Entgegengesetzte Standpunkte
Es wäre eine Übertreibung, die gegenwärtige Diskussion über die Beziehungen der Vereinigten Staaten zur Sowjetunion und zu Westeuropa als eine „große Debatte" zu bezeichnen. Man könnte sie in der Sprache unserer Zeit eine „Mini-Debatte" nennen, obwohl sie erregt geführt wird und emotional belastet ist durch Geschehnisse anderwärts, die vielleicht jedoch, auf lange Sicht betrachtet, gar nicht von so entscheidender Bedeutung sind.
Von welcher Seite man auch die Diskussion anfängt, fast immer lautet die zentrale Frage: Schadet der Versuch, die Beziehungen zu unseren westeuropäischen Bundesgenossen zu retten oder zu verbessern, unseren Bemühungen, eine Entspannung im Verhältnis zur Sowjetunion zu erreichen; und wenn ja, welchem der beiden Ziele gebührt dann in der amerikanischen Politik der Vorrang?
Die Frage wird in vielfältiger Form gestellt. Wenn darüber debattiert wird, ob die Vereinigten Staaten bemüht bleiben sollen, mit der Sowjetunion Verträge über die Einrichtung von Konsulaten, die Nichtweitergabe von Kernwaffen oder das Verbot bestimmter militärischer Maßnahmen im Weltraum abzuschließen, dann pflegt man weniger auf Inhalt und Nutzen der Verträge selbst einzugehen als vielmehr auf die symbolische Bedeutung, die ihnen als Teil einer Annäherung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zukommt. Die Befürworter einer solchen Politik behaupten, die „kommunistische Bedrohung" existiere nur noch in den alten Denkgewohnheiten des Kalten Krieges; in Ost-und Westeuropa sei das politische Leben in Fluß gekommen und habe eine neue Situation geschaffen; die Zeit sei reif für eine sowjetisch-amerikanische Verständigung, die um so leichter fallen müsse, als beide Mächte die gleichen Sorgen wegen Chinas hätten. Oft wird hinzugefügt, eine solche Annäherung hätte die erwünschte Nebenwirkung, daß sich die Vereinigten Staaten weniger um europäische Angelegenheiten zu kümmern brauchten und ihre Verpflichtungen in anderen Weltteilen reduzieren könnten.
Die Gegner dieser Politik argumentieren demgegenüber, das Verhalten der Sowjetunion lasse noch nicht den guten Willen erkennen, der eine solche Verständigung erst möglich mache (Beweis: die Lieferung von sowjetischem Kriegsmaterial nach Nordvietnam und an die vietnamesische Nationale Befreiungsfront), und das Streben nach einer illusorischen Annäherung an die Sowjetunion werde nur den endgültigen Zerfall der atlantischen Allianz beschleunigen, die in der gegenwärtigen Periode der Eckpfeiler der amerikanischen Politik sein müsse.
Wandlungen in Europa
Diese beiden entgegengesetzten Standpunkte miteinander zu versöhnen wird dadurch erschwert, daß Unklarheit über die jüngsten politischen Entwicklungen in Europa herrscht.
Fast alle Beobachter stimmen darin überein, daß im politischen Leben Europas etwas Neues aufgetreten ist; aber was dieses Etwas ist und wieweit es die politischen Fronten in Europa verändert hat, darüber besteht keine Einigkeit. Entspricht das „europäische" Streben im Westen noch der Vision Jean Monnets, ist es nur vorübergehend von General de Gaulle gebremst worden? Oder ist der Schwung in dieser Richtung jetzt erlahmt, tritt an die Stelle der alten Europa-Idee das Bild einer losen Gruppierung von Nationalstaaten, die in der internationalen Politik eine von den Vereinigten Staaten unabhängigere Rolle spielen wollen? Ist der Verfall der sowjetischen Herrschaft über Osteuropa so weit gediehen, daß eine Verständigung zwischen den Blöcken, quer über Europa hinweg, die Weiterentwicklung der westeuropäischen Integration überflüssig macht? Von der Beantwortung dieser Fragen — mithin von der Einschätzung tief-gehender sozialer Wandlungen, deren große Linien uns vielleicht erst in einiger Zeit klar werden — hängt es ab, welches Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und ihren atlantischen Partnern für erstrebenswert gehalten wird: eine institutionalisierte Integration oder, solange eine militärische und politische Integration schwer durchführbar erscheint, eine allmähliche, pragmatische Ausweitung bestimmter wirtschaftlicher Funktionen. Aber ganz gleich, welche Form und welchen Grad von atlantischer Integration man für möglich hält, es bleibt die Frage, ob wir zwischen einer Stärkung der Allianz und einer amerikanisch-sowjetischen Entspannung wählen müssen.
