I. Die imperialen Konzeptionen Lenins und Stalins
Die vorliegende Abhandlung bildete das einführende Referat auf der interdisziplinären Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde im Oktober 1966 in Heidelberg. Sämtliche Referate dieser Tagung werden in Kürze unter dem Titel „Koordination und Differenzierung im europäischen Ostblock“ vom Kohlhammer Verlag, Stuttgart, veröffentlicht.
Nach der Oktoberrevolution benutzte Lenin die von ihm früher abgelehnte föderalistische Idee als Mittel, um das Russische Reich unter sowjetkommunistischen Vorzeichen wieder herzustellen
Diese Entwicklung bot die Möglichkeit, nach vorheriger Herstellung konföderaler Bindungen die einzelnen kommunistisch regierten Sowjetrepubliken am 30. Dezember 1922 zu einem Bundesstaat, der „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken", zu vereinigen. über die künftige Gestalt des neuen Imperiums gab es eine heftige Auseinandersetzung zwischen Lenin und Stalin. Während Stalin eine Einbeziehung der einzelnen Sowjetrepubliken in der Form von zweitrangigen autonomen Republiken in die stärker zentralisierte RSFSR plante, wollte Lenin ihre Eigenständigkeit durch eine formal gleichberechtigte Stellung mit der großrussischen Sowjetrepublik sichern.
Lenin hatte eine Zeitlang geschwankt, ob er den neuen Föderativstaat nicht „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Europas und Asiens" nennen sollte. Diese regionale Begrenzung hätte seiner eigenen Überzeugung widersprochen. Er ließ sie daher weg. Das Fernziel, das er mit Hilfe der Weltrevolution anstrebte, waren die „Vereinigten Staaten der Welt". Daher hatte er 1915 die Forderung nach „Vereinigten Staaten von Europa", für die er zunächst nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges eingetreten war, bekämpft
Gegen diese Auffassung hatte sich Stalin in einem bemerkenswerten Brief vom 12. Januar 1920 gewandt
Stalin war der Auffassung, daß für diese Nationalitäten die annehmbarste Form einer Staatenverbindung die Konföderation, das heißt ein Staatenbund, sein würde.
Der Vorschlag Stalins erfolgte zu einem Zeitpunkt, wo die Sowjets noch große Hoffnungen auf die Weltrevolution und damit auf eine Ausdehnung des Sowjetsystems auf große Teile Europas und Asiens setzten. Nachdem sich diese Hoffnungen nicht erfüllten, konzentrierte sich Stalin auf den inneren Aufbau. Unter ihm ging die weltrevolutionäre Zielsetzung eine enge Verbindung mit dem russischen Nationalismus in totalitären Formen ein
Im Verlauf des Krieges gegen die Deutschen, der als „Großer Vaterländischer Krieg" gekennzeichnet wurde, erlaubte der Rückgriff auf das russisch-nationale Erbe, den Bestand des Imperiums zu wahren. Er führte aber zugleich zu einem solchen Übergewicht des russischen Nationalismus, daß damit die weltrevolutionären Bestrebungen der Sowjetmacht immer stärker den Charakter eines russischen Weltherrschaftsstrebens annahmen.
Die Ausdehnung der kommunistischen Herrschaft auf große Teile Europas und Asiens schien die Chancen für eine bedeutende Ausweitung des bestehenden Sowjetimperiums zu eröffnen. Interessanterweise zögerte Stalin, die von ihm selbst empfohlene Form der Konföderation auf die Verbindung der Sowjetunion mit den „Ländern der Volksdemokratie" anzuwenden. Er zog es vor, zunächst ein kommunistisches Staatensystem auf national-staatlicher Grundlage zu errichten, das im europäischen Bereich der unbeschränkten Befehlsgewalt Moskaus unterlag und damit in faktischer, wenn auch nicht in rechtlicher Hinsicht eine neue größere Gestalt des Sowjetimperiums darstellte.
Die ideologische Begründung für ein kommunistisches Staatensystem, wie es weder Marx noch Lenin vorgesehen hatten, bot Stalins Lehre von der „sozialistischen Nation", die er 1929 entwickelt hatte und die vor allem zur theoretischen Begründung eines „sozialistischen Patriotismus" diente
II. Die Herrschaftsstruktur des Ostblocks unter Stalin
Die kommunistische Machtergreifung in Ost-mitteleuropa wurde möglich, da in diesem Raum ein völliger Zusammenbruch des bisherigen Staatensystems erfolgt war, wie es sich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg herausgebildet hatte. Die kommunistische Machtergreifung in Ostasien ist dagegen in einem engen Zusammenhang mit dem allgemeinen Entkolonisierungsprozeß zu sehen. Im ostmitteleuropäischen Bereich verdanken die kommunistischen Regime in den meisten Fällen der sowjetischen Intervention ihre Entstehung. Von sowjetischer Seite wird offen zugegeben, daß die meisten „Länder der Volksdemokratie“ bei der kommunistischen Machtergreifung für ein sozialistisches System im marxistischen Sinn nicht reif gewesen sind. Wenn trotzdem unter überspringung der kapitalistischen Entwicklungsstufe der Griff nach der Macht erfolgte und ein beschleunigter Aufbau des „Sozialismus" in die Wege geleitet wurde, so war dieses die unmittelbare Folge des mit Hilfe der Roten Armee durch-geführten revolutionären Strukturwandels. Der sowjetische Parteiideologe Konstantinow bemerkt hierzu: „Dank der Sowjetarmee konnte sich das volks-demokratische Regime in diesen Ländern ohne nennenswerte Aufstände und Bürgerkriege konstituieren und festigen. ... Auf diese Weise löste die siegreiche Diktatur des Proletariats in jenen Ländern in der Form der volksdemokratischen Macht die Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Republik, schickte sich an, auch die Aufgaben der sozialistischen Revolution zu lösen und machte sich an den Aufbau des Sozialismus. Die Existenz der Sowjetunion und ihre Hilfe haben entscheidende Bedeutung in der Entwicklung der Volksdemokratien auf ihrem Wege zum Sozialismus."
