Aktivlegitimation der Regierungschefs schlug, wie bereits erwähnt, die Kontroverse der Moskauer Außenministerkonferenz über den Staatsaufbau Deutschlands durch. Die Debatte des Rates der Außenminister wurde in eine innerdeutsche Problemstellung transformiert. Die am 28. Mai in Hannover abgehaltene Besprechung zwischen Kurt Schumacher, Jakob Kaiser und Josef Müller erörterte die Frage, ob die Ministerpräsidenten berechtigt seien, als „Geschäftsführer ohne Auftrag“ tätig zu sein.
Indem der Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien der sowjetischen Besatzungszone den nach München reisenden Minister-präsidenten auftrug, eine Debatte über die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und die Zulassung der Parteien und Massenorganisationen zu verlangen, übernahm er die auf der Konferenz in Moskau erhobene sowjetische Forderung.
VI. Initiative der Regierungschefs der Länder
Im Schnittpunkt der skizzierten Entwicklung der Politik der Besatzungsmächte und der punktuell charakterisierten innerdeutschen Entfaltung ist der zeitgeschichtliche Standort der Münchner Konferenz auszumachen.
Die Eröffnung der Konferenz wurde auf den 6. Juni 1947 festgelegt. Verspätet trafen am 5. Juni, am Vorabend des Konferenzbeginns, die Ministerpräsidenten der Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg, Thüringen und Brandenburg in München ein. Sie hatten bereits am 28. Mai in einem Telegramm Ehard vorgeschlagen, die Konferenz unter Hinzu-ziehung von Vertretern der Parteien und Gewerkschaften zu vergrößern. Auch hatten sie Berlin als Tagungsort und die Behandlung der Frage der deutschen Einheit ausdrücklich verlangt. Die Bedingungen, unter denen die westlichen Besatzungsmächte ihre Zustimmung zur Ministerpräsidenten-Konferenz in München gegeben hatten, ließen die Berücksichtigung dieser Vorschläge nicht zu. In der Bayerischen Staatskanzlei wurde in Vorverhandlungen am 5. Juni die endgültige Festlegung der Tagesordnung erörtert. Diese Besprechungen wurden nach einer abendlichen Unterbrechungspause gegen 22. 50 Uhr in Anwesenheit der inzwischen eingetroffenen Regierungschefs der sowjetischen Besatzungszone fortgesetzt. Die Beratungen wurden erst nach Mitternacht beendet. In ihr Hotel zurückgekehrt, bereiteten die Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone eine Erklärung vor, in der sie mit scharfen Worten ihr Mißfallen darüber zum Ausdruck brachten, daß die Frage der Einheit Deutschlands auf der Konferenz nicht erörtert würde. Im Anschluß daran reisten sie von München ab, ohne an der Konferenz selbst teilzunehmen. Die entscheidende Aussprache wurde nicht protokolliert. Die Erinnerungen des Ministerpräsidenten Ehard wurden noch nicht veröffentlicht.
Die Konferenz begann am 6. Juni mit einer Rede des gastgebenden Ministerpräsidenten.
Ehard ging dabei auch auf die Ereignisse des Vortages ein und sagte: „Gerade aus dem Gefühl der herzlichen Verbundenheit heraus bedauerten wir es lebhaft, daß die Bevölkerung des Saargebietes heute hier nicht vertreten sein kann. Als geradezu tragisch aber empfinden wir es — und mit uns sicher das ganze deutsche Volk —, daß die Vertreter der Länder im Osten Deutschlands, nämlich die Ministerpräsidenten der Mark Brandenburg, der Länder Mecklenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, nachdem sie erst im allerletzten Abschnitt der umfangreichen Vorarbeiten erschienen waren, ihre Mitarbeit schon wieder versagten, als bei der gemeinsamen Erarbeitung der Tagesordnung eine von ihnen ausgesprochene kategorische Forderung von den anderen Konferenzteilnehmern nicht in der vorgeschlagenen Form angenommen werden konnte. Es war nämlich die allgemeine Auffassung, daß eine Politisierung der Aussprache der Erfüllung des erstrebten Zweckes nicht förderlich sein könnte. Eine Durchsprache der vorgeschlagenen Punkte hatte ergeben, daß Wünsche, die der Sache nach allgemein als berechtigt anerkannt wurden, bei verschiedenen Punkten des vorgelegten Entwurfes einer Tagesordnung behandelt werden könnten und sollten. Aber noch ehe die Konferenz eine Abstimmung über die Formung der Tagesordnung gefällt hatte, verließen die genannten fünf Herren Ministerpräsidenten zu unserem größten Bedauern unsere Vorbesprechung.
