Die Entstehung der Großen Koalition
In einer redaktionellen Anmerkung zu der in dei Ausgabe B 30/65 erschienenen Arbeit von Heinz Laufer „Das demokratische Regime in der Bundesrepublik" wurde für eine spätere Ausgabe ein Beitrag von Werner Kaltefleiter angekündigt. Zum vorgesehenen Erscheinungstermin war dieser Aufsatz durch den raschen Wechsel der politischen Konstellation in der Bundesrepublik überholt, so daß er nicht mehr veröffentlicht werden konnte. Die jetzt vorgelegte neue Arbeit analysiert die Situation nach der Bildung der Großen Koalition und äußert sich dezidiert zu den verfassungspolitischen Aufgaben dieser Koalition für die Zukunft. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Arbeit als Diskussionsbeitrag zu werten ist, der weder in der Grundtendenz noch in den Einzelheiten die Auffassung des Herausgebers — sofern es eine solche zu diesen Problemen überhaupt geben kann — darstellt. Die Diskussion soll fortgeführt werden, und die Redaktion ist bereit, jeden qualifizierten Beitrag dazu zu veröffentlichen.
Der Herbst 1966 brachte der Bundesrepublik, die erste schwere Regierungskrise seit 1949. Sie war von drei Ereignissen begleitet, die die Verfassungswirklichkeit der nächsten Jahre, ja der ganzen weiteren Entwicklung der Bundesrepublik nachhaltig zu beeinflussen vermögen: die demonstrierte Unwirksamkeit bislang viel gepriesener Verfassungsregeln, die Gefahr einer Radikalisierung des Parteiensystems und die Möglichkeit einer Verfassungsreform.
Auf dem Höhepunkt der Krise wurde zunächst eine Verfassungswandlung sichtbar: Sie betraf das konstruktive Mißtrauensvotum, eine jener Einrichtungen, von denen der Parlamentarische Rat und seitdem zahlreiche Kommentatoren des Grundgesetzes geglaubt hatten, sie würden zu einer parlamentarischen Stabilisierung beitragen
Die aktuelle Regierungskrise wurde durch die Bildung einer Regierung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD überwunden. Die Motive und Interessen der verschiedenen Gruppierungen, die zu dieser Entscheidung führten, waren vielfältig. Offiziell wurde stets betont, daß die Bundesrepublik auf den verschiedensten Gebieten derart schweren Aufgaben gegenüber stehe, daß dazu eine „breite" Mehrheit notwendig sei, auch wenn für die einzelnen Maßnahmen nicht immer formell eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erforderlich wäre
Genannt wurden u. a. neben Entscheidungen in der Deutschland-und Ostpolitik und in der Frage einer Finanzreform auch eine derartige Veränderung des Wahlrechtes, daß in Zukunft eine absolute parlamentarische Mehrheit für eine Fraktion im Normalfall gesichert sei, was einerseits eine automatische Beendigung der Großen Koalition herbeiführen und andererseits die Wiederholung von Regierungskrisen verhindern solle. Zwar waren die Meinungsverschiedenheiten über den konkreten Inhalt der Reformbestrebungen ebensowenig zu übersehen wie der Widerstand in den beiden Fraktionen, aber die Absichtserklärung wurde Bestandteil der Regierungserklärung
Etwa vier Wochen nach der Regierungserklärung betonte Konrad Adenauer zunächst, daß ein Zweiparteiensystem englischen Musters — die logische Konsequenz einer Wahlrechts-reform — für die Bundesrepublik nicht vorteilhaft sei
Gründe für die Bildung der Großen Koalition
Systematisch bedeutet die Regierung der Großen Koalition eine Ausnahmesituation im parlamentarischen Regierungssystem. Darauf haben auch die führenden Politiker beider Parteien immer wieder hingewiesen, wenn sie von einer „Koalition auf Zeit" sprachen
Von diesem Normalfall des alternierenden Regierungssystems ist man auch in England in den letzten hundert Jahren, also in jener Zeit, seitdem die parlamentarische Regierungsweise durch die Ausdehnung des allgemeinen Wahlrechts effizient geworden ist, dreimal abgegangen: die Kriegskabinette Asquith und Lloyd George im Ersten Weltkrieg, das National Government unter MacDonald während der Weltwirtschaftskrise und das Kriegskabinett Churchill im Zweiten Weltkrieg. Schon diese Beispiele zeigen, daß der Anlaß für die Bildung einer Großen Koalition in England jedesmal eine besondere Krisensitation war: Krieg oder Weltwirtschaftskrise, also eine Ausnahmesituation. Bestand eine solche Ausnahmesituation auch in der Bundesrepublik?
So wesentlich und schwerwiegend die anstehenden Probleme im einzelnen auch sein mögen, sie sind mit den englischen Krisenfällen, die ein National Government begründet haben, kaum vergleichbar. Auch der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Zwei-Drittel-Mehrheit für die Durchführung einzelner Maßnahmen reicht nicht zur Begründung der Großen Koalition aus. Es versteht sich eigentlich von selbst, daß in den meisten Fällen die Zustimmung der SPD-Opposition zu gewinnen gewesen wäre, ja teilweise schon erreicht oder erreichbar war, um einzelne Gesetze dieser Art verabschieden zu können. Das gilt für die Notstandsgesetzgebung wie für die Stabilisierungsgesetze, und auf dem Gebiet einer Neuorientierung der Deutschland-und Ostpolitik war diese Zustimmung latent vorhanden, jedenfalls — wie gerade Ludwig Erhard betont hat — lagen die eigentlichen Schwierigkeiten in der Union selbst begründet. Mit anderen Worten: Was 1956, als das Verhältnis von Regierung und Opposition in vielen Fällen einem Freund-Feind-Verhältnis glich, bei der Wehr-gesetzgebung möglich war, bot sich 1966 bei der weitgehenden Angleichung der Auffassung von CDU/CSU und SPD nahezu an
Wenn die deutsche Große Koalition nicht aus der Problematik einzelner außen-und innenpolitischer Fragen begründet werden kann, die denen vergleichbar sind, die zu den entsprechenden englischen Regierungen führte, bleiben zwei weitere Erklärungsmöglichkeiten: Die Große Koalition Dauererscheinung als des oder als Folge einer Krise politischen Systems der Bundesrepublik.
Die neue Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD kann dem österreichischen Beispiel folgen, das bis zum Frühjahr 1966, als die OVP quasi zufällig die absolute Mehrheit gewann
Demokratische Alternativen zu einer bestehenden Regierung gebe es ohnehin nicht, Opposition sei ein Monopol radikaler Parteien geworden und bei einem Regierungswechsel blieben ohnehin die gleichen sozialen Gruppen, die ja in beiden Parteien vertreten seien, an der Macht. Deshalb, so folgerte Kirchheimer, sei es zweckmäßiger und einer modernen Industriegesellschaft allein adäquat, eine große Koalition zu bilden, wobei jede soziale Gruppe in der Regierung die andere kontrolliert. Kirchheimer nennt das „Bereichsopposition". Die wesentliche Aufgabe jeder Regierung, das Sozialprodukt aufzuteilen, werde so durch Verhandlungen der sozialen Gruppen untereinander gelöst.
