1. Das andere Lateinamerika
Ferner, glücklicher Kontinent?
Der Glanz der großen Metropolen prägt weitgehend unser Bild von Lateinamerika. Die Plakate der internationalen Fluggesellschaften zeigen uns ein hochmodernes Caracas, Mexico City oder Säo Paulo. Die Illustrierten berichten von den Traumstränden von Mar del Plata, Acapulco und Copacabana. In Handelskreisen kennt man aus Prospekten die Straßenzüge mit den imposanten Kontorhäusern der Partner-firmen. Kunstverständige schwärmen von den kolossalen Kolonialbauten der Plaza de Armas von Lima, von dem epochemachenden modernen Baustil Brasilias und von den gigantischen präkolumbianischen Kultstätten Mexikos. Der Duft der großen weiten Welt umgibt die Lateinamerikaner, denen wir in Europa begegnen. Vom Leben der breiten Massen Südamerikas indes haben wir meist nur verworrene Vorstellungen. Wir hörten von der Cowboy-Romantik der argentinischen Gauchos, wie vermeinen auf Grund der Sentimentalität des Orfeo-Negro-Karnevalfilms, daß die Bewohner der Favela-Elendsviertel von Rio de Janeiro in nimmerermüdendem Frohsinn leben, wir vermuten, daß das Leben der Indios des Andenhochlandes vom großen Erbe der Inka-kulturen beeinflußt ist. Gewiß, wir kennen auch Bilder der Armut und der Not; die Wochenschauen und das Fernsehen haben neben Reportagen über glanzvolle Staatsempfänge auch hin und wieder Berichte über die Erdbebenkatastrophen in Chile und über Dürre-zeiten im Nordosten Brasiliens gebracht. Aber das Ausmaß der Armut in Lateinamerika, die weite Verbreitung von Hunger, Not und Hoff-nungslosigkeit ist weitgehend unbekannt geblieben. Bezeichnenderweise denken wir bei dem Begriff „Elendsgebiete" an Asien und Afrika, obwohl in Lateinamerika das Durchschnittseinkommen in mehreren Ländern weit unter dem in vielen afroasiatischen Staaten liegt.
Brasilien — man denkt an Samba-Rhythmen und vergißt über dem relativen Wohlstand der östlichen Industriegebiete um Säo Paulo und Rio de Janeiro die große Not des Hinter-landes, besonders die der Nordostgebiete.
Südamerika — man denkt an Tangoklänge und vergißt über dem relativen Wohlstand Argentiniens die Not in Paraguay, Bolivien und Nicaragua.
Gewiß, man kann in Lateinamerika herrlich leben, in glanzvoller Society, an märchenhaften Stränden, mit amerikanischem Komfort und in Gesellschaftskreisen mit nahezu europäischer Kultur. Nur, man muß zu den wenigen Privilegierten gehören, man muß gegen das Elend so sehr abgestumpft sein, daß man sich nicht mehr über seinen weißen Kragen und modischen Schlips schämt, wenn man um sich die Not und die Armut der elenden Massen sieht.
Das Los der Massen In den Millionenstädten herrscht Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung. Uber ein Drittel der städtischen Bevölkerung lebt in Elendsvierteln mit unzureichender Elektrizitätsversorgung, ohne Kanalisation und ohne fließendes Wasser. Lehmziegel, Strohgeflechte, zusammengesuchtes Holz, demontiertes Wellblech und Benzinkanister sind die Baustoffe der meist fußboden-und fensterlosen Behausungen in den Favelas von den von Rio, Ranchos Caracas, den Barriadas von Lima, den Callampas von Santiago, den Vencidades von Mexico City. Auf engstem Raum leben in diesen Elendsvierteln 30— 40 Millionen Menschen. Sie leben in Krankheit, Hunger und Hoffnungslosigkeit, zwischen Ungeziefer und Gestank.
Rund 55 “ /» der Bevölkerung Lateinamerikas leben auf dem Lande, das sind etwa 130 Millionen Menschen. Das Durchschnittseinkommen der Landbevölkerung liegt bei etwa 400 DM pro Jahr. Etwa 80 % der Landbevölkerung leben auf Minifundien-Anwesen, die zu klein sind, eine Familie menschenwürdig zu ernähren, oder besitzen kein Land und arbeiten im Tagelohn. Ausgaben für Nahrungsmittel in Höhe von 70— 80 °/o des Familieneinkommens ermöglichen ihnen lediglich eine Kalorieneinnahme, die auf weniger als 1800 Kalorien pro Tag geschätzt wird. Auf riesigen abgelegenen Latifundien lebt der überwiewiegende Teil der Landbevölkerung des Kontinents in unzulänglichen Behausungen fernab von Schulen und Hospitälern, ausgeschlossen von der monetären Wirtschaft, als Analphabeten meist ohne Wahlrecht. Die Peones in Peru, die Inquilinos in Chile, die Huasipungos in Ecuador, die Sertanejos in Brasilien, sie alle, die unter verschiedenen Namen in verschiedenen Systemen ausgenutzt werden, verharren trotz der Abschaffung der Sklaverei in einem solchen Status der Unterordnung, Abhängigkeit und Lethargie, daß sie weder wirtschaftlich noch politisch zum Subjekt werden konnten.
Die harte Wirklichkeit Lateinamerikas drückt sich in den Statistiken aus, die besagen, daß über die Hälfte seiner Bewohner in bitterer Armut lebt — aus europäischer Sicht heißt das: unter menschenunwürdigen Lebensbedingungen. Der anderen Hälfte der Bevölkerung mag Hunger, Not und Elend erspart sein — nach europäischen Kriterien müssen aber auch sie in ihrer Mehrheit als arm bezeichnet werden. Erschreckend klein also ist die Zahl derer, die zum gesicherten, beständigen Mittelstand gerechnet werden dürfen. Sieht man von den entwickelteren Ländern Argentinien und Uruguay und auch von Süd-Chile ab, so findet sich unter der Landbevölkerung fast überhaupt kein Mittelstand. Lediglich in den Städten gibt es mittelständische Handwerker, Kleinunternehmer, Industriearbeiter und Staatsangestellte. Die Gruppen machen aber bestenfalls 20% der Gesamtbevölkerung Lateinamerikas aus. Die vielen tausend Familien, die in den eleganten Villenvororten der Großstädte in Wohlstand oder — zu einem geringen Teil — in kaum ermeßbarem Luxus leben, bilden die kleine Schicht des gehobenen Mittelstandes und die noch kleinere der Society. Sie umfassen nur wenige Prozent der Bevölkerung.
Statistik der Armut Um die revolutionäre Situation in Südamerika zu verstehen, genügt es nicht, allein die großen Gegensätze zwischen Arm und Reich zu sehen. Man muß das ganze Ausmaß der Armut kennen:
In den zwei Jahren 1963 und 1964 fiel in Lateinamerika die landwirtschaftliche Produktion pro Kopf der Bevölkerung um weitere 5 % und erreichte damit den tiefsten Stand seit 1954. 14 Millionen Wohnungen soll der Bedarf Lateinamerikas an zusätzlichen Land-und Stadt-wohnungen betragen.
Die Lebenshaltungskosten in Uruguay erhöhten sich 1965 um etwa 85 %.
Die durchschnittliche Lebenserwartung im Nordosten Brasiliens beträgt 32 Jahre.
In Chile, einem Land mit 8, 5 Millionen Einwohnern, zahlten 1964 nur 275 000 Personen Einkommensteuer, davon lediglich 11 000 Personen auf mehr als 1500 Escudos (etw 1600 DM) Monatseinkommen, obwohl im gleichen Jahr 6000 neue Autos zum Durchschnittspreis von 22 000 DM gekauft wurden.
Im Nordosten Brasiliens benötigt ein Arbeiter zur Produktion einer Tonne Rohzucker 3, 6 Arbeitstage, in Hawaii nur 0, 3 Tage.
In Venezuela verdienen 50 % der Bevölkerung nur 11 °/o des Volkseinkommens, der Anteil der oberen 5 % beträgt 31 %.
Die Auslandsschulden Argentiniens belaufen sich auf etwa 14 Milliarden DM. Hiervon sind 1966 Verbindlichkeiten von 3, 4 Milliarden DM fällig gewesen. Der Gesamtwert des argentinischen Exports 1965 betrug aber nur 5, 9 Milliarden DM. 35 Millionen Stadtwohnungen in Lateinamerika haben kein fließendes Wasser, weit mehr keine Abwässeranlagen. 47 Millionen Sack Rohkaffee, mehr als der Kaffeejahresverbrauch der Welt, lagern in Brasiliens Häfen ohne Aussicht, je verkauft werden zu können. In Bolivien leben 85 °/0 der Bevölkerung auf dem Lande, 69 °/o der Bevölkerung sind Analphabeten, das Pro-Kopf-Einkommen (Bruttosozialprodukt per Capita) beträgt etwas über 500 DM.
Die Terms of Trade für Lateinamerika, das Verhältnis der Preisbewegungen von Industriegütern zu Rohstoffen, also die Import-kaufkraft des Exportdollars, verschlechterte sich vom Index 100 für 1958 auf 90 für das Jahr 1962.
In Peru kontrollieren 1, 1 °/o der Farmen 82, 4 °/o der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche, 88 °/o der Farmen unfassen 7, 4 °/o des Bodens. nur
Mit jährlich über 3 “ o ist das Bevölkerungswachstum in Lateinamerika das höchste aller Kontinente.
Den oberen 2 % der Bevölkerung Lateinamerikas gehört 75 0/0 allen Farmlandes und 50°/« allen Privatbesitzes.
Es gibt natürlich viele Statistiken, die Fortschritt, Entwicklung und Stabilität ausdrücken. Die hier angeführten Zahlen sollen darauf verweisen, daß man über Erfolgsstatistiken nicht den düsteren Hintergrund allgemeiner Misere vergessen darf. Nur so kann man das wahre Ausmaß von Erfolg aus dem Verhältnis von Stagnation und Fortschritt erkennen.
Die wirtschaftlichen Probleme, die sich aus diesen wenigen hier angeführten Zahlen oder sachverständigen Schätzungen ergeben, schaffen die revolutionäre Situation in Lateinamerika.
Wird Lateinamerika ein großes Kuba?