Wenn es heute so aussieht, als schlössen diese beiden Möglichkeiten einander aus, so liegt das unter anderem daran, daß die Vereinigten Staaten die Notwendigkeit der westlichen Allianz stets mit der militärischen Drohung der Sowjetunion begründet haben. Es wurden zwar auch andere, positivere Gründe genannt, aber seit den frühesten Tagen der NATO und besonders seit 1950 waren die amerikanischen Schätzungen der militärischen Erfordernisse bedeutend höher als die unserer europäischen Verbündeten, und unsere stärksten Argumente zugunsten der Allianz gründeten sich auf unsere Auffassung von den Absichten und Möglichkeiten der Sowjetunion. Das Ausmaß der militärischen Drohung der Sowjetunion wird heute zu beiden Seiten des Atlantiks sehr verschieden eingeschätzt. Aber man kann wohl sagen, daß die in Westeuropa vorherrschende Schätzung niedriger liegt als die offizielle amerikanische Schätzung, und daß dies ein Hauptfaktor für die Schwächung der Allianz ist. Gleichzeitig hat die schwankende amerikanische Haltung zu den Möglichkeiten einer amerikanisch-sowjetischen Entspannung bei den Europäern Zweifel erweckt, ob wir selbst das sowjetische Problem mit genügend Ernst und Stetigkeit betrachten. Die Folge war, daß jetzt Entspannung und Allianz als unvereinbare Alternativen erscheinen. Können wir uns darüber klar werden, welchen Charakter und welches Ausmaß die heute von der sowjetischen Politik ausgehende Gefahr hat, und können wir uns mit unseren Bundesgenossen über die erforderliche Reaktion des Westens einigen? Können wir uns darüber klar werden, welche Art Entspannung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion heute möglich ist — wohl unterschieden von der Regelung auf längere Sicht, die wir erstreben? Wenn wir, wie in dieser Fragestellung angedeutet, das Entspannungsproblem in zwei Etappen angehen, so hilft das vielleicht einige Unklarheiten und scheinbare Widersprüche zu beseitigen.
Ist die Sowjetunion friedfertig geworden?
Einige Amerikaner und viele Europäer halten heute die militärische Drohung der Sowjetunion für bedeutend geringer als früher. Das hat mehr mit ihren Eindrücken von den sowjetischen Absichten zu tun als mit ihrer Einschätzung der militärischen Stärke der Sowjetunion. Diese wird in letzter Zeit sogar höher eingeschätzt als früher, und zwar sowohl absolut als auch — in mancher Hinsicht — relativ zur militärischen Stärke der Vereinigten Staaten, wobei allerdings der amerikanische Vorsprung auf dem Gebiet der strategischen Waffen zumindest für die nächsten Jahre gesichert erscheint. In der Regel werden folgende Faktoren angeführt: 1. Viele meinen, der Zerfall des kommunistischen Blocks habe die von den kommunistischen Staaten ausgehende Drohung beseitigt oder vermindert. „Der kommunistische Block ist nicht mehr monolithisch." Das Aufbegehren der Chinesen gegen die sowjetische Führung, die zunehmende außenpolitische Selbständigkeit einiger osteuropäischer Staaten und die mangelnde Koordination der ausländischen kommunistischen Parteien werden als Gründe dafür angeführt, daß eine „Eindämmung" des kommunistischen Expansionismus nicht mehr nötig sei und daß es jetzt größere Möglichkeiten für eine Verständigung mit der Sowjetunion gebe. 2. Viele sind der Ansicht, die inneren Wandlungen, die das sowjetische System durchgemacht hat, würden sich auch außenpolitisch auswirken; die Sowjetunion werde künftig keine dynamische und aggressive, sondern im wesentlichen eine konservative, nicht-ideologische Außenpolitik treiben. 3. In den letzten Jahren zeigte die Sowjetunion — mit einigen Ausnahmen — die Tendenz, ihre Ziele mehr mit indirekten, auf lange Sicht berechneten Methoden zu fördern als mit direkten, militanten Herausforderungen. Dadurch sind die dramatischen Konfrontationen, die früher den Zusammenhalt und die Wachsamkeit des Westens stärkten, seltener geworden. Es wird allgemein anerkannt, daß diese Wandlung der sowjetischen Politik hauptsächlich auf den Erfolg der westlichen Allianz zurückzuführen ist. Meinungsverschiedenheiten gibt es nur darüber, welche Rolle die „friedliche Koexistenz" in der sowjetischen Strategie spielt. 4. Die in den letzten Monaten viel erörterten Nachrichten über eine Steigerung der Produktion von interkontinentalen Raketen und eine Verstärkung der Raketenabwehr in der Sowjetunion haben die Frage aufgeworfen, ob wir uns vielleicht dem Ende einer Periode der Stabilität im strategischen Wettrüsten nähern. Trotzdem wird weithin angenommen, die Sowjetführung erkenne an oder werde logischerweise anerkennen müssen, daß sie mit den Vereinigten Staaten ein gemeinsames oder paralleles Interesse daran habe, das Wettrüsten einzuschränken, zumindest auf der strategischen Ebene.