Der theoretische Einwand gegen Kirchheimer, daß er die Integrationsfunktion der Parteien und die Entscheidungsfunktion von Regierung, Parlament und schließlich Wählerschaft übersieht, wurde durch die österreichische Praxis bestätigt: Die Große Koalition erwies sich in zunehmendem Umfang als entscheidungsunfähig
Das Problem der fehlenden Opposition
Eine solche Große Koalition wird, wie erwähnt, nach den offiziellen Verlautbarungen in der Bundesrepublik nicht angestrebt. Es kann aber nicht übersehen werden, daß es starke Kräfte — und seien es auch nur Beharrungskräfte — gibt, die zu einer solchen „Lösung" tendieren. Das nur Ambitiöse gibt es immer in der Politik und hat gerade beim Sturz der Regierung Erhard auch eine Rolle gespielt. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, in welchem Umfang die CDU/CSU auf Grund ihrer vielfältigen Verflechtungen mit dem Regierungsamt auf eine permanente Regierungsbeteiligung angewiesen zu sein glaubt, in welchem Umfang die SPD jahrelang eine solche Besetzung von Machtpositionen angestrebt hat und schließlich, daß auf einer Reihe von Gebieten schon seit langem ein Zusammengehen der beiden großen Parteien zu beobachten war. Für eine solche Interpretation sprechen auch verschiedene Äußerungen insbesondere von SPD-Politikern, die darauf hinweisen, die Große Koalition diene letztlich der Liquidierung des Zweiten Weltkrieges und — auch auf diese Auffassung stößt man gelegentlich — zur Erfüllung dieser Aufgabe sei es zweitrangig, wie lange an der Koalition festgehalten werde. Parteiorganisationen und Unternehmungen zeigen gleichermaßen die Tendenz zur Kartellierung, um dem „mühsamen" Wettbewerb zu entgehen. Aber das politische wie das wirtschaftliche Kartell beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit auf Kosten von Wählern und Konsumenten.
Jede Große Koalition, besonders aber ein so langfristiges politisches Kartell kennt eine zweite Gefahr: Die wesentliche Aufgabe der Opposition ist ihre Auffangfunktion, das heißt, Sammelbecken für die mit der Regierung unzufriedene Wählerschaft zu sein. In der Bundesrepublik wird diese Funktion zur Zeit nicht ausgeübt: Die FDP als parlamentarische Opposition ist ihrer Struktur nach, vor allem aber in der Einschätzung der Wählerschaft, eine Minderheitspartei
Dieser Zusammenhang zeigte sich schon vor der formellen Bildung der Großen Koalition bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern
a) wirtschaftlicher Pessimismus, b) Demonstration der bedingten Handlungsfähigkeit der Bundesregierung und c) mangelnde Alternativen zur Bundesregierung.
Zum Jahreswechsel 1965/66 wurde die wirtschaftliche Situation erstmalig, seitdem das „Wirtschaftswunder" in das Bewußtsein der Wählerschaft gedrungen war, von der Mehrheit der Bevölkerung negativ beurteilt, und diese negative Beurteilung ist wesentlicher als die tatsächliche wirtschaftliche Situation
Die NPD-Wähler sind Gegenstand vielfältiger soziologischer Untersuchungen
Die Wahrscheinlichkeit weiterer politischer Erfolge der NPD hängt nun — eine unveränderte Politik der Partei und kein Verbot vorausgesetzt — vor allem von zwei Faktoren ab:
1. Gelingt es der neuen Regierung, Vertrauen und Zustimmung zu finden, so werden die oppositionellen Reaktionen, die Grundlagen* des NPD-Erfolges sind, beschränkt. Das ist aber nur kurzfristig möglich. Langfristig wird jede Regierung in Situationen kommen, wo ihre Politik oppositionelles Wählerverhalten auslöst: Die Wahrscheinlichkeit, daß die NPD von der fehlenden Auffangfunktion der Opposition profitiert, steigt mit der Dauer der Großen Koalition.
2. Voraussetzung für jede Parteizersplitterung und Radikalisierung ist das gegenwärtige Wahlrecht, bei dem Gruppen mit einer Stärke von etwa fünf Prozent parlamentarisch vertreten sind. Zwar wurde die Fünf-Prozent-Klausel lange Zeit für einen wirksamen Schutz gegen Parteizersplitterung gehalten, aber gerade die Wahlen in Hessen und Bayern haben gezeigt, daß diese Klausel nicht mehr als ein politischer Gartenzaun ist, der leicht zu überspringen ist, wenn — um im Bilde zu bleiben — Krisenbewußtsein und Vertrauensverlust der Regierung das Sprungbrett liefern.
In welchem Umfang die Bundesregierung Erfolg haben und Vertrauen finden wird, kann nicht vorausgesagt werden. Sie scheint aber auch einem Strukturproblem ausgesetzt zu sein, das für alle Koalitionsformen kennzeichnend ist: Hat sie Erfolg, so wird dieser Erfolg entsprechend der zentralen Stellung des Kanzleramtes im deutschen Regierungssystem in erster Linie Kurt-Georg Kiesinger zugerechnet werden. Dafür spricht, daß die erste Phase der neuen Regierung nicht nur von einem steigenden Bekanntheitsgrad Kiesingers, sondern auch von steigender Zustimmung für seine Kanzlerschaft begleitet war. Dementsprechend ist seine innerparteiliche Stellung ständig stärker geworden, was sich am deutlichsten an der Diskussion um die Nachfolge Erhards im Parteivorsitz der CDU zeigte: Die anfängliche „Überzeugung", Regierungsamt und Parteivorsitz müßten gerade in der Großen Koalition getrennt sein, war bereits im März 1967 der „Selbstverständlichkeit" gewichen, daß Kiesinger neuer Vorsitzender werden würde. Setzt sich diese Entwicklung fort, so ergäbe sich 1969 eine Situation, die teilweise der von 1965 entspräche:
Der Kanzlerkandidat der CDU/CSU würde weit mehr Zustimmung in der Wählerschaft finden als der der SPD.
Ein aus dieser Konstellation erwachsender erneuter Wahlsieg der CDU/CSU könnte eine Reihe schwerwiegender Folgen für die SPD, ihre Struktur, ihre Politik und ihr Selbstverständnis mit sich bringen, waren doch gewisse Frustrationserscheinungen schon nach der Wahlniederlage von 1965 nicht zu übersehen. Wird eine solche Entwicklung von den SPD-Führern jedoch rechtzeitig erkannt, so besteht die Gefahr, daß diese versuchen werden, die Arbeit der Koalition so zu erschweren, um auch Kiesinger das Image der Führungsunfä-higkeit anhaften zu können; die Folge wäre, daß der Regierungsstil der Periode 1961— 1966 als ein System sich abwechselnder Koalitionsund Parteikrisen fortgesetzt würde — mit allen Folgen für die deutsche Politik.
Die verfassungspolitische Krise der Bundesrepublik
Die große Koalition ist nicht einer Ausnahmesituation entsprungen, wie das in England gelegentlich der Fall war. Sie soll nach der erklärten Absicht der führenden Politiker nicht dem österreichischen Modell folgen, also kein Dauerzustand sein, obwohl manche Tendenzen in diese Richtung wirken. Gerade eine solche Entwicklung würde aber die Problematik dieser Regierung potenzieren. So besteht eine dritte Interpretation, die die Große Koalition als ein Ergebnis einer Krise des gesamten politischen Systems der Bundesrepublik sieht
Diese Entwicklung wird in der Regel identifiziert mit den Persönlichkeiten der ersten beiden Kanzler, nämlich Konrad Adenauer und Ludwig Erhard. Die Verdienste Konrad Adenauers für die Formulierung und Durchsetzung deutscher Politik werden inzwischen auch von seinen ehemaligen politischen Geg-nern anerkannt; das gleiche gilt für die Rückwirkungen dieser Politik auf den Zusammenhalt der Koalitionen, insbesondere in der Zeit von 1949 bis 1953. Dennoch kann der verfassungspolitische Wandel nicht aus dem Wechsel der Personen erklärt werden. Eine solche Darstellung entspräche zwar der allgemeinen Tendenz, personelle Faktoren überzubetonen, übersähe aber, daß der Abstieg von der hegemonialen Koalition bzw. die Beeinträchtigung der Spielregel der Kanzlerdemokratie bereits etwa seit 1959
1. Der Abstieg von der hegemonialen Koalition ist mit der politischen Entwicklung seit 1949 eng verzahnt. Die Kleine Koalition war 1949 die einzig politisch realisierbare Regierungsbildung. bestanden Zwar verschiedene Möglichkeiten, aber nachdem CDU und FDP im Frankfurter Wirtschaftsrat die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards unterstützt hatten, waren die Weichen für die Regierungsbildung von 1949 de facto gestellt
Diese Situation änderte sich, als die SPD nach 1959 ihre Politik im weiten Umfang neu orientierte und versuchte, durch einen partiellenVerzicht auf Opposition das Image einer regierungsfähigen Partei zu bekommen, um auf diese Weise den Durchbruch zur Mehrheitspartei zu erzielen, nachdem ihr die scharfe Opposition zur Regierung Adenauer-Erhard keine Stimmengewinne gebracht hatte. Dieser Wandel in der Politik und im Führungsstil der SPD, der zwar durch das sogenannte Godesberger Programm nicht inhaltlich festgelegt wurde, für den dieses Programm aber Symbolcharakter gewonnen hat, ist Gegenstand heftiger politischer Kontroversen gewesen. Die CDU/CSU warf der SPD-Führung ein politisches „Umfallen" vor, die eigenen Mitglieder Verrat an sozialistischer Tradition, aber die Wähler honorierten den Wandel, wenn auch, primär aus personalpolitischen Gründen, nicht in dem von der SPD-Führung erhofften Umfang.