Uber sieben Jahre sind vergangen, seit Fidel Castro die Macht in Kuba übernahm, über fünf Jahre, seit er seinen Staat zur sozialistischen Volksdemokratie erklärte. Der bärtige Kubaner, der das von der westlichen Welt mit Wirtschaftshilfe, Waffen und diplomatischem Wohlwollen gestützte diktatorische Regime Batistas gewaltsam hinwegfegte, hatte die Massen des ganzen Kontinents aufgefordert, wie in Kuba die sozialen Fragen mittels der sozialistischen Revolution gewaltsam zu lösen. Ganz Lateinamerika sollte ein großes Kuba werden. Die Losung: „Kuba si, no.“ Yankee Immer noch wird in Havanna gedrucktes Propagandamaterial mit Moskaus und Pekings großzügiger Hilfe tonnenweise nach Lateinamerika eingeschleust. Tausende junger Revolutionäre werden in Kuba, in der UdSSR und in Rotchina als Kader ausgebildet. Radio Havanna, Radio Moskau und Radio Peking sind in Spanisch, aber auch in den Indiosprachen Quetchua, Aymara und Guarani auf der ganzen Hemisphäre zu empfangen. Seit Jahren beraten die Emissäre des Ostblocks die „Extreme Linke“: die kommunistischen Parteien, die es im Untergrund auch dort gibt, wo sie verboten sind; die Movimientos Izquerdistas Revolucionarios, die Fuerzas Armadas de la Liberaciön Nacional, die Frentes Revolucionarios Izquerdistas, die extrem linken Studenten-verbände, die nicht organisierten Zirkel der Linksintellektuellen und „Salonbolschewisten". Dennoch, Lateinamerika wurde nicht von einer roten Flutwelle aus der Karibischen See überrollt. Die Deiche hielten. Wie lange noch?
2. Die Strategie Moskaus
Vier Lehren aus der Kuba-Krise Die sowjetische Strategie für Lateinamerika hat sich innerhalb der letzten Jahre wesentlich geändert. Dieser Wandel erklärt sich aus der sowjetisch-chinesischen Auseinandersetzung und aus der in der Kuba-Krise 1962 bewiesenen entschlossenen Haltung der USA und der Mehrzahl ihrer südlichen Nachbarn, eine Ausweitung des Kommunismus in ihrer Hemisphäre mit allen Mitteln — auch mit militärischer Macht — zu verhindern.
In dem auf dem 22. Parteitag der KPdSU 1961 in Moskau beschlossenen Programm war es noch als eine „internationale Pflicht" der Sowjetunion hingestellt worden, „nationale Befreiungskriege" zu unterstützen. Unterstützen hieß dabei auch, daß solche Erhebungen gegen den Kolonialismus und den Wirtschaftsimperialismus zu provozieren seien. Heute hingegen scheint es, als ob Moskau an einer weiteren sozialistischen Machtergreifung in Lateinamerika, an einem von kommunistischer Agitation vorbereiterten „zweiten Kuba" nicht mehr interessiert sei.
Moskau hat aus dem Experiment mit Kuba lernen müssen, daß es ein sehr kostspieliges Unternehmen ist, Schutzmacht einer lateinamerikanischen Nation zu werden. Die geradezu erpresserischen Forderungen Kubas mußten von der Sowjetunion erfüllt werden. Wegen seines Anspruchs auf Unfehlbarkeit kann es sich der Kommunismus nicht erlauben, daß eine Gegenrevolution unzufriedener Massen ein sozialistisches Regime stürzt. Kuba allein, im Zeitpunkt der Revolution eine der höchstentwickelten Nationen Lateinamerikas mit einem Pro-Kopf-Einkommen, das weit über lateinamerikanischem Durchschnitt lag, hat die UdSSR Hunderte Millionen Dollar an Wirtschaftshilfe gekostet, ohne daß ein Ende der aktuellen Versorgungsschwierigkeiten abzusehen ist, die durch Mißerfolge der kollektivierten Landwirtschaft und durch Industriefehlplanungen bedingt sind. Die gesamte Wirtschaftshilfe der UdSSR für alle unterentwickelten Regionen der Welt beläuft sich aber für den Zeitraum von Januar 1954 bis März 1965 nur auf 4, 1 Milliarden Dollar. Es gibt 19 lateinamerikanische Nationen.
Die Regierung der USA hat sich 1961 in Punta del Este bereit erklärt, im Rahmen der Allianz für den Fortschritt in der Dekade der sechziger Jahre 10 Milliarden Dollar für die soziale Entwicklung Lateinamerikas bereitzustellen. Schwierigkeiten der Wirtschaft des eigenen Landes versagen der UdSSR ein ähnlich starkes Engagement. Moskau scheint überzeugt zu sein, daß trotz der amerikanischen Wirtschaftshilfe die USA in Lateinamerika keine neuen Sympathien gewinnen werden. Vielmehr würden die Früchte ihrer Investitionen zur Verbesserung der Infrastruktur sich bei den bestehenden Sozialordnungen erst Jahre später zeigen. Bis dahin werde der Kapitalismus die sozialen Spannungen weiter verschärfen und so erst die „objektiven Voraussetzungen" für eine Revolution schaffen. Zu einem späteren Zeitpunkt werde Lateinamerika, einschließlich der durch die Allianz für den Fortschritt finanzierten Projekte, mittels einer verstärkten kommunistischen Agitation leicht und gewaltlos in das sozialistische Lager zu überführen sein. Die Zeit, so meint Moskau, arbeite gegen den Westen. Die Kreml-Machthaber machen sich offensichtlich zur Zeit mehr Sorgen um andere weltpolitische Probleme. Es scheint ihnen nur recht zu sein, daß Lateinamerika als Faß ohne Boden einen so großen und ständig wachsenden Teil der amerikanischen Wirtschaftshilfe bindet und von anderen Gebieten fernhält.
Während der Kuba-Krise hatten die Strategischen Luftstreitkräfte (SAC) höchste Alarm-stufe. Selbst unter dem Risiko des großen Krieges scheute sich die US-Regierung nicht, Moskauer Ambitionen im lateinamerikanschen Raum zu vereiteln. Die nordamerikanische Unterstützung der — vergeblichen — Schweine-bucht-Invasion, die entschlossene Haltung Präsident Kennedys in der Kuba-Krise 1961 und das Eingreifen der US-Marineinfanterie in der Dominikanischen Republik 1965 zeigten, daß Washington in seiner Hemisphäre weiteren kommunistischen Bedrohungen entgegentreten wird. In Argentinien und in Brasilien haben die USA im Süden Verbündete, die notfalls auch mit militärischer Macht gegen eine Ausbreitung des Kommunismus einschreiten werden. Moskau weiß, daß es in Lateinamerika am kürzeren Hebel sitzt. Südamerikanische Abenteuer der Sowjets schaffen keineswegs diplomatische Situationen, in denen Moskau das Anziehen oder Lockern der „Schraube" diktiert, in dem Sinne, wie es in Berlin oder in Südostasien durch eine ganze Stufenleiter von Nötigungen und Repressalien das Ausmaß der weltpolitischen Spannungen bestimmen kann. In Lateinamerika betrachten die USA bereits den ersten Schritt zum gewaltsamen Sturz einer befreundeten Regierung mittels „nationaler Befreiungskriege" als Provokation. Die Reizschwelle der USA — der Punkt, an dem Washington seine Sicherheit und die der Hemisphäre so sehr bedroht sieht, daß es ohne Scheu vor dem Risiko eines atomaren Krieges zurückschlägt — hat sich verschoben. Sie war im Fall Kubas erst erreicht, als Mittelstreckenraketen installiert wurden, die die amerikanischen Territorien bedrohten. Die Erklärungen der Interamerikanischen Konferenzen in Buenos Aires 1962 und in Rio de Janeiro 1965 und das Eingreifen der USA in der Dominikanischen Republik 1965 zeigen eindeutig, daß die USA nunmehr zurückschlagen, wenn der internationale Kommunismus von außen her eine Revolution oder auch nur einen Revolutionsversuch inszeniert.
Eine weitere, sehr bittere Erkenntnis für die Machthaber im Kreml war, daß ihr lateinamerikanischer Vorposten sich keineswegs so fügen wollte, wie Moskau es aus seinem Satellitenreich gewohnt war. Enttäuscht mußte Moskau feststellen, daß die von Moskau lancierte Funktionärsgruppe nichtfidelistischer Altkommunisten, die Kubas Politik kontrollieren und den bisher pragmatisch von Fidel Castros Mitkämpfern und Bürgerkriegskommandeuren regierten Staat zu einer orthodoxen Volksdemokratie umformen sollte, im März 1962 von Fidel Castro ausgebootet wurde. Diese innenpolitische Machtprobe in Kuba — Moskaus Versuch, Fidel Castro seine auf Charisma und Caudillo-Führertum beruhende persönliche Macht zu entreißen und einem moskauhörigen Parteiapparat zu übertragen — war zugleich der Versuch, den Mythos des Fidelismo zu zerstören und den Kommunismus Moskauer Prägung zur treibenden Kraft der kubanischen Revolution zu machen. Der Fidelismo siegte und behauptete bald, eine Synthese der chinesischen und sowjetischen Auffassungen im kommunistischen Ideologien-streit zu vertreten. Der Kreml mußte erkennen, daß er Fidel Castros wirtschaftliche Abhängigkeit von Moskau nicht in eine politische Abhängigkeit ummünzen konnte. Auch Fidel Castro erkannte diese ihm günstige weltpolitische Lage und begann Moskau geradezu zu erpressen. Gleichzeitig wurden die Dankesbezeugungen für die ständig wachsende Wirtschaftshilfe der Sowjetunion eingestellt. Castro erklärte sich im chinesisch-sowjetischen Ideologienstreit für neutral. Fidel Castros öffentliche Denunziation Chinas im Frühjahr 1966, in der er China anklagte, es habe durch Einstellung seiner Wirtschaftshilfe an Kuba seinen sozialistischen Verbündeten im Stich gelassen, stellt wohl weniger ein Einschwenken Castros auf die Moskauer Linie dar, als vielmehr den Versuch, die Moskau gegenüber so erfolgreiche Erpressungstaktik nunmehr auch gegenüber Peking anzuwenden.