Politische Auseinandersetzung dauert an
Jeder dieser Faktoren hat beträchtliches Gewicht, aber in öffentlichen Diskussionen besteht die Tendenz, übertriebene Folgerungen aus ihnen zu ziehen. Verständlicherweise rea-gieren viele Amerikaner und Europäer auf die allzu groben Vereinfachungen der Vergangenheit damit, daß sie jetzt meinen, die „kommunistische Drohung" sei von Anfang an ein Mythos gewesen oder sei inzwischen so gering geworden, daß es keiner oder nur noch einer schwachen Verteidigung gegen sie bedürfe. Die Diskussion hat sich inzwischen so sehr auf die „extreme Drohung" und „keine Drohung" zugespitzt, daß es schwer ist, die öffentliche Aufmerksamkeit auf Wandlungsprozesse der internationalen Politik zu lenken, die in Wirklichkeit komplex und vieldeutig sind. Diese Prozesse haben meiner Meinung nach nicht das Konfliktverhältnis zur Sowjetunion aus der Welt geschafft, wohl aber seinen Charakter verändert. Der Ausgangspunkt einer Politik des Westens muß es sein, Begriffe zu finden, mit denen sich das Wesen der politischen Auseinandersetzung, in die wir verwickelt sind, angemessen bezeichnen läßt. Die westliche Allianz hat es zur Zeit weder mit dem Gespenst der kommunistischen Weltrevolution noch mit einem Versuch der Sowjets zu tun, Westeuropa kommunistisch zu machen, noch mit sowjetischen Vorbereitungen auf die militärische Eroberung Europas. Vielmehr sieht sie sich Bemühungen der Sowjetunion gegenüber, ihren Einfluß auf dem europäischen Kontinent mit politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln zu verstärken.
Der Zerfall des kommunistischen Blocks ist eine unleugbare Tatsache. Aber dieser Prozeß hebt nicht etwa jede ernsthafte Bedrohung des Westens durch die Sowjetunion auf — ebensowenig wie die Uneinigkeit in der westlichen Allianz für die Russen die Drohung der amerikanischen Macht beseitigt. Was dieser Zerfallsprozeß wirklich aus der Welt schafft, ist der Popanz einer einheitlichen artikulierten Drohung, die wahrscheinlich niemals so monolithisch war, wie sie uns einst erschien. Es ist nützlich, sich daran zu erinnern, daß örtliche Manifestationen des Kommunismus in ihrem örtlichen Zusammenhang betrachtet werden müssen und differenzierte Reaktionen erfordern: aber daraus folgt nicht, daß örtliche kommunistische Bewegungen oder die Macht der Sowjetunion und Chinas kein Anlaß mehr zur Sorge wären. Wenn die Sowjetunion elastisch genug ist, kann sie vielleicht sogar davon profitieren, daß sich die verschiedenen Elemente der kommunistischen Bewegung mehr und mehr Rückhalt bei nationalistischen Kräften suchen.
Widerstreitende Tendenzen in der kommunistischen Welt
Es ist klar, daß die jüngsten Entwicklungen in China bei der sowjetischen Führung Unsicherheit und Besorgnis hervorgerufen haben. Wie sich diese Vorgänge auf die sowjetische Politik auswirken werden, läßt sich noch nicht in vollem Umfang absehen; aber Voraussagen, daß die Sowjetunion mit dem Westen ein Bündnis gegen China schließen werde, erscheinen allzu optimistisch, wenn man bedenkt, wieviel gegenseitiger Argwohn dem sowjetisch-westlichen Verhältnis noch inne-wohnt. Sicherlich hat der chinesisch-sowjetische Konflikt, zusammen mit dem Klima der Entspannung in Europa, nationalistische Tendenzen in Osteuropa verstärkt und einige osteuropäische Länder ermuntert, in ihrer Außenpolitik selbständiger als bisher vorzugehen. Diese Länder setzen dem sowjetischen Bemühen, die Vereinigten Staaten in der europäischen Politik zu isolieren, Widerstand entgegen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil sie fürchten, ihre eigene Manövrierfähigkeit könnte dadurch beeinträchtigt werden. All das beschränkt zweifellos die Handlungsfreiheit der Russen und bringt es mit sich, daß sie ihren Partnern im Block viel häufiger als früher gut zureden müssen. Osteuropa öffnet sich westlichen Einflüssen, und es entwickeln sich Handels-und Kulturverbindungen kreuz und quer über den europäischen Kontinent. Dadurch kommt Leben und Vielfalt in die europäische Politik, und auf lange Sicht mag dieB ser Wandel auch bedeutsame Auswirkungen in der Sowjetunion selbst haben. Auf absehbare Zeit jedoch sind dem Prozeß durch die sowjetischen Sicherheitskonzeptionen und durch die Gruppen, die in diesen Ländern die politische Herrschaft ausüben, Schranken gesetzt. Natürlich hat die Sache zwei Seiten: Die sowjetische Diplomatie wird versuchen, unter Ausnutzung der neuen Beweglichkeit in Europa auf die politische Frontenbildung im Westen einzuwirken.
Uber die These, daß die inneren sozialen Wandlungen in der Sowjetunion bereits begonnen hätten, die sowjetische Außenpolitik in konservativer Richtung zu beeinflussen, ist schon viel geschrieben worden. Summarisch kann man wohl sagen, daß es hier mindestens zwei Unsicherheitsfaktoren gibt. Der eine betrifft die Zeitspanne, die verstreichen muß, ehe qualitative Veränderungen spürbar werden, der andere die Richtung, in der diese Veränderungen tatsächlich wirken. Solange die Partei-und die Polizeibürokratie noch intakt und im unangefochtenen Besitz der politischen Herrschaft sind, erscheint die von den Chinesen und einigen westlichen Beobachtern vorgebrachte Behauptung, die Sowjetunion sei schon so etwas wie ein bürgerlicher Staat geworden, zumindest verfrüht.