In einem Brief Stalins und Molotows an Tito wurde die Rolle der Sowjetarmee bei der Befreiung Jugoslawiens und der Machtergreifung der jugoslawischen Kommunisten besonders hervorgehoben. Dann folgte der bemerkenswerte Satz: „Unglücklicherweise hat die Sowjetarmee den französischen und italienischen kommunistischen Parteien eine solche Hilfe nicht gegeben, nicht geben können."
Dieser Brief mußte die jugoslawischen Kommunisten besonders reizen, da sie sehr stolz darauf waren, den größten Teil ihres Landes selbst freigekämpft zu haben. Die Bedeutung des oben zitierten Satzes liegt in dem offenen Eingeständnis, daß dem sowjetischen Expansionsstreben theoretisch keine Grenzen gesetzt sind.
Nach der Machtergreifung erfolgte die Bildung des „Ostblocks" auf drei Wegen:
Erstens durch die Angleichung der inneren Struktur der „Länder der Volksdemokratie", unter Einschluß der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands, an das sowjetische Modell — ein Prozeß, den wir als „Sowjetisierung" zu bezeichnen pflegen
Im Rahmen der „volksdemokratischen Revolution" werden von sowjetischer Seite zwei Phasen unterschieden.
Die „revolutionär-demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern" der ersten Entwicklungsphase ist durch eine keineswegs homogene „Blockpolitik" bestimmt und beruht auf der Zusammenarbeit von sozial heterogenen Kräften, einschließlich der schwankenden mittelständischen Schichten und der unzuverlässigen „Nationalen Bourgeoisie".
In der zweiten Entwicklungsphase ändert sich diese Lage grundlegend. Nach Ausschaltung der bürgerlichen Elemente aus der politischen Führung wird die „Blockpolitik" durch eine „Bündnispolitik" ersetzt, die vor allem auf dem Klassenbündnis der Arbeiter und Bauern beruht.
Die „Volksfront" in ihrer jeweiligen Gestalt (Nationale Front, Vaterländische Front usw.) wird zu einem geschlossenen Block unter Führung der inzwischen geschaffenen proletarischen Einheitspartei umgeformt. Das entscheidende Kennzeichen des zweiten Stadiums und damit auch der „Diktatur des Proletariats" ist der Übergang zur totalitären Einparteiherrschaft — auch wenn das Mehrparteiensystem im Rahmen der „Volksfront" formal beibehalten wird —, die Verstärkung der Repressiv-gewalt des volksdemokratischen Staates und der Umsturz der sozialen Verhältnisse durch den Aufbau des „Sozialismus".
Stalin hat seinerzeit die Umwandlung der Komintern in eine totalitäre Weltpartei nach dem Vorbild des von ihm geschaffenen Herrschaftssystems in der Sowjetunion durchgeführt. Die gleiche Herrschaftstechnik wandte er auch im Ostblock an.
Die Partei bildete für Stalin eine der beiden Hauptsäulen seines Herrschaftssystems.
Im Verhältnis zu den regierenden kommunistischen Parteien in den einzelnen „Ländern der Volksdemokratie" strebte er anfangs ein ähnliches Verhältnis völliger Unterordnung an, wie es sich in der Komintern herausgebil-det hatte. Die alten Kominternfunktionäre, die an einen unbedingten Gehorsam gegenüber der Moskauer Zentrale gewöhnt waren, bildeten für Stalin die Garantie, daß seine Befehle tatsächlich befolgt wurden. Bei Männern wie Bierut in Polen oder Gottwald in der Tschechoslowakei, Rakosi in Ungarn, Dimitrow und Tscherwenkow in Bulgarien traf dieses zu, wenn Dimitrow teilweise auch eine sehr eigene Linie verfolgte. Bei Tito irrte sich aber Stalin. Es gelang ihm auch nicht, ihn durch eine Palastrevolution zu stürzen.