Ein Ultimatum anzunehmen, war unsere Konferenz nicht in der Lage, da sie klar und eindeutig darauf bestand, daß die Tagesordnung vollständig im Einklang mit dem Wortlaut der von mir erlassenen Einladung gehalten werden müsse". Ehard schloß seine Eröffnungsrede mit einem Bekenntnis: „Trotz der Aufspaltung Deutschlands in vier Zonen geben wir keinen Teil unseres deutschen Vaterlandes auf. Trotz des Weggangs der Ministerpräsidenten der Ostzone bleiben wir auch diesem Teile Deutschlands zutiefst verbunden. Den deutschen Osten und Berlin betrachten wir als lebenswichtige Bestandteile Deutschlands. Vor allen Beratungen und Erwägungen wollen wir gemeinsam das Bekenntnis ablegen, in welchem sich die Herzensüberzeugung und die glühende Sehnsucht aller Teile Deutschlands zu Worten formen: Alle deutschen Länder sollen untrennbar verbunden sein und gemeinsam wollen wir den Weg bauen für eine bessere Zukunft des einen deutschen Volkes."
Senatspräsident Kaisen, der nach Ehard das Wort ergriff, behandelte das Schicksal der 2, 25 Millionen deutscher Männer und Frauen, die sich noch in Kriegsgefangenschaft befanden. Reichsminister a. D. Dietrich und Minister Lübke sprachen über die deutsche Ernährungsnot. Frau Louise Schröder erörterte die Auswirkung der Unterernährung auf die Volks-gesundheit. Senator Borgner referierte über die deutsche Wirtschaftsnot, Minister Hilpert über Finanz-und Steuerfragen. Eine ausführliche Diskussion schloß sich an. Den zweiten Konferenztag, 7. Juni, begann Staatssekretär Jaenicke mit einer Darlegung der deutschen Flüchtlingsnot; als Korreferent sprach Ministerpräsident Lüdemann dazu. Staatsrat Schmid befaßte sich mit der Schaffung eines Besatzungsrechtes.
In seiner Schlußansprache wiederholte Ministerpräsident Ehard sein zu Beginn der Konferenz abgelegtes Bekenntnis zur deutschen Situation und zur deutschen Verbundenheit. Er versicherte: „Wir wollen keineswegs ewig unser eigenes Leid anstarren wie ein Medusenantlitz, das unsere besten Kräfte lähmt. Wir glauben, daß diese Leidenszeit eine Prüfung unseres Volkes auf seine besten Gaben ist und daß aus der Erprobung uns neue Kraft wächst. Schon fühlen wir, daß in den Kellerwohnungen und in den Werkstätten wie in den Hörsälen der Universitäten und in den Studierstuben ein neuer Geist die Schwingen breiten will. Uber die Grenzen hinweg wollen sich Hände strecken zur Mitarbeit am gemeinsamen Schicksal. Wir wissen, daß wir zu dem Bau einer neuen Welt Wesentliches beizutragen haben. Es wäre der entsetzlichste Verlust, wenn auch diese neuen Ansätze in Hunger und Not verkümmern müßten. Nicht für uns allein, nein für die Gemeinschaft aller Völker wollen wir unser Können und Streben einsetzen. Wir empfinden die Ausschaltung des deutschen Volkes von der tätigen Anteilnahme am internationalen Leben um so tragischer und verhängnisvoller, als wir im tiefsten überzeugt sind, daß alle wesentlichen Probleme, welche die heutige Welt und Europa bewegen, mit gutem Willen lösbar sind. Das gilt von der elementaren Frage des deutschen Staatsaufbaus wie von der Sicherheitsfrage, von der Grenzfrage, von