Stunde der Not
„Damals", das bedeutet 1947. Wer weiß noch genau, wie es „damals" bei uns aussah?
Fast alle Städte und viele Dörfer waren zerstört, ganze Landstriche verheert. Ein großer Teil der Bevölkerung, unter ihnen zehn Millionen Flüchtlinge, hauste zusammengepfercht in Notquartieren. Die meisten Familien waren zerrissen — die Männer waren in Kriegsgefangenschaft in Ost und West. Das Schicksal unendlich vieler Landsleute war überhaupt unbekannt. Die spärlich fahrenden Züge waren unzulänglich und überfüllt. Auf Dächern und Trittbrettern suchten die Menschen an ihr Ziel zu kommen. Die meisten von ihnen waren unterwegs, um Angehörige zu suchen oder um die notdürftigste Nahrung, Kleidung oder Heizung auf mühsame Weise zusammenzutragen, über Deutschland war die furchtbarste Katastrophe seiner Geschichte hereingebrochen. Das Land war geteilt. Die Sieger richteten sich ein, ihr Faustpfand nie wieder freizugeben.
Auf der Konferenz von Quebec im Jahre 1943 legte der amerikanische Finanzminister Morgenthau einen Plan vor, Deutschland als Industriestaat für alle Zeiten auszulöschen; es sollte sich mit dem Wiederaufbau einer bescheidenen Verbrauchsgüterindustrie und der Landwirtschaft begnügen. Wer in Deutschland nicht mehr leben könne, der solle auswandern. Nicht alle Angelsachsen dachten so wie Morgenthau. Amerikaner und Briten hatten gleich nach dem Kriege in Erfüllung der Bestimmungen der „Haager Landkriegskonvention zur Verhinderung von Unruhen und Seuchen" Nahrungsmittel, Saatgut, Düngemittel, Medikamente und Treibstoff nach Frankreich, Deutschland und Italien geliefert. Diese Hilfe, die im Rahmen des sogenannten „GARIOAProgramms" (Government and Relief in Occupied Areas) erfolgte, deckte zunächst einen Teil des dringendsten Bedarfs. Sie belief sich schließlich für das Gebiet der heutigen Bundesrepublik auf 2 Mrd. Dollar. Nicht zu vergessen ist auch die Care-Aktion, die — als eine Verwirklichung christlicher Nächstenliebe durch die amerikanische Bevölkerung — vielen Tausenden von Deutschen half zu überleben. Die amerikanische Regierung mußte jedoch zu dieser Zeit erkennen, daß ihr Vertrauen in eine maßvolle Haltung der UdSSR nicht gerechtfertigt war. Nicht nur in Asien und Klein-asien, sondern auch in der Tschechoslowakei und in Griechenland mußte sie feststellen, daß versucht wurde, Unruhe in die Völker zu bringen, um sie für ein kommunistisches Regime reif zu machen. Deshalb sah sich der amerikanische Präsident Truman veranlaßt, am 12. März 1947 zu verkünden, daß die USA bereit seien, allen Ländern, die mit bewaffneten Minderheiten von innen und kommunistischem Druck von außen Schwierigkeiten hätten, wirtschaftliche Hilfe zu gewähren. Diese Erklärung wurde später als sogenannte Tru-man-Doktrin bezeichnet. Als erste Länder erhielten Griechenland und die Türkei eine beachtliche Wirtschaftshilfe: 400 Mio Dollar.
Was aber sollte mit Deutschland geschehen? Die GARIOA-Lieferungen ließen zwar eine Linderung der ärgsten Not, aber noch keine Ansatzpunkte für einen Wiederaufbau erkennen. Auf Grund der Potsdamer Beschlüsse wurde jeglicher Wiederaufbau durch Demontagen im ganzen Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches verhindert.
Schon im September 1946 hatte der damalige amerikanische Außenminister Byrnes in einer Rede in Stuttgart zum ersten Male die Deutschen wieder als Partner angesprochen und Hoffnungen erweckt, daß es vielleicht auch für Deutschland wieder bessere Zeiten geben werde.
