Die Wochenschrift „The New Republic" hat in der Ausgabe vom 3. Dezember des vergangenen Jahres (1966) unter der Überschrift „Der Mann an der Seite Mao Tse-tungs“ einen ausführlichen Artikel von Edgar Snow abgedruckt, der früher Korrespondent in China gewesen ist. Edgar Snow kennt den Marschall Lin Piao persönlich. Im Jahre 1936 kam Snow in den (nach kommunistischer Lesart) befreiten Gebieten Chinas — und zwar in der Provinz Shenhsi — zum ersten Male mit Lin Piao in Berührung.
Der Artikel Snows enthält unter anderen folgende Feststellungen:
„Lin Piao — ein Mann, der Aufsehen meidet, eine spartanische Lebensweise bevorzugt, bescheiden ist, sich nur selten photographieren läßt, auf der politischen Bühne jahrelang unsichtbar blieb und ein Leben außer Dienst nicht kennt — hat niemals den Ehrgeiz gehabt, Nachfolger Mao Tse-tungs zu werden. Vor 1965 war er im Westen weitgehend unbekannt, und erst im gleichen Jahre wurde er (nach eigenem oder fremdem Willen) zum Sachwalter eines Lehrsatzes, den die chinesischen Kommunisten im Hinblick auf Revolutionen in den Entwicklungsländern vertreten.“ In dem Artikel „Es lebe der Sieg im Volks-krieg" verglich Lin Piao die in den armen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas „entstehenden Kräfte" mit den „Landbezirken der Welt". Die reichen Länder des Westens bezeichnete er als „die Städte der Welt". Schließlich — so führte Lin Piao in Übereinstimmung mit dem Gedankengut Mao Tse-tungs weiter aus — werden die „Städte der Welt" durch die Revolutionen in den „Landbezirken" eingekreist.
Lin Piao versprach den armen Ländern keineswegs, daß China für sie kämpfen werde. Er gab ihnen vielmehr den Rat, sie sollten sich „auf die eigenen Kräfte verlassen". Wenn man diesen Artikel Lin Piaos im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Ereignissen in China aufmerksam liest, dann bemerkt man, daß er lediglich die grundlegenden Lehrsätze der Strategie von Mao Tse-tung für den Fall eines Angriffs von außen wiederholt, nicht aber eine Doktrin entwickelt, die China der „Dritten Welt" mit Gewalt aufzuzwingen beabsichtigt. Die Aufgabe Lin Piaos bestand darin, zwischen der Partei und der Armee eine möglichst enge Verbindung herzustellen. Den ersten Zeitabschnitt seiner Herrschaft kennzeichnete eine Wirtschaftskrise, die zum Teil durch den Brudi zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China hervorgerufen worden war. Er begann die Armee, die in ein Stadium tiefster Demoralisierung geriet und gegenwärtig etwas weniger als eine Million Parteimitglieder hat, stufenweise zu reformieren und zu „demokratisieren". Mit der inzwischen erfolgten Ausrottung des „Kastengeistes" der Offiziere gingen auch deren Vorrechte verloren.
Die Rolle Lin Piaos in der „großen proletarischen Kulturrevolution" beschreibt Edgar Snow folgendermaßen:
„Lin Piao wollte aus der Roten Garde einen paramilitärischen Gehilfen der Chinesischen Volksbefreiungsarmee machen. Eine neue Konzeption? Nicht ganz. Denn die Rote Garde ist ein Bestandteil der Partisanentradition. Zur Zeit des Bürgerkriegs verfügte jedes rote Dorf über eine eigene Abteilung der Roten Garde, die von Parteiführern und Kommissaren geleitet wurde. Aber wozu ist die Rote Garde heute da? Kehrt das Regime zum Partisanenkrieg — diesmal gegen sich selbst — zurück?"
Im Hinblick auf den eigentlichen Zweck der von Lin Piao geführten Roten Garde stellt Edgar Snow eine Reihe von Erwägungen an, mit deren Hilfe er sich bemüht, eine Antwort auf die Kernfrage zu finden: „Was haben die jüngsten Ereignisse in China zu bedeuten?"
Snow schreibt hierzu:
„Waren die parteilosen Millionen nötig, um dreiste Maßnahmen solcher Art zu treffen wie die Umbenennung von Straßen, die Kritik an Kleidung und Haarschnitt der Leute, die Veranstaltung von Demonstrationen vor der Botschaft der Sowjetunion, die Schließung der Schulen für Diplomatenkinder und die Verwüstung des Ausländerfriedhofs? Diese Vorgänge tarnten offenbar ein weit raffinierteres Ziel. Vom Standpunkt Chinas aus", so fährt Edgar Snow fort, „erweist es sich gegenwärtig als sehr wahrscheinlich, daß die USA einen großen Krieg provozieren wollen." Diese Gefahr ist nach Snows Ansicht die unmittelbare Ursache der Krise in der chinesischen Führung. Dieser Krise verdankt Lin Piao seine Ausnahmestellung, deren Charakter möglicherweise sogar für die Mehrheit der Chinesen nicht klar ist.
Hat die gegenwärtige Säuberung als Antwort auf die Schachzüge der rechten „Revisionisten" in Armee und Partei zu gelten, welche sich darum bemühten, für die sowjetisch-chinesische Zwietracht irgendein Heilmittel ausfindig zu machen? Oder sollte durch die gegenwärtige Säuberung die aus Armee und Partei gebildete linke Koalition abgewürgt werden, welche — durch unverzügliche Mobilisierung und direkte militärische Unterstützung Nord-vietnams — zu „Konfrontationen mit dem Feind an den Grenzen des Landes" aufforderte? „Wenn wir" — so faßt Snow abschließend zusammen — „das Verhalten Lin Piaos richtig interpretieren, dann müssen wir feststellen, daß er angesichts einer schweren Belastungsprobe, zu der die von außen drohende Gefahr für die Volksrepublik China wird, den politisch-ideologischen Krieg um die Einheit der Führung an der inneren Front gemeinsam mit Mao Tse-tung fortsetzt."
Analyse des Snow-Artikels in der Warschauer Zeitschrift „Kultura"
Die vorangegangene Darstellung entspricht im wesentlichen der kurzgefaßten Wiedergabe des Snow-Artikels durch die polnische Wochenschrift für Gesellschaft und Bildung „Kultura" (Warschau), die darüber am 15. Januar 1967 berichtete
I. Lin Piao habe niemals den Ehrgeiz gehabt, die Nachfolge Mao Tse-tungs anzustreben.
II. Lin Piaos aufsehenerregender Artikel vom 3. September 1965 „Es lebe der Sieg im Volks-krieg" wiederhole lediglich die grundlegenden Lehrsätze der Strategie Mao Tse-tungs für den Fall eines Angriffs von außen.
III. Dem entspreche nach Lin Piao, daß die Völker der armen Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika die Revolutionen ihrer nationalen Befreiungsbewegungen selbst machen und sich dabei auf ihre eigenen Kräfte verlassen müßten.
IV. Lin Piaos besondere Aufgabe bestehe darin, die infolge des sino-sowjetischen Bruchs demoralisierten Streitkräfte der Chinesischen Volksbefreiungsarmee wieder möglichst eng mit der Kommunistischen Partei Chinas zu verbinden, die diesen außenpolitischen Konflikt zu vertreten habe.
V. Der Roten Garde komme als paramilitärischer Massenorganisation die Funktion zu, die Gefahr eines von den USA planmäßig provozierten Großkriegs — nach Snows Ansicht unmittelbare Ursache der chinesischen Führungskrise — zu verschleiern.
VI. Die in China zur Zeit stattfindende Kader-Säuberung könne sich sowohl auf die „rechten Revisionisten" in Armee und Partei beziehen, um deren Ausgleichsbemühungen im sinosowjetischen Konflikt zu unterbinden, als auch gegen eine „linke Koalition" von Armee-und Parteiführern gerichtet sein, die das durch direkte militärische Unterstützung Nordvietnams provozierte Risiko einer bewaffneten Konfrontation mit den USA an den Grenzen Südchinas offensichtlich nicht nur für kalkulierbar, sondern sogar für erwünscht zu halten scheinen.
VII. Die der Volksrepublik China von außen— das heißt vornehmlich von den USA — drohende Gefahr eines Großkriegs stelle das eigentliche Kriterium des Verhaltens von Lin Piao dar und zwinge ihn angesichts dieser schweren Belastungsprobe für sein Land, den politisch-ideologischen Kampf um die Einheit der chinesischen Führung im Innern kompromißlos an der Seite Mao Tse-tungs fortzusetzen. Soweit die publizistischen Sachverhalte — zum einen des Snow-Artikels in „The New Republic“, zum anderen dessen selektiver Würdigung in der Warschauer „Kultura" — und ihre Aussagenanalyse.