Bei einer diplomatischen Auseinandersetzung wegen einer Intervention der Kommunisten in der amerikanischen Hemisphäre würde Moskau im Vergleich zu Peking einen gemäßigteren Kurs steuern. Die Machthaber im Kreml würden dann von dem radikaleren Peking abermals als Versöhnungspolitiker bloßgestellt werden. China in seinem Kampf um die führende Rolle bei der Weltrevolution hatte bereits Rußlands Bereitschaft, die Mittel-und Langstreckenraketen aus Kuba zurüdezuziehen, als ein zweites München bezeichnet und Moskaus „weiche Linie" angeprangert. Es kann angenommen werden, daß der Sowjetunion ein diplomatischer Zwei-Fronten-Krieg höchst unerwünscht wäre. Moskau wird sicherlich die Wiederholung einer diplomatischen Niederlage, wie sie sich für die Sowjets in der Kubakrise ergab, zu verhindern suchen.
Aus vier Gründen also wird die Sowjetunion heute nicht daran interessiert sein, offen einen nationalen Befreiungskrieg in Lateinamerika zu provozieren und zu unterstützen: Erstens, Moskau befürchtet, daß die Forderungen der Lateinamerikaner nach Wirtschaftshilfe zu anspruchsvoll sein werden. Zweitens, Moskau mußte erkennen, daß eine solche Politik das Risiko des großen Krieges einschließt. Drittens, Moskau würde in einem lateinamerikanichen Konflikt die Führungsrolle im kommunistischen Lager an das radikalere Rotchina verlieren. Viertens, Moskau kann vermuten, daß ein neuer lateinamerikanischer Satellit sehr unzuverlässig wäre. Dies bedeutet aber keinesfalls, daß Moskau nunmehr entschlossen wäre, in Lateinamerika untätig zu bleiben.
Die Vorbereitung der Revolution Mit ihrer Propaganda und ihren Beeinflussungsversuchen verfolgt die Sowjetunion einen klaren politischen Kurs, der sich nach wie vor an den Beschlüssen des 22. Parteikongresses ausrichtet. wurde Hier festgelegt, daß auf der ganzen Welt die politischen Bewegungen des Antikolonialismus und Antiimperialismus vom internationalen Kommunismus derart unterstützt werden müßten, daß sie ideologisch und personell unterwandert werden könnten. Die Identifizierung des Kommunismus mit dem politischen und wirtschaftlichen Nationalismus in den Entwicklungsländern müsse zu einer Verschmelzung der Bewegungen führen, die die Sowjetunion zur Schutzmacht einer antiimperialistischen, antikolonialen, also antiwestlichen Front mache. Soziale Spannungen seien mittels der kommunistischen Thesen vom unabdingbaren Verfall des Kolonialismus und Imperialismus zu erklären und in antikapitalistische Protestbewegungen unter kommunistischer Führung umzumünzen. Sobald die „objektiven Voraussetzungen für die Revolution" vorhanden seien, sobald also die sozialen Spannungen einen bestimmten Grad erreicht hätten und eine mächtige kommunistische Organisation existiere, könnte, wenn nötig in Zusammenarbeit mit den fortschrittlichen bourgeoisen Kräften, legal die Macht übernommen werden.
Für Lateinamerika bedeutet dies, daß Moskau bestrebt ist, erstens den Antiamerikanismus zu schüren, zweitens die sozialen Gegensätze durch Agitation und durch den Boykott fortschrittlicher Maßnahmen zu vertiefen, drittens durch den Ausbau der Parteiorganisation und durch Prestigegewinn die eigene Stellung zu verbessern und viertens Volksfronten vorzubereiten. Nach diesem Plan also bemühen sich die Kommunisten, den Nationalismus der Lateinameri7 kaner so weit aufzuheizen, daß er in einen betonten Antiamerikanismus umschlägt, der — über die Zwischenstufe eines stark propagierten Neutralismus — zu Sympathie für den Kommunismus und Anlehnung an die Sowjetunion führt. Die abgedroschenen antiimperialistischen Parolen — Ausbeutung des reichen Südamerika durch die Dollarimperialisten, politische Bevormundung durch die ständig intervenierenden „Gringos", Bestechung korrupter Regierungen durch Wallstreet und rassistische Überheblichkeit der Yankees — werden in Lateinamerika ihre Wirkung haben, solange man für soziale Not und soziales Elend einen Schuldigen suchen muß.
Daneben gehört es zur Strategie der Kommunisten, ständig die sozialen Gegensätze aufzuzeigen und hervorzuheben. Die kommunistische Linke ist es, die stets am lautesten Verbesserungen fordert, am härtesten in Lohn-kämpfen und Streiks opponiert. Sie wird somit zum Auffangbecken all derer, die an ihrer Not verzweifeln.
Durch ständige Agitation versucht sie politische Stabilisierung zu verhindern, da wirtschaftliche Entwicklung im politischen Chaos stokken muß und da umgekehrt wirtschaftliche Stabilität eine Voraussetzung für politische Stabilität ist. Es gehört zu Moskaus Plan, die revolutionäre Situation zu erhalten. Somit bemühen sich die Kommunisten, soziale Reformen und den Fortschritt zu boykottieren und die Selbsthilfebereitschaft derer zu untergraben, denen geholfen werden soll. Alle Regierungsleistungen werden bagatellisiert. US-amerikanische Wirtschaftshilfe wird als ein besonders heuchlerischer Schachzug der Yankees dargestellt, der ihre ausbeuterischen Interessen vertuschen und Lateinamerika fester in ihren Griff bringen soll.
Die Ostblockstaaten versuchen, durch Handels-und Kulturabkommen neue Sympathien zu gewinnen. Die Kommunisten geben sich als ehrliche Handelspartner — nicht als „Ausbeuter", die gönnerhaft Wirtschaftshilfe in Form von Krediten zur Stabilisierung der Währung verteilen, damit Handelsschulden bezahlt werden können. Eine Ausweitung des Handels mit dem Ostblock mag es Moskau ermöglichen, später gewisse politische Forderungen — etwa nach größeren Freiheiten für die verbotenen kommunistischen Parteien in Lateinamerika — mit der Fortsetzung des Devisen einbringenden Warenaustausches zu verknüpfen. Heute ist dieser Warenaustausch für beide Seiten vorteilhaft, insbesondere für die ständig um die Vergrößerung ihrer Absatzmärkte bemühten lateinamerikanischen Rohstoffproduzenten. Der Kulturaustausch mit Lateinamerika gibt den Ostblockstaaten die Möglichkeit, sich als hochzivilisierte europäische Kulturnationen darzustellen. Bei den meist europäisch orientierten intellektuellen Zirkeln gewinnt so der diese Kulturleistungen ermöglichende Kommunismus hohes Ansehen, zumal die kommunistische Propaganda die USA stets als Land einer nur materialistischen Zivilisation ohne jegliche Kultur diffamiert.
Daneben versuchen die Kommunisten ihre Parteiorganisation oder ihre Untergrundbewegungen durch Vertrieb von ideologischen Schriften, durch Kaderschulung und durch Mitgliederwerbung auszubauen. Insbesondere sind die Kommunisten an der Pflege der Beziehungen mit „Fellow Travellers“ (Mitläufern) und nichtkommunistischen sozialistischen oder sozialreformerischen Bewegungen interessiert. Ihr bereits vielfach erreichtes Ziel ist die Unterwanderung von Gewerkschaften, Jugendbewegungen, Studentenverbänden, Berufsvereinigungen und Frauenorganisationen. Hierbei bedienen sie sich insbesondere der exponierten Linksintellektuellen und behäbigen Salonbolschewisten, die der revolutionären Partei Ansehen und Respekt verleihen. Um diese politische Seriosität nicht zu verlieren, scheinen die orthodoxen kommunistischen Parteien sich sogar von ihren radikaleren, chinesisch beeinflußten Jugendbewegungen zu distanzieren, obwohl sie natürlich insgeheim versuchen, diese jungen Hitzköpfe auf der Moskauer Linie zu halten.
Seriosität und hohes Ansehen sind eine Voraussetzung für die Etablierung von nationalen Fronten oder Volksfronten „aller fortschrittlichen und patriotischen Kräfte, die am Kampf für die demokratischen und sozialen Rechte der Arbeiter und Bauern beteiligt sind, und die den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft anstreben". Moskau ist überzeugt, daß die Zeit für den Kommunismus arbeitet. Bei konsequenter Verfolgung seiner Strategie werde der Kommunismus in jenen südamerikanischen Ländern, in denen bereits ein relativ hoher Lebensstandard und ein hohes Bildungsniveau herrschen — wie in Chile, Argentinien, Uruguay, Venezuela und Brasilien —, durch Stimmzettel und Volksfronten auf legalem Weg an die Macht kommen. Die Stärke des kommunistischen Flügels in drei — Chile, Venezuela, Brasilien — dieser fünf Länder läßt die Verwirklichung dieses Plans gar nicht so unwahrscheinlich erscheinen. Bei einem Erfolg dieser Taktik würde Moskau wohl auch das Risiko eingehen können, die restlichen Regierungen Lateinamerikas gewaltsam zu stürzen.
Der Testfall Brasilien Solange die USA in der Organisation der amerikanischen Staaten über eine Zweidrittelmehrheit zum Ausschluß Kubas aus dem interamerikanischen System verfügen, solange achtzehn von neunzehn lateinamerikanischen Regierungen Washingtons ständigem Druck, die diplomatischen Beziehungen zu Kuba abzubrechen, folgen oder folgen müssen, solange die außenwirtschaftliche Abhängigkeit Lateinamerikas von den USA im gegenwärtigen Maße weiterbesteht, solange die Sowjetunion ihr „Image" als friedliebende Brudernation nicht verbessern kann, solange die kommunistische Partei in Lateinamerika — Chile ausgenommen — nicht über stärkere Organisationen und größeren Einfluß verfügt, solange politischer und wirtschaftlicher Neutralismus nicht zu einer größeren Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Regierungen von Washington führt, solange wird die Sowjetunion an einer graduellen Aufweichung der Position der USA, an der Schaffung der „objektiven Voraussetzungen für die Revolution" mehr interessiert sein als an einem gewaltsamen Regierungssturz in so höchst unterentwickelten Ländern wie Ecuador und Panama. Solche Interventionen in der westlichen Hemisphäre würden nur zu einer Verhärtung der antisowjetischen Front des restlichen — weitaus wichtigeren — Teils Lateinamerikas führen.
Die Entwicklung in Brasilien 1961— 1964 zeigt deutlich, wie erschreckend weit die Sowjetunion ihre Ziele in dem politisch bedeutendsten Land Lateinamerikas bereits verwirklichen konnte. Unter den Präsidenten Janio Quadros und „Jango" Goulart verfolgte Brasilien eine extrem unabhängige Außenpolitik, die einem radikalen Nationalismus diente.