Das eindringlichste Beispiel dafür, wieweit diese Beherrschung der einzelnen kommunistischen Parteien im ostmitteleuropäischen Bereich durch Stalin ging, war aus einem Vorfall im Sommer 1947 zu ersehen, als Stalin eine von Gottwald geführte tschechoslowakische Delegation zwang, nicht nach Paris zu fahren, um an den Verhandlungen über die Marshall-Plan-Hilfe teilzunehmen. Wie es bei derartigen Gelegenheiten in Moskau zuging, haben Dedijer und Djilas plastisch geschildert
Das im September 1947 unter maßgeblicher Beteiligung Shdanows errichtete Kommunistische Informationsbüro
Die Partei war in diesem stalinistischen System, das auf dem Führerprinzip beruhte, nicht die alleinige Klammer, die den Ostblock zu einer monolithischen Einheit zusammenfügte. Die Staatspolizei bildete die zweite Haupt-säule dieses Systems. Zwischen der OGPU-NKWD und dem Kominternapparat bestand immer eine sehr rege Verflechtung. Diese wurde von vornherein auch in den Volksdemokratien angestrebt. Unter den sowjetischen „Beratern", die zur Kontrolle der wichtigsten Zweige des öffentlichen Lebens in die Volksdemokratien entsandt wurden, fiel den „Beratern" auf dem staatspolitischen Sektor eine Schlüsselstellung zu.
Welche entscheidende Rolle sie in Polen gespielt haben, wissen wir aus dem Bericht von Josef Swiatlo, des stellvertretenden Leiters der Abteilung 10 des polnischen Staatssicherheitsministeriums, die parteipolitische Abwehraufgaben zu erfüllen hatte. Swiatlo floh im Dezember 1953. Seine Enthüllungen hatten eine Reorganisation des gesamten polnischen Staatssicherheitsapparates zur Folge. Die 10. Abteilung war die Zentrale, in der das gesamte kompromittierende Material, über das ein Würdenträger des Regimes oder der Partei gegen einen anderen Würdenträger des Regimes oder einer Partei verfügte, aufbewahrt wurde. Die einzige Ausnahme bildete Bierut, dessen Akte in Moskau deponiert war. Es gab keine Partei-und Staatsgeheimnisse, in welche die Abteilungsleitung nicht eingeweiht war. Ihre Aufgabe war es, allen ausländischen — das heißt nichtsowjetischen — Einfluß in der Vereinigten Polnischen Arbeiter-Partei aufzuspüren und auszumerzen sowie Beweismaterial gegen Parteimitglieder zu beschaffen. In ihrem Auftrage verhaftete Swiatlo 1951 Gomulka und Spychalski. Der ganze Staatssicherheitsapparat (einschließlich der 10. Abteilung) stand unter der ausschließlichen Kontrolle des sowjetischen Hauptberaters beim Staatssicherheitsminister Radkiewicz, General Laiin.
Swiatlo schilderte folgendermaßem die damalige Situation Polens: „Polen wird ausschließlich von Moskau regiert. Eine direkte Befehlslinie führt vom Kreml bzw.dem Politbüro der KPdSU über die sowjetischen Berater im polnischen Sicherheitsministerium und den sowjetischen Botschafter in Warschau. Auf dieser Ebene wer-B den die Entscheidungen gefällt und die Anordnungen erlassen. Bierut und das Politbüro der PZPR, Rokossowskij und das Sicherheits-ministerium sind die Befehlsempfänger, die ausführenden Organe."
Swiatlo betont, daß die Generallinie auf Konferenzen in Moskau festgelegt wurde, bei denen gewöhnlich Stalin und später Malenkow den Vorsitz führte. Die polnische KP wurde durch Bierut vertreten, der meist von Berman und Mine begleitet wurde. Alle politischen Anordnungen ergingen gemäß dem Führerprinzip nur an Bierut, während die militärischen Anordnungen vom sowjetischen Generalstab unmittelbar Marschall Rokossowskij zugeleitet wurden.
Das Verhalten der sowjetischen „Berater" in Jugoslawien, wo der sowjetische Geheimdienst begann, jugoslawische Parteimitglieder, Staatsfunktionäre und Offiziere „für die große Friedensmacht der Sowjetunion" anzuwerben, hat wesentlich zum Konflikt Titos mit Moskau beigetragen.
Die Armee hat bei der Errichtung der meisten Volksdemokratien, wie wir bereits sahen, eine entscheidende Rolle gespielt. Als Herrschaftsinstrument hatte sie Stalin nicht unter die gleiche Bedeutung wie Partei und Staatspolizei. Einen besonders starken Einfluß übte der Kreml bis zum Oktoberumschwung 1956 auf die polnische Armee aus. Im November 1949 der Sowjetmarschall wurde Konstantin Rokossowskij zum Oberbefehlshaber der polnischen Armee, Verteidigungsminister und Mitglied des Politbüros der polnischen KP ernannt
Die Wirtschaft spielte als Herrschaftsmittel unter Stalin nur eine zweitrangige Rolle. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Volksdemokratien ergab sich hauptsächlich durch die offenen und getarnten Formen kolonialer Ausbeutung.