Sie bedürfen jedoch in mancher Hinsicht einer kritischen Korrektur:
Das Argument der Kriegsgefahr — Symptom eines innenpolitischen Machtkampfes
I. Pie Frage, ob Lin Piao den Ehrgeiz habe, Mao Tse-tungs Nachfolge anzustreben, deckt sich zwar nicht mit derjenigen, ob innerhalb der chinesischen Führung zur Zeit ein erbitterter Machtkampf stattfinde, scheint aber gleichwohl zu dem Zweck gestellt und beantwortet worden zu sein, um diese Behauptung zu entkräften und das Motiv der innenpolitischen Auseinandersetzung mit der drohenden Gefahr eines Großkriegs der USA gegen die Volks-. republik China in Verbindung bringen zu können. Diese Taktik ist nicht nur keineswegs neuartig, sondern für totalitär beherrschte Gesellschaften geradezu wesenskonstitutiv. Wie Herbert Dinerstein in einer gründlichen Untersuchung dieses Themas unter dem Gesichtspunkt der sowjetischen Innenpolitik von 1953 bis 1957 schon vor einem Jahrzehnt überzeugend dargelegt hat, scheint das diesbezügliche Alarmgeschrei „auf die Schlußfolgerung hinzuweisen, daß öffentliche Erklärungen über die Kriegsgefahr ... oft aus innenpolitischen Gründen abgegeben werden, wobei es gleichgültig ist, ob hinter diesen Äußerungen vielleicht gleichzeitig eine echte Furcht vor dem Kriege steht". Was die Sowjetunion betrifft, so „standen die Alarmrufe in einigen Fällen— etwa im Jahre 1957 — offensichtlich in keinem Verhältnis zur internationalen Lage und wurden nur als Waffe in internen Auseinandersetzungen angewandt"
Die chinesische Einkreisungstheorie
II. Es ist zwar zutreffend, daß Lin Piao in seinem Artikel über den Volkskrieg vom
Neu war an der von Lin Piao entwickelten Einkreisungstheorie lediglich — und aller-B dings — die Tatsache, daß sie für die Partisanenstrategie Mao Tse-tungs ausschließlich internationale Geltung in Anspruch nahm, zu einem weltweiten Volkskrieg gegen die USA als den imperialistischen Hauptfeind aufrief, Vietnam als den gegenwärtigen Brennpunkt dieses weltweiten Volkskriegs bezeichnete und die Vereinigten Staaten zum Großangriff auf China herausforderte. Die Absicht der chinesischen Führung, über die Volkskriegsideologie aus ihrer Position militärischer Unterlegenheit politischen Nutzen zu ziehen und in einem langwierigen Kampf mit anfänglich geringen Mitteln das äußerst ehrgeizige Ziel einer Einkreisung des Imperialismus zu erreichen, war für aufmerksame Beobachter der chinesischen Vorgänge schon Anfang des Jahres 1965 deutlich erkennbar.
Morton Halperin (Harvard University) und Tang Tsou (University of Chicago), die zu diesem Zeitpunkt in einem ausführlichen Artikel der „American Political Science Review" (New York) über Mao Tse-tungs revolutionäre Strategie und Pekings internationales Verhalten die Vorstufen der chinesischen Einkreisungspolitik beschrieben, stellten hierzu sehr scharfsichtig fest, daß „der Schlüssel zum Verständnis der Außenpolitik des kommunistischen China ... in Maos revolutionärer Strategie und ihrer Projizierung nach außen"
Die entscheidende Forderung der Partei auf dieser Konferenz, ihre absolute Kontrolle über die Streitkräfte sei in vollem Umfang wiederherzustellen, „damit die Gewißheit besteht, daß die Linie, die Prinzipien und die Politik der Partei in der Armee konsequent angewendet werden"
Vietnam als Testfall der Projektion des Volkskriegskonzepts nach außen
III. Was die Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegungen von Seiten der Volksrepublik China betrifft, so hat Lin Piao unter Berufung auf Mao Tse-tung zwar in der Tat den Grundsatz vertreten, daß die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas in ihrem revolutionären Befreiungsund Unabhängigkeitskampf nur auf die eigene Kraft vertrauen sollten, und in diesem Zusammenhang erklärt, daß auch Hilfe aus sozialistischen Ländern keine Garantie für den Sieg sei.
Seine Ausführungen zum vietnamesischen Testfall der Volkskriegsstrategie, dem unmißverständlich die Funktion zugedacht ist, die Besiegbarkeit des US-Imperialismus zu beweisen, stellten aber außer Zweifel, daß hier ein fundamentales Interesse der Volksrepublik China am sozusagen experimentellen Prü25 fungsergebnis der Stichhaltigkeit dieser These im Spiel ist, mit deren erfolgreicher und überzeugender Verifikation die revolutionäre Glaubwürdigkeit der chinesischen Einkreisungstheorie steht — und fällt: Die armen und unterdrückten Völker der Welt sollten klar erkennen, daß sie zu dem, was das vietnamesische Volk kann, ebenfalls fähig seien. Vietnam habe vor der Geschichte bereits den Nachweis erbracht, daß der Volkskrieg gegen den Imperialismus die wirksamste Waffe darstelle. Alle Völker würden nach diesem Vorbild lernen, wie man gegen ihn und seine Gefolgschaft einen Volkskrieg führen könne und müsse.
Diese Argumentation verrät abermals die offensive und aggressive Absicht der revolutionären Einkreisungstheorie. Früher pflegte man ihr Instrumentarium bekanntlich als „fünfte Kolonne" zu bezeichnen. Die ganz andere Frage, ob der innenpolitische Machtkampf die chinesische Führung vorerst daran hindert, ihre ehrgeizigen Pläne zu verwirklichen, und ob die mit dieser Auseinandersetzung verbundenen Ereignisse gewisse Sympathien bestimmter Volksgruppen in Entwicklungsländern für Lin Piaos Aufruf zu einer weltrevolutionären Einheitsfront im Sinne der Projektion des chinesischen Einkreisungskonzepts nach außen beeinträchtigt oder sogar eine ernüchternde Furcht vor der Unberechenbarkeit seiner Begleiterscheinungen und Folgen provoziert haben, vermag die Erkenntnis des offensiven und aggressiven Charakters der außenpolitischen Absichten der Volksrepublik China zumindest so lange nicht zu irritieren, wie sie von Mao Tse-tung und Lin Piao geführt wird.
Differenzen zwischen der militärischen und politischen Führung
IV. Zweifellos gehörte die Artikulierung des absoluten Kontroll-und Führungsanspruchs der Partei in dem zwischen ihr und der Armee bestehenden Machtverhältnis zu den vordringlichsten Aufgaben Lin Piaos. Die Lösung dieses schwierigen Problems wurde ihm jedoch nicht erst im Verlaufe des Jahres 1965 anvertraut, als seine nach dem 11. Plenum des VIII. Zentralkomitees der KPCh (vom 1. bis zum 12. August 1966) definitive Ausnahme-stellung innerhalb des chinesischen Staatsapparates erstmalig sichtbar zu werden begann. Er hatte diesen Auftrag vielmehr schon mit seiner Ernennung zum Verteidigungsminister übernommen, die augenscheinlich kurz nach dem Lushan-Plenum des Zentralkomitees vom August 1959 erfolgt war. Jedenfalls wurde am 17. September des gleichen Jahres bekannt, daß Marschall Peng Teh-huai, bis dahin der Inhaber dieses Amtes (seit September 1954), mit Generalstabschef Huang Kotscheng und einigen anderen hohen Offizieren inzwischen zurücktreten mußte, weil er sich, von diesen unterstützt, offensichtlich nicht gescheut hatte, auf dem Lushan-Plenum die Wirtschafts-, Außen-und Militärpolitik der Kommunistischen Partei Chinas heftig zu kritisieren. Die schlimmen Folgen des ein Jahr zuvor verkündeten „Großen Sprungs nach vorn", eine tiefe Bestürzung angesichts der Vorstufen des Zerwürfnisses zwischen Peking und Moskau, dessen befürchtete Ausweitung sich vor den Augen der sachkundigen Realisten wie ein Abgrund aufzutun begann, sowie der Widerstand der Partei gegen eine Anpassung Chinas und seiner Streitkräfte an die den Erfordernissen nuklearer Kriegführung Rechnung tragende sowjetische Militärdoktrin hatten hinreichenden Anlaß zu dieser Kritik gegeben. Aus dem am 22. November 1959 in „Hsin Hunan Pao" veröffentlichten Artikel über die Armee als ständig verfügbaren Gehilfen der Partei von General Jang Mei-scheng, damals Befehlshaber des Wehrkreises Hunan, ging eindeutig hervor, daß letztere dem abberufenen Verteidigungsminister insbesondere zwei eigenwillige Verhaltensweisen zum Vorwurf machte: 1.seine Opposition gegen die offizielle Wirtschaftspolitik und den Mißbrauch der Streitkräfte zu ihrer Durchführung; 2.seine Opposition gegen eine strenge politische Kontrolle der Armee. Beides stand mit der zugleich virulentenAuseinandersetzung zwischen den Befürwortern eines modernen, den Grundsätzen der technischen Revolution sowie der nuklearen Militärdoktrin entsprechenden Aufbaus der Streitkräfte (Professionalisten) und den Vertretern der alten Volkskriegskonzeption mit ihrer These vom „entscheidenden Faktor", vom „Vorrang des Menschen gegenüber den Waffen" (Traditionalisten) in engem Zusammenhang. Was besonders den von Jang Mei-scheng an zweiter Stelle genannten Vorwurf betraf, so war, wie Ellis Joffe in der Harvard-Monographie „Party and Army. Pro-
fessionalism and Political Control in the Chinese Officer Corps 1949— 1964" nach Unterlagen der geheimen Kommandeurszeitschrift „Kung-tso T'ung-hsün“ bemerkte, „vor der Entlassung Peng Teh-huais das System der politischen Überwachung, von dem man (bis dahin) angenommen hatte, daß es im großen und ganzen funktionsfähig gewesen sei, in Wirklichkeit weitgehend nur eine Organisation auf dem Papier"
In dieser Hinsicht kam hier unverkennbar eine gewisse Ähnlichkeit mit den Motiven des zwei Jahre früher (am 2. November 1957) erfolgten Sturzes von Marschall Georgij Schukow als Verteidigungsminister der Sowjetunion zum Vorschein. Dem somit offenbar erheblichen Mangel an politischer Kontrolle innerhalb der Chinesischen Volksbefreiungsarmee begann Lin Piao nun energisch abzuhelfen. Besonders seit 1963 bestand das Regime mit wachsender Hartnäckigkeit auf dem Vorrang der Politik, ohne in seinem für die Zeit nach dem „Großen Sprung“ charakteristischen Verhalten gegenüber den militärischen Spezialisten eine wesentliche Veränderung erkennen zu lassen.