Wesentlicher als diese Kontroversen sind jedoch die Auswirkungen dieses Wandels für das deutsche Parteiensystem: Die SPD wurde von einer gruppensoziologisch und ideologisch gebundenen Partei zu einer „Volkspartei" bzw. „Allerweltspartei". Sie vollzog diese Entwicklung nach, die die CDU/CSU bereits von 1949 bis 1953 durchlaufen hatte, als ihr der Durchbruch zur Mehrheitspartei gelungen war. Sie wurde damit zu einer funktionalen Partei; 25a) wie sie ein arbeitsfähiges deutsches Parteiensystem benötigt.
Diese Entwicklung war durch die Umstruktuierung der Wählerschaft vorgezeichnet und damit der SPD teilweise aufgezwungen, wollte sie nicht für absehbare Zeit mit der Oppositionsrolle vorlieb nehmen: Der zunehmende Wohlstand führte zu einer Auflockerung des Kerns der SPD-Wählerschaft, für den auch die erfolgreiche CDU/CSU wählbar geworden war. Andererseits erwuchs der SPD ein zusätzliches Wählerreservoir durch eine entsprechende Auflockerung des CDU/CSU-Wählerstammes als Folge der Urbanisierung ländlicher Gebiete im Gefolge der Industrialisierung und der Ausbreitung der Massenmedien. Die zunehmende horizontale und vertikale Mobilität der deutschen Gesellschaft ließ die gruppensoziologischen und ideologischen Bindungen an Bedeutung für den Wahlentscheid verlieren; die Wähler betrachten die Parteien nicht mehr als ihre politische Heimat, sondern als Organisationen zur Auswahl des politischen Führungspersonals
Die Folge dieser Entwicklung war äußerlich die Angleichung der beiden großen Parteien — wobei es eine zweite Frage ist, ob die Angleichung auf dem Gebiet der Werbetechnik nicht gelegentlich das systematisch notwendige Maß bei weitem überschritt, aber dies ist ein kurzfristig parteitaktisches Problem —, systematisch, daß die Voraussetzungen für die Herausbildung eines alternierenden Parteien-systems in der Wählerschaft geschaffen waren, zu dessen Realisierung es allerdings entsprechender Institutionen bedarf, und für die Regierungskoalition seit 1961, daß die Klammer der entschiedenen Gegnerschaft zur SPD entfiel, was sich nicht zuletzt an einer zunehmenden Zahl von Gesetzen zeigt, die mit wechselnder Mehrheit im Bundestag angenommen wurden. Gerade die Erfolge der Politik Adenauers und Erhards, der wirtschaftliche Wiederaufbau der Bundesrepublik, haben somit wesentlich dazu beigetragen, die Grundlagen der 1949 geschaffenen Regierung in Frage zu stellen.
2. Diese Entwicklung findet eine gewisse Parallele in der CDU/CSU. Bis 1959 war Konrad Adenauer unbestrittener Führer der Union, weil es ihm gelungen war, mit einfachen Lösungsformeln
keln, kurz die Notwendigkeit der Innovation
3. Entsprechend seinen Lösungsformeln war die Regierungspraxis Konrad Adenauers durch einen Vorrang der Außenpolitik gekennzeichnet
Diese Politik war generell durch eine ständig zunehmende Subventionierung der verschiedenen Gruppen gekennzeichnet; sie war nur möglich, so lange die jährlichen Wachstumsraten des Bruttosozialproduktes ausreichten, diese Subventionen zu finanzieren. Nachdem mit dem Erreichen der absoluten Vollbeschäftigung die Wachstumsraten zurückgingen, mehrten sich die finanziellen Schwierigkeiten der öffenlichen Hand, und die sozialen Gegensätze, die nun nicht mehr in vollem Umfang mit Subventionen verdeckt werden konnten, wurden offen ausgetragen, was unter anderem zu der inneren Lähmung der CDU/CSU beitrug. Die Finanzkrise im Herbst 1966, letztlich Anlaß für den Sturz der Regierung Erhard, war Folge dieser Politik.
4. Eine selbststärkende Wirkung des Erfolges kommt in vollem Umfang nur bei einer sehr niedrigen Ausgangssituation zur Geltung, wie das 1949 der Fall war. Das gilt für die wirtschaftliche Entwicklung wie für die außenpolitische Situation. Etwa seit 1957 waren aber spektakuläre Erfolge nicht mehr möglich. An ihrer Stelle konnten nur kontinuierliche Verbesserungen oder Festhalten am einmal Erreichten treten. Erfolg als Kontinuität ist aber selten werbewirksam.
5. Die in diesen Faktoren angelegte Verschärfung der internen Gegensätze wurde verstärkt durch die Entwicklung der Parteifinanzen. Bis 1958 waren CDU/CSU und FDP in großem Umfang von privaten Spenden finanziert worden
6. All diese Faktoren haben zu der Veränderung der „Kanzlerdemokratie" beigetragen. So zeigt diese Entwicklung erstens, daß die Kanzlerdemokratie nur eine mögliche Form des deutschen Regierungssystems ist und daß es auch Perioden gibt, in denen die Koalitionskabinette und ihre innere Lähmung dominieren. Ein Zweites kommt hinzu: Dr Wandel im deutschen Regierungssystem war weitgehend unabhängig von den Persönlichkeiten der regierenden Politiker. Das bedeutet nicht, daß nicht auch die speziellen Führungsmethoden Konrad Adenauers und die Schlüsselstellung, die er bis 1955 gegenüber den Militär-gouverneuren besaß, in den ersten Jahren zu einer Stärkung der hegemonialen Koalition beigetragen haben. Aber als etwa nach 1959 die Grundlagen dieser Regierung hinfällig wurden, nutzten auch diese Führungsmethoden wenig — genauso wenig wie der erst mit Beifall begrüßte Stil Ludwig Erhards langfristig die unzureichende Basis seiner Regierung nicht ersetzen konnte. In gleicher Weise kann nicht übersehen werden, daß etwa das Zögern Erhards, den Parteivorsitz zu übernehmen, die Schwierigkeit seiner Regierung ebenso vergrößert hat, wie der Widerstand der weltanschaulich orientierten Kerngruppen der CDU gegen den liberalen Parteiführer.