Soviel ist richtig, daß einige Gruppen in der Sowjetgesellschaft mehr Unabhängigkeit gewonnen haben und daß die Prozesse des Entscheidens, den Anforderungen der fortschreitenden Industrialisierung entsprechend, komplizierter und bürokratischer geworden sind. Aber man muß hier zwischen administrativen Entscheidungen und politischer Machtausübung unterscheiden. Der Abbau der Partei-herrschaft kann sehr langsam vonstatten gehen — falls sich die politische Struktur der Sowjetunion überhaupt in dieser Richtung entwickelt. Richtig ist auch, daß die sowjetische Politik ziemlich konservativ ist (und stets war), wenn man darunter Vorsicht gegenüber Risiken versteht. Die fundamentale Dynamik der sowjetischen Politik, die teils dem nationalen Wachstum, teils der Ideologie entspringt, kann durch innere wirtschaftliche Schwierigkeiten und durch den Schwund äußerer Möglichkeiten gemindert werden; es gibt aber bisher keinen Beweis dafür, daß sie durch Wandlungen innerhalb des Sowjetsystems gemindert worden wäre.
Aktive sowjetische Politik gegenüber Westeuropa
Die sowjetische Politik gegenüber Westeuropa benutzt mehr und mehr die traditionellen Methoden des Strebens nach Vorteilen für das eigene Land; das heißt jedoch nicht, daß der ideologische Faktor in der sowjetischen Politik belanglos geworden wäre. Hier muß man unterscheiden zwischen dem ideologisch formulierten Ziel der Weltrevolution, das allmählich zurückgetreten ist und heute wohl keine große operative Bedeutung mehr besitzt, und anderen Aspekten der Ideologie, die sich langsamer wandeln und von denen man nicht sagen kann, daß sie ihre operative Bedeutung für die sowjetische Politik verloren hätten. Die marxistisch-leninistischeGeschichtsauffassung unterliegt zwar Modifikationen, aber sie bestimmt nach wir vor das sowjetische Bild von den westlichen Systemen, die ihr zufolge geschichtlich überholt und ihrem Wesen nach Konfliktquellen sind. Diese Auffassung steht der Herausbildung eines wirklich kooperativen Verhältnisses zum Westen und besonders zu den Vereinigten Staaten im Wege. Sie verhindert nicht eine begrenzte Zusammenarbeit auf bestimmten Gebieten, aber da sie die beiden Systeme als grundsätzlich unvereinbar ansieht, beschränkt sie die in der gegenwärtigen Periode mögliche Zusammenarbeit auf ein ganz bestimmtes Maß. In gewissen Altersgruppen und gewissen Teilen der Bürokratie ist diese Auffassung verbreiteter als in anderen; ihre Wirkung mag daher mit der Zeit abnehmen. Vorerst jedoch bildet sie eine der Schranken zwischen der gegenwärtigen und der künftigen Phase der Ost-West-Beziehungen.
Untersucht man die Rolle der „friedlichen Koexistenz“ in der sowjetischen Politik, so fällt einem vor allem die paradoxe Tatsache auf, in welch hohem Maße die westliche Politik das Opfer ihrer eigenen Erfolge geworden ist. Der Übergang der Sowjetunion zu indirekten, auf längere Sicht berechneten Methoden, ihre Interessen zu fördern, ist die logische Reaktion auf Lebenstatsachen, die die westliche Allianz hat schaffen helfen: die strategische Überlegenheit des Westens, seine hohen Wachstumsraten und seine Festigkeit im Widerstand gegen direkten militanten Druck. Während nun die westliche Allianz bemüht ist, sich auf die Lage nach dem Wegfall des offenen Drucks einzustellen, der früher das Bündnis zusammenhielt, sucht die Sowjetunion tastend nach realistischen Methoden, ihren Einfluß zu verstärken.
In der Praxis bedeutet friedliche Koexistenz eine zunehmende diplomatische Aktivität in dem Weltteil, der wohl für das Gleichgewicht der Mächte entscheidend ist: in Europa. Das Wiedererstehen der wirtschaftlichen Macht Westeuropas verringerte zwar die sowjetischen Hoffnungen auf revolutionäre soziale Umwälzungen, gab aber der Sowjetunion die Möglichkeit zu politischen Manövern, da der immer stärker werdende Wunsch der westeuropäischen Länder, in der Weltpolitik eine von den Vereinigten Staaten unabhängige Rolle zu spielen, zu Spannungen führte, die die sowjetische Politik ausnutzen konnte. Der Krieg in Vietnam bedeutete für die sowjetische Politik gegenüber Westeuropa einen qualitativen Sprung nach vorn, teils, weil das amerikanische Vorgehen in Vietnam bei den Europäern unpopulär ist, vor allem aber, weil der Krieg einen so großen Teil der amerikanischen Energie und Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Die Sowjets nutzen den Rückgang des amerikanischen Einflusses in Europa aus und verstärken ihre Bemühungen, ein Netz technischer, kommerzieller, kultureller und politischer Verbindungen mit den wichtigsten Ländern Westeuropas sowie mit Kanada und Japan zu knüpfen.