Wie Joffe in seiner höchst aufschlußreichen Studie hinsichtlich dieser Frage zusammenfassend feststellte, „unternahm die Führung (der Chinesischen beziehungsweise ihrer Politischen Generalabteilung) nach dem Amtsantritt von Lin Piao als Verteidigungsminister einen allumfassenden Versuch zu einer wirksameren politischen Überwachung der Streitkräfte, mit dessen Ergebnissen sie vermutlich durchaus zufrieden ist. Zugleich gewinnt man den Eindruck, daß die bedeutenderen Differenzen zwischen der Führung und den Offizieren auf Kommando-Ebene gegenwärtig geklärt oder zumindest gedämpft sind. Wenn man in diesem Zusammenhang berücksichtigt, daß einerseits die Parteikontrolle gefestigt und andererseits die Bedeutung der militärischen Spezialisten erkannt worden ist, dann spricht der vorgenannte Eindruck wahrscheinlich für einen in den letzten Jahren erfolgten Ausgleich der Beziehungen zwischen Partei und Armee.“
So stand es — nach dem Urteil Joffes — zu Beginn des Jahres 1965 um das Verhältnis von Partei und Armee. Die erfolgte Wiederherstellung der Balance zwischen der Forderung nach einer modernen Berufstruppe einerseits sowie derjenigen nach politischer Mobilisierung und „Revolutionierung" der Streitkräfte andererseits, beziehungsweise zwischen dem „Professionalismus" der militärischen Truppenführung einerseits sowie auf der „politischer Bewußtheit" beruhenden „Amateur" strategie und -taktik der früheren Aufstandsarmee mit ihrem von Mao Tse-tung entwickelten und heute vorwiegend von der bewaffneten Miliz vertretenen Volkskriegskonzept andererseits ließ trotz aller Konsolidierung, die Lin Piao seit der im Herbst 1960 — vom 14. September bis zum 20. Oktober — durchgeführten Erweiterten Konferenz der (neuen) Militärkommission (The Standing Committee of the Military Affairs Committee) zu erreichen vermochte, wegen der vorgenannten Unwägbarkeiten einen hohen Grad an Labilität erkennen. Die Chance, das unerwünschte Eintreten eines ernstlichen Spannungszustands im Verhältnis von Partei und Armee zu vermeiden, hing offensichtlich von der Aufrechterhaltung eines gewissen Gleichgewichts zwischen den unvereinbaren Forderungen nach Modernisierung einerseits und politischer Kontrolle andererseits ab. „Und dies, so scheint es, (war) genau der Auftrag, den Marschall Lin Piao mit so eindrucksvollem Resultat erfüllt hat.“
Vorbereitung auf einen Großkrieg mit den USA?
V. Auf der 10. Plenartagung des VIII. Zentral-komitees der Kommunistischen Partei Chinas (im September 1962), die den Angriff auf den „modernen Revisionismus" eröffnete, hatte Mao Tse-tung erklärt, daß es, um eine politische Macht zu stürzen, stets und vor allem notwendig sei, eine entsprechende öffentliche Meinung zu schaffen und zu diesem Zweck auf dem Gebiet der Ideologie aktiv zu werden. Bezeichnenderweise wurde diese Feststellung im 1. Abschnitt des Beschlusses über die große proletarische Kulturrevolution, den das ZK der Kommunistischen Partei Chinas während des 11. Plenums des VIII. Zentralkomitees am 8. August 1966 billigte, wörtlich zitiert
verständlichkeit: „Das Hauptangriffsziel der gegenwärtigen Bewegung sind jene innerhalb der Partei, die an der Macht sind und den kapitalistischen Weg gehen."
Die kulturrevolutionäre Bewegung sollte durch „Entdeckung der Linken", „Isolierung der Rechten" und „Gewinnung der Mitte“ die verlorengegangene Einheit der Funktionäre mit den Massen zu mehr als 95 Prozent wiederherstellen (Abschnitt 5). Dieses Vorhaben schien sie mit Hilfe des von der Roten Garde seit Juni/Juli 1966 geführten Partisanenkriegs der Anhänger Mao Tse-tungs gegen beide Gruppen — die etablierten Funktionäre der Partei einerseits und die Massen des Volkes andererseits — Ende des Jahres in der Tat erreicht zu haben, nur anders als es den ursprünglichen Absichten der politischen Macht-behauptung entsprach, deren Exponenten sich nun unversehens der Gefahr einer vereinigten Rebellion von Partei und Volk gegenübersahen. Dieser Augenblick war ohne Zweifel und unverkennbar der Zeitpunkt, zu dem das Argument von einem bevorstehenden Aggressionskrieg der USA gegen die Volksrepublik China in ausdrücklicher Verbindung mit den Zielen der Kulturrevolution eine innenpolitische Rolle zu spielen begann. Das erste Anzeichen für den um diese Zeit eintretenden Wandel der offiziellen Interpretation ihres eigentlichen Zwecks machte sich in einem Artikel von Wang Li, Tschia I-hsueh und Li Hsin über „die Diktatur des Proletariats und die große proletarische Kulturrevolution" bemerkbar, der am 13. Dezember 1966 in „Hung-di’i“ (Peking, Nr. 15) erschien und die Motive dieser Bewegung in acht Punkten (gegenüber den 16 Punkten des Beschlusses vom 8. August 1966) zusammenfaßte 16). In Punkt 7 begründeten die Verfasser das erklärte Ziel der chinesischen Kulturrevolution, nämlich die Priorität der proletarischen Politik sicherzustellen und dadurch die revolutionäre Umgestaltung des Denkens der Menschen zu fördern, mit dem Argument, dies sei „die grundlegendste Vorbereitung darauf, einen Aggressionskrieg des US-Imperialismus und seiner Lakaien aussichtslos zu machen"
Die politische Führung der Volksrepublik China war sich jedoch auch in diesem kritischen Stadium der kulturrevolutionären Ent-wicklung darüber im klaren, daß die beschworene Kriegsgefahr ihrerseits einer hinreichenden Begründung bedurfte. Was nun diese Begründung betraf, so ergab sie sich, wie der Stellvertretende Ministerpräsident und Außenminister, Marschall Tschen Ji, fünf Tage später — am 18. Dezember 1966 — in seiner Rede auf der Pekinger Massenkundgebung zur Verurteilung der Bombardierung Hanois durch die US-Luftwaffe unmißverständlich darlegte, eindeutig aus der ein Jahr zuvor von Marschall Lin Piao verkündeten neuen chinesischen Einkreisungstheorie, deren wesentlichstes Merkmal, wie bereits ausgeführt, in der Projektion des Volkskriegskonzepts der Strategie und Taktik Mao Tse-tungs auf die politischen Verhältnisse in den Entwicklungsländern, mit anderen Worten: auf die nationalen Befreiungsbewegungen dieser Länder, bestand. Der Zusammenhang zwischen Kriegsgefahr und Vietnam-Konflikt, den Tschen Ji in seiner Rede herstellte, bildete auch die Grundlage zur Rechtfertigung der chinesischen Provokation des „US-Imperialismus", die ja immerhin selbst nach der Auffassung Pekings als eigentliche Ursache der angeblichen Vorbereitung eines Angriffs der USA auf die Volksrepublik China in Frage kam. Insofern diente die Solidaritätskundgebung sowohl zugunsten des Nordens als auch zugunsten der Nationalen Befreiungsfront im Süden Vietnams vor allem dem Zweck, die Unvermeidbarkeit des Risikos einer direkten Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten, die durch das militante Verhalten Chinas im Sinne einer kompromißlosen Fortsetzung des Vietnam-Kriegs ununterbrochen herausgefordert wurde, begreiflich zu machen.
Tschen Ji vertrat in diesem Zusammenhang erneut die der Projektion des chinesischen Volkskriegskonzepts nach außen entsprechende Ansicht, daß das vietnamesische Volk »nicht nur für seine eigene nationale Befreiung und Wiedervereinigung", „sondern auch für die revolutionäre Sache der unterdrückten Völker und Nationen der ganzen Welt" kämpfe. Die außerordentliche internationale Bedeutung des vietnamesischen Widerstands-kriegs gegen die Aggression von seifen der USA beruhe nämlich auf der Tatsache, daß dort der gegenwärtige Brennpunkt des Weltkampfes gegen den US-Imperialismus liege. Deshalb habe die Volksrepublik China — trotz des Risikos einer eigenen bewaffneten Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staa-ten — „die unabweisbare internationalistische Pflicht, dem vietnamesischen Volke in dessen Widerstandskrieg gegen die US-Aggression und zur Rettung der Nation beizustehen“. Das vietnamesische Volk könne darauf vertrauen, daß die 700 Millionen Chinesen ihm einen zuverlässigen Rückhalt geben würden und die Weiten Chinas ihm als schützendes Hinterland zur Verfügung stünden. Das chinesische Volk werde sich bestimmt in allen Stürmen und Gefahren mit dem vietnamesischen vereinigen und „gemeinsam mit ihm kämpfen, bis alle US-Aggressoren vom vietnamesischen Boden vertrieben" seien. Es stehe — wie der Kundgebungsbericht dazu ergänzend ausführte — „jederzeit bereit, an die Front zu marschieren, wenn das vietnamesische Volk dies verlangt". Zum Nachweis der Glaubwürdigkeit solchen Versprechens erklärte Tschen Ji des weiteren, die große proletarische Kulturrevolution sei die grundlegendste Maßnahme zur Vorbereitung des chinesischen Volkes auf einen Krieg, in dem es dem vietnamesischen Volke Unterstützung und Hilfe gewähren und der Aggressionsausweitung von Seiten des US-Imperialismus entgegenwirken könne. Im Sinne dieser neuen Zielsetzung versicherten Ministerpräsident Tschou En-lai und Marschall Lin Piao dem Vorsitzenden des ZK-Präsidiums der Nationalen Befreiungsfront Südvietnams, Nguyen huu Tho, sowie dem Leiter ihres ZK-Militärrats, Tran nam Trung, in ihren Botschaften vom
Die Nuance der Tschen Ji-Rede und des Berichtes über die Kundgebung vom 18. Dezember 1966 gegenüber der Regierungserklärung vom 3. Juli sowie dem „Jen-minh Jih-pao" -Kommentar vom 5. Juli 1966 bestand offensichtlich in zwei Sachverhalten:
1. Während die Regierungserklärung vom 3. Juli 1966 im Hinblick auf Hanoi Unterstützung zusagte, „bis das vietnamesische Brudervolk die gesamten amerikanischen Aggressoren aus Vietnam verjagt und den endgültigen Sieg errungen haben" werde, artikulierte Außenminister Marschall Tschen Ji auf der Pekinger Massenkundgebung vom 18. Dezember 1966 die Bereitschaft des chinesischen Volkes, selbst „an die Front (in Vietnam) zu marschieren, wenn das vietnamesische Volk es verlangt", und „gemeinsam mit ihm zu kämpfen, bis alle US-Aggressoren vom vietnamesischen Boden vertrieben worden" seien.