Zu den offenen Ausbeutungsformen gehörten neben den übertriebenen Reparationsleistun-gn der ehemaligen Feindstaaten (insgesamt etwa 16, 5 Mrd. US-Dollar, davon 15, 5 Mrd. aus der SBZ) vor allem die gemischten sowjetischen Aktiengesellschaften, die Mikojan ge
Für sowjetische Lieferungen hatten die Volksdemokratien Preise zu zahlen, die teilweise bei 70 v. H. über dem Weltpreis lagen. Durch Unterbewertung der meisten Satelliten-währungen gegenüber dem Rubel gelang es der Sowjetunion, sich innerhalb des streng bilateralen Zahlungsverkehrs mit den Volksdemokratien einseitige Vorteile zu verschaffen. Zusätzlich profitierte die Sowjetunion aus der unentgeltlich oder zu stark ermäßigten Gebühren erfolgenden Benutzung der Verkehrseinrichtungen und anderer Dienstleistungsbetriebe. Die Umschaltung des früher vorwiegend westlich Außenhandels der orientierten ostmitteleuropäischen Volksdemokratien auf die Sowjetunion und den Ostblock erfolgte durch den Abschluß mehrjähriger zweiseitiger und Handels-und Zahlungsabkommen durch die Vereinheitlichung des Außenhandelsverfahrens
Die Machtelite, die mit Hilfe der Sowjetarmee die Herrschaft in den Volksdemokratien erlangt hat, fühlte sich am Anfang unsicher und wies daher ein stärkeres Anlehnungsbedürfnis an die Sowjetmacht auf. Eine gewisse Solidarität der „Neuen Klasse" bildete sich vor allem dort heraus, wo es sich, wie im Falle der Tschechoslowakei, lediglich um die bürokratische Umformung bereits vorhandener mittelständisch-kleinbürgerlicher Schichten und im sozialen Aufstieg befindlicher proletarisch-bäuerlicher Bevölkerungsteile gehandelt hat. In der Tschechoslowakei und in Bulgarien wirkte sich außerdem eine gewisse russophile Tradition als integrierendes Element aus. In Polen, in Ungarn und bei den meisten Balkan-völkern war es das ungebrochene Nationalbewußtsein, das eine solche Solidaritätsbildung trotz gemeinsamer Interessen der herrschenden Gruppe verhinderte.
Zusammengehalten wurde das Ganze durch das ideologische Band, wobei dem „proletarisch-sozialistischen" Internationalismus eine besondere Bedeutung zufiel. Dieses Prinzip wurde unter Stalin ebenso wie in der Komintern im Sinne des „demokratischen Zentralismus“ ausgelegt. Es war Ausdruck der unbeschränkten Herrschaft, die vom Woshdj (Führer) im Rahmen des größeren Teils des Ostblocks ausgeübt wurde. Stalin war bestrebt, die bilateralen Beziehungen zu den einzelnen Satellitenstaaten möglichst eng zu gestalten, um dadurch das Übergewicht der Sowjetunion besser zur Geltung zu bringen. Die Errichtung eines deutschen Separatstaates in der Gestalt der „DDR" im Oktober 1949 bildete für ihn ein wichtiges Mittel, um ein Ausbrechen der Satelliten aus dem sowjetischen Machtbereich zu verhindern.
Auch die Gegenmaßnahmen des Westens, die durch das sowjetische Expansionsstreben ausgelöst wurden und zu einer bipolaren Mächte-gruppierung führen sollten
Nach innen sind von Stalin alle Föderationspläne, die auf die Zusammenfassung einer größeren Anzahl von Ländern im ostmitteleuropäischen Bereich gerichtet waren, scharf bekämpft worden
III. Die Führungsstruktur des Ostblocks unter den Nachfolgern Stalins
Für die Sowjetunion bedeutete die Schaffung eines monolithischen Ostblocks einen ungeheuren Machtzuwachs und eine Verstärkung ihrer äußeren Sicherheit. Auf der anderen Seite schloß die nationalstaatliche Struktur des Blocks die Möglichkeiten von Konflikten zwischen dem ideologisch übergeordneten Interesse der Sowjetunion und den nationalen Interessen der Satellitenstaaten nicht aus. Mit dem Wegfall der Autorität Stalins und der Auflockerung des totalitären Herrschaftssystems im Zeichen der „Entstalinisierung“ mußten diese Konflikte offen zutage treten und den Ostblock in seinen Grundlagen erschüttern. Auf den Oktoberumschwung in Polen und die Volkserhebung in Ungarn 1956 folgte 1958 die Auseinandersetzung mit China, die nach dem XXII. Parteikongreß der KPdSU im Oktober 1961 in Verbindung mit dem Fall Albanien den Charakter eines ersten Konfliks annahm. Im Sommer 1963 erfolgte mit den 25 Thesen Mao Tse-tungs eine weitere Zuspitzung. Gleichzeitig bahnte sich die Auseinandersetzung mit Rumänien an, die bis heute nicht beigelegt worden ist.