Wende durch eine Rede
Dann kam der 5. Juni 1947. An diesem Tage hielt der Außenminister der USA, George C. Marshall, ehemaliger General und Oberbefehlshaber der amerikanischen Armee, vor der Harvard Universität in Cambridge in Massachusetts eine Rede, in der er ein umfassendes Hilfsprogramm für ganz Europa verkündete. In Amerika und in ganz Europa galt diese Rede als eine Wende. In Amerika wurde eine eigene Kampagne gestartet, um den Gedanken, daß Amerika mit großen Zahlungen und Hilfssendungen für andere Länder eintreten müsse, erst einmal populär zu machen und im Kongreß eine Mehrheit für die Bewilligung entsprechender Mittel zu gewinnen. In Europa selbst hatte insbesondere der Appell zur Zusammenarbeit und Selbsthilfe lebhaften Widerhall gefunden. Die europäischen Länder handelten schnell.
Schon am 13. Juni 1947 kamen der französische Außenminister Bidault und sein britischer Kollege Bevin zusammen. Am 23. Juni wurde der russische Außenminister Molotow dazu geladen, der dann auch zu einer Konferenz am 27. Juni 1947 in Paris erschien. Er war anscheinend sehr erfreut und meinte dann zunächst auch, die angesetzten Summen — man hatte gleich von etwa 16 Mrd. Dollar gesprochen — seien zu gering. Als aber dann ein Leitausschuß vorgeschlagen wurde, der die Verhältnisse in den einzelnen Ländern untersuchen sollte, bekam er Bedenken, daß man in die inneren Verhältnisse Rußlands hineinreden könnte, und fuhr deshalb nach vier Tagen wieder ab. Anschließend verkündete er dann, daß die kommunistische Welt allein einen entsprechenden Hilfsplan aufstellen werde; am 12. Juli schloß er mit den Satellitenstaaten einen Vertrag, den sogenannten „Molotowplan", ab, woraus später der „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (Comecon) hervorgegangen ist. Am gleichen Tage kamen die Vertreter von 16 europäischen Staaten in Paris zusammen und beschlossen die Einsetzung eines „Ausschusses für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit" in Paris (Committee of European Economic Cooperation). Dieses Komitee, in dem maßgeblich der spätere Generalsekretär der OEEC, Marjolin, tätig war, arbeitete Tag und Nacht mit außerordentlichem Schwung und Idealismus und entwarf ein gemeinsames europäisches Wiederaufbauprogramm, das schon im September 1947 vorgelegt werden konnte. Dieses Programm fand seinen Niederschlag in dem amerikanischen Gesetz über wirtschaftliche Zusammenarbeit — „Economic Cooperation Act of 1948" (ECA), das am 3. April 1948 mit überwältigender Mehrheit beider Parteien verabschiedet wurde.
Es gliedert sich in vier Titel:
— den eigentlichen Marshallplan — die Hilfe für die notleidenden Kinder in der Welt — die Hilfen für Griechenland und die Türkei und — die Chinahilfe.
Hilfe zur Selbsthilfe
Das Entscheidende des amerikanischen Vorschlags war, daß eine europäische Organisation die Führung in die Hand nehmen solle, weil die europäische Erholung nach amerikanischer Auffassung primär eine europäische Aufgabe war. Die Europäer haben die Situation begriffen. Zunächst war man sich natürlich noch nicht klar, wie diese europäische Organisation aussehen solle. Die Franzosen wollten etwas ganz Neues mit einer eigenen Autorität herstellen. Die Engländer dagegen wünschten die Organisation als ständige Konferenz. Die englische Ansicht setzte sich durch. Der Schwung, der damals das Rad der Geschichte bewegte, war verheißungsvoll. Er hat allerdings nicht ganz ausgereicht, um es in Richtung auf die Vereinigten Staaten von Europa zum Ziele zu bringen. Die Aufgeschlossenheit der Völker und der führenden Staatsmänner war damals vorhanden. Die Organisation, welche dann zustande kam und die Hilfspläne aufstellen sollte, hieß: Organization for European Economic Cooperation (OEEC), in Deutschland der „Europäische Wirtschaftsrat". Die Konvention der OEEC datiert vom 16. April 1948.