2. Während die chinesische Führung im Juli 1966 nur die Möglichkeit einräumte, daß ihre fortgesetzten Versuche, den Modellfall Vietnam zu internationalisieren, das heißt den Einheitsfront-Appell im Sinne einer Projektion des Volkskriegskonzepts nach außen in den Dienst der chinesischen Einkreisungstheorie zu stellen, eine Invasionsabsicht der Vereinigten Staaten gegen China provozieren könnten, schien sie im Dezember 1966 von der Unvermeidbarkeit eines künftigen Zusammenstoßes mit den USA auszugehen oder, genauer, diesen Eindruck in der chinesischen Öffentlichkeit hervorrufen zu wollen.
Kritische Stellungnahme
Halten wir hiernach fest:
1. Der Zusammenhang zwischen dem chinesischen Verhalten in der Vietnam-Frage und der Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts der VRCh mit den Vereinigten Staaten stand für Peking lange vor der Artikulierung eines neuen Ziels der chinesischen Kulturrevolution (im Dezember 1966), nämlich der Vorbereitung auf eine militärische Auseinandersetzung mit den USA, außer jedem Zweifel. Dem VietnamKrieg war in diesem Zusammenhang nur die Funktion eines Testfalls der chinesischen Einkreisungstheorie zugewiesen, durch den die Entwicklungsländer Asiens, Afrikas und Lateinamerikas von den Chancen der Internationalisierung des Volkskriegskonzepts überzeugt werden sollten, um sie zur Teilnahme an einer revolutionären Einheitsfront gegen den Weltimperialismus (die „Weltstädte") zu bewegen und damit in den Dienst der von Lin Piao im September 1965 vorgetragenen chinesischen Einkreisungstheorie zu stellen.
2. Das neue Ziel der großen proletarischen Kulturrevolution (seit Dezember 1966) und da-mit die Rolle der Roten Garde als eines paramilitärischen Gehilfen der Chinesischen Volksbefreiungsarmee wird nur verständlich im Sinne der Demonstration einer unmittelbaren Kriegsgefahr aus innenpolitischen Gründen, etwa um die zu diesem Zeitpunkt (der Jahreswende 1966/67) außerordentlich gefährdet erscheinende Einheit des Staates und der Nation durch eine Art chinesischen Patriotismus zu retten. Die im völligen Gegensatz dazu von Edgar Snow vertretene Ansicht, der Roten Garde komme als paramilitärischer Massenorganisation die Aufgabe zu, die Gefahr eines von den USA planmäßig provozierten Groß-kriegs — nach seiner Auffassung unmittelbare Ursache der chinesischen Führungskrise — zu verschleiern, findet weder in den vorhin untersuchten offiziellen Verlautbarungen noch in deren Hintergründen eine erkennbare Stütze. 3. Es wäre sicher abwegig, wollte man aus der Erklärung Tschen Jis vom 18. Dezember 1966, das chinesische Volk sei bereit, selbst an die Front zu marschieren und mit dem vietnamesischen Volk gemeinsam gegen die „USAggressoren" zu kämpfen, den Schluß ziehen, daß die Machthaber in Peking — zumindest seit diesem Zeitpunkt — ernsthaft an die Unvermeidbarkeit eines bewaffneten Zusammenstoßes der VRCh mit den Vereinigten Staaten geglaubt oder sogar nach einem An laß gesucht hätten, um einen solchen Konflikt von sich aus herbeizuführen. Im Gegenteil: Die bedeutsame Formel „Wenn das vietnamesischen Volk es verlangt" verrät, daß sie die Risiken ihrer Vietnam-Politik mit einem hohen Grad von Vorsicht kalkulieren. Denn in der Sache stimmte diese Formel völlig mit derjenigen überein, die der Politische Beratende Ausschuß der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages auf der Bukarester Konferenz vom 4. bis zum 6. Juli 1966 für sein Verhalten hinsichtlich des Vietnam-Konflikts gefunden hatte: „Die Teilnehmer der Konferenz erklärten, daß sie der Demokratischen Republik Vietnam vielseitige Hilfe leisten und leisten werden, die für eine siegreiche Abwehr der amerikanischen Aggression notwendig ist; dazu gehören auch Mittel der Verteidigung. Sie erklärten ferner, ihre Länder seien bereit, eigenen Freiwilligen zu ermöglichen, daß sie sich nach Vietnam begeben können, um das vietnamesische Volk in seinem Kampf gegen die amerikanischen Aggressoren zu unterstützen, wenn die Regierung der Demokratischen Republik Vietnam darum bitten wird.“
Zur Frage der militärischen Bedrohung Chinas durch die USA
VI. Nach Snows Ansicht kann sich die mit der chinesischen Kulturrevolution verbundene Kader-Säuberung sowohl auf die militärischen und politischen Vertreter eines Ausgleichs der VRCh mit der Sowjetunion als auch auf die Wortführer einer bewaffneten Unterstützung Nordvietnams durch die Volksrepublik China beziehen. Was ist von dieser Annahme zu halten?
Die in Abschnitt V geprüften Aussagen scheinen das Urteil zu begründen, daß die chinesische Führung eine bewaffnete Konfrontation mit den USA an den Grenzen Südchinas in der Tat unter allen Umständen vermeiden möchte, ohne freilich ihre Vietnam-Politik revidieren auf und eine Fortsetzung des Volks-kriegsexperiments im Sinne der Projektion nach außen verzichten zu müssen. Wenn dem so ist, dann kann logischerweise keine Rede davon sein, daß die Volksrepublik China sich im Ernst durch die Vereinigten Staaten bedroht fühlt, zumindest so lange nicht, wie sie sowohl ihr bisheriges, unnachgiebiges Verhalten in der Vietnam-Frage als auch ihre herausfordernde Politik gegenüber der Sowjetunion bedenkenlos beibehält. Nur Veränderungen in diesen beiden wichtigsten Bereichen der außenpolitischen Artikulation würden — unter Voraussetzung des Führungsduumvirats Mao— Lin — dazu berechtigen, auf Unsicherheitsfaktoren im chinesischen Sicherheitskalkül, das heißt auf den Glauben an eine echte Kriegs-gefahr zu schließen.
In diesem Zusammenhang dürften einige Mutmaßungen von Interesse sein, die Morton H. Halperin und John Wilson Lewis in einem gemeinsamen Aufsatz der Zeitschrift „The China Quarterly" (London) über neue Spannungen im Verhältnis von Armee und Partei Während des Zeitraums von 1965 bis 1966 zur Frage der militärischen Bedrohung Chinas durch die Vereinigten Staaten angestellt haben. Nach ihrer Ansicht trat in dem Verhältnis zwischen Partei und Armee, das seit Wiederherstellung der durch die chinesische Hungerrevolte vom Jahre 1960 ins Wanken geratenen staatlichen Ordnung (Ende 1962) auf einer inneren und äußeren Friedenserwartung beruhte, während des Jahres 1965 eine plötzliche und radikale Wendung ein, die sich — so argumentierten Halperin und Lewis — aus der wachsenden Furcht ergab, daß die Vereinigten Staaten den Vietnam-Krieg auf die Volksrepublik China könnten. „Mit diesem Wandel wurde die Vertrauenswürdigkeit der Armee erneut einer Überprüfung unterzogen. Hinsicht scheint man dieser die folgenden alternativen Verhaltensmöglichkeiten diskutiert zu haben: 1. China sollte trotz des nur geringen Ausmaßes seiner nuklearen Rüstung
Allem Anschein nach schloß man die dritte Möglichkeit schnell aus, wenngleich man annehmen darf, daß dies nicht ohne Meinungsverschiedenheiten zwischen Partei und Armee geschah. Der sino-sowjetische Konflikt war schon zu weit fortgeschritten, als daß er zu dieser Zeit eine Annäherung an Moskau gestattet hätte. Darüber hinaus befürchtete die Partei, daß ein Rückzug den amerikanischen Angriff nur noch wahrscheinlicher machen wirde, weshalb sie vor einer Wiederholung der Irrtümer von München warnte. Außerdem hatte (nach Auffassung der Partei) gerade ein größerer Konflikt für die Chinesen insofern einige positive Folgen, als er der dritten Generation die Gefahren des amerikanischen Imperialismus vor Augen führen würde.