Chruschtschow bemühte sich, dieser Herausforderung durch den Ausbau des sowjetischen Paktsystems auf multilateraler und bilateraler Grundlage, durch veränderte Herrschafts-und Führungsmethoden und durch eine beschleunigte Integration zu begegnen. Im Mai 1955 erfolgte der Abschluß des Warschauer Paktes
Der Kreml ist in den letzten Jahren außerdem bestrebt gewesen, die Bündnisverträge, die das Kernstück des bilateralen Paktsystems bilden, nicht nur zu erneuern, sondern auch auf die „DDR" auszudehnen
Im sowjetischen Machtbereich, der auch die Mongolei umfaßt, ist an die Stelle der stalinistischen Herrschaftstechnik ein flexibler Führungsmechanismus getreten, der mit einer Aufwertung der nationalen Souveränität der Bündnispartner verbunden gewesen ist. Dieser Wandel hat sich bei den einzelnen Klammern, die unter Stalin die monolithische Einheit des Ostblocks verbürgten, deutlich ausgewirkt. Die Partei ist weiter das entscheidende Bindeglied geblieben. Das Verhältnis zwischen dem Kreml und den Führungshierarchien der Gefolgsstaaten hat den früheren persönlichen Charakter eingebüßt. Die alte Kominterngarde ist mit Ausnahme Ulbrichts entweder durch den Tod ausgefallen oder durch die „Entstali-nisierung“ ausgeschaltet worden. Die bilateralen Parteibeziehungen sind daher viel stärker formalisiert worden und haben teilweise in Parteivereinbarungen ihren Niederschlag gefunden, die als eine wesentliche Ergänzung der zweiseitigen Staatsverträge anzusehen sind
An die Aussöhnung mit Tito im Mai 1955 schloß sich die Auflösung des Kominform im April 1956 an. Der Plan Chruschtschows, eine neue Komintern zu errichten, ließ sich nicht verwirklichen. Die kommunistischen Gipfelkonferenzen von 1957 und 1960, die zu Recht als kommunistische Konzile bezeichnet worden sind, konnten die fehlende Gemeinschaftsorganisation nicht ersetzen. Vergebens war Chruschtschow auf ihnen bestrebt, die Geschlossenheit des Weltkommunismus wiederherzustellen
Das „Investiturrecht" läßt sich seit 1956 nur in den Parteien anwenden, bei denen, wie zum Beispiel im Falle der SED, ein besonders hoher Grad von Abhängigkeit vorliegt. Die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei hat sich dem Versuch des Kremls, die personelle Zusammensetzung der polnischen Parteiführung nach dem Tode Bieruts zu beeinflussen, erfolgreich widersetzt
Selten hat sich die sowjetische Einmischung in die Angelegenheiten einer „Bruderpartei" so offen abgespielt wie bei der Intervention des sowjetischen Politbüros während des Oktoberumschwungs in Polen. Die Übernahme der Macht durch Gomulka konnte der Kreml trotz dieser Machtdemonstration nicht verhindern. Ähnliche Versuche, die Zusammensetzung einer anderen Parteiführung zu ändern, sind Chruschtschow auch bei China und Albanien mißglückt
Die Staatspolizei ist in der Sowjetunion seit dem Sturz Berijas in ihren Befugnis-9 sen beschränkt und der Partei untergeordnet worden. Der Terror ist wesentlich vermindert worden. Die polizeistaatliche Struktur der permanenten Parteidiktatur ist an sich erhalten geblieben. Diese Entwicklung hat trotz ihres begrenzten Charakters zu einer wesentlichen Verminderung des Einflusses der sowjetischen Staatspolizei auf die Staatsicherheitsapparate der Volksdemokratien geführt. Nur in der „DDR" dürfte die Tätigkeit des sowjetischen Staatsicherheitsdienstes keinerlei Beschränkungen unterworfen sein. Infolge der Lockerung und des teilweisen Wegfalls der staatspolizeilichen Klammer steht dem Kreml nicht mehr das terroristische Mittel zur Verfügung, mit dem Stalin den unbedingten Gehorsam seiner Satelliten ohne Einsatz von Truppen zu erzwingen verstand.
Die Armee hat auf Grund dieser Entwicklung wesentlich an Bedeutung gewonnen. Durch die Warschauer Paktorganisation ist einerseits die militärische Bindung der ost-mitteleuropäischen Volksdemokratien von der Sowjetunion verstärkt, andererseits ihr militärisches Eigengewicht wesentlich vergrößert worden
Die Wirtschait hat als Bindemittel ebenfalls an Bedeutung gewonnen. Das SAG-System ist nach dem Tode Stalins mit Ausnahme der Urangewinnungsbetriebe, wie der Wismut-AG in der Sowjetzone, aufgelöst worden. Die getarnten Ausbeutungsformen, von denen früher die Rede war, sind dagegen nur eingeschränkt worden. Durch die „internationale Arbeitsteilung"
Trotz sinkender Zuwachsraten hat die Sowjetunion ihren Anteil an der Industrieproduktion des RgW in der Zeit von 1950 bis 1965 von 71, 00 v. H. auf 72, 84 v. H. erhöhen können”). Eine Zunahme läßt sich auch bei den weniger entwickelten Volksdemokratien feststellen. Der Anteil Polens vergrößerte sich von 6, 40 v. H. auf 7, 11 v. H., Rumäniens von 1, 91 v. H. auf 2, 42 v. H. und Bulgariens von 0, 86 v. H. auf 1, 46 v. H. Dagegen macht sich bei den industriell entwickelten Volksdemokratien eine umgekehrte Entwicklung bemerkbar. Der Anteil der Tschechoslowakei verringerte sich von 8, 90 v. H. auf 5, 89 v. H., der „DDR" von 8, 60 v. H. auf 8, 03 v. H. und Ungarns von 2,
Zum Ausgleich für ihre oben erwähnten Leistungen fordert die Sowjetunion neuerdings eine Erhöhung der Roh-und Brennstoffpreise und langfristige Kredite der RgW-Partner für den Ausbau der sowjetischen Grundstoffindustrien. Die sowjetische Forderung richtet sich dabei vor allem gegen jene Länder, deren Anteil an der Industrieproduktion des RgW sich trotz ihres höheren industriellen Entwicklungsstandes vermindert hat. Sie kann besonders bei der Tschechoslowakei leicht zum Ausgangspunkt eines neuen Konflikts im Ostblock werden.