Diplomatische Beziehungen mit Moskau und den Satellitenländern wurden ausgenommen. Brasilien widersetzte sich dem Ausschluß Kubas aus der OAS, stimmte für die Aufnahme Rotchinas in die UN, lud Marschall Tito und den polnischen Außenminister zu Staatsbesuchen ein und sandte selber hohe Regierungsdelegationen — teils unter Führung des Außenministers — in die Ostblockländer. Auf der Genfer Abrüstungskonferenz, bei der Brasilien sich der Gruppe der blockfreien Staaten anschloß, wurde es durch einen prokommunistischen Parlamentarier vertreten, der von Stalin den Friedenspreis erhalten hatte. Die Verleihung des Ordens „Kreuz des Südens" an Che Guevara war ein Zeichen aktiver Unterstützung der kubanischen Politik. In Brasilien wurde amerikanisches Privateigentum ohne Kompensation nationalisiert. Die Investitionstätigkeit ausländischer Privatfirmen erlahmte. Washington wurde wegen der mangelnden Höhe seiner Allianz-für-den-Fortschritt-Beiträge diffamiert, ohne daß Brasilien seine Verpflichtung zu einer gesunden Währungspolitik — besonders zur Bekämpfung der galoppierenden Inflation — erfüllt hätte, die an die beträchtliche Wirtschaftshilfe der USA geknüpft war. Schließlich stellten die USA fast alle Wirtschaftshilfe an das eine unverantwortliche Finanzpolitik betreibende Goulart-Regime ein. Politisches und wirtschaftliches Chaos schien auszubrechen. Kommunistische Agitatoren begannen im Nordosten die offene Rebellion der Bauernligen vorzubereiten. Kommunistische Tarnorganisationen traten offen aus dem Untergrund hervor. Präsident Goulart verbündete sich schließlich — gegen die hohen Militärs — mit den linksextremistischen Offiziers-und Soldatenräten und trug, unter Umgehung der politischen Parteien, den politischen Kampf vom Kongreß auf die von prokommunistischen Gewerkschaften beherrschten Straßen.
Washington setzte Brasilien auf die Liste der großen Gefahrenherde. Schließlich beendete die vom Militär getragene „Revolution vom April 1964" das Chaos.
Moskaus Plan für Lateinamerika kann unter den gegebenen Umständen nur darauf gerichtet sein, zunächst einmal die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß in einigen der wichtigsten Länder Lateinamerikas ähnliches Chaos hervorgerufen werden kann. Von der über-schnellen Entwicklung in Brasilien war Moskau selbst überrascht. Es wird behauptet, es habe versucht, diese Entwicklung zu verzögern. Glücklicherweise hatte es Anfang 1964 nicht über ähnlich starke Positionen in anderen Schlüsselländern des Subkontinents verfügt, sonst hätten die Machthaber im Kreml vielleicht die „objektiven Voraussetzungen für die Revolution" als gegeben betrachtet. Diese auf dem ganzen Kontinent schrittweise und konsequent vorzubereiten, ist die augenblickliche Taktik Moskaus.
3. Die Strategie Pekings
Die extreme Linke Den chinesischen Lateinamerika-Plänen kam zugute, daß nach der Annäherung und Vereinigung der ideologischen Positionen Pekings und Havannas (seit 1963) die weitverbreiteten Pro-Castro-Gefühle und Fidelismo-Sympathien den Aufbau einer weit links von den orthodoxen kommunistischen Parteien stehenden Kampforganisationen erleichterten. Im bärtigen, khakiuniformierten Fidel Castro hatte die extreme Linke ein reales, attraktives Vorbild, sie brauchte nicht den Bart von Karl Marx zu beschwören. Sie vermochte zu begeistern, da sie sich vornehmlich an Emotionen wandte, während die orthodoxen kommunistischen Parteien mehr an den Intellekt appellierten.
Es gelang der extremen Linken, viele Anhänger der kommunistischen Organisationen abzuwerben. Die kommunistischen Parteien, somit ihrer radikalen Elemente entledigt, konnten diesen Abgang aber nicht durch Neuzugänge von rechts ausgleichen, da sie sich nie öffentlich von den radikalen chinesischen Gruppen distanzierten; somit brachten diese „Säuberungen" den kommunistischen Parteien kaum eine Zunahme an Respektabilität. Bis etwa Mitte 1964, als verschiedene Fehlschläge der chinesischen Lateinamerika-Strategie sichtbar wurden, verzeichnete die chinesische Linie in ganz Lateinamerika beträchtlichen Zulauf. Chruschtschows Prestige sank, weil sein Verhalten in der Kuba-Krise als ein Mißbrauch Kubas für nationale Ziele der sowjetischen Politik gesehen wurde. Die Stellung des orthodoxen Kommunismus wurde hiernach zunehmend schwächer, da von Moskau keine revolutionären Impulse mehr auszugehen schienen. Die lateinamerikanischen revolutionären Hitzköpfe begannen die Sowjetunion als ein dem Status q. uo verschriebenes Land zu betrachten.
Das im Vergleich zur Oktoberrevolution jüngere chinesische Beispiel hat gerade bei den Intellektuellen reges Interesse hervorgerufen. China wurde das Vorbild vor allem der jungen Generation. Das Unvermögen der stark kritisierten „Salonbolschewisten der alten Garde“, soziale Änderungen zu erzwingen, beantworteten die feurigen Hitzköpfe, die zu Hunderten, ja Tausenden an jeder der großen Universitäten des Kontinents zu finden sind, durch Verbreitung von Rezepten für Molotow-Cocktails und Aufrufen zu Guerillaterror.
Infolge der ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Peking spaltete sich in ganz Lateinamerika die politische Linke meist in zwei, vielfach in mehrere Gruppen. Es kann angenommen werden, daß die in Jahrzehnten aufgebaute, gutgeschulte orthodoxe KP in Lateinamerika noch immer die stärkere Position innehat, daß sie aber in einzelnen Ländern eindeutig die Führung der Linken an die chinesische Linie abtreten mußte. In den höher entwickelten Ländern Südamerikas (z. B. Chile, Uruguay) soll die orthodoxe KP ihre Vormachtstellung bewahrt haben. In Ländern, in denen die KP nicht nur verboten, sondern auch wirklich verfolgt wurde (z. B. Venezuela, Peru) und in denen sie noch keine eigenen starken Positionen aufbauen konnte, haben die chinesischen Gruppen stärkeren Einfluß gewonnen.
Heute jedoch scheint diese Tendenz rückläufig zu sein. Chinas Ansehen ist durch eine Vielzahl diplomatischer Niederlagen gesunken. Die immer offenere Aggressivität Pekings und der ambitiöse Führungsanspruch, der auch von den lateinamerikanischen revolutionären Bewegungen Unterordnung verlangt, kosten China viele Sympathien. Auch in Lateinamerika fürchtet man die „gelbe Gefahr". Der Gedanke einer Solidarität der „Dritten Welt“ — verstanden als anti-europäisches, antiwestliches Kulturressentiment — hat in den von Asien und Afrika so unterschiedlichen Ländern Lateinamerikas keine große Anziehungskraft.
Die Aggressivität Pekings Die langfristigen Ziele des chinesischen Kommunismus in den Entwicklungsländern wurden von einem maßgeblichen Führer Rotchinas Anfang Oktober 1965 dargelegt. Verteidigungsminister und stellvertretender Ministerpräsident Lin Piao forderte offen die „planmäßige Einkreisung Nordamerikas und Westeuropas durch die von China zur Weltrevolution geeinten farbigen Völker, die zum Zusammenprall zwischen den revolutionären Völkern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas einerseits und den durch die USA geführten imperialistischen Mächten andererseits führen müsse". Gewiß unterscheidet sich Chinas Ziel nicht von dem Endziel der orthodoxen kommunistischen Geschichtsinterpretation, obwohl neu ist, daß Peking sich die revolutionäre Umwandlung der gesamten Welt unter chinesischer Führung zum Ziel setzte. Aber der chinesische Weg führt nicht über die friedliche Koexistenz und die legale Machtübernahme. China vielmehr propagiert mit erschreckender Aggressivität auch unter der gegebenen weltpolitischen Konstellation den Krieg als Mittel der kommunistischen Weltrevolution. Außenminister Tschen Ji erklärte ebenfalls im Oktober 1965: „China ist zum äußersten Opfer bereit. Eine Kraftprobe zwischen dem amerikanischen Imperialismus und China wäre außerordentlich nützlich, denn sie würde ganz China einigen. Wir sind nicht nur bereit, die amerikanischen Streitkräfte zu vernichten, falls sie uns angreifen, sondern sie auch zu verfolgen bis zur totalen Beseitigung des amerikanischen Imperialismus in der ganzen Welt."
Da Peking also nicht jene Furcht vor einer kriegerischen Auseinandersetzung teilt, die Moskau in Lateinamerika einen behutsameren Kurs steuern läßt, fordert es in flammenden Appellen die sofortige Revolution und den Beginn des bewaffneten Kampfes in ganz Lateinamerika.
Peking scheint nicht zwischen den sozialen Gegebenheiten in den verschiedenen lateinamerikanischen Nationen zu unterscheiden, sondern betrachtet den ganzen Subkontinent als eine einheitliche Region, in der Hunger und Elend, eine feudalistische Agrarstruktur und eine korrupte Herrschaftsschicht die gleiche revolutionäre Situation geschaffen haben, die 1948 in China trotz Intervention des „nordamerikanischen Papiertigers" zum unabwendbaren Sieg der rotchinesischen Revolution führte. Mögliche Gefahrenherde, an denen sich die revolutionäre Fackel hätte entzünden können, waren während der Präsidentschaft „Jango" Goularts die Nordostgebiete Brasiliens und sind heute noch die Indioregionen der Hochanden. In beiden Gebieten ist deutlich den Einfluß chinesisch-fidelistischer Agitation bemerkbar.