Da die Chinesen sich dazu entschlossen, die Fortsetzung des Vietnam-Konflikts zu unterstützen, wandten sie ihre Aufmerksamkeit zum Zwecke der Vorbereitung auf eine amerikanische Invasion den Beziehungen von Partei und Armee zu.“
Soweit die Wiedergabe der Auffassung von Halperin und Lewis zur Frage der chinesischen Kriegsfurcht, die der Interpretation von Snow offensichtlich sehr nahekommt. Das Wahrscheinlichkeitskalkül ihrer Hypothese kann jedoch nicht recht einleuchten — und zwar aus folgenden Gründen: 1. Tschen Ji datierte in seiner Rede vom 18. Dezember 1966 das entscheidende militärische Engagement der Vereinigten Staaten in Vietnam auf das Jahr 1964. Die chinesischerseits erfolgten Stellungnahmen zu den sogenannten „Zwischenfällen im Golf von Tongking", wonach am 4. August und am 18. September 1964 Seegefechte zwischen nordvietnamesischen Patrouillenbooten und US-Kriegsschiffen in den dortigen internationalen Gewässern stattfanden, enthielten bereits das Argument, daß die Vereinigten Staaten die Absicht hätten, den Krieg in Indochina auszuweiten. „Jen-minh Jih-pao“ (Peking) schrieb damals (am 20. September 1964): „Die chinesische Regierung und das chinesische Volk haben feierlich erklärt, daß eine Aggression der Vereinigten Staaten gegen die Demokratische Republik Vietnam eine Aggression gegen China bedeutet und daß das chinesische Volk durchaus nicht untätig zusehen wird, ohne der DRV zu helfen. Das 650-Millionen-Volk Chinas wird das vietnamesische Volk in seinen gerechten Gegen-schlägen gegen die US-Aggressoren und bei der Verteidigung seiner Heimat entschlossen unterstützen.“
Zur Frage des sowjetischen Waffentransits durch China nach Vietnam
Die chinesische Führung ging, wie sie von Außenminister Marschall Tschen Ji auf der vielbeachteten Pressekonferenz vom 29. September 1965 und auch durch dessen Interview mit dem Pekinger Korrespondenten der japanischen Zeitung „Akahata“ (Tokio), Takano Yoshihisa, vom 30. Dezember 1965 bekunden ließ, unerschrocken zum propagandistischen Zweifrontenkrieg ohne Pardon über. Von diesem Augenblick an begann hinsichtlich der Sowjetunion die Frage des Waffentransits nach Vietnam als Mittel zur Diffamierung ihrer Unterstützungsbereitschaft wie auch als Versuch, die UdSSR zu einer direkten Kon-frontation mit den USA auf See zu zwingen (Kuba-Beispiel), in chinesischen Verlautbarungen eine bevorzugte Rolle zu spielen. Nach der von Tschen Ji in seinem „Akahata" -Interview vom 30. Dezember 1965 hierzu vertretenen Ansicht stünde außer Zweifel, daß die sowjetischen Führer das eigentliche Problem der Waffenhilfe für Vietnam sorgsam mieden, wenn sie die wichtige politische Frage der Unterstützung des vietnamesischen Volkes im Kampf gegen die amerikanische Aggression und um die Rettung der Nation vorsätzlich auf diejenige des Durchgangstransports der materiellen Hilfe für Vietnam reduzierten.
Aber sogar in diesem Punkt wären sie völlig im Unrecht: „Die sowjetischen Führer behaupten ständig, daß die Sowjetunion mit Vietnam keine gemeinsame Grenze hat und alle materielle Hilfe für Vietnam notwendigerweise durch China gehen müsse. Aber das ist nicht richtig. Es gibt zwischen der Sowjetunion und Vietnam einen Seeweg. Warum kann das sowjetische militärische Material für Vietnam nicht (ebenso) wie das anderer Länder auf dem Seeweg verschifft werden? Aber die Sowjetunion wagt es nicht, den Seeweg zu benutzen." Daß diese Provokation unzweifelhaft im Sinne eines militärischen Eingreifens der Sowjetunion gemeint war, ergab sich aus einer weiteren Bemerkung, in der Tschen Ji folgendermaßen argumentierte: „Die Sowjetunion ist das größte sozialistische Land Europas. Wollte sie dem vietnamesischen Volk tatsächlich helfen, so könnte sie vielerlei Maßnahmen ergreifen, um die Kräfte der Vereinigten Staaten in mancher Beziehung zu fesseln!“ Dieser Hinweis sollte doch wohl nichts anderes besagen, als daß die Sowjetunion nach chinesischer entsprechend den Ansicht Spielregeln der Interdependenztheorie ohne weiteres in der Lage wäre, starke Verbände der amerikanischen durch militärische Aktionen in Mitteleuropa zu binden.
Was den sowjetischen Chinatransit nach Vietnam betraf, der am 30. März 1965 durch Unterzeichnung eines zwischen der UdSSR und der VRCh vereinbarten Protokolls geregelt wurde, nachdem die Sowjetunion am 25. Februar 1965 bei der chinesischen Regierung zum erstenmal um kostenlose Bereitstellung von Schienen-transportraum zur Beförderung von Kriegsgerat und technischem Personal von der chinesisch-sowjetischen an die chinesisch-vietnamesische Grenze ersucht hatte, so kam es in dieser Frage alsbald zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Peking, weil die sowjetische Wochenzeitschrift „Za rubezom* (Moskau, Nr. 50 [10. bis 16. Dezember] 1965) kurz vor Jahresende eine Meldung der „New York Times" folgenden Wortlauts nachdruckte: „Das kommunistische China verlangt und erhält von der Sowjetunion die Bezahlung der Frachtspesen für die Transitlieferungen von Kriegsmaterial und Arzneimitteln nach Nordvietnam. Dies wurde in asiatischen Kreisen berichtet. Peking verweigerte die Annahme von Zahlungen in Rubeln und verlangte Dollars, die es, wie diese Kreise sagten, für seine Käufe im Ausland benötigt. Dies wurde berichtet, kurz nachdem der Vertreter der Sowjetunion im Politischen Ausschuß der (UN-) Vollversammlung das Wort ergriffen und Nordvietnam weitere wirtschaftliche und militärische Hilfe sowie volle politische Unterstützung versprochen hatte.“
Unter Hinweis auf den Obersten A. A. Schaj-tan, der als geschäftsführender Vertreter des Sowjetischen Staatskomitees für Wirtschaftliche Beziehungen zum Ausland in Peking für den Chinatransit nach Vietnam verantwortlich war und am 21. Oktober 1965 zu den chinesischen Transportleistungen anerkennend Stellung genommen hatte, berichtete Hsinhua (Peking) am 15. Januar 1966, daß der Stellvertretende chinesische Außenminister Wang Ping-nan den sowjetischen Botschafter in der Volksrepublik China, S. G. Lapin, am 4. Januar 1966 wegen des „Za rubezom" -Artikels zur Rede gestellt und mit einem Protest-Memorandum der chinesischen Regierung bekannt gemacht habe, dessen Annahme Lapin jedoch unter dem Vorwand verweigerte, daß der sowjetischen Wochenschrift die Nachricht der „New York Times“ irrtümlich unterlaufen sei und die sowjetische Regierung für Meldungen in der sowjetischen Presse nicht verantwortlich gemacht werden könne. „Deshalb übermittelte das chinesische Außenministerium am 9. Januar 1966 der sowjetischen Botschaft in China das Memorandum der chinesischen Regierung. Am folgenden Tag sandte die sowjetische Botschaft in China das Memorandum der chinesischen Regierung an das chinesische Außenministerium zurück. Am 11. Januar sandte die chinesische Regierung über die chinesische Botschaft in der Sowjetunion das Memorandum an das sowjetische Außenministerium. Am selben Tag schickte das sowjetische Außenministerium das Memorandum an die chinesische Botschaft in der Sowjetunion zurück."
Wenige Monate später wiederholte sich dieser Streit dergestalt, daß das chinesische Außenministerium am 3. Mai 1966 eine vom sowjetischen Verteidigungsminister, Marschall Rodion Malinowskij, am 21. April In Ungarn gehaltene Rede zum Anlaß nahm, Ihn der Lüge zu bezichtigen, weil er behauptet hatte, daß die Unterstützung des vietnamesischen Befreiungskampfes noch wirksamer sein könnte, wenn die chinesischen Führer diese Bemühungen nicht behindern würden, und daß die Sowjetunion wegen des Nichtvorhandenseins einer gemeinsamen Grenze mit der Demokratischen Republik Vietnam nur über chinesisches Territorium dorthin gelangen könne. Mag sein, daß die Sowjetunion hier tatsächlich zu einer Schutzbehauptung ihre Zuflucht genommen hatte, um erkennen zu lassen, daß sie nicht bereit sei, über das Risiko einer Konfrontation mit den Vereinigten Staaten auf See oder andere Formen eines direkten militärischen Eingreifens die Gefahr eines neuen Weltkriegs heraufzubeschwören. Mag sein, daß sie sich in unzutreffender Weise des Vorwurfs der Behinderung ihrer Waffenlieferungen durch China bediente, um das kritische Argument zu entkräften, daß Umfang und Qualität ihrer Hilfe für Vietnam weit davon entfernt seien, in einem der sowjetischen Stärke angemessenen Verhältnis zu stehen. Wenn den sowjetischen Stellungnahmen in der Kontroverse um den Chinatransit und dessen Begleiterscheinungen wirklich das Motiv der Vorsicht zugrunde lag, dann hatte Peking kaum eine sachlich gerechtfertigte Veranlassung, das Verhalten Moskaus mit solcher Derbheit zu verurteilen, da die Volksrepublik China sich im Hinblick auf die Frage einer eigenen militärischen Provokation oder Intervention ebenfalls der größten Selbstdisziplin befleißigte, was den Sprecher des chinesischen Außenministeriums freilich nicht hinderte zu erklären, daß die „sogenannte Vietnam-Hilfe" der revisionistischen sowjetischen Führung „nicht echt" sei: „Ihr wirkliches Ziel", so machte er geltend, „ist Opposition gegen China, Vietnam und alle Völker, die an der Revolution festhalten."