Die Große Koalition als Konstituante
Wesentlicher aber als die Erörterung von Einzelheiten der Regierungspraxis von Adenauer und Erhard ist, daß die Voraussetzung parlamentarischer Regierungsweise in der Bundesrepublik nicht institutionell garantiert ist: die Existenz einer parlamentarischen Mehrheit und eines anerkannten Führers dieser Mehrheit. Es gab eine Periode, wo auf Grund einer bestimmten, der historischen Situation entsprungenen, im wesentlichen einmaligen Bedingungskonstellation die Voraussetzungen parlamentarischer Regierungsweise weitgehend erfüllt erschienen. Aber es gab auch die zweite Periode, in der die parlamentarische Mehrheitsregierung kaum möglich war. Das wurde im Herbst 1966 mit aller Deutlichkeit demonstriert, und in diesem Sinne wurde eine Krise des politischen Systems sichtbar, die in den unzureichenden Verfassungsentscheidungen des Parlamentarischen Rates begründet war. Deshalb ist es aber die primäre und wesentlichste Aufgabe der Großen Koalition, diese Krise des politischen Systems zu bereinigen, damit hinfort parlamentarische Regierungen zur Bewältigung der verschiedensten Aufgaben auf dem Gebiet der Innen-und Außenpolitik möglich sind. Diese Aufgabe konkretisiert sich in drei Punkten:
I. Die Reform des Wahlgesetzes II. Die Reform des Auflösungsrechtes III. Die Schaffung eines Parteiengesetzes.
Die Aufgabe der Wahlreform
Die Wahlrechtsreform gehört, wie erwähnt, zu den bislang verkündeten Zielen der Großen Koalitionsregierung. Gegen das geltende personalisierte Verhältniswahlrecht werden vor allem drei Einwände erhoben:
1. Das Verhältniswahlrecht sichert im Normalfall keine absolute parlamentarische Mehrheit für eine Fraktion, was bedeutet, daß die Regierungsbildung nicht durch die Wahlentscheidung in der Wahl, sondern durch Verhandlungen der Koalitionspartner nach der Wahl erfolgt. An dieser Regel ändert sich auch nichts, wenn die Koalitionspartner sich gelegentlich vor der Wahl festlegen. Was eine solche Festlegung bedeutet, zeigte sich bei den Bundestagswahlen von 1961 und 1965 und bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen von 1966 mit aller Deutlichkeit. 1961 ließ die FDP in der Wählerschaft den Eindruck entstehen
2. Bei dem geltenden personalisierten Verhältniswahlrecht besteht für die parlamentarische Opposition nur eine eingeschränkte Chance, die Regierung nach den nächsten Wahlen allein zu übernehmen, da Stimmen-veränderungen nur proportional in Mandats-veränderungen umgesetzt werden. Das bedeutet zum Beispiel, daß ausgehend von dem Wahlergebnis von 1965, das heißt dem besten Wahlergebnis, das die SPD je erreichte, noch immer ein Stimmenzuwachs der SPD von etwa 8— 9 Prozent notwendig ist, damit sie allein die Mehrheit im Parlament erhält. Nach 1961 war sogar ein Stimmenzuwachs von etwa 12 Prozent und nach 1957 gar von 15 Prozent notwendig. Solche Wählerbewegungen können jedoch im Normalfall nicht erwartet werden. Somit ergibt sich eine eingeschränkte Chance des Machtwechsels mit allen Rückwirkungen auf die Struktur und die Politik von Regierung und Opposition: Bei der SPD führte diese Situation zu dem Bemühen um politische Anpassung und Regierungsbeteiligung. Die Folge war die sogenannte Strategie der Umarmung, in deren Verlauf die SPD zur „besten CDU wurde, die es je gab"
3. Das personalisierte Verhältniswahlrecht sichert trotz der Fünf-Prozent-Klausel keinen Schutz gegen eine Aufsplitterung oder Radikalisierung des Parteiensystems. Die Konsolidierung des deutschen Parteiensystems nach 1952 war in erster Linie Folge der wirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere der positiven Einschätzung dieser Entwicklung durch die Wählerschaft, durch die die Intensität der sozialen Konflikte vermindert wurde und die Zustimmung zur CDU/CSU-Regierung in den Wahlen von 1953 und 1957 zustande kam
Die in der Regel zuerst diskutierte Alternative zu dem gegenwärtigen System ist die englische relative Mehrheitswahl
Der kritische Punkt des gegenwärtigen Wahl-systems, definiert als die Größe des Wähler-Wechsels, der notwendig ist, um einen parlamentarischen Machtwechsel auszulösen, liegt noch immer bei etwa 8— 9 Prozent, bei relativer Mehrheitswahl bei etwa 3 Prozent. Damit bedeutet das System der relativen Mehrheitswahl eine erhöhte Chance des Machtwechsels, mit den entsprechenden Rückwirkungen auf die beteiligten Parteien.
An Stelle des partiell frustzierten, in sich gespaltenen Strebens nach politischem Mitbesitz treten zwei potentielle Regierungsmannschaften, die mit unterschiedlichen sachlichen und personellen Lösungsvorschlägen eine Merheit für sich zu gewinnen suchen — und abwechselnd erhalten werden.
Einwände gegen das englische Wahlrecht
Diese Wirkungen des relativen Mehrheitswahlrechtes stehen im Einklang mit den Anforderungen parlamentarischer Regierungsweise. Es kann jedoch nicht übersehen werden, daß auch gegen dieses System Einwände erhoben werden, die insbesondere auf Grund der speziellen deutschen Situation ernsthaft geprüft werden müssen. Dabei sind vor allem folgende Argumente zu beachten: 1. Bei relativer Mehrheitswahl ergibt sich das Problem eines „BIAS", das heißt, daß zwei Parteien mit gleicher Stimmenzahl eine unterschiedliche Mandatszahl erhalten. Dieses Problem ist gerade in der Bundesrepublik aktuell. Geht man von der Verteilung der Stimmen im ganzen Land aus, wie sie in der Bundestagswahl von 1965 bestanden, so stößt man auf einen solchen „BIAS" in Höhe von etwa 3 Prozent zugunsten der SPD. Wenn die CDU/CSU einen Stimmenvorsprung von etwa 3 Prozent hat, erhalten beide Parteien die gleiche Mandatszahl, oder wenn CDU/CSU und SPD den gleichen Stimmenanteil erhalten, bekommt die SPD fast 50 Mandate mehr. Dieser „BIAS", der 1961 noch 5 Prozent betrug oder 75 Mandate, beruht auf der unterschiedlichen Zahl und Größe der Hochburgen beider Parteien und der Stimmenverteilung in diesen Wahlkreisen
Diese Hochburgen sind seit 1961 tendenziell geringer geworden, insbesondere auf Grund der Erfolge der SPD in den katholisch-ländlichen Hochburgen der CDU/CSU, was die Reduktion des „BIAS" nach 1961 erklärt. Wenn auch nicht ausgeschlossen werden kann, daß infolge der weiteren Angleichungen der beiden Parteien, der sogenannten Nivellierungstendenz, nach der jede Partei in den Hochburgen der anderen Stimmen gewinnt, der „BIAS" auch in den folgenden Jahren weiter abgebaut wird, so bleibt die bloße Möglichkeit einer solchen Asymmetrie als ein Argument gegen die relative Mehrheitswahl. Der „BIAS" ist nicht eine Ausnahmeerscheinung, wie oft dargestellt wird
In England wird dieses Problem bislang weitgehend hingenommen, weil man davon ausgeht, daß eben jeder Abgeordnete seinen Wahlkreis vertritt.