Dieser „Europäische Wirtschaftsrat" stellte eine ständige Regierungskonferenz dar, die auf Grund des umfassendsten multilateralen Wirtschaftsabkommens, das bisher von souveränen Regierungen abgeschlossen wurde, entstanden ist. In der Konvention, die für Deutschland zunächst von den drei Militär-gouverneuren unterzeichnet wurde, in deren Rechte und Pflichten nach der Gründung der Bundesrepublik die deutsche Regierung am 15. Dezember 1948 selbst eintrat, haben sich die einzelnen Mächte gemeinsame wirtschaftspolitische Ziele gesetzt. Diese Ziele waren: _ die allgemeine Förderung der Produktion — die Steigerung des zwischenstaatlichen Handels durch Beseitigung von Beschränkungen des Handels-und Zahlungsverkehrs sowie — die Herbeiführung und Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung bei gleichzeitiger Sicherung interner finanzieller Stabilität.
Die Signatarmächte brachten auch ihre Über-zeugung zum Ausdruck, daß eine wirtschaftliche Erholung Europas nur im Rahmen einer engen und dauernden wirtschaftlichen Zusammenarbeit möglich sei, da infolge der wirtschaftlichen Verflechtung der Länder untereinander Glück und Gedeihen eines jeden einzelnen von ihnen von der Entwicklung der Gesamtheit abhängt.
Es würde zu weit führen, hier über die Funktion der OEEC im einzelnen zu berichten. Eines aber verdient festgehalten zu werden: Der Generalsekretär und seine Mitarbeiter sowie die von den einzelnen Regierungen akkreditierten Missionen hatten die feste Über-zeugung, daß es sich um ein zukünftiges gesamteuropäisches Lenkungs-und Verwaltungsorgan handele. In der ersten Zeit kamen die zuständigen Minister der beteiligten Länder — es waren alle westeuropäischen Länder mit Ausnahme von Spanien beteiligt, das aber schon bald einen ständigen Beobachter entsandte — alle zwei Monate zusammen. Für die Bundesrepublik war es der damalige Bundesminister für den Marshallplan und Stellvertreter des Bundeskanzlers, Dr. h. c. Franz Blücher. Die Ratspräsidenten waren zunächst die belgischen Außenminister Spaak und van Zeeland, dann der holländische Außenminister Stikker und nach diesem der britische Außenminister Eden. Die Organisation arbeitete mit einer kleinen Anzahl von sogenannten Horizontal-Ausschüssen, die überwiegend wirtschaftspolitische Aufgaben hatten, und mit vielen sogenannten Vertikalausschüssen, die mehr fachlich ausgerichtet waren. In diesen Ausschüssen kamen nicht nur Regierungsbeamte, sondern auch Fachleute aus der Wirtschaft zusammen. Die psychologischen Folgen dieser ständigen Begegnungen einer großen Zahl der führenden Persönlichkeiten in Paris muß für die damalige Zeit sehr hoch gewertet werden. Wie groß damals das Bestreben war, für Europa zu arbeiten, geht aus einer Bemerkung des später tödlich verunglückten Generalsekretärs der UNO, Dag Hammarskjöld, hervor, der am 3. Dezember 1952 in Bonn erklärte: „Bei einer kleinen Gruppe der Menschen, die im OEEC-Sekretariat arbeiteten, schien es mir, daß sie weniger daran interessiert waren, von Amerika Hilfe zu bekommen, als daran, daß die europäische Einigung fortschreiten sollte."
Franz Figgers, der spätere Generalsekretär der EFTA, hat damals festgestellt: „Es ist bemerkenswert, wie sehr die einzelnen Delegierten denationalisiert worden sind."