Gleichviel: Die Sowjetunion weigerte sich augenscheinlich, das Volkskriegskonzept der chinesischen Einkreisungstheorie, die ja in der Beschuldigung, Moskau treibe „Opposition gegen China, Vietnam und alle Völker, die an der Revolution festhalten", unzweifelhaft artikuliert war, als brauchbares Instrument einer weltweiten Auseinandersetzung mit dem Imperialismus anzuerkennen, während Peking alles tat, um die UdSSR durch ständige Wiederholung des ungeheuerlichen Verdachts ihrer vollendeten Komplicenschaft mit Öfen Vereinigten Staaten schließlich doch noch tu unbedachten Maßnahmen zu reizen, die dhr VRCh ohne eigenes Risiko zur praktisthien Ausweitung des Experimentierfeldes für ihre Volkskriegsideologie verhelfen sollten. Wie immer man die Sache auch zu betrachten versucht, man gelangt stets zu einem Ergebnis, das die Hypothese von einer seit Mitte 1965 erkennbaren Kriegsfurcht Pekings — erst recht in ihrer extremen Form als ursächliches Motiv der chinesischen Führungskrise und der damit verbundenen kulturrevolutionären Ereignisse des Jahres 1966 — wenig glaubhaft erscheinen läßt. Denn Peking war offensichtlich seit Frühsommer 1965 nicht nur fest entschlossen, „die amerikanische Herausforderung anzunehmen" und das mögliche Ubergreifen des Vietnam-Kriegs auf die Volksrepublik China in seine Wahrscheinlichkeitsrechnung einzubeziehen, sondern ohne alle strategischen Rückversicherungsbedenken auch gewillt, „jene zu entlarven, die Vietnam nur scheinbar unterstützen", und sie „als Komplicen des US-Imperialismus bloßzustellen". Die Rede Liu Ning-jis auf der internationalen Tagung der 11. Weltkonferenz für das Verbot von A-und H-Bomben am 28. Juli 1965 in Tokio, die Rede des vormaligen Stabschefs der Chinesischen Volksbefreiungsarmee, General Lo Jui-tsching, auf der Feier zum 38. Jahrestag ihrer Gründung am 1. August 1965 in Peking und die Rede des Ministerpräsidenten der VRCh, Tschou En-lai, aus Anlaß der Feier des 5. Jahrestages der Gründung der Nationalen Befreiungsfront Südvietnams am 20. Dezember 1965 in Peking bewiesen dies zur Genüge.
Lo Jui-tschings Versuch einer nuklearen Abschreckung
General Lo Jui-tsching, vom Wochenmagazin „Der Spiegel" als „Aufpasser der Partei“ in der Armee sowie als „Chinas Berija“ apostrophiert, nur weil er vor seiner Diensttätigkeit als Chef des Stabes Polizeiminister gewesen war, beschränkte sich in seiner Festrede am 1. August 1965 darauf, seine gegen die USA gerichteten Erklärungen vom Mai des gleichen Jahres zu wiederholen, wobei er abermals sorgsam vermied, über den Rahmen der Selbstverteidigung Chinas hinauszugehen und die Volkskriegsstrategie zu erwähnen, während er offensichtlich großen Wert darauf legte, sich die Argumente einer modernen nuklearen Militärdoktrin zu eigen zu machen: „Wenn die amerikanischen Aggressoren , s° sagte er, „die Stärke und Entschlossenheit des chinesischen Volkes unterschätzen, diesem einen Krieg aufzwingen und es nötigen sol • ten, die Herausforderung anzunehmen, dann werden das chinesische Volk und die chinesische Volksbefreiungsarmee, die längst alle Vorkehrungen getroffen haben und in Bereitstellung gegangen sind, es mit ihnen nicht nur bis zum letzten Ende aufnehmen, sondern sie sogar einladen, in großen Massen zu kommen. Je mehr, desto besserI" — Und im Sinne des nuklearen Abschreckungsversuchs: „Wir sind Materialisten. Um die Drohung des US-Imperialismus mit einem Kernkrieg aus der Welt zu schaffen, werden wir fortfahren, die materielle Atombombe (im Unterschied zur geistigen Atombombe der proletarischen Bewußtheit des Volkes und seiner revolutionären Gesinnung) noch besser zu beherrschen." — „Im Besitz der geistigen Atombombe des Volkes plus unserer eigenen materiellen Atombombe haben wir größte Zuversicht, die Aggressionsund Kriegspläne der US-Imperialisten restlos zum Scheitern zu bringen und den Weltfrieden zu erhalten."
Jang Tscheng-wus Rückgriff auf die Volkskriegsstrategie
Auf den Tag genau ein Jahr später trat Jang Tscheng-wu erstmals als „amtierender" Generalstabschef an die Öffentlichkeit. In seiner Rede auf dem Festbankett, das zu Ehren des 39. Jahrestages der Gründung der Chinesischen Volksbefreiungsarmee am 1. August 1966 im Hauptquartier des Generalstabs und bei der Politischen Generalabteilung der VBA in Peking stattfand, machte sich gegenüber den Ansichten seines Amtsvorgängers eine neue Artikulierung bemerkbar. Von nun an bestanden „das Herzstück der militärischen Gedanken und der Linien des Genossen Mao Tse-tung zum Aufbau der Armee" sowie die „glorreiche Tradition“ der VBA einzig und allein darin, „der Politik den Vorrang einzuräumen, eine Idee, die Genosse Lin Piao formuliert und auf die er wiederholt Nachdruck gelegt hat". Diese Maxime entsprach unverkennbar den Zielsetzungen der Pekinger Armeekonferenz vom 30. Dezember 1965 bis zum 18. Januar 1966 über die politische Arbeit in der VBA, auf der Jang Tscheng-wu, noch als stellvertretender Generalstabschef, schon Lin Piaos Konzeption unterstützt und damit gegen den militärischen Professionalismus Lo Jui-tschings votiert hatte. Man darf vermuten, daß der im Januar 1967 des konspirativen Widerstandes gegen Mao Tse-tung beschuldigte Marschall Ho Lung die Ernennung des Befehlshabers der Garnison Peking-Tientsin zum neuen Stabschef der Armee gerade dieses Votums wegen kritisierte, das Jang Tscheng-wus am 1. August 1966 erklärte Bereitschaft, mit den Methoden der Volkskriegsstrategie militärisch in den Vietnam-Konflikt einzugreifen, unmißverständlich zum Ausdruck brachte. Er betonte in seiner Antrittsrede: „Wir haben (hierzu) alle Vorbereitungen getroffen. Entsprechend den Interessen und Forderungen des vietnamesischen Volkes sind wir bereit, dem Ruf unseres Vaterlandes jederzeit Folge zu leisten und gemeinsam mit dem vietnamesischen Volk Schulter an Schulter zu kämpfen, die Banditen der Aggression entschlossen, gründlich, völlig und restlos zu vernichten.“
Der psychologische Zweifrontenkrieg
Damit war die Formel, deren Außenminister Marschall Tschen Ji sich am 18. Dezember 1966 in seiner bereits erwähnten Rede auf der Pekinger Massenkundgebung gegen den Luft-krieg über Nordvietnam bediente, bereits vor-weggenommen, über die Ambivalenz der chinesischen Herausforderung, das heißt über die Nachweisbarkeit eines in militärischer Hinsicht bedenklichen Verhaltens der chinesischen Führung auch gegenüber der Sowjetunion im Rücken ihrer Vietnam-und Amerika-Politik, gab aber, von den vorgenannten Stellungnahmen Liu Ning-jis und Tschou En-lais im Juli und Dezember 1965 ganz abgesehen, die in Anwesenheit von nahezu 300 Journalisten am 29. September 1965 veranstaltete Pressekonferenz Tschen Jis noch unmißverständlicheren Aufschluß. Denn die auf dieser Konferenz vom Außenminister der Volksrepublik China vorgetragenen Ansichten ließen daran nicht nur keinen Zweifel, sondern auch eindeutig und allein den Schluß zu, daß Peking entweder ein tollkühnes Hasard zu spielen begonnen hatte oder aber auf den Erfolg einer kaltblütigen Wahrscheinlichkeitsrechnung vertraute, in der das Motiv echter Kriegsfurcht mit Bestimmtheit nicht enthalten war. Tschen Ji sagte im Schlußabschnitt seiner umfangreichen Erklärung der chinesischen Außenpolitik: „Wir sind zum Widerstand gegen eine Aggression der USA vollständig vorbereitet. Wenn die US-Imperialisten entschlossen sind, uns einen Aggressionskrieg aufzuzwingen, sind sie willkommen, wenn sie recht bald kommen, am besten schon morgen. Sollen die indischen Reaktionäre, die britischen Imperialisten und die japanischen Militaristen mit ihnen zusammenkommen! Sollen die modernen Revisionisten mit ihnen koordiniert von Norden her handeln! Am Ende werden doch wir siegen."
Hält man also die Hypothese, daß die Volksrepublik China sich durch die Vereinigten Staaten bedroht fühle und diese Lagebeurteilung zum Anlaß genommen habe, um im Zeichen der Kulturrevolution sowohl eine aus Gründen der inneren Sicherheit als erforderlich betrachtete Generalsäuberung der Partei-und Militärkader ins Werk zu setzen als auch aus Gründen heimlicher Furcht eine herausfordernde außenpolitische Sprache zu führen, für erwiesen, dann muß man ihr in gleicher Weise auch eine echte Kriegsfurcht vor der Sowjetunion unterstellen, da die auf den ersten Fall (die USA) angewandte Argumentation, daß jemand (der Personenkreis um Mao Tse-tung), der im Finstern durch den Wald gehe, zu singen pflege, um seine Angst zu überwinden, auch im Hinblick auf den zweiten Fall (die Sowjetunion) richtig wäre. Nach meiner Meinung trifft jedoch weder das eine noch das andere zu.