der Wirtschaft und selbst von den Reparationen. Aber man kann eine deutsche Frage nicht lösen ohne Deutschland. Wenn man uns hören will, können wir — das möchte ich in tiefstem Ernst aussprechen — zu allen Fragen eine Lösung wenistens aufzeigen. Schicksal und Geschichte haben das deutsche Volk in die Mitte Europas gestellt. Es kann nicht der Sinn der Geschichte sein, daß wir zur Trennungslinie werden, zum Zankapfel Europas, zum Schauplatz furchtbarer Auseinandersetzungen zwischen Ost und West. Wir wollen nicht trennen, wir wollen verbinden. Wir wollen in der Mitte Europas ein Hort des Friedens und der Sicherheit, ein Hort des Rechtes und der Menschlichkeit werden." Den Dank der Konferenzteilnehmer an den Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern sprach Frau Louise Schröder. Sie bedauerte, daß auf die Zusammenkunft ein Schatten gefallen war und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, „daß der Tag nicht zu ferne sei, an dem sich das ganze deutsche Volk wieder zusammenfindet und zusammen an dem einen großen Ziel arbeitet: Deutschland soll leben, das deutsche Volk soll nicht untergehen". Die von der Konferenz angenommenen „Münchner Entschließungen" enthalten „Erklärungen allgemeiner Art", „Entschließungen zu Wirtschaftsfragen" und „Einzelprobleme". In der „Erklärung über die beängstigende Lage des deutschen Volkes und die Dringlichkeit raschen Handelns" versicherten die in München versammelten Regierungschefs der deutschen Länder: „Wenn es gegen das Völkerrecht war, daß Hitler die Welt mit einem verbrecheri-
schen Krieg überzog, so widerspricht es ebenso den gültigen Grundsätzen des Völkerrechts, einem demokratischen Deutschland Frieden und ausreichende Lebensmöglichkeiten zu versagen. Das zerstörte und abgerüstete Deutschland ist keine Gefahr für die Welt, wohl aber ein Deutschland, das verelendet zu einem Seuchenherd für alle anliegenden Völker wird, und damit den Wiederaufbau Europas gefährdet. Darum muß die deutsche Frage unverzüglich geregelt werden."
In der „Erklärung über die Zusammengehörigkeit aller Teile Deutschlands, über friedliche Zusammenarbeit mit allen Völkern der Welt und Aufbau unseres staatlichen Lebens auf dem Wege echter Demokratie" betonten die Ministerpräsidenten und Bürgermeister: „Die in München versammelten Chefs der deutschen Länderregierungen können ihre Beratungen zur Steuerung der unmittelbaren Not des deutschen Volkes im kommenden Winter nicht schließen, ohne vor der ganzen Welt das große Ziel der wirtschaftlichen und politischen Einheit Deutschlands aufzustellen und den Willen zu friedlicher Zusammenarbeit mit allen Völkern ausdrücklich zu bekunden. Der Neuaufbau unseres staatlichen Lebens kann aber nur auf dem Wege echter Demokratie verwirklicht werden, in der alle Grundrechte menschlicher Freiheit gewährleistet sind. Nur wenn sich die Maßnahmen des Staates ausschließlich auf den in freien Wahlen festgestellten Willen des Volkes berufen können, besteht Aussicht, das hohe Ziel der friedlichen Völkergemeinschaft, der Freiheit von Furcht und des wahren sozialen Fortschrittes zu erreichen."