Die herrschende Machtelite ist in den meisten Volksdemokratien im Verlauf der Entstalini-sierung bemüht gewesen, die Verbindung zu den übrigen sozialen Gruppen und insbesondere zur Intelligenz zu festigen und stärker dem nationalen Interesse Rechnung zu tragen.
Wenn man vom SED-Regime absieht, das allein den sowjetischen Bajonetten seine Existenz verdankt, dürfte die Bindung an die sowjetische Hegemonialmacht von der „Neuen Klasse" meist als eine Art Rückversicherung empfunden und als solche bejaht werden.
Die ideologische Bindung hat unter den Nachfolgern Stalins an Bedeutung gewonnen, ist aber zugleich in der Wirkung schwächer geworden. Seit der „Entstalinisierung" wird der „proletarisdi-sozialistisdie Internationalismus" von sowjetischer Seite mehr im Sinne von Führung als von Herrschaft ausgelegt. Die Bereitschaft, mal in einem größeren, mal in einem geringeren Umfange die Autonomie der Gefolgsstaaten anzuerkennen, ist in der schwankenden sowjetischen Einstellung zur Lehre von den „verschiedenen Wegen zum Sozialismus" zum Ausdruck gekommen. Sie bildete den ideologischen Rahmen, in dem sich die Auseinandersetzung zwischen dem Sowjet-und Reformkommunismus abspielte
IV. Die Integrationspläne Chruschtschows sowie Breshnjews und Kossygins
Die Tendenz zum Polyzentrismus im Ostblock, die durch den Konflikt zwischen Peking und Moskau wesentlichen Auftrieb erhalten hat, und die Erfolge der wirtschaftlichen Integration Westeuropas im Rahmen der EWG haben Chruschtschow veranlaßt, die Integration Ost-europas beschleunigt voranzutreiben. Das bereits von Stalin verfolgte Ziel, die Hegemonie Moskaus im ostmitteleuropäischen Bereich schrittweise in Richtung eines Imperiums, das heißt einer absoluten Herrschaft auszubauen, wurde von Chruschtschow mit veränderten Methoden wieder ausgenommen. Diese Zielsetzung ist in dem neuen Parteiprogramm der KPdSU von 1961 deutlich zum Ausdruck gekommen.
Von sowjetischer Seite hofft man offenbar, über gewisse konföderale Zwischenformen („sozialistische Weltwirtschaft") zu einer föderativen Ordnung („kommunistische Weltwirtschaft") zu gelangen, zu einem geschlossenen Wirtschaftsraum auf der Grundlage eines einheitlichen Prciduktionsplanes. Chruschtschow vertrat im Herbst 1962 in einem programmatischen Aufsatz die Ansicht, daß es an der Zeit sei, die einzelnen Nationalwirtschaften allmählich zu einem „einheitlichen Produktionsorganismus" zu verschmelzen. Chruschtschow schrieb: „Das sozialistische Weltsystem hat einen solchen Punkt erreicht, da es schon nicht mehr möglich ist, die Perspektiven seiner Entwicklung auf der Grundlage einfacher mechanischer Summierung der nationalen Wirtschaften richtig festzulegen. Vor uns steht die Aufgabe, mit allen Mitteln die nationale Wirtschaft eines jeden Landes zu festigen, die Verbindungen zwischen ihnen zu entwickeln und allmählich die Schaffung eines solchen einheitlichen Wirtschaftsorganismus im Rahmen des gesamten Systems zu fördern, wovon Wladimir Iljitsch Lenin in solch genialer Voraussicht gesprochen hat."
Chruschtschow und seinen Mitarbeitern war durchaus bewußt, daß sich eine solche Großraumwirtschaft, die der einheitlichen Planung von einem Zentrum aus unterliegen würde, sich nur in einem staatlichen Rahmen, das heißt nach dem Abschluß der politischen Integration verwirklichen ließe. Auf diese enge Verknüpfung zwischen der politischen und wirtschaftlichen Integration hat der Leiter der internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU, Miroschnitschenko, in einem Artikel im Organ des Wirtschaftsinstituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im April 1964 besonders hingewiesen
Das wichtigste Instrument, um diese beschleunigte Integration herbeizuführen, bildete für Chruschtschow der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe.
Die organisatorische und rechtliche Verfestigung des RgW hatte unter ihm zunächst schnelle Fortschritte gemacht
Ende 1962 machte sich bereits der erste Widerstand gegen Chruschtschows Pläne einer einheitlichen „kollektiven Planung" und seine Vorstellungen von einer „internationalen sozialistischen Arbeitsteilung", die auf eine Benachteiligung der weniger entwickelten Partner hinausliefen, bemerkbar. Es war vor allem Rumänien, das sich für einen Vorrang der nationalstaatlichen Entwicklung einsetzte. Weder war es bereit, den Bau des Eisenhüttenkombinats Galatz zurückzustellen, noch wie bisher hauptsächlich Rohstoffe an die stärker industrialisierten RgW-Länder zu liefern. Die rumänische Delegation lehnte auf der 6. Sitzung des Exekutivkomitees des RgW in Warschau im Mai 1963 eine gemeinsame Wirtschaftsplanung im Rahmen des Comecon strikt ab. Im ZK-Beschluß der inzwischen in kommunistische Partei umbenannten Rumänischen Arbeiterpartei vom April 1964, der als eine rumänische Unabhängigkeitserklärung bezeichnet werden kann, hieß es: „Der Gedanke eines allen RgW-Ländern gemeinsamen einheitlichen Planungsorgans bringt äußerst ernste wirtschaftliche und politische Verwicklungen mit sich. Die planmäßige Leitung der Volkswirtschaft ist eine der grundlegenden, wesentlichen und unveräußerlichen Attribute der Souveränität des sozialistischen Staates, da der Staatsplan das Hauptinstrument ist, durch das dieser seine politischen sozialwirtschaftlichen und Ziele verwirklicht .. ."