Wie hätte diese Kampagne dramatischeren Ausdruck finden können als in dem Besuch des sowjetischen Staatsoberhauptes beim Papst? Wie ließe sich das sowjetische Bemühen, über das ganze politische Spektrum hinwegzugreifen, besser symbolisieren als durch die ausgestreckte Hand, zu der sich die russische revolutionäre Faust geöffnet hat? Die sowjetische Diplomatie in Europa hat ein arbeitsreiches Jahr hinter sich: de Gaulle in Moskau, Kossygin in Paris, Wilson in Moskau (zweimal), Kossygin in London, Gromyko und dann Podgorny in Rom, Demitschew und dann Podgorny in Wien — und überall Gespräche über Handel, Kulturaustausch und technische Zusammenarbeit . . . Sowjetisch-europäische Zusammenarbeit, um den technischen Rückstand gegenüber den Vereinigten Staaten aufzuholen . . . Europa den Europäern — in etwas gedämpfterem Ton wurde das gleiche Thema angeschlagen wie im Bukarester Kommunique der Warschauer-Pakt-Mädite vom Juli letzten Jahres: Einberufung einer europäischen Konferenz zur Regelung der europäischen Probleme, Auflösung der NATO und des Warschauer Paktes, Einbringung des Gemeinsamen Marktes in eine gesamteuropäische Ordnung, Anerkennung der souveränen Rechte der „Deutschen Demokratischen Republik."
Hoffnungen der Sowjets
Hier aber liegt das schwierigste Problem für die sowjetische Diplomatie: Was soll mit Deutschland geschehen? Die Politik General de Gaulles hat offenkundig die nützliche Wirkung, die westliche Allianz zu schwächen und die amerikanische Präsenz in Europa zu verringern; aber die Sowjets fragen sich jetzt, ob diese Politik nicht die „objektive Konsequenz" haben könnte, die Bundesrepublik zur stärksten Macht in Westeuropa zu machen. Eine klare Antwort auf dieses Dilemma haben die Sowjets noch nicht gefunden. Vorläufig verfolgen sie die Strategie, die Bundesrepublik heftig wegen ihres „Revan-chismus" und „Militarismus" anzugreifen und sie so zu isolieren, wobei sie zu verstehen geben, daß eine Anerkennung der „Deutschen Demokratischen Republik" Vorteile mit sich brächte. Der Preis, den die Deutschen für eine Entspannung mit der Sowjetunion zahlen sollen, ist die fortdauernde Teilung Deutschlands und die Loslösung von den Vereinigten Staaten. Was ist der Zweck dieser Bemühungen? Die Antwort beginnt mit der Feststellung: Solange es keinen allgemeinen Krieg und auch keine akute Kriegsdrohung gibt, ist die entscheidende Frage die, wo das industrielle Europa im Gleichgewicht der Mächte im Weltmaßstab seinen Platz hat. Die Sowjets hoffen, auf Grund der jetzigen größeren Beweglichkeit des europäischen politischen Lebens und des verminderten amerikanischen Einflusses auf Europa ihren eigenen Einfluß so zu steigern, daß sie die einzelnen europäischen Nationalstaaten in ein engeres Verhältnis — vielleicht sogar ein Unterordnungsverhältnis — zur Sowjetunion bringen und dadurch ihre Machtposition gegenüber den Vereinigten Staaten stärken können. Man muß betonen, daß diese Bestrebungen im wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Charakter haben und daß die Sowjetführer hoffen, in der Zwischenzeit ihre eigene ökonomische Machtbasis zu festigen; es handelt sich primär nicht um eine militärische Drohung, obwohl natürlich hinter der Sowjetdiplomatie die sowjetische Militärmacht stehen wird.
Ob diese Erwartung realistisch ist, hängt von mehreren Imponderabilien ab. Es ist ein historisches Glücksspiel. Vom westeuropäischen Standpunkt aus bieten verstärkte Kontakte in einem Klima der Entspannung die Chance, die ideologischen Barrieren abzubauen, die osteuropäischen Staaten flügge zu machen und den Boden für eine europäische Verständigung zu bereiten. Vom sowjetischen Standpunkt aus bieten diese verstärkten Kontakte die Möglichkeit, die westeuropäischen Staaten zu einer lockeren Koalition gegen die Vereinigten Staaten zusammenzuschließen. Die Frage lautet nicht, ob es verstärkte Kontakte zwischen Ost-und Westeuropa geben soll — diese Entwicklung ist in der gegenwärtigen politischen Lage gar nicht aufzuhalten —, sondern ob es möglich ist, diese Kontakte mit politischem Bewußtsein so zu koordinieren und zu steuern, daß sie zu einer Stärkung der Unabhängigkeit Europas führen, nicht zu seiner Zersplitterung und Unterwerfung. Man mag es morbiden Optimismus nennen —• aber diese Dinge sind so schwierig und verwickelt, daß man versucht ist zu sagen: Der Gewinner wird seinen Sieg wahrscheinlich nur dem Umstand zu verdanken haben, daß der Gegner noch ungeschickter war als er selbst.
Rüstungsbeschränkungen bedeuten nicht politischen Waffenstillstand
Eingangs wurde der Gedanke geäußert, daß die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten ein gewisses gemeinsames Interesse daran hätten, das Risiko eines allgemeinen Krieges zu verringern. Wieweit ist diese Annahme richtig und wieweit trägt diese Interessengleichheit — falls vorhanden — dazu bei, die soeben geschilderte politische Rivalität einzuschränken?