Ein solcher Konsens scheint aber in der Bundesrepublik noch nicht zu bestehen, und es bleibt die Frage, ob nicht wesentliche Vertrauensverluste in das deutsche demokratische System zu erwarten wären, wenn bei einer nach Mehrheitswahl abgehaltenen Bundestagswahl nicht die an Stimmen stärkste Partei, sondern die zweitstärkste Partei die absolute Mehrheit der Mandate bekäme. Die Reaktionen auf die Bildung der Bundesregierung von 1961 und der ersten Landesregierung in Nordrhein-Westfalen im Sommer 1966, die ebenfalls deutlich von den Verhaltenserwartungen wesentlicher Teile der Wählerschaft abwichen, vermitteln dafür erste Hinweise.
2. Ein zweiter Einwand gegen die relative Mehrheitswahl betrifft die Möglichkeiten der übergroßen Mehrheit. In der Tat kommt es gelegentlich, wenn auch selten vor, daß eine Partei mit einem vergleichbar geringen Stimmen-vorsprung einen erheblichen Vorsprung in der Mandatszahl, ja möglicherweise sogar eine Zwei-Drittel-Mehrheit erhält. Das bekannteste Beispiel dafür sind die englischen Wahlen von 1931 [aber auch bei der Bundestagswahl von 1957 hätte es bei gleichem Wählerverhalten
Die Notwendigkeit eines rationalen Wahlrechtes
Die Berechtigung dieser Einwände kann kaum bestritten werden. Sie sind Folge der sozial-strukturellen Situation in der Bundesrepublik. Damit wird zunächst wiederum deutlich, daß die Wirkungen politischer Institutionen einschließlich des Wahlrechtes nicht abstrakt, sondern nur im konkreten Bezug zu einer be-stimmten sozialen Situation diskutiert werden können
Eine völlig andere Frage ist die politische Wertung dieser Wirkungen. Dabei sind drei Gruppierungen zu beobachten:
Eine erste Gruppe versucht, die Einwände zu bagatellisieren oder zumindest als im Vergleich zu den Hauptwirkungen der Mehrheitswahl als völlig zweitrangig darzustellen. Auf diese Weise schafft man sich die Möglichkeit,an der seit langem erhobenen Forderung nach Mehrheitswahl festzuhalten, ohne die Ergebnisse jüngerer Untersuchungen, die die tatsächlichen Auswirkungen dieses Systems in der Bundesrepublik festgestellt haben, zur Kenntnis nehmen zu müssen. Soweit diese Position nicht auf einem unzureichenden Informationsgrad über die tatsächlichen Wirkungen der Mehrheitswahl beruht, gleicht sie einer gesinnungsethischen Position
Für eine zweite Gruppe sind die Einwände Grund genug, den Gedanken der Wahlrechts-reform schlechthin fallenzulassen
Im Gegensatz zu dieser gesinnungsethischen oder am eigenen Interesse orientierten Position versucht eine dritte Gruppe Wahlsysteme zu entwickeln, die den Anforderungen parlamentarischer Regierungsweise gerecht werden, aber die sich aus der Kombination von relativer Mehrheitswahl und deutscher Sozialstruktur ergebenden Nebenwirkungen vermeiden. Der Grundgedanke dieser Bemühungen ist einfach: Was das parlamentarische System bedarf, sind die drei Hauptwirkungen der relativen Mehrheitswahl — Mehrheitsbildung, Chance des Machtwechsels und Schutz gegen Zersplitterung —, nicht die technischen Einzelheiten dieses Systems
Diesen neuen Wahlrechtsentwürfen ist gemeinsam, daß sie sich nicht an irgendwelchen bestimmten Vorbildern orientieren, die aus welchen historischen Zufällen auch immer entstanden sind, sondern fragen, welchen Funktionen
Im Vergleich zum geltenden Wahlrecht haben alle den Vorteil, daß sie die für die parlamentarische Regierungsbildung notwendige Mehrheit im Normalfall sichern und ausreichenden Schutz gegen Parteizersplitterung gewähren. Sie erhöhen darüber hinaus die Chance des Machtwechsels, was wiederum zur Folge hat, daß das Nachfolgeproblem in der Politik besser gelöst werden kann. Sie versuchen ferner den speziellen Einwänden gegen die relative Mehrheitswahl, die in Deutschland erhoben werden, gerecht zu werden. Bei der politischen Diskussion der einzelnen Systeme kommen eine Vielzahl taktischer, pragmatischer und auch psychologischer Erwägungen hinzu. Für welche Regelung man sich auch immer entscheiden mag, wesentlich ist, daß in der Diskussion die funktionalen Erfordernisse der Regierungsweise im Auge gehalten werden.
Die Voraussetzungen in der Wählerschaft
Als ein genereller Einwand gegen die Wahlrechtsreform wird oft betont, daß auf diese Weise die Möglichkeit der Kontrolle politischer Macht zugunsten einer erhöhten Handlungsfähigkeit der Regierung eingeschränkt würde. Diese These wird vor allem damit begründet, daß in der Bundesrepublik die verschiedenen gesellschaftlichen und innerparteilichen Kontrollmechanismen nicht voli entwickelt seien
Bei dieser Frage sind zwei Fälle zu unterscheiden: a) Die Regierung einer Großen Koalition bedeutet immer die Begrenzung der Kontrollmechanismen, da die Oppositionsfunktion nicht oder nur von einer Minoritätspartei bzw. außerparlamentarischen Gruppen ausgeübt wird. Darüber hinaus verfügt ein solches Kartell über vielfältige Möglichkeiten der Informationspolitik. Jedes Bemühen um wirksame politische Kontrolle kann deshalb nur das Ziel eines Aufbrechens dieses politischen Kartells der Großen Koalition haben. Die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Ziel erreicht wird, ist aber größer, wenn einer der beiden Koalitionspartner eine absolute Mehrheit der Mandate im Parlament gewinnt. Zwar können auch in diesem Fall die Bestrebungen der Parteiführungen, an permanentem politischem Mitbesitz festzuhalten, nicht übersehen werden. Es besteht jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß die siegreiche Partei von ihrer Fraktion zur Alleinregierung gezwungen wird, und sei es nur, weil diese den ungeteilten Besitz der Macht verlangt.
b) Anders ist die Situation, wenn man eine kleine Koalition unter Verhältniswahl mit der Mehrheitsregierung einer Partei bei Mehrheitswahl vergleicht. Im ersten Fall besteht die Kontrolle darin, daß ein Teil der Regierung mit organisatorischem Eigeninteresse partiell in der Lage ist, Regierungstätigkeit zu verhindern. Bei Mehrheitswahl erfolgt demgegenüber die Kontrolle durch die Antizipation eines möglichen Machtwechsels, den die Regierung fürchten muß. Die Macht der Opposition besteht darin, um mit Hannah Arendt zu formulieren, daß in ihr „der Herrscher von morgen spricht'
30 Prozent potentieller Wechselwähler, die bereit sind, zwischen zwei Wahlen abwechselnd CDU/CSU oder SPD zu wählen und auch tatsächlich ihre Parteiidentifikation ändern. Von 1957 bis 1961 wechselten z. B. 20 Prozent, von 1961 bis 1965 etwa 15 Prozent ihre Parteiidentifikation. Dabei ist es wesentlich, daß der Wechsel zwischen allen Parteien erfolgte
Diese Untersuchungsergebnisse verdeutlichen die Bereitschaft zum Wechsel und damit die Realität der Chance des Machtwechsels. Angesichts dieser deutschen Wählerstruktur besteht gerade bei Mehrheitswahl ein wirksamer Kontrollmechanismus, ohne daß — wie bei* Koalitionsregierungen — die Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt wird. Die Untersuchungen über die Wählerschaft zeigen darüber hinaus eine hohe Übereinstimmung mit entsprechenden englischen oder amerikanischen Ergebnissen. Das gilt für Informationsgrad, Informationsgewohnheiten, der Determinanten des Wahlverhaltens, wie auch für die Kriterien der politischen Beurteilung. Somit können all die Argumente, die von der mangelnden „Reife" — was immer das sei — des deutschen Wählers sprechen oder die Unübertragbarkeit politischer Institutionen behaupten, als widerlegt betrachtet werden.