Fehlschläge der chinesischen Außenpolitik Peking widmete bisher Asien und Afrika erheblich größere Aufmerksamkeit als Lateinamerika. Seine Aktivität konzentrierte sich vor allem auf die jungen afroasiatischen Staaten. In Asien erhielten Afghanistan, Burma, Nepal und Pakistan, in Afrika Algerien, Guinea, Ghana, Kenia, Kongo-Brazzaville, Mali, Somalia, Tansania, Tunesien, Uganda und die Zentralafrikanische Republik chinesische Wirtschaftshilfe, wohingegen in Lateinamerika nur Kuba bedacht wurde. Kuba ist auch der einzige Staat in Lateinamerika, mit dem China diplomatische Beziehungen unterhält. Rotchinas Außenpolitik ist jedoch in jüngster Zeit außerordentlich erfolglos. Fehlschläge und diplomatische Niederlagen kennzeichnen für Peking die Jahre 1965 und 1966. Nach dem mißglückten Aufstand in Indonesien, wo nunmehr die Armee systematisch die chinesisch-kommunistische Partei liquidiert, verlor Peking seinen wichtigsten asiatischen Bundesgenossen. Die von Rotchina so sehr propagierte zweite Afroasiatische Konferenz in Algier, die China eine führende Rolle bei den blockfreien Staaten sichern sollte, scheiterte unter anderem daran, daß die Mehrheit der Teilnehmer-staaten einem von China gewünschten Ausschluß der Sowjetunion von der Konferenz nicht zustimmen wollte. Im indisch-pakistanischen Konflikt erlitt Peking eine weitere diplomatische Niederlage, denn die Unterstützung Pakistans durch China wurde als imperialistische Einmischung gewertet, zumal Chinas Ultimatum an Indien sich als leere Drohung erwies. Außerdem mußte China dann miterleben, wie die Sowjetunion in Taschkent den Ruf eines erfolgreichen Vermittlers bei den blockfreien Staaten gewann. Im Vietnam-Krieg konnte China auch mit Drohungen eine Bombardierung Nord-Vietnams nicht verhindern. Schließlich gelangten 1965 in Algerien weniger chinafreundliche Kräfte an die Macht, und 1966 wurden nach erfolgreichen Militärputschen die chinesischen Diplomaten in Dahomey und in der Zentralafrikanischen Republik, der China im Vorjahr noch ein langfristiges Darlehen gegeben hatte, des Landes verwiesen. Der Sturz Nkrumahs in Ghana war ein weiterer empfindlicher Rückschlag für Pekings weltrevolutionäre Pläne.
Unter den afroasiatischen Staaten ist eine steigende Animosität gegen Chinas Führungsanspruch zu bemerken. Vorbei sind die Zeiten der so erfolgreichen ersten Afrikareise von Tschou En-lai um die Jahreswende 1963/64.
Unter diesen Umständen ist nicht damit zu rechnen, daß Peking seine revolutionären Bemühungen in Lateinamerika in naher Zukunft verstärken wird. Es wird vielmehr versuchen, in Asien und Afrika verlorenes Terrain wiederzugewinnen und die bestehenden starken Positionen in Kongo-Brazzaville, Guinea, Mali und Tansania und in Nord-Vietnam und Kambodscha auszubauen. Man kann vermuten, daß China sich zunächst nicht mit besonderem Nachdruck Lateinamerika zuwenden wird, auch nicht, um dort einen Ausgleich für afroasiatische Fehlschläge zu finden. Es kann in Lateinamerika keine politischen Krisen schaffen oder bedeutende neue Verantwortlichkeiten übernehmen, da es alle seine Energie darauf verwenden muß, zu verhindern, daß die Sowjetunion dort an Einfluß gewinnt, wo China vorübergehende Niederlagen erlitt; denn dort, wo die Sowjets nicht so in ihren Möglichkeiten beengt sind wie in Lateinamerika, werden sie gewiß mit den Chinesen um die Rückgewinnung des Einflusses auf die Linke konkurrieren. Die Einstellung der chinesischen Wirtschaftshilfe an Kuba im Januar 1966 kann als ein Zeichen dafür gewertet werden, daß China seine Kräfte neu sammelt.
In Afrika und Asien hat China heute noch mehr zu verlieren als es in Lateinamerika gewinnen könnte.
4. Die Niederlagen des Kommunismus
Seitdem die soziale Revolution in Kuba zu einer sozialistischen Machtergreifung geführt hatte, konnte der internationale Kommunismus in Lateinamerika nicht einen einzigen weiteren großen Erfolg verzeichnen. Es wiegt aber viel schwerer, daß in dieser Zeit der Kommunismus — Moskauer, Pekinger oder kubanischer Prägung — mehr Sympathien gewonnen hat, als er durch politische Fehlschläge und diplomatische Niederlagen verloren hat.
Im Dezember 1963 versuchten in Venezuela die Kommunisten mittels ihrer Kampforganisation „Fuerzas Armadas de la Liberaciön Nacional, FALN" (Nationale Befreiungsstreitmacht), die Präsidentschaftswahlen zu verhindern. Mit kubanischen Waffen ausgerüstete Guerillas und Sabotagetrupps versuchten, das Land in eine Angstpsychose zu versetzen, die unter der terrorisierten Bevölkerung den Wunsch nach Ruhe unter einem kommunistischen Regime schaffen sollte. Mit dem Aufruf, die Wahl wegen des Verbots der kommunistischen Parteien zu boykottieren, und mit der Drohung, am Wahltag jedermann, der seiner Wahlpflicht nachkäme, auf offener Straße zu erschießen, versuchte die FALN den Zusammenbruch der demokratischen Institutionen zu forcieren. Militärische Sicherheitsmaßnahmen der Regierung gewährten, daß knapp 90 °/o der Wahlpflichtigen ihre Stimme abgaben. Raul Leoni, sozialreformerischer Kandidat der Regierungspartei Accin Democrätica, militanter Antikommunist, gewann die Präsidentschaft. Darauf folgende Sabotageakte in der Erdölindustrie, die Schäden in Höhe von mehreren hundert Millionen Dollar anrichteten, und Guerilla-Terroraktionen gegen Regierungsfunktionäre vermochten nicht das revolutionäre Feuer in den Massen zu entzünden, das auch Radio Kuba durch ständige Aufrufe zur gewaltsamen Revolution zu entfachen suchte. Sie vermochten nicht, auch nur annähernd jene Unsicherheit im Lande zu schaffen, die das Militär zur Machtübernahme oder gar eine US-amerikanische Intervention zum Schutze des nordamerikanischen Eigentums provoziert hätte. Nach dem strategischen Plan der FALN hätten solche Reaktionen die Volks-massen zu einer erfolgreichen Rebellion unter kommunistischer Leitung veranlassen sollen. Bereits im Mai 1962 waren in Puerto Cabello und im Juli in Carapuno zwei Putschversuche kommunistisch orientierter Marineoffiziere gescheitert. In Venezuela, dem Land mit den schärfsten sozialen Gegensätzen des Kontinents, dem Land mit einem überaus emotionalen und aggressiven Volkscharakter, dem Land, in dem Castro selber die größten Chancen für eine fidelistische Machtübernahme sah, dem Land, dem für die Ausbreitung der Revolution eine strategische Stellung zugedacht war, hatte die kommunistische Linke letztlich nur Mißerfolge zu verzeichnen.
Im April 1964 wurde in Brasilien durch einen Staatsstreich antikommunistischer Armeegeneräle und konservativer Politiker der Präsident „Jango" Goulart gestürzt. Die „Regentschaft der Obersten" begann mit einer umfassenden Säuberungsaktion gegen Korruption und Kommunismus in allen Bundesstaaten. Brasiliens bisheriger politischer Kurs — zwei Schritte nach links, einen Schritt nach rechts — nahm nunmehr unter Marschall Humberto Castello Branco eine betont prowestliche Richtung. Die zum großen Teil aus dem Untergrund hervorgetretenen kommunistischen Organisationen wurden radikal zerschlagen, insbeondere die aufrührerischen Bauernligen im Nordosten. Ihre Führer sind entweder immer noch inhaftiert, ihrer politischen Rechte beraubt oder ins Exil geschickt worden. Linksintellektuelle und Fellow Travellers wurden zu Hunderten aus ihren Ämtern gewiesen. Der von den Kommunisten häufig so sehr begrüßte Militärputsch, der wegen seines konservativ-reaktionären Charakters die revolutionäre Situation noch verschärft, brachte in Brasilien den Kommunisten keinen Gewinn, da die Militärregierung mit sozialreformerischem Elan und mit massiver Unterstützung des Westens begann, unter dem Motto „Schluß mit dem alten Schlendrian" eine wirtschaftliche Gesundung, monetäre Stabilisierung und politische Modernisierung des Landes anzustreben. Durch die Revolution vom April 1964 verlor der internationale Kommunismus einen wichtigen Brückenkopf in Lateinamerika.
Im September 1964 errang in Chile der Christdemokrat Eduardo Frei einen überwältigenden Sieg bei der Präsidentschaftswahl gegen Senator Salvador Allende, den Kandidaten der im wesentlichen von orthodoxen Kommunisten und fidelistisch orientierten Sozialisten getragenen Volksfront „Frente Revolucionario de Acciön Populär". Während des außergewöhnlich aufwendig geführten Wahlkampfes hatten Meinungsforscher noch einen Sieg der Volksfront für möglich gehalten. Der Wahlsieg Freis versperrte den Kommunisten den legalen Weg an die Macht. Präsident Frei begann mit erheblicher westlicher Hilfe sein Regierungsprogramm der „Revolution in Freiheit" zu verwirklichen und soziale Programme wie Agrarreform, Steuerreform, Städtesanierung und Verbesserung des Schulwesens in Angriff zu nehmen, die im Falle des Erfolgs eine legale kommunistische Machtübernahme in Chile in weite Ferne rücken würden und der christdemokratischen Bewegung und darüber hinaus der Politik der gemäßigten Sozialreform in ganz Lateinamerika zu großer Anziehungskraft verhelfen würden.
Im November 1964 vereitelte in Bolivien ein Putsch des Fliegergenerals Rene Barrientos gegen den linksorientierten Präsidenten Victor Paz Estensorro die kommunistischen Hoffnungen, den Gewerkschaftsführer Juan Lechin auf den Präsidentensessel zu lancieren. Lechin hatte als Führer der — einen Staat im Staate bildenden — kommunistisch beherrschten Bergarbeitergewerkschaft alle Versuche boykottiert, durch Westliche Initiative die katastrophale Wirtschaftliche Lage der den bolivianischen Staat tragenden nationalen Zinnbergwerke zu Verbessern. Die unzufriedenen Bergarbeiter sollten durch passiven Widerstand und aktive Revolte den Kommunisten Lechin an die Macht bringen. Barrientos bedrohte die opponierenden Bergarbeiter mit Militär und schickte Lechin und einige Dutzend anderer kommunistischer Agitatoren ins Exil. Er bemühte sich nun mit Hilfe der USA, der Bundesrepublik Deutschland und der interamerikanischen Entwicklungsbank (Dreiecksoperation), das Chaos in den Minen zu beseitigen. Bolivien wäre als unmittelbarer Nachbar Brasiliens, Perus, Argentiniens, Chiles und Paraguays für die Kommunisten ein ideales Einfallstor zum wichtigsten und größten Teil des Subkontinents gewesen.