VII. Die Haltung des Zentralsekretariats der SED
Aufschlüsse über die Haltung der Sowjetischen Militäradministration, des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei und der Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone gab zunächst Leo Bauer, 1950 als stellvertretender Intendant und Chefredakteur des Berliner Deutschlandsenders verhaftet. In einem nach seiner vorläufigen Entlassung erstellten Bericht über das Verhör durch einen sowjetischen Vernehmungsoffizier berichtete Bauer: „Ich war damals in Zusammenhang mit der Konferenz in München und nahm Stellung gegen Ulbrichts Vorgehen, als er das Verlassen der Konferenz durch die ostzonalen Ministerpräsidenten organisierte. Der mich verhörende Offizier wußte über diese meine Haltung in München Bescheid und fragte mich: Hat Ulbricht die ostzonalen Ministerpräsidenten nicht in der Absicht nach München geschickt, den Zusammenbruch der ersten gesamtdeutschen Konferenz herbeizuführen?'Ich konnte nur antworten, daß dies schon damals, im Jahre 1947, in München mein Eindruck gewesen wäre. Als meine Antwort auf seine Frage schrieb der Vernehmungsoffizier dann in seinen Bericht: , Schon 1947 mußte ich auf Grund des Verhaltens von Ulbricht annehmen, daß Ulbricht die Ministerpräsidenten der damaligen sowjetischen Besatzungszone nach München geschickt hatte, um diese Konferenz zu sabotieren und ihre Durchführung zu verhindern.'Und ohne mich zu fragen, fügte der Vernehmungsoffizier hinzu: . Ulbricht hat bewußt diese gesamtdeutschen Gespräche in München 1947 sabotiert. ’ Ich muß sagen, daß, obwohl ich versuchte, bei meinen Aussagen über Ulbricht bei der Wahrheit zu bleiben, der Vernehmungsoffizier ständig versuchte, meine Antworten in seinem Bericht auf eine Weise zu formulieren, daß sie noch belastender für Ulbricht wurden."
Ein im Juni 1957 in der in Augsburg erscheinenden „Schwäbischen Landeszeitung" veröffentlichter Gedenkartikel veranlaßte den ehemaligen Ministerpräsidenten von Thüringen, Rudoli Paul, sich zu Wort zu melden und eine eingehende Schilderung der Vorbesprechungen und Vorberatungen in der sowjetischen Besatzungszone zu geben. Paul übte im Verlauf seiner Darlegungen Kritik an der Führung der Verhandlungen des bayerischen Ministerpräsidenten Ehard in den informellen Vorbesprechungen am 5. Juni. Ehard wies diese Kritik als nicht zulässig zurück, da sie die Voraussetzungen der Konferenz außer acht ließ.
Sowohl die reflektierenden Schilderungen Bauers als auch die teilweisen polemischen Ausführungen Pauls wurden inzwischen ergänzt und berichtigt durch die detaillierten Mitteilungen, die Erich W. Gnilike in seinem 1966 veröffentlichten Bericht „Jahre mit Ulbricht" machte. Gniffke, sozialdemokratisches Gründungsmitglied der SED, geht in seiner Beschreibung der Situation im Frühjahr 1947 sowohl auf die Bemühungen Jakob Kaisers um eine „nationale Repräsentation" als auch auf den Vorschlag des bayerischen Ministerpräsidenten Ehard zu einer Konferenz der Regierungschefs der Länder ein, wobei er in Form einer Erzählung unmittelbare Eindrücke und wörtliche Erklärungen wiedergibt. Gniffke stellt zu der Aufforderung Ehards fest: „Die Einladung zu einer gemeinsamen Sitzung löste im Zentralsekretariat heftige Diskussionen aus. In den Vordergrund der Aussprache traten die Fragen: Erstens, handelt es sich um eine rein deutsche Initiative? Zweitens, stecken die Amerikaner dahinter? Drittens, wenn die Amerikaner dahinterstecken, protegieren sie eine Repräsentanz durch die Ministerpräsidenten — oder gar eine durch die Ministerpräsidenten zu bildende gesamtdeutsche Regierung?" Gniffke antwortet auf diese Fragen mit der Feststellung: „Die Ehard-sehe Initiative paßte nicht in das sowjetische Konzept. Ulbricht reagierte darum sogleich ablehnend. Für ihn war Ehard ein . amerikanischer Agent'— , Ein Agent ist gelegentlich auch ein Makler’, hielt ich ihm entgegen. , Es gibt auch ehrliche Makler, bei Ehard möchte ich zunächst annehmen, daß er ein ehrlicher Makler für die Wiedervereinigung Deutschlands ist. Man darf seine Initiative auf keinen Fall abwürgen.'" Ulbricht ließ sich nicht überzeugen. Er schlug vor, dem bayerischen Ministerpräsidenten durch einen mitteldeutschen Ministerpräsidenten mitteilen zu lassen, daß zu der in Aussicht genommenen Konferenz auch die Partei-und Gewerkschaftsvertreter herangezogen werden müßten. Eine Mehrheit verhinderte im SED-Zentralsekretariat, daß eine entsprechende briefliche oder mündliche Mitteilung an Ministerpräsident Ehard zu einem Ausschluß der Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone wurde. Der sächsische Ministerpräsident Rudolf Friedrichs wurde beauftragt, mit Ehard in Verbindung zu treten. Diese Zusammenkunft fand in Hof in Bayern statt.