Dagegen kann auch nicht mit dem Hinweis auf bestimmte politische Mißstände in dem politischen Verhalten einzelner Gruppen argumentiert werden. All das, was in der Bundesrepublik kritikwürdig erscheint, ist unter Proporz entstanden — was nicht heißt, daß das alles und ausschließlich Folge dieses Wahlrechtes sei. Aber man kann aus dieser Situation nicht auf das politische Verhalten unter einem anderen Wahlsystem unter anderen Wettbewerbsbedingungen schließen. Die Verschärfung des politischen Wettbewerbs durch die Wahlrechtsreform läßt dagegen sehr wohl erwarten, daß das politische Verhalten mit größerer Rücksicht auf den Wähler erfolgt: Wahlrechtsreform bedeutet einen Machtzuwachs des Wählers, der dann an Stelle der Parteiführungsstäbe über Regierungsbildung und -entlassung entscheidet.
Die Aktivierung des Auflösungsrechtes
Eine solche Wahlrechtsreform löst nur einige Probleme des deutschen politischen Systems, wie das besonders zu Anfang der Regierungszeit Erhards deutlich wurde. Als Ludwig Erhard 1963 Bundeskanzler wurde, verfügte er über eine überragende Zustimmung in der Wählerschaft. Was ihm fehlte, war eine parlamentarische Mehrheit, vor allem aber die geschlossene Unterstützung seiner eigenen Partei. Das wesentlichste Hilfsmittel, über das der englische Premier in einer solchen Situation verfügt, ist das Auflösungsrecht. Hätte Ludwig Erhard zum Beispiel 1963 den Deutschen Bundestag auslösen können, so hätte er mit hoher Wahrscheinlichkeit eine absolute Mehrheit der Mandate für seine Partei gewonnen, mit den entsprechenden Rückwirkungen auf seine eigene Position innerhalb dieser Partei.
Das Bonner Grundgesetz kennt eine Auflösung des Deutschen Bundestages nur in zwei Fällen: Wenn es nach der Neuwahl eines Bundestages nicht gelingt, einen Bundeskanzler mit absoluter Mehrheit zu wählen, ist es eine Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten, einen Minderheitskanzler zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen. Neben dieser Spezialbestimmung zu Beginn einer Legislaturperiode gibt es das Auflösungsrecht noch im Fall des Gesetzgebungsnotstandes: Wenn der Bundeskanzler vom Deutschen Bundestag auf eine Vertrauensfrage hin keine Mehrheit findet und der Bundestag auch nicht mit einer absoluten Mehrheit einen anderen Kanzler wählt, kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag auflösen. Die Wirksamkeit dieser Bestimmung ist doppelt beeinträchtigt: Erstens lähmt die Notwendigkeit, daß der Bundeskanzler zuvor die Vertrauensfrage stellen muß, die Waffe des Auflösungsrechtes. Die Wirkung dieser Waffe besteht zu einem wesentlichen Teil darin, daß sie von dem Regierungschef nach eigenem Ermessen zu dem von ihm gewählten Zeitpunkt rasch eingesetzt werden kann, wobei die Drohung oft wichtiger als der Einsatz der Waffe ist. Ist die Notwendigkeit vorgeschaltet, zunächst im Parlament um Vertrauen nachzusuchen, so ergeben sich die Möglichkeiten vielfältiger parlamentarischer Manöver. Ein Bundestag, der die Auflösung nicht will, wird in einer solchen Situation dem Bundeskanzler zunächst einmal das Vertrauen aussprechen. Damit ist aber das strukturelle Problem, das den Bundeskanzler zu dieser Maßnahme veranlaßt hatte, kaum gelöst.
Ein zweiter Einwand betrifft die Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten. Diese besteht nach dem Wortlaut der Verfassung und wird von nahezu allen juristischen Kommentaren in dieser Form konstatiert
Auch im englischen System liegt das Auflösungsrecht formal in den Händen der Königin, aber diese kann es nur und zwar ausschließlich auf Vorschlag des Premierministers ausüben, und sie ist dazu praktisch verpflichtet, wenn der Premier eine solche Maßnahme verlangt. Eine formelle Verfassungsänderung ist in diesem Sinne kaum notwendig, wenn klargestellt wird, daß mit der Formulierung „der Bundespräsident kann auf Vorschlag des Bundeskanzlers auflösen" eine höfliche Umschreibung eines „muß auflösen“ gemeint ist. Die Bedeutung einer solchen Aktivierung des Auflösungsrechtes kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Das hat gerade die Regierung Erhard gezeigt. Erhard verfügte lange Zeit über eine überragende Zustimmung innerhalb der Wählerschaft. Er hatte auch etwa im Vergleich zu Konrad Adenauer nach 1961 ein besseres Verhältnis zum Koalitionspartner, der FDP. Sein Hauptproblem war jedoch, daß die innerparteilichen Schwierigkeiten in der CDU/CSU ihm ein Regieren nahezu unmöglich machten. Gerade für diesen Zweck aber ist das Auflösungsrecht eine wesentliche Waffe, ohne die etwa Premierminister Wilson mit seiner knappen Mehrheit von nur zwei bis drei Mandaten kaum eineinhalb Jahre hätte tatkräftig regieren können.
Gegen eine solche Aktivierung des Auflösungsrechtes wird gelegentlich eingewandt, daß damit jeder Regierung die Möglichkeit in die Hand gegeben sei, die Wahlen zu einem „konjunkturgerechten" Zeitpunkt zu veranstalten, um auf diese Weise ihre Herrschaft über mehrere Legislaturperioden zu zementieren. Dieser Hinweis betont einen Faktor, ohne andere gegenläufig wirkende zu nennen, und darf deshalb nicht überbewertet werden. Die Determinanten des Wählerverhaltens, insbesondere die Bestimmungsgründe des Wählerwechsels, sind vielfältig: Den Möglichkeiten durch Mittel der Konjunkturpolitik zum Zeitpunkt der Wahlen eine für die Regierung günstige Ausgangssituation zu schaffen, steht zum Beispiel die permanent kritische Funktion der Massenmedien gegenüber
Schaffung eines Parteiengesetzes
Ein drittes Problem betrifft die Schaffung eines Parteiengesetzes. Schon der Parlamen-tarische Rat war an dieser Aufgabe gescheitert und hatte es deshalb in Art. 21 GG dem zukünftigen Bundestag überlassen, ein solches Parteiengesetz vorzulegen und sich darauf beschränkt, allgemeine Grundsätze zu formulieren, von denen die wichtigsten die nicht definierte Forderung nach innerparteilicher De-mokratie und damit verbunden die Offenlegung der Finanzquellen sind. Besonders an der zweiten Forderung des Art. 21 GG sind alle bisherigen Versuche eines Parteiengesetzes gescheitert. Während CDU/CSU und FDP sich weigerten, die für sie so wesentliche Her-kunft der Spenden im einzelnen aufzuzeigen, weigerte sich die Sozialdemokratie, die für sie nicht weniger wesentliche Herkunft der Gelder aus Parteivermögen offenzulegen. Darüber hinaus gerieten alle Parteien, auch die Sozialdemokraten, in zunehmendem Umfang in Finanzschwierigkeiten, die mit der steigenden Subventionierung aus öffentlichen Mitteln beseitigt werden sollten. Diese Möglichkeit wurde jedoch durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im Sommer 1966 zunächst beschnitten. 57
Finanzierung der Parteien
Fragt man nach den Ursachen dieser Finanz-schwierigkeiten, so läßt sich der Aufwand der Parteien in zwei Hauptgruppen unterteilen: die Ausgaben für die Parteiorganisation und für die Wahlkampffinanzierung. In der Parteiorganisation zeigen sich bei allen Parteien, insbesondere aber bei CDU/CSU und FDP, nach wie vor wesentliche während Probleme, die Wahlkampfausgaben astronomische Summen erreicht haben. Zur Bundestagswahl 1961 und 1965 wurden jeweils von allen Parteien gemeinsam etwa 100 Millionen DM ausgegeben. Zum Vergleich dazu kostete eine amerikanische Präsidentenwahl etwa 110 Millionen DM und die Wahl zum englischen Unterhaus etwa 35— 40 Millionen DM. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß die englischen und amerikanischen Parteien die Werbezeit im Rundfunk und Fernsehen nach kommerziellen Sätzen bezahlen müssen, während diese Zeiten in der Bundesrepublik den Parteien kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Bewertet man diese Zeiten mit den entsprechenden Tarifen, so sind die Gesamtkosten in der Bundesrepublik auf etwa 130— 140 Millionen DM zu veranschlagen
Eine Ursache dieses unproportionalen Werbeaufwandes ist der Glaube, mit zusätzlichen Werbemitteln zusätzliche Stimmen gewinnen zu können, was dazu geführt hat, daß die Parteien in den letzten Jahren ihren Aufwand gegenseitig „hochgeschaukelt" haben. Erst als nach 1961 ein derartiges Ausmaß erreicht war, daß eine weitere Steigerung aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich war, einigten sich die Parteien 1965 in dem sogenannten Wahlkampfabkommen auf eine Höchstsumme, die etwa dem entsprach, was man 1961 tatsächlich ausgegeben hatte, und das zugleich das Maximum dessen darstellte, was auszugeben man in der Lage war. Dementsprechend ist dieses Abkommen im wesentlichen auch „eingehalten" worden.