Eine heftige Reaktion löste von rumänischer Seite auch der Vorschlag des sowjetischen Geographen Walew vom Februar 1964 aus, an der unteren Donau aus einem Teilgebiet der Anrainer Sowjetunion, Rumänien und Bulgarien einen übernationalen Wirtschaftskom-plex zu bilden. Diese Anregung mußte von den Rumänen als eine Wiederbelebung der Teilföderationspläne Stalins aus dem Jahre 1948 und der damit verbundenen sowjetischen Annexionsabsichten aufgefaßt werden
In der Anklagerede Suslows
Das Bekenntnis der Nachfolger Chruschtschows zum neuen Parteiprogramm der KPdSU — von dem Zwanzigjahresplan abgesehen — zeigt, daß sie an der imperialen Zielsetzung festzuhalten gedenken. Bei ihrer Verwirklichung wollen sie nur vorsichtiger vorgehen. Im Unterschied zu Chruschtschow sehen sie dabei vorläufig den Warschauer Pakt als das wichtigste Instrument an, um die Integration des europäischen Teils des Ostblocks voranzutreiben. Der Warschauer Pakt diente in seinen Anfängen in erster Linie als ein organisatorisches Mittel, um die militäri-sche Präsenz der Sowjetunion in Ostmitteleuropa und die einheitliche Ausrichtung ihrer Gefolgsstaaten zu gewährleisten. Der Politische Beratende Ausschuß als das höchste Pakt-organ bildete dabei das Forum, um die aktuelle Zielsetzung der sowjetischen Außenpolitik darzulegen und außenpolitische Aktionen aufeinander abzustimmen. Der Umbruch im militärstrategischen Denken der Sowjetunion und die seit 1959/60 erfolgte Umstellung der Sowjetwehrmacht auf eine atomare Rüstung, deren Hauptteil die Raketenwaffen bilden, hatte eine Aufwertung des Warschauer Paktes in militärischer Hinsicht zur Folge
Je mehr sich Chruschtschow aus finanziellen Gründen zu einer wesentlichen Verminderung der konventionellen Streitkräfte der Sowjetunion gezwungen sah, um so wichtiger mußten die ostmitteleuropäischen Armeen für das sowjetische Oberkommando werden. Die Notwendigkeit, im Falle eines Atomkrieges ausreichende Streitkräfte an Ort und Stelle zu haben, und erst recht die Erfordernisse eines möglichen lokalen Krieges, dem die sowjetische Militärdoktrin größere Aufmerksamkeit zu schenken begann, ließen die militärische Bedeutung der sowjetischen Gefolgsstaaten für den Kreml weiter ansteigen.
Breshnjew und Kossygin haben sich gleich nach dem Führungswechsel aus den oben genannten Motiven die Forderung eines weiteren Ausbaues der ostmitteleuropäischen Streitkräfte zu eigen gemacht. In Verbindung damit strebten sie eine engere Integration der Vereinten Streitkräfte und ihre stärkere Unterordnung unter die sowjetische militärische Führung an. Außerdem sahen sie eine stärkere Beteiligung der Bündnispartner an den mit der Umrüstung verbundenen hohen Lasten als erforderlich an. Von dieser militärischen Problematik abgesehen schien die Warschauer Paktorganisation für Breshnjew und Kossygin ein geeigneteres Instrument als der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, um die Hegemonie der Sowjetunion zu festigen und ihre Gefolgsstaaten zu größerer Disziplin und Einheit zu veranlassen. Nach der siebenten Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses am 17. und 18. Januar 1965 in Warschau war es vor allem Breshnjew, der in mehreren Reden eine Vervollkommnung der Organisation des War-schauer Paktes und die Schaffung eines entsprechenden Mechanismus forderte
In einer programmatischen Rede am 7. Mai 1966 sprach sich der neue rumänische Parteichef Ceausescu für eine Auflösung der bestehenden Militärblöcke aus. Er sagte: „Eines der Hindernisse für die Zusammenarbeit zwischen den Völkern bilden die Militärblöcke, das Bestehen von Militärstützpunkten und die Stationierung der Streitkräfte einiger Staaten auf den Territorien anderer Staaten. Das Bestehen der Blöcke und die Entsendung von Truppen in andere Länder sind ein Anachronismus, der mit der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität der Völker, mit normalen zwischenstaatlichen Beziehungen, nicht vereinbart ist"
Ceausescu lehnte die Leitung des Weltkommunismus durch ein Zentrum auf Grund der Erfahrungen mit der Komintern ab und betonte das Recht jeder Partei, ihre politische Linie selbst zu bestimmen
Der Versuch Breshnjews, bei einem dreitägigen Besuch in Bukarest Ceausescu umzustimmen, hatte keinen Erfolg
Neuerdings ist der Kreml bestrebt, das Hauptaugenmerk seiner Integrationsbemühungen auf die nördliche Flanke seines ostmitteleuropäischen Machtbereichs zu richten.