Die innenpolitischen Motive der chinesischen Kulturrevolution
VII. Gemäß der im vorhergehenden Abschnitt begründeten Ansicht konnte die der Volksrepublik China angeblich drohende Gefahr eines Großkriegs, sei es mit dem amerikanischen, sei es mit dem sowjetischen Gegner, keineswegs als Ursache des seit Herbst 1965 aus China gemeldeten kulturrevolutionären Geschehens und der dadurch bedingten Partei-und Staatsführungskrise in Betracht kommen. Bleibt also noch die Frage nach dem tatsächlichen politischen Motiv der dortigen Ereignisse und Vorgänge.
Seit der Konferenz von Lushan (August 1959), besonders aber seit der 9. Plenartagung des VIII. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas vom Januar 1961 begann sich die Kritik an den „absurden Ideen" der revolutionären Generallinie Mao Tse-tungs angesichts der erkennbar verheerenden Folgen des „Großen Sprungs nach vorn" (Volkskommunen-Beschlüsse des ZK der KPCh vom 29. August und 10. Dezember 1958, letzterer in Verbindung mit der 6. Plenartagung des VIII. Zentralkomitees) sowie der schweren Naturkatastrophen, unter denen China um diese Zeit (1959 bis 1962) drei Jahre hintereinander zu leiden hatte, unüberhörbar zu artikulieren. Den Ausgangspunkt dieses geistigen Widerstandes innerhalb der Partei selbst bildete die „antisozialistische“ dramatische Oper „Hai Jui wird seines Amtes enthoben" (Hai Jui pa-kuan), deren von dem Historiker und Publizisten Wu Han (stellvertretender Bürgermeister von Peking) besorgter Text die Zeitschrift „Kunst und Literatur Pekings“ (Peiching Wenyi) im Januar 1961 veröffentlichte. Die damals auf zahlreichen chinesischen Bühnen anlaufende Inszenierung dieser rasch zu großem Erfolg gelangenden Oper wurde von dem Theaterkritiker und Rezensenten Liao Mo-scha (Leiter der Abteilung Einheitsfront beim Parteikomitee der Stadt Peking) am 2. Januar und 16. Februar 1961 im „Pekinger Abendblatt“ (Peiching Wan-pao) außerordentlich gelobt. Dieser Durchbruch ermutigte den Chefredakteur der Pekinger Halbmonatsschrift „Die Front" (Qianxian), Teng To (Sekretär des Pekinger Stadtkomitees der Kommunistischen Partei Chinas), zu seinen unter der Sammelüberschrift „Abendgespräche am Yenshan“ berühmt gewordenen Essays, die in einer äsopischen anekdotischen Sprache an der offiziellen Generallinie Mao Tse-tungs Kritik übten und unter Hinweis auf historische Beispiele zu einer weisen Staatsführung rieten. Sie erschienen von März 1961 bis September 1962 sowohl in der von ihm geleiteten „Front'als auch in der „Pekinger Tageszeitung'(Peiching Jih-pao) und im „Pekinger Abendblatt" (Peiching Wan-pao). Von Oktober 1961 an bis Juli 1964 folgten in den gleichen Organen die sogenannten „Notizen aus dem Dorf der drei Familien“, für deren literarische Spalte außer Teng To auch Wu Han und Liao Mo-scha gesellschaftspolitische Beiträge lieferten. Alles in allem über 150 Artikel in beiden Rubriken.
Essayistische Manifestation der innerparteilichen Opposition
Was besonders die Essays von Teng To betraf, so waren ihre wirkungsvollen Anspielungen auf die Gegenwart Chinas in der Tat höchist vielsagend und aufschlußreich:
In seinem Essay „Wir grüßen die , bunt gemischten Gelehrten'" vom 26. März 1961 richtete er an die Partei folgende Warnung: „Es wird für uns ein schwerer Verlust sein, wenn wir die große Bedeutung des umfassenden Wissens der , bunt gemischten Gelehrten'für alle Arten der Führungs-und der wissenschaftlichen Forschungsarbeit nicht anzuerkennen imstande sind."
In seinem Essay „Lieber führen, statt bremsen" vom 13. April 1961 machte er der Partei den Vorwurf, sie verhindere durch Ausschluß and Bekämpfung der für eine maßvollere Wirtschaftspolitik eintretenden Kräfte einen reibungslosen Fortgang des sozialistischen Aufbaus in China und bestimme das Land durch „Verrammelung des Weges der Bewegung Und Entwicklung der Dinge" im Sinne einer Teilnahme aller an der wirtschaftspolitischen Kjrsehtscheidung schließlich „zum Untergang". In seinem Essäy „Öle Theorie von der Erhaltung der Arbe ! k raft" führte Teng To am 30. April 1961 lJajje da über, daß die Partei die Arbeitskraft nicht richtig würdige, und forderte, daß sie „aus den Erfahrungen der Vorfahren neue Erleuchtung gewinnen und auf jede Weise mehr und besser für die Erhaltung der Arbeitskraft sorgen" müsse.
In seinem Essay „Wie man Freunde gewinnt und Gäste unterhält" empfahl er, daß man von Ländern, die „mächtiger sind als wir", lernen und sich mit ihnen vereinigen solle; es sei ein Grund zur Freude, „wenn ein Freund stärker ist als wir".
In seinem Essay „Von drei bis zehntausend" prophezeite er: „Wenn ein aufgeblasener Kerl meint, er habe das Einmaleins erlernt und es werde auch weiterhin leicht gehen, und seinen Lehrer hinauswirft, dann wird er überhaupt nie etwas lernen."
In seinem Essay „Der Fall von Tschen Djiang und Wang Geng" vom 22. Juni 1961 beschuldigte Teng To die Regierung der Korruption und ihren Chef der Unfähigkeit: „Es gab an der Spitze keinen intelligenten und fähigen Premierminister mit den nächsten verantwortlichen Beamten, die sich um die Einsetzung des Personals und um die Verwaltung geküm-mert hätten, während die niedrigen örtlichen Beamten nach Belieben schalteten und walteten.“ In seinem Essay „Aufstieg und Verfall zweier Tempel" ließ er wenig später durchblicken, daß die („rechtsopportunistische") Führungsgruppe der gemäßigten Liberalen beträchtliches Ansehen im Lande genieße und über eine große Anhängerschaft verfüge, wohingegen die Gruppe der linken Radikalen „im Verfall" begriffen sei und von den „Gläubigen" des Volkes „völlig vernachlässigt"
werde.
in einem besonders bemerkenswerten Artikel der Rubrikserie „Notizen aüs dem Dorf der drei Familien" vom 10. November 1961 mit der Überschrift „Großes leeres Geschwätz"
griff Teng To die Phrasen und Klischees der ideologischen Propagandamaschinerie an, wobei er die unantastbare Gültigkeit des Satzes, daß der Ostwind Chinas Wohltäter, der Westwind aber Chinas Feind sei, in Zweifel zog und als „pompöse Prahlerei" bezeichnete, während er der Partei den Rat gab, sie solle „überhaupt weniger reden und, wenn die Zeit für Gespräche gekommen ist, lieber sich ausruhen gehen" und von der politischen Bühne abtreten.
Kurz darauf erschien in den „Abendgesprächen am Yenshan" sein Essay „Gebt es auf, und ihr werdet festen Boden unter den Füßen haben" mit der Forderung, die Partei solle ihre bisherige Generallinie grundlegend überprüfen und aus den Wolken wieder auf die Erde herunterkommen.
Am 25. November 1961 veröffentlichte Liao Mo-scha zwei Beiträge, nämlich „Worin besteht die Größe von Konfuzius?" und „Witze über die Furcht vor Gespenstern", deren erster den demokratischen Geist des Konfuzius sowie dessen lautere Gesinnung und wohlwollende Offenheit für Kritik an seinen Theorien zum Vorbild erhob, während der zweite Artikel sich mit „Prahlhänsen" auseinandersetzte, „die behaupten, keine Angst vor Gespenstern zu haben, und in Wirklichkeit verrückt vor Angst vor ihnen sind".
Einen Tag später, am 26. November 1961, folgten in der Spalte „Abendgespräche am Yenshan" von Teng To „Zwei ausländische Fabeln", die den Angriff auf die Prahlerei mit der Feststellung fortsetzten, daß man „heutzutage immer und überall solche Aufschneider finden" könne. Der Verfasser fügte hinzu: „Wir dürfen diese Scharlatane nicht ungeschoren davonkommen lassen."
Kurze Zeit danach verwendete Wu Han in seinem Artikel „Dschao Kuo und Ma Su" zwei alte Erzählungen über das, was er als »Großsprecherei zur Beeindruckung der Leute" sowie als . Prahlerei* bezeichnete, um die in China üblich gewordene politische Argumentation zu kritisieren und die Partei zu nötigen, »jetzt die Lehren aus den Mißerfolgen zu ziehen’, die . Lehren daraus, wie man sich selbst und anderen schadet und das Land zugrunde richtet*.
Ein weiterer Beitrag Wu Hans . Uber die Wellen“ vom 1. Januar 1962 kündigte . eine wirklich große Flutwelle* an, die . größer und größer* werde, um schließlich die ganze Gesellschaft mitzureißen und sich der Parteiführung sowie ihrer Diktatur des Proletariats entgegenzuwerfen.
Am 4. Februar 1962 griff Teng To dieses Thema in dem Artikel »Das Frühlingsfest dieses Jahres* seinerseits auf, um mit dem revisionismusverdächtigen Ausdruck . Tauwetter* anzudeuten, daß die bestehende Herrschaft über das sozialistische China . bald zu Ende gehen* und die Diktatur des Proletariats von der Flutwelle des unzufriedenen, empörten Volkes hinweggespült werde.