Im September 1965 wurde in der Dominikanischen Republik eine Regierung unter der Präsidentschaft des gemäßigten Liberalen Hector Godoy auf dem Wege der Vereinbarung eingesetzt, die wohl kaum den Erwartungen jener verschiedenen Dutzend Kommunisten entsprach, die die US-Regierung in einer Liste des amerikanischen Gemeindienstes CIA als führende Teilnehmer der Revolte des Obersten Caamano benannt hatte. Die Kommunisten — ob sie nun die Revolte begannen oder sich ihr erst später anschlossen — hatten ihr erklärtes Ziel nicht erreicht. Vielmehr mußten sie erleben, daß es den USA gelang, eine interamerikanische Friedensmacht gegen die kommunistische Bedrohung der Dominikanischen Republik zu mobilisieren und einen Präzedenzfall zu schaffen, dem bereits die — wenngleich auf der interamerikanischen Konferenz von Rio verworfene — Anregung zur Schaffung einer ständigen OAS-Polizeitruppe folgte.
In Kolumbien verloren die kommunistisch infiltrierten Guerillabanden große Gebietsteile ihrer ohnehin nur in Proklamationen bestehenden „Unabhängigen Sozialistischen Republiken". Eine Militäraktion hat diese abgelegenen Flecken der staatlichen Autorität weitgehend unterworfen. Die Banditen vermochten nicht zur politischen Gefahr zu werden. Desgleichen haben Bauernaufstände in den Anden keine Erschütterung der politischen Ordnung in Peru verursacht. Der vormals von dem nunmehr inhaftierten Bauernführer Hugo Blanco geleiteten gewaltsamen Landergreifung ist teilweise mit Agrarreformen begegnet worden, im Sommer 1965 aber auch durch gezielte Militäraktionen, als vorübergehend die Zunahme der Guerillatätigkeit die Verhängung des Ausnahmezustandes notwendig machte.
In beiden Ländern hat die Guerillatätigkeit nicht, wie von den Kommunisten erwartet, ein unkontrolliertes Anwachsen der militärischen Kräfte zur Folge gehabt. So kam es nicht zu jener Verschiebung des Gleichge13 wichtes zuungunsten der Zivilregierungen, wodurch ein Staatsstreich der reaktionären Streitkräfte möglich geworden wäre. Das Abtreten von unpopulären Militärjuntas und die Rückgabe der Macht an eine sozialreformerische oder eine gemäßigt konservative Zivil-regierung in Peru im Juli 1963 und in Argentinien im August 1963 sind weitere Minus-posten in der Gewinn-und Verlustrechnung der politischen Linken, wie auch ihr mangelndes Vermögen, in Argentinien die peronistische Bewegung erfolgreich zu unterwandern und zum offenen Bürgerkrieg aufzustacheln.
Zwar hat die Machtübernahme durch das argentinische Militär im Juni 1966 sicherlich die politischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche kommunistische Agitation verstärkt, indem sich nunmehr überzeugender argumentieren läßt, daß auf dem gemäßigt liberal-demokratischen Weg kein Fortschritt zu erreichen ist, andererseits aber wird zunächst das strenge, polizeistaatliche Vorgehen der neuen Militärregierung gegen die Linke ihre Infiltrationsversuche und ihren politischen Einfluß schwächen.
Die Deiche halten. Wie lange noch?
5. Die Notwendigkeit sozialen Wandels
Die langfristige Bedrohung Sowohl die russischen wie auch die chinesischen langfristigen Pläne für Lateinamerika sind eindeutig auf eine radikale Änderung der Gesellschaftsordnungen, der wirtschaftlichen Beziehungen und der politischen Allianzen gerichtet. Die Machthaber Moskaus und Pekings werden sich durch die vorübergehenden Fehlschläge von dem Endziel der Errichtung eines antiwestlichen Systems abhängiger Staaten in Lateinamerika nicht abbringen lassen. Ihre Ideologie verheißt ihnen, daß Hindernisse überwunden werden können und daß die revolutionäre Situation erhalten bleibt oder sich verschärfen wird.
Die westliche Welt kann sich also nicht mit der Feststellung beruhigen, daß bisher die Deiche hielten. Aus Moskauer Richtung waren die Deiche bisher nur durch ein ständig steigendes Hochwasser bedroht — und das sind sie noch immer. Aus Pekinger Richtung rollten nur vereinzelte Flutwellen an — die große Springflut steht noch aus.
Indes scheint es ein verhängnisvoller Irrtum zu sein, die Bedrohung Lateinamerikas allein in dem kommunistischen Streben nach der Weltrevolution zu sehen und die Gefährdung Lateinamerikas allein an dem Umfang kommunistischer Agitation, am Ausmaß kommunistischer Umtriebe und am Erfolg kommunistischer Diplomatie zu messen. Es darf aus den bisherigen und möglicherweise noch kommenden Fehlschlägen der Kommunisten nicht gefolgert werden, daß kein Grund zur Sorge um Lateinamerika bestehe, desgleichen nicht aus der Erkenntnis, daß die US-amerikanische Bereitschaft zur Militäraktion Moskau und die Erfolglosigkeit der chinesischen afroasiatischen Politik Peking von lateinamerikanischen Abenteuern bis auf weiteres abhalten wird.
Nicht der äußere Einfluß des Kommunismus ist die treibende Kraft der allgemeinen Unruhe in Lateinamerika, sondern Hunger, Not und Elend, Rückständigkeit und Unwissenheit, Ausbeutung und Korruption. Die überholten Sozial-und Wirtschaftsordnungen, die die revolutionäre Situation in Lateinamerika bedingen, sind — völlig unabhängig vom Kommunismus — durch den technischen Fortschritt und die neuen sozialpolitischen Ideen des 20. Jahrhunderts bedroht.
Revolution in Freiheit?
Auch in Lateinamerika verheißen die politischen Ideen des 20. Jahrhunderts nicht nur rechtliche, sondern auch soziale Freiheit und Gleichheit. Auch in Lateinamerika ermöglicht und erfordert die Technik des 20. Jahrhunderts die Massenproduktion — sie brachte Radios, Zeitungen, Fernsehen und Straßen, die den ganzen Kontinent der Werbung und Propaganda erschlossen. Im 20. Jahrhundert fordern auch die Massen Lateinamerikas das Ende der zum Teil noch mittelalterlichen Privilegien wirtschaftlicher und politischer Machthaber. Die feudalen, oligarchischen und frühkapitalistischen Hemmschuhe sozialer Entwicklung werden friedlich abgebaut oder gewaltsam hinweggefegt werden. Eine Neuordnung der Gesellschaft, die Änderung der Besitzverhältnisse, eine gerechtere Einkommensverteilung und eine politische Modernisierung sind in Lateinamerika unumgänglich. Es muß klar erkannt werden, daß einer so tiefgreifenden Strukturwandlung — auch wenn sie evolutionär erfolgt — nur das Wort „Revolution" gerecht wird. Die Sorge um Lateinamerika umfaßt nicht den Wunsch, dem Kontinent diese Revolution zu ersparen, sondern ergibt sich aus der Frage, ob die . „Revolution in Freiheit" — der Weg der sozialen Reformen — möglich sein wird, die den freiheitsliebenden Latein-amerikanern den Terror und die Zwangsherrschaft kommunistischer oder gar chinesischer Diktatur erspart und die die lateinamerikanischen Nationen dem Westen als Handelspartner und politische Alliierte erhält. Falls die konservativen Mächte in Lateinamerika die Revolution in Freiheit verhindern, falls sie Agrarreform und Steuerreform, ausreichende Investitionen zur Verbesserung der Infrastruktur und Wirtschaftsplanungen ablehnen, um ihre Privilegien zu retten, wäre eine kommunistische Machtergreifung in Lateinamerika unabwendbar. Adlai Stevenson faßte das Ergebnis seiner ausgedehnten Südamerikareisen 1961 in den Worten zusammen: „Wenn die Idee der Freiheit nicht den vielen Armen auf der Welt hilft, wird sie die wenigen Reichen nicht retten."
Bereits die Verzögerung der sozialen Reformen durch die herrschenden Schichten oder der Mißerfolg unzureichender Programme werden die revolutionäre Situation schaffen, auf die die Kommunisten, im Glauben, die Zeit arbeite für sie, hoffen.
Die Sorge um Lateinamerika, die Sorge um die Chancen einer Revolution in Freiheit, führt somit zu der Frage, ob eine soziale Reform das Los der Massen rechtzeitig in dem Maße verbessern wird, wie es ihren ständig steigenden Erwartungen entspricht.
6. Die Revolution der steigenden Erwartungen
Das Bewußtsein der Armut „Die Armen Lateinamerikas sind heute ärmer, weil sie mehr Wünsche haben als ihre Vorfahren", heißt es in Frank Tannenbaums Pionier-werk „Ten Keys to Latinamerica". Das 20. Jahrhundert brachte den unterentwickelten Ländern der Erde die Revolution der Verbraucher. Die Kaufleute und Handelsfirmen der Industrieländer setzen sich aus Profitstreben über die althergebrachten Standesunterschiede hinweg. Sie boten Zahnpasta, Tomatenketchup und Lockenwickler auch den Allerärmsten an. Transistorradios, Kühlschränke und Fahrräder versuchten sie keineswegs nur an den Mittelstand zu verkaufen. Den Verkauf von Fernsehern, Klimaanlagen und Automobilen beschränkten sie nicht nur auf die Oberschichten. Indem sie Kredite und Ratenzahlungen einräumten, wandten sie sich stets auch an die weniger begüterten Käuferschichten.