Am 28. Mai berichtete Ministerpräsident Friedrichs dem Zentralsekretariat der SED. Ehard hatte ihm gegenüber an der Absicht festgehalten, in einer ersten Sitzung sollten nur die Ministerpräsidenten zusammenkommen. Er hatte zum Ausdruck gebracht, man könne froh sein, wenn der erste Versuch einer gesamtdeutschen Konferenz gelänge. Friedrichs berichtete weiter, die erste Konferenz solle sich nicht mit Fragen der Wiedervereinigung beschäftigen, sondern in der Hauptsache die Frage untersuchen, wie man der Not des Winters besser als früher begegnen könne. Mit diesem Verhandlungsthema waren die Mitglieder des Zentralsekretariats der SED nicht einverstanden. Auf einer Sitzung mit den SED-Ministerpräsidenten wurden folgende Bedingungen für die Konferenz in München, die als Empfehlungen firmiert wurden, festgelegt: „ 1. Zur Konferenz die Vertreter der Parteien und Gewerkschaften hinzuzuziehen, um so mehr, als sich die Parteien in Bälde über eine gesamtdeutsche Beratung und die Schaffung einer nationalen Repräsentation verständigen werden.
2. In den Mittelpunkt der Tagesordnung die Schaffung der wirtschaftlichen und politischen Einheit Deutschlands zu stellen, da nur durch sie den Nöten der Länder und des deutschen Volkes mit Aussicht auf Erfolg begegnet werden kann.
3. In Anbetracht des gesamtdeutschen Interesses den Tagungsort nach Berlin, der Hauptstadt Deutschlands, zu verlegen, die zudem der Sitz der vier Besatzungsmächte und des Kontrollrats ist."
Ministerpräsident Ehard lehnte die Berücksichtigung der Wünsche auf einer ersten Konferenz ab, worauf sowohl das SED-Zentralsekretariat als auch die SED-Ministerpräsidenten erneut zu Besprechungen zusammentraten. Gniffke berichtet, Ulbricht hätte die Konferenz von München abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, daß die Ministerpräsidenten der Länder in bezug auf die zukünftige Gestaltung Deutschlands keine verbindlichen Aussagen machen könnten und dürften. Auch hatte er auf das Bekenntnis Ehards zu einem Bundesstaat verwiesen. Gniffke erzählt, er habe die Ansicht vertreten, „in München entscheidet sich die Frage, ob wir uns isolieren oder bei jeder Gelegenheit, wenn es nur um die Wiederherstellung der Einheit geht, dabei sein wollen".
Am Dienstag, den 3. Juni, kam es im Zentral-sekretariat der SED zu einer ausführlichen Aussprache. Die Mitglieder waren über die Haltung, die Kurt Schumacher in Vorgesprächen mit sozialdemokratischen Ministerpräsidenten eingenommen hatte, unterrichtet. Schumachers Forderung, ein sozialdemokratischer Ministerpräsident solle die Erklärung abgeben, die Ministerpräsidenten der SBZ hätten keine ausreichende demokratische Legitimation, nahm Ulbricht zum Anlaß, um zu fragen: »Haben wir es nötig, ja, uns provozieren zu lassen?" Im Verlauf der daraufhin einsetzenden Diskussion verwies Ulbricht auf die Rede, die der amerikanische Außenminister James F. Byrnes am 6. September 1946 in Stuttgart gehalten hatte. Er bezeichnete die Konferenz von München als einen ersten Versuch, fertige Tatsachen im Sinne einer bundesstaatli-dien Aufgliederung Deutschlands zu schaffen. Die Mehrheit der Mitglieder des Zentral-sekretariats der SED war der Meinung, daß die Ministerpräsidenten der SBZ an der Konferenz von München teilnehmen sollten. Einstimmig unterstützte das Zentralsekretariat den Vorschlag Ulbrichts, einen Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung einzubringen. Als Sprecher der Delegation wurde Ministerpräsident Rudolf Paul bestimmt.