Jeder Amerikaner gab achtzig Dollar
Die amerikanische Hilfe war bedeutend. In den vier Jahren des Marshallplans von 1948 bis 1952 wurden den europäischen Ländern 14, 7 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt, davon erhielten:
Großbritannien 3, 6 Mrd. Dollar Frankreich 3, 1 Mrd. Dollar Italien 1, 6 Mrd. Dollar Deutschland 1, 5 Mrd. Dollar Niederlande 1, 0 Mrd. Dollar Österreich 0, 7 Mrd. Dollar Griechenland 0, 8 Mrd. Dollar Belgien/Luxemburg 0, 6 Mrd. Dollar Verschiedene 1, 8 Mrd. Dollar Amerika hat damit den 18 im Marshallplan zusammengeschlossenen europäischen Nationen einen Betrag zur Verfügung gestellt, der die finanzielle Leistung von 80 Dollar pro Kopf der amerikanischen Bevölkerung ausmacht.
Die Bedeutung der Marshallplanhilfe läßt sich u. a. daraus erkennen, daß die Vereinigten Staaten mit der ERP-Hilfe für das Jahr 1948/1949 in Höhe von rd. 4, 7 Mrd. Dollar auf etwa 2, 1 Prozent ihres Volkseinkommens (ungefähr ein Siebtel der normalen Sparquote) verzichteten. Jeder Amerikaner, ob Mann, Frau oder Kind, zahlte im Haushaltsjahr 1948/49 durchschnittlich 33, 33 Dollar für die Marshallplan-hilfe. Bei den Empfängerländern entspricht die Dollarhilfe für das Jahr 1948/49 im Gesamtdurchschnitt rd. 4 Prozent des Volkseinkommens. Die einzelnen Länder wiesen hierbei beträchtliche Unterschiede auf. Einen besonders hohen Anteil erreichte die Hilfe für Griechenland und Österreich mit 14 Prozent sowie für die Nie-derlande mit 10, 8 Prozent des Volkseinkommens dieser Länder.
Als der Marshallplan auslief, hatte sich die Industrieproduktion Westeuropas seit 1947 um 64 Prozent gesteigert und um 41 Prozent über das Niveau der Vorkriegszeit erhöht.
Das ERP-Sondervermögen
Diese Marshallplanhilfe wurde den einzelnen Ländern teilweise ganz geschenkt, teilweise unter bestimmten Auflagen und teilweise als Kredit gegeben. Die USA schickten Güter aller Art, die von den Beziehern in der Landeswährung bezahlt werden sollten. Man sprach von Gegenwerten. In der Bundesrepublik hatten die Bezieher diese Beträge an die damals eigens gegründete „Kreditanstalt für Wiederaufbau" einzuzahlen. Daraus wurde ein Sondervermögen gebildet, aus dem dann wieder an die deutsche Wirtschaft Deutsche-Mark-Kredite gegeben wurden. Es handelte sich deshalb sowohl um eine Warenhilfe als auch um eine Kapitalhilfe. Erste rechtliche Grundlage erhielt das so entstandene Sondervermögen, das den Namen „ERP-Sondervermögen" erhielt (European Recovery Program), durch das „Gesetz vom 31. Januar 1950 betreffend das Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland vom 15. Dezember 1949". Dieses Gesetz, mit dem das vorerwähnte Abkommen innerdeutsches Recht wurde, legte in Art. 3 fest, daß die im Zusammenhang mit dem Abkommen entstandenen und noch entstehenden Vermögenswerte ein Sondervermögen des Bundes bilden. Da das Gesetz mit dem Tag nach der Verkündung (31. Januar 1950) in Kraft getreten ist, muß als Geburtstag des ERP-Sondervermögens der 1. Februar 1950 gelten.