Wenn Logik und rationales Denken das Verhalten der beiden Großmächte bestimmen, dann müssen sie ohne Zweifel einsehen, daß sie gleichermaßen daran interessiert sind, den Ausbruch eines allgemeinen nuklearen Krieges zu verhindern. Tatsächlich haben sie in Grenzen auch schon danach gehandelt. Das Wettrüsten ist noch nicht ins Hemmungslose ausgeartet. Beide Seiten akzeptieren stillschweigend gewisse Einschränkungen, da sie aus Erfahrung gelernt haben, daß Maßnahmen zur Verbesserung der eigenen Situation alsbald Gegenmaßnahmen nach sich ziehen; auch das Budget setzt ihnen Schranken. Doch nun kommen gleich die Aber. Aus nur zu gut bekannten Gründen war es bisher nicht möglich, dieses gemeinsame Interesse in eine Vereinbarung über Rüstungsbeschränkungen umzusetzen. Die Unterstützung diplomatischer Aktionen mit militärischen Drohungen trägt das Risiko in sich, daß in einer Krisensituation das Geschehen der rationalen Kontrolle entgleitet. In natürlichem Berufseifer suchen die Militärs auf beiden Seiten Sicherheit durch Überlegenheit zu erreichen; das gibt dem Wettrüsten immer neuen Antrieb, wie wir gerade jetzt an den dringend erhobenen Forderungen nach Anti-Raketen-Raketen sehen. Der Vietnam-Konflikt und die Aussicht auf viele andere lokale Konfliktsituationen in Asien, Afrika und Lateinamerika haben der zuversichtlichen Annahme, daß ein allgemeiner Krieg wenig wahrscheinlich sei, einen Stoß versetzt. Das Wachstum der chinesischen Militärmacht kompliziert die Dinge noch weiter und macht, zumindest für den Augenblick, das Problem von Abrüstungsvereinbarungen zu einer akademischen Frage. So pflegt man ja leider Fragen ohne praktische Bedeutung zu bezeichnen.
Wichtig ist jedoch Folgendes: Selbst wenn wir davon ausgehen — und wir sollten es meiner Meinung nach tun —, daß die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten im Laufe der Zeit Mittel und Wege finden, ihr militärisches Gegeneinander zu stabilisieren und aufzulockern, so bedeutet das nicht, daß dadurch zwangsläufig auch ihre politische Rivalität gemindert würde. Es besteht kein zwingender Zusammenhang zwischen Rüstungskontrolle und politischem Waffenstillstand. Meiner Ansicht nach war es ein Fehler, zugunsten bestimmter Abrüstungsmaßnahmen so zu argumentieren, als könnten sie Spannungen beseitigen, die aus fundamentalen politischen Interessenkonflikten erwachsen. Der augenblickliche Grad der Spannung ist natürlich nicht ohne jeden Bezug zum Wettrüsten. Dennoch können symbolische Maßnahmen zum Abbau von Spannungen, die nichts mit der Substanz unserer widerstreitenden Interessen zu tun haben, schlimmer als nutzlos sein, denn sie führen zu Selbsttäuschung und Fehlkalkulation. Wenn wir nach gangbaren Wegen suchen, das gemeinsame Interesse an der Verhinderung eines allgemeinen Krieges auszunutzen, müssen wir deshalb im Auge behalten, daß die Gemeinsamkeit der Ziele begrenzt ist, daß an vielen Fronten die Rivalität fortdauert und daß Abrüstungsmaßnahmen nicht zwangsläufig mit einer politischen Annäherung verbunden sind.
Grenzen der Entspannung
Damit kommen wir zur Frage der Entspannung. Welche Art von Entspannung gegenüber der Sowjetunion ist in der gegenwärtigen Periode möglich? Zunächst einmal: Der Ausdruck „Entspannung" ist ungenau und oft irreführend. Streng genommen bezeichnet er nur eine Verminderung von Spannungen; aber so, wie er allgemein gebraucht wird, schwingt in ihm der Gedanke einer politischen Annäherung mit. Rückschauend sehen wir, daß selbst in Perioden, wo das Wort „Entspannung" in jedermanns Munde war, wie etwa 1959 und 1963/64, nur sehr bedingt davon die Rede sein konnte; denn der Abbau der Spannung ging einher mit hartnäckigen Bemühungen der Sowjets, politische und militärische Vorteile zu gewinnen. Zum Beispiel ist es wahrschein-lich, daß der sowjetische Entschluß, die Produktion von interkontinentalen Raketen zu erhöhen, in den Jahren 1963/64, also während der „Entspannung" nach der Kuba-Krise, gefaßt wurde.
In der gegenwärtigen Periode ist zwar eine Verminderung der Spannungen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten offensichtlich wünschenswert und würde auch von unseren europäischen Bundesgenossen begrüßt werden, aber es gibt mehrere Faktoren, die einem solchen Unternehmen Grenzen setzen, und zwar auch dann, wenn das Vietnam-Problem gelöst oder überwunden wäre.
Die Beweglichkeit, die jetzt in der europäischen Politik herrscht, ermuntert zu aktivem Wettkampf um politische Vorteile — im Gegensatz zu der zeitweiligen Stabilisierung, die frühere Perioden verminderter Spannung kennzeichnete. Während die Sowjetunion bisher am Status quo (das heißt: Anerkennung der sowjetischen Position in Osteuropa durch die Vereinigten Staaten) als Vorbedingung friedlicher Koexistenz festhielt, ist sie jetzt — außer im Falle Ostdeutschlands — zu einer offeneren Spielweise übergegangen und unternimmt politische Manöver über den ganzen Kontinent hinweg. Solange das Problem des geteilten Deutschlands bestehen bleibt, sind den Möglichkeiten, Spannungen zu lok-kern, Grenzen gesetzt; das gilt für eine Periode der Bewegung in noch stärkerem Maße als für die Zeit, wo die Fronten erstarrt schienen.