Massenproduktion preiswerter, vereinheitlichter Kleidung begünstigte die soziale Mobilität. Dadurch wurde die Revolution der Verbraucher lawinenartig beschleunigt. Eine in Stände erstarrte Gesellschaft verschrieb sich dem Massenkonsum und hatte dessen nivellierende Wirkung zu akzeptieren. Die durch den gesteigerten Bedarf heraufbeschworene Inflation tat ein übriges, die alte Ordnung zu unterhöhlen. Die Revolution der Verbraucher änderte Geschmack, Gewohnheiten und Zielsetzungen aller sozialen Schichten.
Diese Revolution der Verbraucher bewirkte nicht allein, daß sie die Armen durch die Vermehrung ihrer Wünsche ärmer machte, sie brachte darüber hinaus den Armen ihre Armut voll zum Bewußtsein, sofern ihre neuen Wünsche unerfüllbar blieben. Dieses Bewußtwerden der Unerfüllbarkeit gehegter Erwartungen bezeichnete Adlai Stevenson mit dem Begriff „revolution of rising expectations", „Revolution der steigenden Erwartungen". Stevenson brachte somit ein wichtiges Zeitmoment in die Diskussion um die Zukunft des Kontinents. Die Erwartungen der Lateinamerikaner steigen ständig — dies hat den Kontinent in Unruhe versetzt.
Werbung, die durch die modernen Massenmedien und die Erschließung abgelegener Gebiete Zugang zu jedem potentiellen Verbraucher gefunden hat, weckt immer neue Wünsche in allen Schichten der Bevölkerung. Das Unvermögen, diese ständig steigenden Erwartungen zu erfüllen, schafft Unzufriedenheit, läßt die Ungerechtigkeit bestehender Sozialordnungen offenbar werden und kann durch Agitation zur Radikalisierung und zu politischer Aktion führen.
Die wahren Gefahren für die Zukunft Lateinamerikas sind nicht in erster Linie die Weltrevolutionspläne Moskaus oder Pekings. Die revolutionäre Situation in Lateinamerika wird nicht allein durch die Not, die über Jahrhunderte bestand, geschaffen, sondern durch den Umstand, daß — auf Grund der inneren Entwicklung durch die Revolution der Verbraucher oder auf Grund äußerer Einflüsse durch Agitation — die Erwartungen der Massen in einem solchen Ausmaß steigen, daß das Wirtschaftswachstum die Wünsche der Massen nicht mehr befriedigen kann.
Erwartungen im Wettlauf mit der Zeit Der Indiobauer des Andenhochlandes verlangt nicht nach einem Swimmingpool, aber er wünscht sich ein Transistorradio, das er in einem neuen Geschäft der Kleinstadt sah. Der mittelständische Gemüsehändler in Buenos Aires ersehnt keine Traumvilla, sein Wunsch ist es, seine Kinder auf gute Schulen zu schikken, so wie es sein wohlhabender Nachbar kann. Der ungelernte Industriearbeiter in den bolivianischen Zinnminen träumt nicht von einem Cadillac, sondern von einem Fahrrad, das er in einer Illustrierten, die er nicht lesen kann, abgebildet sah. Der kleine Kaffeepflanzer in Kolumbien will nicht nach Europa reisen, wohl aber hätte er gern die Zeit und das Geld, sein Heimatdorf zu besuchen, nachdem es dorthin die bequeme neue Straße gibt. Das Büro-mädchen aus Caracas erwartet kaum von ihrem Leben, daß es ihr einen Nerzmantel beschert, wohl aber würde sie sich gern eine Schreibmaschine kaufen, um sich damit einen Nebenverdienst zu erarbeiten.
Nicht für Swimmingpool, Traumvilla, Cadillac, Europareise oder Nerzmantel gehen die Lateinamerikaner auf die Barrikaden, trotz kommunistischer Agitation erheben sie sich nicht einmal dagegen, daß andere darüber verfügen, solange sie die Chance sehen, daß ihre kleineren Wünsche in der Zukunft in Erfüllung gehen können. Wenn aber Transistorradio, Fahrrad und Schreibmaschine unerreichbar bleiben, mag die Verzweiflung über das Unvermögen, trotz angemessener Anstrengungen das eigene Los zu verbessern, sie den radikalen Agitatoren in die Arme treiben.
In der Bundesrepublik Deutschland haben die hohen Einkommen vieler Industriekapitäne und Börsenmakler keine Hinwendung des Wohlstandsbürgers zum radikalen Sozialismus gebracht, da wirtschaftlicher Fortschritt die Erwartungen der Nachkriegsdeutschen, die sich in „Freßwelle", „Wohnwelle", „Reisewelle“ und „Hobbywelle" äußerten, erfüllen konnte. Die Wirtschaftsentwicklung vermochte die steigenden Erwartungen zu befriedigen.
In Lateinamerika ist die gleiche Herausforderung gestellt. Es gilt, den steigenden Erwartungen der Massen nach Verbrauchsgütern, nach Erziehung und Bildung, nach sozialer Mobilität und nach Freiheit und Gerechtigkeit durch Wirtschaftswachstum, soziale Reformen und politische Modernisierung eine Chance auf Erfüllung zu gewährleisten. Die Zeit wird diese Erwartungen ständig steigen lassen. Die Zeit gibt aber auch die Chance, ihnen durch Fortschritte gerecht zu werden. Es wird ein dramatischer Wettlauf werden.
II. Die Planung der Entwicklungspolitik
1. Die Grenzen staatlicher Initiative
In allen Entwicklungsländern der Welt zeigt sich die Tendenz, dem Staat die führende Rolle im Wirtschaftsentwicklungsprozeß zu übertragen. Es wird geradezu vom Staat erwartet, daß vor allem er das große Wunder einer schnellen Wandlung zur modernen Industrienation vollbringt. Auch in Lateinamerika beseelt ein technokratischer Geist die Planungsbürokratie. Längst nicht mehr beschränkt sich die staatliche Initiative auf Rahmenplanung, längst nicht mehr beschränken sich die Planungsstäbe auf die Ausarbeitung solcher Entwicklungsprojekte, deren Durchführung für die Privatinitiative zu umfangreich oder zu riskant ist. In Lateinamerika betrugen die öffentlichen Investitionen im Jahre 1960 31, 1 °/o der Gesamtinvestitionen, im Jahre 1964 bereits 32, 9 °/o. In drei der größeren Länder Lateinamerikas entfallen auf öffentliche Investitionen bereits mehr als 50 % der Gesamtinvestitionen. Einerseits ist es zu begrüßen, daß die staatliche Aktivität eine so anspornende Rolle in der Wirtschaftsentwicklung spielt. Der hohe Anteil der Investitionen der öffentlichen Hand in vielen lateinamerikanischen Ländern beruht weitgehend auf der Passivität und der Lethargie privater Kapitalkreise Es bleibt aber zu fragen, ob der Umfang der staatlichen Aktivität nicht auch die Investitionsbereitschaft der Unternehmer einschränkt, da sie staatliche Konkurrenz für ihre Privatinvestitionen befürchten müssen. Eine staatliche Unternehmung braucht nicht in dem Maße wirtschaftlich zu kalkulieren wie ein Privatbetrieb. Kränkelnden Staats-betrieben werden oft Zugeständnisse gemacht — Steuererleichterungen, einfachere Kredit-beschaffung, bevorzugte Materiallieferung anderer Staatsbetriebe —, die die Wettbewerbslage verzerren und gar Privatunternehmer ruinieren können. Je passiver private Investitoren sind, um so aktiver wird der Staat sein müssen. Je mehr aber der Staat sich in das privatwirtschaftliche Wirtschaftsgefüge einschaltet, desto mehr werden gerade in Entwicklungsländern private Kapitalgeber aus Furcht vor staatlicher Konkurrenz zurückschrecken, jene Wirtschaftszweige aufzubauen, die bisher vernachlässigt wurden und die somit als Feld staatlicher Entwicklungsinvestitionen prädistiniert sind.
Es gibt in Lateinamerika Dutzende, ja Hunderte von Beispielen, wie unwirtschaftlich Staatsbetriebe arbeiten. Die markantesten Fälle finden sich in Argentinien — hier vor allem die nationalisierten argentinischen Staatseisenbahnen. In Venezuela kennt man das Wort vom „weißen Elefanten". So bezeichnet man dort die vielen Staatsunternehmungen, die unter marktwirtschaftlichen Verhältnissen bankrott wären. Sie beanspruchen nicht nur Investitionskapital, das an anderer Stelle wichtigere Funktionen erfüllen könnte, sondern benötigen auch laufend für ihre Defizite beträchtliche Summen, die entwicklungsfördernden Investitionen zufließen könnten. Korruption und schlechtes Management der oft nach politischen Motiven besetzten Direktionen machen in Lateinamerika die überwiegende Mehrzahl der staatlichen Unternehmen unrentabel. Falls nicht Steuergelder oder neue „Entwicklungskredite" die Defizite decken, zahlt die Wirtschaft und somit schließlich der Verbraucher durch höhere Preise die Rechnung.
Aus falschverstandenem Nationalismus und aus Prestigesucht neigen die lateinamerikanischen Regierungen zu Investitionen in Wirtschaftszweigen, in denen sie — meist wegen zu kleiner Absatzmärkte oder ungenügender Rohstoffversorgung — internationalem Wettbewerb nicht gewachsen sind (z. B. staatliche Stahlwerke, Handelsflotten). Sie kompensieren solche Fehlplanungen durch restriktive Handelspraktiken.
Die Kritik an Investitionen der öffentlichen Hand richtet sich einerseits gegen das Unvermögen des Staates, staatliche Betriebe wirtschaftlich zu führen, und andererseits gegen staatliche Betätigung in Wirtschaftszweigen, in denen auch private Investitionen oder ausländische Investitionen die Bedürfnisse des Marktes gedeckt hätten. In Konsequenz solcher Politik gaukeln sich die Staatsplaner vielfach auf Grund des Umfangs ihrer Unternehmen und der Schwierigkeiten ihrer Führung vor, sie erfüllten ihre entwicklungspolitischen Aufgaben, obwohl sie in viel zu geringem Ausmaß auf den Gebieten der Infrastruktur-Investitionen, der Sozialinvestitionen und des „Human Investment" tätig sind. Staatliche Maßnahmen zur Förderung der Wirtschaftsentwicklung müssen in Ländern verschiedener Entwicklungsstufen unterschiedlich sein. Sie sollten sich jedoch — bei unterschiedlicher Akzentsetzung — auf folgende Aufgaben beschränken: Programme für Agrarreform und Bevölkerungspolitik, entwicklungsorientierte Steuer-, Währungs-und Handelspolitik, Ausarbeitung und Koordinierung nationaler Entwicklungsrahmenpläne, Bereitstellung und Vermittlung von Entwicklungskrediten an die private Wirtschaft durch staatliche Entwicklungsbanken, die an marktkonforme Rahmenpläne gebunden sind. Auf diesen Gebieten ist staatliche Aktivität dringend erforderlich und sollte, statt von liberalen „Elfenbeinturm-Theoretikern" bemängelt zu werden, durch technische Hilfe aktiv unterstützt werden. Andererseits zeigen die recht betrübsamen Ergebnisse staatlicher Entwicklungspolitik in Lateinamerika, daß staatliche Direktinvestitionen vornehmlich — wenn nicht gar ausschließlich — den Gebieten der Infrastruktur-Investitionen, der Sozialinvestitionen und des „Human Investment" vorbehalten bleiben sollten.