In dem Essay . Kann man sich auf die Weisheit verlassen?“ vom 22. Februar 1962 suchte Teng To den . Kaiser* (Mao Tse-tung) zu bewegen, doch . von allen Seiten Rat einzuholen*, damit er vermeide, daß . Schmeichler die Gelegenheit ergreifen werden und ihm Dinge einsagen, die ihm gefallen*. Zugleich warnte er die Partei mit den Worten: «Ihr werdet schließlich schwere Mißerfolge erleiden“, wenn »ihr alle Entscheidungen allein trefft und hofft, mit euren eigenen absurden Ideen Erfolg zu haben“, ohne den »guten Rat“ von . unten" anzunehmen.
Drei Tage später, am 25. Februar 1962, veröffentlichte Teng To einen Beitrag zum Thema „Der königliche und der tyrannische Weg", in dem er daran erinnerte, daß „auch in den alten Zeiten der königliche Weg viel besser war als der tyrannische" und „daß jene, die Tyrannen sein wollten, sich überall Feinde schafften und sehr unbeliebt wurden“. Um ein Mißverständnis im Sinne historischer Reminiszenz auszuschließen, fügte er erläuternd hinzu: . Unter dem tyrannischen Weg verstehen wir den arroganten, subjektivistischen und willkürlichen Denk-und Arbeitsstil einer eigenwilligen Handlungsweise.
Aus diesen Mosaiksteinen kritischer Einwände gegen die offizielle chinesische Innen-und Außenpolitik der Jahre 1959 (Lushan-Konferenz im August 1959) bis 1964 (Ende der . Notizen aus dem Dorf der drei Familien-im Juli 1964) läßt sich unschwer ein Bild von den damaligen Verhältnissen des Landes zusammensetzen, an dem nach Auffassung derjenigen, denen seine verwegenen Parabeln — „nur ein Bruchteil des relevanten Materials" — galten, eindeutig zu erkennen war, »daß all die unter dem Mantel der Verbreitung von . Weisheit-und . Wissen'gebrachte Propaganda ein einziges Ziel hatte: Kampf gegen die Ideen Mao Tse-tungs". Wie die Zeitschrift des ZK der Kommunistischen Partei Chinas, „Hungch’i“ (Peking), in ihrem Leitartikel Anfang Juli 1966 zu dieser Zielsetzung eines wohl kaum „kleinen Häufleins böswilliger Leute“ ”) unmißverständlich bemerkte, sei es offensichtlich eine ausgemachte Sache, daß die inzwischen erkannte Widerstandsgruppe durch „Usurpierung der Ideologie und Beeinflussung der öffentlichen Meinung" den Sturz der Diktatur des Proletariats vorbereite, um »bei günstiger Gelegenheit“ „auf die eine oder andere Weise einen Putsch durchführen“ zu können und „sich der politischen Gewalt zu bemäch-tigen“
Der geistige Widerstand im Bereich der Wissenschaft
Auch der Parteiphilosoph Jang Hsien-tsdien, der Wirtschaftswissenschaftler Sun Jeh-fang, der Literaturwissenschaftler Schao Tschuan-lin und der Historiker Tschien Po-tsan waren in symptomatischem Sinne wichtige Figuren in diesem Spiel um Bestand oder Wandel des ideologischen Überbaus der von Mao Tse-tung geprägten gesellschaftspolitischen Vorstellungen sowie um den zu ihrer Beseitigung erforderlichen Einfluß auf die öffentliche Meinung. Die Namen dieser prominenten Wissen-schattier standen synonym für eine ganze Reihe von aufsehenerregenden Disputen, die vornehmlich in den Jahren 1964 und 1965 stattfanden. Es handelte sich 1. in der chinesischen marxistischen Philosophie um die Interpretation der Dialektik von Einheit und Kampf der Gegensätze; 2. in der Wirtschaftswissenschaft um die chinesische Liberman-Diskussion über die Änderung der sozialistischen Produktionsverhältnisse im Sinne einer marktwirtschaftlich orientierten Lohn-, Preis-und Investitionspolitik; 3. in der chinesischen Literaturwissenschaft tun die Forderung nach . wahrheitsgetreuem Schrifttum" im Sinne der Darstellung „mittelmäßiger Charaktere“, also des Durchschnittsmenschen ohne revolutionäre Ambitionen, um den Widerstand gegen den . Geruch von Schießpulver" im Sinne einer . Philosophie des überlebens“ angesichts der existenziellen Bedrohungen des Atomzeitalters sowie um die Kritik an der „Loslösung von den Klassikern“ und an der „Rebellion gegen das Althergebrachte"; 4. in der chinesischen Geschichtswissenschaft um den Anspruch der so-genannten „bürgerlichen Royalisten" auf eine, ungeachtet des Klassenkampfprinzips und der Volksmassentheorie, erfolgende objektive Würdigung der historischen Fakten und Protokollaussagen im Sinne einer kritischen Anerkennung der geschichtlichen Leistungen von Kaisern, Königen, Generälen und Kanzlern.
Angesichts dieser immer mehr um sich greifenden, augenscheinlich auf eine grundlegende Revision der offiziellen Parteilinie drängenden gesellschaftspolitischen Entwicklung gab ein Artikel von Jao Wen-jüan in der Shanghaier Zeitung „Wen Hui-pao“ vom 10. November 1965 „über ein neues historisches Drama , Hal Jui wird seines Amtes enthoben’ ", der den Angriff auf Wu Han eröffnete, das entscheidende Signal zu einer planmäßig vorbereiteten Gegenoffensive der auf selten Mao Tse-tungs stehenden regierenden Parteigruppe. „Damit ging der Vorhang über der sich nun entfaltenden großen Kulturrevolution hoch.“
und „antisozialistischen Clique" des sogenannten Dreifamiliendorfes (außer Wu Han der Autor der „Abendgespräche am Yenshan", Teng To, und Liao Mo-scha) und am 3. Juni 1966 die Absetzung des Parteikomitees der Stadt Peking (Vorsitzender Peng Tschen)
mit der Beschuldigung, daß es die eigentliche Wurzel des konterrevolutionären Dreifamiliendorfes gebildet habe.
Die Zerstörung des Faszinationsvermögens der Sowjetunion als Hauptziel der chinesischen Kulturrevolution
Es ist hier nicht erforderlich, die einzelnen Phasen dieser Gegenoffensive zu beschreiben, welche mit Revolution im eigentlichen Sinne und Verständnis dieses Ausdrucks kaum etwas zu tun gehabt hat (als revolutionär wäre viel eher das reaktive Verhalten der von den Roten Garden dieser Revolution bedrohten Parteikader sowie der Bauern und Arbeiter des Volkes zu bezeichnen). Diese Phasen sind in den vom. Pekinger Verlag flir fremdsprachige Literatur in Deutach heramsge-—-------------gebenen drei Artikel-und Aufsatz-Sammlungen mit dem Titel „Die große sozialistische Kultur-revolution in China“ (Peking 1966) ausführlich dokumentiert worden
Aus diesen und anderen ähnlichen Hinweisen ging deutlich genug hervor, daß die der Auffassung Mao Tse-tungs den Vorzug gebende chinesische Parteiführung offensichtlich nichts mehr fürchtete und objektiv auch nichts mehr zu fürchten hatte als einen Durchbruch des sowjetischen und ostmitteleuropäischen Reformstrebens, das auf der Grundlage reifer Industriegesellschaften und eines aufgeklärten Marxismus erfolgt war, im eigenen Land. Die in völlig abwegiger Übertreibung der „Todsünde" des Kapitalismus angeklagten Rebellen innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas hatten diese hoffnungsvolle Entwicklung, von der einige sozialistische Brudervölker, besonders aber die den Dimensionen ihres eigenen Landes noch am ehesten vergleichbare Sowjetunion sich einen größeren Erfolg versprachen als von der verantwortungslosen Heuchelei des Persönlichkeitskults, schon seit geraumer Zeit mit sachverständigem Wohlwollen und wachsender Bereitschaft zu modifizierter Nachahmung beobachtet und das in ihren Kräften Stehende getan, um die öffentliche Meinung Chinas ebenfalls auf einen solchen Schritt vorzubereiten. Die das „Amateurwissen" Mao-Tse-tungs in provozierender Weise relativierenden, um nicht zu sagen widerlegenden „Professionalisten" und zu Unrecht als „bürgerlich" bezeichneten „Autoritäten" — das waren ja eben jene wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technischen und militärischen Fachleute und Experten, die den Erfahrungen und Leistungen der Sowjetunion hohen Rang sowie einen auch auf chinesische Verhältnisse übertragbaren Geltungsanspruch zuerkannten. Mao Tse-tungs erster Versuch im Jahre 1958, diese von ihm als Rivalität betrachtete positive Ausstrahlung der Sowjetunion durch einen „Großen Sprung nach vorn" unwirksam zu machen, hatte deren Faszinationskraft nicht nur keineswegs gebrochen, sondern — im Gegenteil — nachhaltig verstärkt, wie die Zunahme der Kritik an seinen Maßnahmen und die Entstehung eines der Wirklichkeit zugewandten, damit aber zwangsläufig moskau-freundlichen Problembewußtseins auf allen Gebieten innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas ab 1959 (Lushan-Konferenz) unzweifelhaft bewies. Wahrscheinlich stellte dieser Zusammenhang die entscheidende Ursache dafür dar, daß die chinesische Kulturrevolution in erster Linie einen unverkennbar sowjet-feindlichen Akzent erhielt Jedenfalls spielte die Gefahr des Imperialismus im Vergleich zu den durch die Faszinationskraft der Sowjetunion bedingten innenpolitischen Motivationsbegründungen eine höchst untergeordnete Rolle.