Vietnam wird sich vielleicht als ein vorübergehender Faktor erweisen; aber die derzeitige diplomatische Isolierung der Vereinigten Staaten in dieser Frage ermuntert die Sowjetunion, relative Gewinne durch noch weitergehende Isolierung der Vereinigten Staaten anzustreben (Entspannung gegenüber Europa, aber nicht gegenüber den Vereinigten Staaten), statt die Entfremdung durch bilaterale Formen der Zusammenarbeit überwinden zu helfen. Entspannungshindernd wirkt auch die sowjetische Auffassung, daß die amerikanische Politik immer militanter und unversöhnlicher werde — eine Ansicht, an der auch die jüngsten Reden Präsident Johnsons nichts geändert haben. Zudem rechnen die Sowjets damit, daß die politische Turbulenz in der ganzen unterentwickelten Welt zu neuen Konfliktsituationen führen wird und daß die Amerikaner darauf ebenfalls militant reagieren werden. Was die gegenwärtigen Umwälzungen in China betrifft, so ist evident, daß sie, unabhängig von ihrem Ausgang, in Asien neue Macht-und Einflußverhältnisse schaffen und eine Zeitlang Unstabilität verursachen werden. In diesem Zusammenhang ist festzustellen: Die Sowjetunion weist chinesische Vorwürfe, sie stehe im Einverständnis mit dem „amerikanischen Imperialismus" und lasse bei der Führung der internationalen kommunistischen Bewegung revolutionären Eifer vermissen, empört zurück und fühlt sich dadurch gehemmt — wenigstens im gegenwärtigen Augenblick —, Kontakte mit den Vereinigten Staaten zu knüpfen, die von den Chinesen als Beweis für jene Vorwürfe angeführt werden könnten.
Nehmen wir jedoch einmal optimistisch an, die Besorgnisse wegen des Konflikts mit China und wegen der steigenden Rüstungskosten veranlaßt die Sowjetführung in absehbarer Zeit, sich auf eine Reduzierung der Spannungen gegenüber den Vereinigten Staaten einzulassen. Wie sollten wir darauf reagieren? Vor allem müssen wir uns klar sein über den Unterschied zwischen der begrenzten Entspannung, die zur Zeit vielleicht möglich ist, und symbolischen Akten, die auf eine Annäherung hinzudeuten scheinen, in Wirklichkeit aber nichts an den Grundursachen des Konflikts ändern. Denn solche symbolischen Akte können unsere Verbündeten nur ermutigen, untereinander ein Wettrennen auf dem Weg nach Moskau zu veranstalten.
Keine europäische Regelung ohne Lösung des deutschen Problems
Die Hauptaufgabe einer begrenzten Entspannung zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten wäre es, die Gefahr eines allgemeinen nuklearen Krieges zu vermindern. Im Augenblick ist es unwahrscheinlich, mehr als dies zu erreichen. Die Möglichkeit gemeinsamen Handelns ergibt sich nicht nur daraus, daß beide Mächte einer Meinung sind über die Zerstörungsgewalt eines allgemeinen nuklearen Krieges und daß sie die Kosten des Wettrüstens ähnlich (wenn auch vielleicht nicht zahlenmäßig gleich) beurteilen, sie kann sich auch daraus ergeben, daß die beiden Mächte die politischen Wirkungen von Abrüstungsmaßnahmen verschieden einschätzen. Zum Beispiel ist ein gemeinsames Vorgehen in der Frage des Atomsperrvertrags denkbar, weil jede Seite erwartet, daß die politischen Nebenwirkungen des Vertrags ihren eigenen Interessen dienlicher sein werden als denen der Gegenseite. Ebenso können Handels-und Kulturbeziehungen in bescheidenem Umfange möglich und nützlich sein, nicht weil die Interessen übereinstimmen, sondern weil die Wirkungen solcher Beziehungen verschieden beurteilt werden.
Mit der Zeit gelangen wir vielleicht dahin, daß Abkommen über Rüstungsbeschränkungen möglich werden; aber augenblicklich sind wohl die wirksamsten Maßnahmen, die getroffen werden können, stillschweigende Selbstbeschränkung und die Wiederherstellung von Kommunikationswegen, die ein Maximum an Geheimhaltung und Vertraulichkeit gewährleisten. Der Diffusionsprozeß, durch den Interessenten in beiden Ländern etwas über das Zusammenwirken von Politik, Wissenschaft und Militärtechnik erfahren, hat seine Nützlichkeit auf lange Sicht bereits erwiesen. Das Modell des Abkommens von Taschkent macht vielleicht Schule in peripheren Konflikten, in denen die beiden Mächte keine entgegengesetzten Interessen vertreten.