Gniffke gibt auch einen kurzen Bericht über die Vorbesprechung der Ministerpräsidenten am Abend vor der Eröffnungssitzung. Er verweist auf die bekannten Argumente, die Konferenz sei nur unter der Bedingung genehmigt worden, daß die Frage der Einheit Deutschlands nicht behandelt werde. Er vertritt die Auffassung, durch die Verweigerung des Ersuchens, einem Ministerpräsidenten der SBZ das Wort zu geben, sei die Konferenz als Konferenz der Ministerpräsidenten aller vier Besatzungszonen gescheitert. Nach dem Auszug der Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone beschloß das Zentralsekreta-riat der SED, zwei Mitglieder nach München Zu entsenden. Walter Ulbricht und Friedrich Ebert reisten in die bayerische Landeshauptstadt, um die Ansicht der SED über die weitere Entwicklung in Deutschland zu vertreten.
Die jetzt vorliegenden drei Berichte über die Haltung der SED zur Münchner Ministerpräsidentenkonferenz stimmen in der Feststellung überein, daß Ulbricht die Konferenz als solche und die Teilnahme der Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone daran ablehnte. Sie erklären aber auch, daß die Mehrheit sowohl im Zentralsekretariat der SED als auch der Ministerpräsidenten der SBZ sich für eine Teilnahme aussprach, um der drohenden Gefahr einer Isolierung zu entgehen. Stärker als Rudolf Paul betont Erich W. Gniffke die bisher aus dem Verhalten der Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone abgeleitete Auffassung einer Gegnerschaft Ulbrichts gegen die erste gesamtdeutsche Besprechung. Ulbricht verwies zur Begründung seiner ablehnenden Haltung auf die noch nicht präzisierten föderativen Vorstellungen des bayerischen Ministerpräsidenten, als auch auf die Ablehnung der Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone durch Kurt Schumacher. Indem Ulbricht sowohl gegen die entstehende bürgerliche Gruppierung als auch gegen die SPD der westlichen Besatzungszonen Stellung nahm, tat er das, was Gniffke nach seinem Bekenntnis verhindern wollte, er begab sich in die Isolierung und nahm dahin auch die SBZ mit.
Unaufgeklärt ist nach wie vor die Haltung der Sowjetischen Militäradministration (SMA), wie überhaupt die sowjetische Deutschland-politik zwischen 1945 und 1948 noch nicht ausreichend differenziert ist. Solange dafür die Aussagen weder direkter, das heißt sowjetischer, noch indirekter, das heißt westlicher Akten zur Verfügung stehen, müssen die dürftigen Beweise sowjetischer Publikationen benutzt werden, um wenigstens die Umrisse der Haltung der Sowjetunion zu skizzieren.
Nach Beendigung der Konferenz eröffnete die Arbeitsgemeinschaft SED/KPD eine anhaltende Agitation mit einer Erklärung, in der die Haltung der Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone gutgeheißen und die Ablehnung der beantragten Zulassung der Parteien, Gewerkschaften und großen demokratischen Organisationen scharf kritisiert wurde. An den Besprechungen über die wirtschaftliche Situation Deutschlands wurde mit der Bemerkung Kritik geübt, der Schlüssel zur Behebung der Not liege in der Schaffung der deutschen zentralen Verwaltung und in der vollen Entfaltung der Volkskontrolle der deutschen Wirtschaft. Otto Grotewohl stellte als Vorsitzender der SED zwei Schwierigkeiten der Münchner Konferenz heraus: Ministerpräsident Ehard habe seine Einladung ohne vorherige Orientierung des gegenwärtigen Zustands Deutschlands ergehen lassen; die Alliierten hätten untereinander noch völlig ungeklärte Auffassungen über die Gestaltung der deutschen Wirtschaft. Die Ablehnung des von den Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone eingebrachten Antrages auf „Bildung einer deutschen Zentralverwaltung durch Verständigung der demokratischen Parteien und Gewerkschaften zur Schaffung des deutschen Einheitsstaates" sei der Grund dafür, daß diese die Konferenz vor Beginn verließen. Grotewohl sprach in diesem Zusammenhang von der Abhängigkeit und Gebundenheit der Ministerpräsidenten und von der zu schmalen politischen Basis der Zusammenkunft: „München war eine Konferenz, die durch falsche Einschätzung der realen Tatsachen zu einem Fehlschlag werden mußte."