Diese Überlegungen zeigen aber zugleich, daß ein erster Ansatz zur Bekämpfung der Finanz-schwierigkeiten der Parteien eine effektive Begrenzung der Wahlkampfausgaben darstellt. Dabei erscheint es wenig erfolgversprechend, Globalabkommen der Parteien, und seien sie auch gesetzlich fixiert, anzustreben, da es ein weitgehend unlösbares Problem ist, festzustellen, wer bestimmte Ausgaben getätigt hat. So waren denn auch wesentliche Streitpunkte im Bundestagswahlkampf 1965 die Finanzierung der Anzeigenserie des Bundeskanzlers aus Mitteln des Bundespresse-und Informationsamtes und einer Berlin-Werbung, die den Kopf des regierenden Bürgermeisters und Kanzler-kandidaten der SPD zeigte. In beiden Fällen handelte es sich formal natürlich nicht um Ausgaben von CDU/CSU und SPD, doch es kann nicht übersehen werden, daß es sich dabei um Wahlkampfausgaben handelte. Eine Begrenzung der Wahlkampfausgaben der Parteien würde nur zur Folge haben, daß wesentliche Ausgaben in Zukunft von Parallel-Organisationen geleistet werden, die de facto im Dienste der Partei arbeiten.
Um diesem Dilemma zu entgehen, erscheint es zweckmäßig, sich an der englischen Regelung zu orientieren: eine Begrenzung der Wahlkampfausgaben pro Wahlkreis mit einer entsprechenden Sondersumme für zentrale Werbung über Rundfunk und Fernsehen. In diesem Fall ist es unwesentlich, wer die Ausgaben in einem Wahlkreis tätigt, entscheidend sind die Ausgaben, nicht die Ausgeber. Diese Summe kann man an der Art des tatsächlich zu beobachtenden Aufwandes feststellen und kontrollieren. Es ist dann Aufgabe einer jeden Partei zu verhindern, daß ihre „Freunde" das erlaubte Budget überschreiten.
Eine solche Regelung ist natürlich nur wirksam, wenn sie mit Sanktionen verbunden ist, und die einzige Sanktion, die Parlamentarier und Parteien ernsthaft fürchten, ist der Verlust des Mandats, was zu folgender Regelung führt:
Wer im Wahlkampf mehr als die erlaubte Summe ausgibt, verliert, wenn er den Wahlkreis gewonnen hat, sein Mandat zugunsten des unterlegenen Gegenkandidaten der anderen Partei.
Damit kann ein erster Schritt zur Konsolidierung der Finanzsituation der Parteien geleistet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil darüber hinaus die Möglichkeit der Erstattung von Wahlkampfkosten und die Zuwendung an einzelne Abgeordnete toleriert. Vor allem der zweite Weg scheint Mög-lichkeiten zu enthalten, die Probleme der unzureichenden Parteiorganisation zu lösen
Die organisatorische Öffnung der Parteien
Unter diesem Aspekt sind auch die Regeln der Kandidatenaufstellung zu überprüfen. Die gegenwärtige Vorschrift, nach der Wahlkreis-kandidaten von den Mitgliedern oder den Delegierten des Wahlkreises einer Partei, die Listenkandidaien von der Landesdelegiertenkonferenz au ; stellt werden, hat bei den Wahlkreiskandidaten zu einem dominierenden Einfluß der iokalen Führungsgruppe, bei der Listenaufstellung zu einem solchen der Landesparteiführung, die die Aufstellung „vorbereitet", geführt, wobei die vorderen Listen-plätze oft mit denen besetzt werden, die an der Aufstellung der Liste maßgeblich beteiligt sind
Zur Auflockerung dieser Prozedur und damit zur Vergrößerung der innerparteilichen Chance des Machtwechsels wäre zum Beispiel der Übergang zu dem amerikanischen System der Vorwahlen zu prüfen
Die Entwicklung der deutschen Parteien war seit 1952 — wie dargelegt — zuerst auf Seiten der CDU/CSU, dann etwa seit 1959 auch auf Seiten der SPD durch eine Öffnung im Hinblick auf die Wählerschichten gekennzeichnet, die mit ideologischen Parolen nicht ansprechbar sind. Diese Entwicklung war notwendig, wollten die Parteien Mehrheitspositionen gewinnen, sie war in diesem Sinne in der Veränderung der Wählerschaft vorgezeichnet und vorgeformt, aber sie ist bislang nicht von einer entsprechenden Reform der Parteiorganisation begleitet gewesen. Das hat einerseits zu einer Konfliktsituation zwischen den Parteiführern, die sich an der Notwendigkeit, neue Wählerschichten zu gewinnen, orientieren, und der Mitgliedschaft, die noch weitgehend aus den engsten Stammgruppen der Partei besteht, geführt. Die innerparteilichen Schwie-rigkeiten Ludwig Erhards waren teilweise auf diese Weise zu erklären, wie auch die ständigen Angriffe auf Herbert Wehner in der SPD. Zur Überwindung dieses Konfliktes bedarf es einer organisatorischen Öffnung der Parteien, die auch solchen Wählern die Mitwirkung an der innerparteilichen Willensbildung ermöglicht, die nur temporär zu einer Identifikation mit der Partei bereit sind. Die Parteien müssen ihren Charakter als „politische Heimat" kleiner Gruppen verlieren zugunsten eines organisatorischen Rahmens für das gegebenenfalls temporäre Zusammenarbeiten von Gruppen mit politisch parallelen Zielsetzungen.
Es kann nicht übersehen werden, daß in beiden Parteien diese Problematik teilweise erkannt Worten ist, wie insbesondere die Debatte in der CDU über die Neuorientierung der Parteiarbeit in den Großstädten zeigt. Ein Parteiengesetz wird den Rahmen für eine solche Entwicklung abzugrenzen haben, wobei auch nicht übersehen werden kann, daß auf diese Weise neue Finanzquellen erschlossen werden können.