Die Bundesrepublik hat die Wirtschaftshilfe der Vereinigten Staaten von Amerika im Vergleich zu den übrigen europäischen Ländern mit dem größten wirtschaftlichen Effekt verwendet. Sie hat das aus den Gegenwerten der Wirtschaftshilfe gebildete Sondervermögen durch revolvierenden Einsatz nicht nur erhalten, sondern sogar noch vermehrt. Damit wurde ein für die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik bedeutsames kreditpolitisches Instrument geschaffen. In den übrigen europäischen Ländern ist die amerikanische Wirtschaftshilfe im wesentlichen längst aufgezehrt worden; zum Teil wurden die Mittel für die Deckung von Haushaltsdefiziten verwendet. Mit dem ERP-Sondervermögen stand nach der Währungsreform eine wichtige Kapitalquelle für den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft zur Verfügung. Es hat mit seinen Finanzierungsprogrammen einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Wiederaufbau in der Bundesrepublik geleistet. An der Finanzierungshilfe des ERP-Sondervermögens haben seit Anlaufen der ersten Förderungsmaßnahmen nahezu alle Wirtschaftsbereiche teilgenommen. In den ersten Jahren des Wiederaufbaues galt es zunächst, durch Wiederherstellung und Ausweitung der Produktionsanlagen in den wichtigsten Grundstoff-und Investitionsgüterindustrien die materiellen Grundlagen für eine wirtschaftliche Gesundung zu schaffen. Die Förderungsmaßnahmen des ERP-Sondervermögens richteten sich daher während dieser Zeitspanne im wesentlichen auf die Verbesserung der Kreditversorgung dieser beiden großen Wirtschaftsbereiche. Ohne Zweifel haben die Finanzierungshilfen des ERP-Sondervermögens damit die Grundvoraussetzungen für die spätere wirtschaftliche Expansion geschaffen und darüber hinaus die allgemeine Investitionsentwicklung beschleunigt. Daneben hingen Ausmaß und Tempo der wirtschaftlichen Erholung in der Bundesrepublik in entscheidendem Maße von dem Auf-und Ausbau im Energiesektor und der Anlagen der Verkehrswirtschaft ab. Beide Bereiche erhielten daher in der Wiederaufbauperiode in erheblichem Ausmaß Finanzierungshilfen aus Mitteln des ERP-Sondervermögens.
In den auf den eigentlichen wirtschaftlichen Wiederaufbau folgenden Jahren — nachdem also die Engpässe im Grundstoffbereich, in der Elektrizitätswirtschaft und in der Verkehrs-wirtschaft erweitert worden waren und sich die Initialzündung in der Investitionsgüter-industrie bereits erfolgreich ausgewirkt hatte — erfuhren die Förderungsmaßnahmen des ERP-Sondervermögens eine Schwerpunktverlagerung. Neben der Landwirtschaft, der Fisch-wirtschaft und der Wasserwirtschaft wurden in verstärktem Umfang die exportintensive Industrie und Gewerbezweige mit klein-und mittelbetrieblicher Struktur finanziert. Das Mittelstandsprogramm einschließlich der Maßnahmen zugunsten der Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegssachgeschädigten bildete nunmehr einen wichtigen Schwerpunkt des ERP-Programms. Dazu kamen in den letzten Jahren neue Strukturmaßnahmen, zu denen u. a. die Finanzierung des Auf-und Ausbaus sowie Rationalisierungs-und Modernisierungsmaßnahmen mittelständischer Betriebe zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur in den Fördergebieten (Zonenrandgebiet, Bundesausbaugebiete, Bundesausbauorte, ländliche schwachstrukturierte Gebiete) und die Finanzierung von Umstellungsmaßnahmen aus Anlaß von Veränderungen im internationalen Wettbewerb gehören.
Das ERP-Sondervermögen, das sich am 31. Dezember 1965 auf rd. 8, 610 Mrd. DM beläuft, kreist in den Adern der deutschen Wirtschaft in Form von Krediten. Durch die revolvierende Verwendung der Mittel des ERP-Sondervermögens zur Wirtschaft und von dort wieder zurück in das ERP-Sondervermögen ist die Summe der insgesamt seit 1949 von der Bundesregierung in die deutsche Wirtschaft geschleusten Kredite erheblich höher als das ERP-Sondervermögen selbst.
Mit dem Ablauf des Rechnungsjahres 1966 überstiegen die bisher aus Mitteln des ERP-Sondervermögens durchgeführten Finanzierungsprogramme den Betrag von 20, 5 Mrd. DM. Von diesen Finanzierungshilfen entfallen auf die Förderung der westdeutschen Wirtschaft rd. 12, 2 Mrd. DM, auf die Berlinhilfe rd. 6, 3 Mrd. DM und auf die einzelnen Maßnahmen der Entwicklungshilfe rd. 2, 0 Mrd. DM.