Walter Ulbricht nahm auf einer Veranstaltung vor der Münchner Feldherrnhalle am 9. Juni zum Verlauf der Konferenz der Regierungschefs der Länder und Freien Städte Stellung; er polemisierte gegen die Verhältnisse in den westlichen Besatzungszonen, beanstandete, daß in diesen weder die Bodenreform noch die Enteignung der Konzernherren durchgeführt worden sind, und propagierte Maßnahmen zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Nach dem Versagen der Ministerpräsidenten-Konferenz sei es die dringendste Aufgabe, daß sich die Vertreter der Parteien, der Gewerkschaften und der Länder zu einer gesamtdeutschen Beratung an den runden Tisch setzen und besprechen, wie unter Bewahrung solcher demokratischer Rechte an die Länder, wie sie in der Weimarer Verfassung vorgesehen waren, eine zentrale deutsche Verwaltung geschaffen werden soll. Ulbricht forderte Volkskontrolle der Wirtschaft, kameradschaftliche Zusammenarbeit der Vertreter der demokratischen Parteien und der Gewerkschaften, der demokratischen Bauern-und Frauenorganisationen und die Bildung von Volksausschüssen oder Hilfsausschüssen gegen die Winternot. Im Hinblick auf die bevorstehende Sitzung des Rates der Außenminister in London sagte er: „Wenn unser Volk durch die Bodenreform und Enteignung der Konzerne selbst die Grundlagen einer friedlichen und demokratischen Entwicklung schafft, dann sind darüber auf der Londoner Konferenz weniger Diskussionen notwendig."
Auf der gleichen Veranstaltung vor der Münchner Feldherrnhalle erklärte Friedrich Ebert, damals Landtagspräsident der Mark Brandenburg, spätestens am 8. Mai 1945 habe die deutsche Bourgeoisie den Beweis dafür geliefert, daß sie nicht in der Lage ist, Deutschland zu führen und der Menschheit zu dienen. Die Aufgabe, Deutschlands Schicksal zu gestalten, könne nur die Arbeiterschaft, die geeinte deutsche Arbeiterschaft, übernehmen und erfüllen. Ebert wandte sich gegen Versuche, mit den Mitteln eines „christlichen Sozialismus" die sozialen Auswüchse der alten Gesellschaftsordnung zu mildern, und gegen Bestrebungen, Gesamtdeutschland föderalistisch aufzubauen. Er verwarf die Ansicht des Vorsitzenden der SPD, Kurt Schumacher, die Alliierten hätten mit ihrem totalen Sieg über Hitlerdeutschland die totale Verantwortung für die Zukunft Deutschlands übernommen; er nannte diesen Standpunkt „Flucht aus der eigenen Verantwortung". Ebert schloß mit einem Aufruf: „Die in der Ostzone geschaffene politische Einheit des werktätigen Volkes ist der willenstarke Vortrupp in diesem Kampf um Deutschlands Zukunft. Es ist uns hier stärker als je zuvor zum Bewußtsein gekommen, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands nur gelingen kann, wenn auch in West-und Süddeutschland die Einigung der Werktätigen erfolgt und die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands geschaffen wird. In dem Geiste, der unsere Aufbauarbeit in der Ostzone geleitet hat, rufen wir von dieser Stelle aus die Arbeiter und Angestellten, Bauern und Handwerker, die Techniker und Lehrer, die Wissenschaftler und Kunstschaffenden ganz Deutschlands auf zum Kampfbündnis für Demokratie und Freiheit, für den Frieden und den Fortschritt und für die Einheit unseres Vaterlandes. Die Einheit aller aufrechten Sozialisten wird und muß die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands zur stärksten der Parteien in Deutschland machen. Sie wird allen föderalistischen Bestrebungen zum Trotz die Einheit Deutschlands erringen und das schaffende Volk zum Siege führen."