V. Die besonderen Wesenszüge der sowjetischen Hegemonie im Ostblock
In der stalinistischen Periode ist von einigen Autoren darauf hingewiesen worden, daß der Ostblock eine ähnliche Herrschaftsstruktur aufweisen würde wie der Verband der Sowjetrepubliken vor der Errichtung der Sowjetunion
Tatsächlich liegt in beiden Fällen eine Fehlbeurteilung des Verhältnisses der Sowjetunion zum Ostblock vor. Unter dem Stalinismus wurde übersehen, daß das System der „Länder der Volksdemokratie", das in einem außerhalb des ehemaligen Russischen Reiches gelegenen geschichtlichen Raum errichtet worden war, nicht ohne weiteres mit jenem Satellitensystem gleichgesetzt werden konnte, das sich während des russischen Bürgerkrieges als Vorstufe zur späteren Sowjetunion entwickelt hatte
Was die Zusammenfassung des gesamten Ostblocks in einem staatlichen Rahmen anbetrifft, so ist sie vom Kreml niemals angestrebt worden, da die asiatischen Volksdemokratien, vor allem die Volksrepublik China, viel zu unterentwickelt waren. Wenn der Versuch unternommen worden wäre, einen Ausgleich zwischen dem wirtschaftlichen Niveau der europäischen und asiatischen Volksdemokratien herbeizuführen, so hätte dies eine gewaltige Schwächung des europäischen Potentials der Sowjetmacht zur Folge gehabt. Infolgedessen sind die Integrationsund Föderationspläne des Kreml immer nur auf die wirtschaftlich wesentlich stärker entwickelten ostmitteleuropäischen Länder gerichtet gewesen.
Stalins De-facto-Imperium ist mit dem ideologischen Bündnissystem, dem bis zum Ausscheiden Jugoslawiens alle Ostblockstaaten angehörten, nicht einfach gleichzusetzen. China und Nord-Vietnam, deren kommunistischen Regime aus einer eigenständigen revolutionären Entwicklung hervorgegangen sind, waren — von der besonderen Lage der Mandschurei, der Inneren Mongolei und Sinkiangs abgesehen — niemals Bestandteile des engeren sowjetischen Machtbereichs. Infolge seines faktischen Charakters stellte Stalins Imperium nur eine besonders konzentrierte Form der Hegemonie dar. Die Wandlungen, die nach Stalins Tod im Ostblock vor sich gegangen sind, haben die imperialen Züge der sowjetischen Hegemonie verblassen lassen. Die sowjetische Vormachtstellung ist aber erhalten geblieben, wenn sie sich auch auf einen kleineren Kreis von Staaten erstreckt, dem Albanien und neuerdings auch Nord-Korea nicht mehr angehören.
Der einheitliche Ostblock hat sich in zwei Hegemonialverbände geteilt, wobei die Abhängigkeitsskala, was das Verhältnis der einzelnen Gefolgsstaaten zu ihren Führungsmächten anbetrifft, ständigen Veränderungen unterworfen ist.
Die Hegemonie weist von alters her zwei Entwicklungstendenzen auf
Die Rebellion Rumäniens hat besonders deutlich die Grenzen aufgezeigt, die der sowjetischen Hegemonialmacht in Ostmitteleuropa heute gesetzt sind. Trotzdem wäre es falsch, aus der zunehmenden Stärke der zentrifugalen Kräfte, vor allem im südosteuropäischen Bereich, auf einen Zerfall des sowjetischen Hegemonialverbandes zu schließen. Rumänien, das sich der Gefahr seiner geopolitischen Lage durchaus bewußt ist, hat während der bisherigen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion niemals den Austritt aus der Warschauer Paktorganisation oder dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe erwogen. Es steht fest auf dem Boden der kommunistischen Einparteiherrschaft. Es achtet somit genau auf die Grenzen, deren Überschreitung, wie der ungarische Fall gezeigt hat, eine Intervention der sowjetischen Hegemonialmacht auslösen würde. Trotz seiner neutralen Haltung im Konflikt Peking und Moskau ist Rumänien auch weiterhin als Mitglied des sowjetischen Hegemonialverbandes anzusehen. Der Charakter eines ideologisch bestimmten hegemoni-schen Bündnissystems bleibt bei diesem Verhältnis so lange gewahrt, wie die Sowjetunion die Kraft und den Willen besitzt, ihre Gefolgsstaaten zur Beachtung der oben genannten Grenzen anzuhalten.
Die Hegemonie ist ihrer dynamischen Grundtendenz nach ein politischer Ordnungsbegriff, der sich aber zu einem Rechtsbegriff verdichten kann, wenn sich der Hegemon irgendwie gearteter rechtlicher Einrichtungen bedient, um seine Führung völkerrechtlich zu legalisieren
Beim sowjetischen Hegemonialverband handelt es sich somit um einen Zusammenschluß in organisatorischen Formen, der es trotz der zunehmenden polyzentrischen Tendenzen auf Grund des bisher erreichten Integrationsgrades gestattet, von einer lockeren Staatenverbindung und nicht nur von einem mehr oder minder engen ideologischen Bündnis zu sprechen.