Sachliche Wahlkampfführung
Das Parteiengesetz ist wie das Wahl-und Auflösungsrecht Teil der politischen Wettbewerbsbedingungen. Dazu gehört auch eine normative Klärung der inhaltlichen Fragen parteipolitischer Auseinandersetzungen: Sollen Wahlkämpfe das Zurschaustellen von Slogans und Köpfen in werbewirksamer Form sein oder soll es sich hierbei um eine Auseinandersetzung über die vergangene und zukünftige Politik handeln? Wo immer man diese Frage stellt, die Antwort zugunsten eines „sachbezogenen" — was immer das sei — Wahlkampfes ist ebenso eindeutig wie die Wirklichkeit durch die Dominanz der Show-Werbung gekennzeichnet ist.
Jeder Forderung nach sachlicher Auseinandersetzung im Wahlkampf wird entgegenzuhalten sein, daß eine detaillierte Auseinandersetzung schon informationstechnisch nicht möglich ist und irreale Anforderungen an den Informationsgrad und die Bereitschaft zur Informationsaufnahme unter den Wählern stellt. Jeder Wahlentscheid bleibt, was schon Carl-Joachim Friedrich betont hat und was die modernen Wahluntersuchngen empirisch belegen, eine Artikulation von Vertrauen in die sachliche Leistungsfähigkeit und die persönliche Integrität der rivalisierenden Führungsgruppen, kurz: Personalplebiszite über den Regierungschef. Eine solche realistische Betrachtungsweise steht aber der Forderung nach sachlicher Information im Wahlkampf nicht entgegen, modifiziert diese jedoch: Im Wahlkampf sollen die Lösungsformeln für anstehende Hauptprobleme, nicht die auf die Aktivierung sozialpsychologisch erkannter Attitüden zugeschnittenen Selbstverständlichkeiten (z. B. Sicherheit) zur Diskussion gestellt werden. Das setzt allerdings voraus, daß solche Lösungsformeln, politische Konzeptionen zunächst von den Parteien entwickelt worden sind. Die Bedeutung eines sachbezogenen Wahlkampfes in diesem Sinne besteht in der notwendigen Kommunikation zwischen Wählern und Parteien, die primäre Voraussetzung der Konsensbildung. Diese Kommunikation herzustellen ist zwar nicht ausschließlich durch eine entsprechende Wahlkampfführung möglich, aber im Wahlkampf als jener Periode der Aktualisierung politischer Strömungen werden die Grundlagen gelegt. Ohne eine solche Kommunikation empfangen die Wähler nicht die erwarteten und geforderten Antworten auf ausstehende Probleme, was zu einer Entfremdung zwischen Wählern und Parteien führt und zu dem Empfinden von Führungslosigkeit und politischer Unsicherheit beiträgt. Damit werden zugleich die Chancen extremer Parteien verbessert, die dieses Vakuum durch das Wecken von Emotionen aufzufüllen versuchen. Es gibt kein Patentrezept, mit dessen Hilfe ein Wandel des Wahlkampfstils erreicht werden kann, es sei denn durch entsprechende Reaktionen der Wählerschaft. Es kann aber nicht übersehen werden, wie sehr der Wechsel zwischen Regierung und Opposition, die chancengleiche Konkurrenz der Parteien um die politische Macht, wie es Folge der Mehrheitswahl ist. — im Gegensatz zum Streben nach politischem Mitbesitz bei Proporz -die sachliche Kommunikation zwischen Wählern und Parteien fördert, wenn auch nicht unter allen Umständen garantiert. Auch in England ist zum Beispiel in den Wahlen von 1959 das wichtigste voraussehbare Problem englischer Politik, der Beitritt zur EWG, nicht diskutiert worden, weil die Parteien darüber selbst zerstritten waren. Dennoch können, wenn die primären Voraussetzungen alternierender Regierungsweise durch die Reform des Wahl-und Auflösungsrechtes geschaffen sind, durch ein Parteiengesetz bestimmte Oiientierunghilfen gegeben werden. Schon eine Begrenzung der für den Wahlkampf verfügbaren Ausgaben würde die bisherige Tendenz, den Wahlkampf als Werbeschau abzuziehen, beeinträchtigen. Ergänzende Maßnahmen kann man der englischen Erfahrung entnehmen
In diesem Zusammenhang kommt der Berichterstattung über den Wahlkampf in den Massenmedien eine besondere Bedeutung zu, da gerade auf diese Weise die sachliche Auseinandersetzung in die Wählerschaft getragen werden kann. Zwar kann nicht übersehen werden, daß die Berichterstattung über die Wahl-kampfmaßnahmen der Parteien in der Presse in der Bundesrepublik gerade in den letzten Jahren ein sehr hohes Niveau erreicht hat;
es fehlt aber eine eigenständige Beteiligung der Massenmedien, insbesondere eine wirksame Stilkritik. 1961 war sich zum Beispiel die Bonner Presse mit den Parteien einig, nicht über die Berlin-Problematik vor dem 13. August zu berichten, weil diese Krise nicht in die Wahlkampfkonzepte der Parteien paßte, und 1965 wurde der inhaltliche Wandel des SPD-Wahlkampfes von Show zum Vortrag von Einzelprogrammen nicht wiedergegeben. D e Journalisten beteiligten sich nicht an der Diskussion, sondern wirkten als Informationsfilter. Von einer solchen globalen Darstellung gibt es natürlich Ausnahmen, aber die Tendenz ist unverkennbar. Sie ist noch deutlicher bei Rundfunk und Fernsehen, wo die „Große Koalition" aller Parteien und bedeutenden Verbände in den Rundfunkräten zu einer gewissen politischen Sterilität, insbesondere in Wahlkampfzeiten führt: Die vieldiskutierten politischen Sendungen wie Panorama, Report usw. waren nie so „langweilig" wie im letzten halben Jahr vor der Bundestagswahl 1965.
Reform der politischen Wettbewerbsbedingungen
Die Einzelheiten solcher Regelungen sind eingehend zu diskutieren. Wesentlich ist jedoch, daß der Zusammenhang der drei Reformbestrebungen gesehen wird: Reform des Wahlrechts, des Auflösungsrechts und der Formulierung eines Parteiengesetzes. Sie gemeinsam bilden die politische Wettbewerbsgesetzgebung, und diese muß an den funktionalen Erfordernissen parlamentarischer Regierungsweise ausgerichtet sein: Im Normalfall soll eine homogene parlamentarische Mehrheit regieren. Die Mehrheit soll wirksam dadurch kontrolliert werden, daß in der Opposition »der Herrscher von morgen spricht“. Regierung und das von ihr geführte Parlament sollen als Richter der Sozialinteressen eine Rangordnung der politischen Werte und Ziele aufstellen; dazu bedarf es einer gewissen Unabhängigkeit vom Verbandseinfluß, vor allem auf finanziellem Gebiet. Die innere Offung der Parteien kann dazu beitragen und zugleich die innerparteilichen Kontrollmechanismen verstärken. Ungelöst bleibt u. a. das Problem der Effizienz der gesellschaftlichen Kontrollmechanismen, die noch einer eingehenden Diskussion bedürfen.
Das sind verfassungspolitisch wesentliche Aufgaben der Großen Koalition; sie ist in dieser Hinsicht einer Konstituanten gleichzusetzen. Sie muß die Arbeit des Parlamentarischen Rates ergänzen und wiederaufnehmen, ja in wesentlichen Punkten modifizieren. Nur wenn sie dieser Aufgabe gerecht wird, erhält sie die Legitimation für ihre eigene Existenz, denn alle anderen Maßnahmen, so wesentlich sie nach dem jeweiligen politischen Standort auch erscheinen mögen, lassen sich realisieren, ohne das Wechselspiel von Regierung und Opposition, das Lebenselixier demokratischer Regierungsweise aufzuheben. Gelingt diese Neuorientierung nicht, so erweisen sich all die Begründungen, die von Reformen und Koalition auf Zeit usw. sprechen, als wenig glaubhaft.