Auf einer in München veranstalteten Pressekonferenz rechtfertigte Ulbricht erneut die Abreise der Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone. Er sagte dazu: „Meines Erachtens ist es das große nationale Verdienst der Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone, daß sie unserem Volke die große Gefahr der Zergliederung Deutschlands aufgezeigt haben. Durch den Weggang von der Konferenz haben sie bekundet, daß über die künftige Struktur Deutschlands nicht in autoritärer Weise von den Ministerpräsidenten entschieden werden kann, sondern das deutsche Volk selbst in geheimer Volksabstimmung seinen Willen kundtun möge. Das Auftreten der Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone hat außerdem bewirkt, daß die Ministerpräsidenten der englischen und amerikanischen Zone auf die Bildung eines gesamtdeutschen Sekretariats der Ministerpräsidenten und auf die Bildung der vorgesehenen Kommissionen verzichten mußten."
Ulbricht wiederholte bei dieser Gelegenheit seine Forderungen nach wirtschaftlichen Veränderungen in Gesamtdeutschland; er sprach in diesem Zusammenhang von „Demokratisierung" und betonte, dazu gehöre auch die Bodenreform. Er versicherte: „Die auf der Konferenz angenommenen Entschließungen sind von der Verwaltungsbürokratie zur Durchführung für die Verwaltungsbürokratie geschrieben. Obwohl die Mehrheit der Ministerpräsidenten der Sozialdemokratischen Partei angehörten, wurde nichts gesagt über die Demokratisierung der Wirtschaft durch die Übereignung der Bergwerke in die Hände des Volkes und über die notwendige Maßnahme der Bodenreform."
VIII. Bilanz des Ministerpräsidenten Ehard
In einer Rundfunkansprache befaßte sich Ministerpräsident Ehard am 14. Juni mit Verlauf und Ergebnis der Münchner Konferenz; er erörterte dabei auch die Abreise der Ministerpräsidenten der Ostzone. Er wies zunächst den Vorwurf zurück, diese seien über das Beratungsthema nicht oder nicht ausreichend unterrichtet worden und ging auf deren Haltung in der Vorbesprechung ein: „Noch mehr waren wir überrascht, als in der Sitzung der Regierungschefs am 5. Juni abends, in der die Tagesordnung beschlossen werden sollte, die erschienenen Vertreter der Ostzone folgenden Antrag stellten: . Bildung einer deutschen Zentralverwaltung durch Verständigung der demokratischen Parteien und Gewerkschaften zur Schaffung eines deutschen Einheitsstaates.'Dieser Antrag wurde von allen Ministerpräsidenten der anderen Zonen als eine völlige Abkehr der bisher streng festgehaltenen Leitlinie der Konferenz empfunden. Trotzdem wurde über den Antrag sehr eingehend beraten, um die Tragweite festzustellen und die Möglichkeit einer Erörterung auf der Konferenz zu prüfen. Noch vor Schluß der Aus-spräche zogen sich die Ministerpräsidenten der Ostzone zurück. Nach etwa einer Stunde erschienen sie noch einmal in der Versammlung, aber lediglich um durch ihren Sprecher — der übrigens an den vorhergehenden Beratungen am gleichen Abend nicht teilgenommen hatte — erklären zu lassen, daß sie an der Tagung nicht teilnehmen würden. Die Vertreter der Ostzone haben also — im Gegensatz zu allen demokratischen Gepflogenheiten — weder eine Abstimmung noch eine endgültige Stellungnahme der Versammlung abgewartet, ja, sie haben nicht einmal die gebotene Gelegenheit, sich über eine Möglichkeit des Ausgleichs auszusprechen, benutzt, sondern sie geradezu gemieden."
Ehard rechtfertigte das Festhalten an der Tagesordnung und betonte, die Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone wollten „einen Punkt auf die Tagesordnung gesetzt sehen, und zwar an die Spitze, der das Wesen der Konferenz grundsätzlich geändert hätte und ihr den Charakter einer großen politischen Debatte hätte geben müssen. Denn nicht nur Zonengegensätze, sondern auch unterschiedliche Parteiauffassungen wären bei Behandlung des gewünschten Punktes scharf aufeinander geprallt. Damit wäre die Konferenz