Liberalisierung des Handels mit Hilfe der EZU
Die Berliner Wirtschaft ist damit in einem besonderen Maße im Rahmen der ERP-Finanzierungsprogramme berücksichtigt worden, was zu einer wesentlichen Steigerung der Wirtschaftskraft Berlins und zur Sicherung der Arbeitsplätze beigetragen hat. Ebenso wichtig wie die materielle amerikanische Hilfe waren die erfolgreichen Bemühungen der OEEC, die Handelshemmnisse zwischen den einzelnen europäischen Ländern, die insbesondere aus Warenkontingentierungen bestanden, zu beseitigen. Man bezeichnete dies als Liberalisierung des Handels. Zu einer echten Liberalisierung des Handels war aber insbesondere notwendig, die Grundlagen für einen ungehinderten internationalen Zahlungsverkehr zu schaffen. In der Nachkriegszeit war zunächst der gesamte Zahlungsverkehr mit Hilfe bilateraler Verrechnungsabkommen abgerechnet worden. Im Rahmen der OEEC wurden zunächst innereuropäische Zahlungsabkommen abgeschlossen, die den Ausgleich von Überschüssen und Defiziten im Dreiecksverkehr gestatteten. Dies war aber nur ein Notbehelf. Im Juli 1950 gelang es, die Europäische Zahlungsunion (EZU) zu schaffen. Dies war ein Zahlungs-und Kreditsystem zur Förderung eines multilateralen Güter-und Dienstleistungsaustausches bei weitestgehender Liberalisierung auf der Basis einer Nichtdiskriminierung. Dieses neue Zahlungssystem beseitigte alle damals noch bestehenden Unterschiede zwischen Hart-und Weichwährungen innerhalb Europas und gestattete es, Überschüsse gegenüber dem einen Mitgliedsland mit einem anderen Mitgliedsland zu verrechnen sowie Defizite in einer Periode mit Überschüssen aus der vorhergehenden oder nachfolgenden Periode zu kompensieren. Jedes Teilnehmerland der Europäischen Zahlungsunion hatte damals nur eine einzige Zahlungsbilanz gegenüber der Gesamtheit seiner EZU-Partner und brauchte nicht mehr seine bilaterale Handels-und Zahlungsentwicklung gegenüber den einzelnen Mitgliedern zur Richtschnur seiner Handelspolitik zu machen. Daneben ermöglichte der in die EZU eingebaute Kreditmechanismus mittels der soge-nannten Quoten das Auffangen kurzfristiger Zahlungsbilanzschwankungen und ersetzte damit zum Teil fehlende Devisenreserven.
Es würde zu weit führen, hier den Mechanismus mit seinen Quoten und seinen Geldzahlungen, die alle durch amerikanische Kredite ermöglicht waren, zu erläutern. Wir dürfen aber feststellen, daß dieses System dem freien Waren-und Zahlungsverkehr einen ungeheuren Auftrieb gegeben hat. Schon nach kurzer Zeit wurden mehr als 50 Prozent des gesamten Welthandels über die Europäische Zahlungsunion abgewickelt. Es ist bekannt, welchen erheblichen Aufschwung der Außenhandel der Bundesrepublik genommen hat. Der Einfuhrbedarf, der sich auf Grund des vorbeschriebenen Zahlungssystems nun befriedigen ließ, führte aber dazu, daß schon im Jahre 1951 das Außenhandelsdefizit solche Ausmaße annahm, daß die Bundesrepublik in Zahlungsschwierigkeiten geriet. Damals zeigte sich die große Solidarität der OEEC-Länder, denn unsere Partner waren damit einverstanden, daß Deutschland einseitig die Liberalisierung weitgehend wieder aufhob, während die anderen Länder die deutsche Einfuhr frei hereinließen.
Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle unseren Nachbarländern für die uns damals zuteil gewordene großartige Hilfe zu danken und meine Landsleute an diese Haltung zu erinnern.
Eindrucksvolles Werk der Zusammenarbeit
Damals aber mußten alle erkennen, daß auftauchende wirtschaftliche Probleme in Europa, wenn guter Wille und der Geist der Verständigung vorhanden waren, sich sehr bald lösen ließen. Der erste Administrator des Marshallplans, Paul G. Hoffman, hatte schon im Oktober 1949 die Bildung eines großen Marktes in Europa, der 270 Millionen Menschen umfassen würde, empfohlen. Wir stehen inzwischen in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor der Schaffung eines gemeinsamen Marktes, aber wir sollten uns daran erinnern, daß wir seinerzeit in Paris unter einem anderen Gesetz angetreten sind. Der EWG-Präsident Hallstein hat noch im September vorigen Jahres in Straßburg gesagt, daß es zwar keine Ersatzlösung für die EWG gebe, daß aber die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft unvollständig bleiben muß, solange sie nicht auf andere europäische Länder erweitert wird. Der europäische Kontinent ist eine Einheit — diese Einheit so gut wie möglich zu organisieren, das ist unsere Aufgabe.
Ich weiß, daß, wenn heute von Europa die Rede ist, wir gerne an ein Europa vom Atlantik bis zum Ural denken. Es geht bei Europa sicherlich im letzten um das ganze Europa, aber vergessen wir auch nicht, daß unsere freiheitliche Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung innerlich und äußerlich durch den Kommunismus bedroht war und daß auch heute keineswegs die Gefahren gebannt sind. Wenn heute die Gefahr für unsere freiheitliche Ordnung nicht mehr so offenkundig ist wie zu der Zeit, als der Marshallplan ins Leben gerufen wurde, so sollten wir gleichwohl die latente Gefahr des Kommunismus nicht übersehen. Es gibt zu viele Beispiele in der Geschichte, daß nach scheinbarer Beendigung der Auseinandersetzungen die nur scheinbar abgewendete Gefahr wieder auftauchte, eben weil man sie nicht ernst nahm. Der Kommunismus kann uns nicht überwinden. Die einzige Chance für ihn liegt nicht in seiner Kraft, sondern in einer möglichen Ermüdung der freien Welt. Dabei sind es nicht allein die „leeren Mägen", sondern mehr noch die „leeren Seelen" (wie Professor Röpke einmal sagte), die uns die nur stiller gewordenen, aber gleichwohl noch vorhandenen Gefahren des Kommunismus übersehen lassen.
Das Europäische Wiederaufbauprogramm ist ein eindrucksvolles Werk der Zusammenarbeit von 150 Millionen Amerikanern und 270 Millionen Europäern. „Nach furchtbaren Kriegszerstörungen und einem totalen Zusammenbruch fand das deutsche Volk aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wieder zu sich, gewann den Glauben wieder an den Sinn des Daseins, an die Kraft seines Willens, den Erfolg seines Schaffens und an die Zukunft seiner Kinder; es kehrte zurück in die Gemeinschaft der freien Völker. Eine Tat von historischer Bedeutung, geboren aus der Klugheit politischen Willens, hat in entscheidendem Maße dazu beigetragen, daß ein solcher Wiederaufstieg Wirklichkeit werden konnte: Die Entscheidung des ehemaligen Gegners des Zweiten Weltkrieges — der Vereinigten Staaten von Amerika —, die Bundesrepublik in die amerikanische Auslandshilfe einzubeziehen."
Diese Worte des ersten ERP-Ministers Franz Blücher würdigen die geschichtliche Bedeutung des Marshallplanes für Deutschland.
Wer am 20. Jahrestag der Harvard-Rede eine Nutzanwendung ziehen will, der sollte mithelfen, daß wir Europäer und Amerikaner heute die gleichen Kräfte finden, um die nicht minder schwierigen weltpolitischen Aufgaben von heute zu lösen. Der Dank muß auch Worte finden und sich ausdrücken, aber wichtiger bleibt die tätige Hilfe.