Unwahrscheinlich ist es aber, daß eine Regelung europäischer Probleme Bestandteil einer Entspannung in naher Zukunft sein kann. Die Sowjetunion zeigt ebensowenig Bereitschaft, ihre ökonomische und militärische Position in Ostdeutschland preiszugeben, wie die Vereinigten Staaten Bereitschaft zeigen, die Bundesrepublik im Stich zu lassen. Dieser Punkt wird nicht immer richtig verstanden. Die Vereinigten Staaten wollen nicht der Sowjetunion die Herrschaft über Deutschland streitig machen, sondern erstreben eine Lösung des deutschen Problems unter Bedingungen, die die stetige Entwicklung demokratischer politischer Institutionen in Deutschland erlauben. Das ist von lebenswichtigem Interesse, denn wenn die diskriminierende Behandlung Deutschlands dort zum Wiederaufleben eines irrationalen Nationalismus führt, ist die künftige Stabilität Europas wieder in Gefahr. Eine europäische Regelung ist unmöglich ohne Lösung des deutschen Problems, und nur im Rahmen einer europäischen Regelung kann das deutsche Pro-blem gelöst werden. Natürlich wird es Zeit brauchen, bis dieses Problem lösbar wird; seine Lösung kann nicht Teil einer begrenzten Entspannung im jetzigen Augenblick sein, sondern muß einer künftigen grundlegenden Regelung vorbehalten bleiben.
Begrenzte Gegnerschaft und Zusammenarbeit zugleich
Der Grundgedanke dieser Ausführungen ist der, daß unser gegenwärtiges Verhältnis zur Sowjetunion — ein Verhältnis begrenzter Gegnerschaft — nicht unvereinbar ist mit den möglichen vielfältigen Formen der Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa. Der scheinbare Widerspruch zwischen den beiden Verhältnissen löst sich auf, wenn als Hauptmotiv der westlichen Allianz nicht die militärische Drohung der Sowjetunion gesehen wird. Das sowjetische Problem ist heute nicht mehr der Daseinsgrund der westlichen Allianz; sie steht ihm deswegen aber nicht sorglos gegenüber. Wir müssen die allzu einfachen Formeln, an die wir uns in unseren öffentlichen Äußerungen gewöhnt haben, aufgeben und mit unseren Bundesgenossen eine gemeinsame Sprache finden, in der sich die komplexeren Formen, welche die sowjetische Herausforderung heutzutage annimmt, bezeichnen und verstehen lassen. Das bedeutet, daß wir den von der sowjetischen Politik aufgeworfenen Problemen relativ mehr Aufmerksamkeit schenken müssen als der rein militärischen Drohung und daß — dies ergibt sich als Folgesatz — die politische Lebenskraft der Allianz vielleicht entscheidender ist als der Grad ihrer militärischen Bereitschaft. Gemeinsame Werte und gleiche Bestrebungen geben uns eine gute Grundlage. Mehr noch, wir müssen zusammen den Kern einer Art von internationalem System bilden. Was uns verbindet, ist nicht der Antikommunismus, sondern gemeinsame Sorge wegen der Zerstörungsgewalt des Krieges, wegen des virulenten Nationalismus und wegen der internationalen Anarchie. So gesehen erscheint die gegenwärtige sowjetische Politik als Hindernis auf dem Wege zu jenem Grad internationaler Zusammenarbeit, der nötig ist, um mit diesen Problemen fertig zu werden. Auf längere Sicht muß es ein Hauptziel unseres Bündnisses mit Westeuropa sein, den Bereich kooperativer Beziehungen zur Sowjetunion zu erweitern.
Politik auf lange Sicht
Die Konzeption eines zweiten Stadiums der Entspannung zu entwickeln, ist aus mehreren Gründen notwendig. Erstens: Je klarer wir uns darüber sind, was wir in der gegenwärtigen Periode von verbesserten Beziehungen zur Sowjetunion erwarten können, desto weniger werden wir zwischen Euphorie und Enttäuschung hin und her schwanken und damit die öffentliche Meinung im eigenen Land und bei unseren Verbündeten verwirren. Zweitens: Wenn wir immer die Richtung im Auge behalten, in der sich die Dinge unseren Wünschen gemäß entwickeln sollen, werden wir jetzt Handlungen vermeiden, die die Erreichung unserer langfristigen Ziele erschweren.
Jetzt stehen wir vor der Aufgabe, den Boden für das nächste Stadium vorzubereiten: an den Grundlinien einer europäischen Regelung zu arbeiten, die in mehreren Phasen innerhalb der nächsten Jahrzehnte verwirklicht werden kann. Wir kennen einige Voraussetzungen dieser Regelung: die Wiedervereinigung Deutschlands, die Schaffung eines Systems von Sicherheitsgarantien, die Ausbreitung der ökonomischen Interdependenz über einen Kontinent, auf dem kein einzelnes Land die Hegemonie ausübt. Im Laufe der Zeit wird die Sowjetunion bestimmt einsehen, daß eine solche Regelung ihren legitimen Interessen entspricht; sobald sie beginnt, diese Auffassung zu aktzeptieren, wird es uns möglich sein, gemeinsam mit ihr für die Rüstungsbeschränkung und die Herstellung internationaler Stabilität und Ordnung zu arbeiten.
Sind zwei Jahrzehnte eine angemessene Zeit für einen so grundlegenden Wandel der Anschauungen? Das ist schwer zu sagen, auch was uns selbst betrifft. Wir sind ein ungeduldiges Volk, aber wir müssen lernen, diese Probleme auf weitere Sicht zu betrachten.