2. Die Bereiche staatlicher Entwicklungspolitik
Infrastruktur-Investitionen Durch Infrastruktur-Investitionen sollte eine entwicklungskonforme Investitionspolitik der öffentlichen Hand sich bemühen, die Voraussetzungen für den Aufbau privater Betriebe zu schaffen. Ein solches Programm umfaßt vor allem Straßenbau, Bau von Häfen, Errichtung von Staudämmen zur Elektrizitätsversorgung und Bewässerung, Bestimmung von Bodenschätzen, Erschließung von Industriegeländen etc.
Die Bereitstellung billiger Energie durch den Bau von Stauwerken kann vielen Unternehmern Chancen für rentable Investitionen eröffnen. Die Erschließung abgelegener Industriegebiete mit Bahn-und Straßenverbindungen, mit Energie-und Wasserversorgung kann ungenutzte, preiswerte Arbeitskräfte dem Wirtschaftsprozeß zuführen und durch diesen Kostenvorteil neue Betriebe anlocken. Der Bau von Brücken und Straßen kann neue Absatzmärkte eröffnen. Die Infrastruktur-Investitionspolitik sollte sich bemühen, die Wirtschaftsballung in den Hauptstädten zu verhindern. Die Kosten solcher Infrastruktur-Investitionen sind im allgemeinen sehr hoch. Sie schaffen meist keine unmittelbaren Einnahmen, Sonden rechtfertigen sich nur durch ein erhöhtes Steueraufkommen der wachsenden Wirtschaft, vorausgesetzt, daß angemessene Steuersysteme in etwa die ausgegebenen Beträge wieder einbringen.
Human Investment Neben der Förderung der Infrastruktur sollte sich die öffentliche Hand noch mehr um jene Entwicklungsaufgaben kümmern, denen langfristig gesehen vielleicht eine größere Bedeutung zukommt und die man mit dem Ausdruck „Human Investment“ belegt. Die Regierungen schrecken hier vor größeren Programmen zurück, weil sie der Wirtschaftsentwicklung nicht unmittelbar starke Impulse verleihen. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, Investitionen für Schulen, Universitäten und Krankenhäuser wären unproduktiv. In den USA hat man errechnet, daß die Gelder, die pro Schüler in einer staatlichen Fachschule für seine Berufsausbildung aufgebracht werden müssen, durch den Unterschied des Lohnsteueraufkommens eines gelernten Arbeiters im Vergleich zu dem eines Hilfsarbeiters in wenigen Jahren wieder dem Staate zufließen.
Schulen, die das allgemeine Bildungsniveau heben, Berufsschulen, die Facharbeiter ausbilden, Krankenhäuser und sanitäre Anlagen, die die Gesundheit des Volkes erhalten oder erst schaffen und die die älteren erfahrenen Arbeitskräfte länger dem Wirtschaftsprozeß erhalten und in geringerem Ausmaße der Gesellschaft als Rentner zur Last fallen lassen, werden sich nicht nur kurzfristig politisch, sondern auch langfristig wirtschaftlich auszahlen. Eine gesunde, gut ausgebildete Bevölkerung ist der wesentlichste „Produktionsfaktor" im Wirtschaftsprozeß; nicht umsonst sprechen die internationalen Entwicklungsplaner von „Human Investment".
Es ist allerdings zuweilen ein langwieriger Prozeß, bis Kapitalaufwendungen für Human Investment ihre Früchte tragen. Deshalb haben sich die Weltbank und andere internationale Entwicklungsorganisationen bisher auch kaum bereitgefunden, Kapitalhilfe für Schul-und Krankenhausbauprogramme bereit-B zustellen. Es wird hauptsächlich Aufgabe der Regierungen bleiben, diese Programme zu verwirklichen. Die Hilfe des Auslandes sollte vor allem darin bestehen, technische Berater und Spezialisten den Regierungen zur Seite zu stellen und eventuelle Ausrüstungen zu liefern. Diese personelle Hilfe könnte erfolgreicher sein als die meisten Formen der Kapitalhilfe.
Sozialinvestitionen Sozialinvestitionen wie Beseitigung von Elendsvierteln, sozialer Wohnungsbau, Abwässeranlagen etc. beeinflussen nicht direkt die Wirtschaftsentwicklung; es sei denn, indem sie Arbeitsmöglichkeiten bieten. Weniger aus entwicklungspolitischen als vielmehr als sozialpolitischen Gründen sind sie erforderlich. Die Wirtschaftsentwicklung hat Arbeiter notwendig, die über produktive Kenntnisse verfügen; daß sie unter menschenwürdigen Bedingungen wohnen, ist zunächst weniger wesentlich. Es ist für die Wirtschaftsent-Wicklung zwar höchst wichtig, daß die nationale Gesundheit dadurch erhalten bleibt, daß der Bevölkerung überall reines Trinkwasser zur Verfügung steht, es ist aber hinsichtlich des Wachstums der Wirtschaft unwichtig, ob dieses Wasser aus Gemeinschaftsbrunnen geschöpft wird oder ob alle Wohnungen fließendes Wasser haben. Dennoch sind Sozialinvestitionen in Lateinamerika vielfach erforderlich, um die unzufriedenen Massen vor revolutionärem Radikalismus zu bewahren.
Die durch die Sozialinvestitionen Begünstigten sind gemeinhin bereit, diese Begünstigungen zu bezahlen, da sie ihnen ersehnte Annehmlichkeiten bieten. Voraussetzung hierfür ist natürlich, daß sie dazu in der Lage sind. Daher müssen die Empfänger von Sozialwohnungen feste Arbeitsplätze erhalten, um die Miete bezahlen zu können. Die Beschaffung von nahe-gelegenen Arbeitsplätzen muß mit dem sozialen Wohnungsbau Hand in Hand gehen. Dies scheint bei vielen Projekten, wie etwa bei der Siedlung „Villa Kennedy" in Rio de Janeiro und bei den Superbloques in Caracas, nicht genügend berücksichtigt worden zu sein. Hier riß man einfach Elendsviertel ab und verpflanzte alle Einwohner, die vorher mietfrei wohnten, in Wohnsiedlungen, in denen die Mieten sogar für Leute mit geringem Arbeitseinkommen noch erschwinglich waren, für viele Arbeitslose aber Anlaß zu Verbitterung und Protest gaben.
Was für alle Entwicklungsdarlehen gilt, nämlich, daß sie nur unter Berücksichtigung des Prinzips der Selbsthilfe vergeben werden sollten, Maße für Sozialinvesti gilt besonderem -tionen. Es erscheint wesentlich sinnvoller, den Elendsviertelbewohnern Kleinkredite zu geben, damit sie unter Anleitung und gemeinschaftlich die Bretter-und Blechwände ihrer Hütten durch Ziegelwände, die Sandfußböden durch Betonplatten ersetzen können und die Gruben und Kanäle für die Kanalisation ausheben, als daß unter wesentlich größeren Kosten ganze Stadtgebiete in neue, zumeist grausam eintönige Sozialsiedlungen der Fertigbauweise (Villa Kennedy) verpflanzt werden, wobei alle nachbarschaftlichen Bindungen zerrissen werden. Aktionen zur gemeinschaftlichen Verbesserung von Elendsvierteln werden größere Wirkung haben und der Bevölkerung mehr Befriedigung geben.
3. Politische Ziele
Koordinierung der Entwicklungsprojekte Die Sanierung der Elendsviertel kann sich als „Bumerang" erweisen, solange nicht gleichzeitig Agrarreformen der Landbevölkerung ebenfalls eine Chance zur Verbesserung ihrer Bedingungen geben. Dieser Zusammenhang wird zu oft übersehen. Die Elendsviertel der Städte sind das Ergebnis der Landflucht — es sei denn, man betrachtet sie als das Ergebnis der Bevölkerungsexplosion und zieht hieraus die Konsequenzen. Man kann der Ausweitung der Elendsviertel nur Herr werden, wenn man die Motive zur Landflucht beseitigt. Sonst wird die Sanierung der Städter nur weitere Landbewohner in die Stadt locken.
Es wird oft fälschlich angenommen, daß die Elendsviertel der großen Städte nur von asozialen Arbeitslosen bevölkert wären. Diese Klischeevorstellung europäischen Denkens wird den lateinamerikanischen Verhältnissen nicht gerecht. Hier leben in den Slums viele, die einen Beruf und einen Arbeitsplatz haben. Ihnen allein sollten zunächst die Vorteile des sozialen Wohnungsbaus zugute kommen, sie sollen ihren Elendsbehausungen entfliehen können. Es ist eine bittere Erkenntnis konsequenten Denkens, daß für die andern die Elendsviertel Elendsviertel bleiben müssen. Nur der Erfolg einer integralen Landreform wird es erlauben, das Los des Städteproletariats im gleichen Ausmaß wie das des Land-proletariats zu verbessern.
Entwicklungsimpulse staatlicher Investitionen Die Unterscheidung der hauptsächlichen Entwicklungsmaßnahmen in Infrastruktur-Investitionen, Sozialinvestitionen und Human Investment ist keineswegs üblich. Sie erscheint aber nützlich, weil sie darlegt, daß nur erstere und letztere direkte Entwicklungsimpulse ausstrahlen. Sozialinvestitionen sind nur bedingt entwicklungsfördernd. Sie können sogar entwicklungshemmend sein, wenn auf ihre Kosten die anderen Entwicklungsprogramme vernachlässigt werden. Lateinamerikanische Regierungen haben sich in den letzten Jahren vielfach zu sehr auf Sozialinvestitionen beschränkt, weil sie politisch notwendig schienen. Auch die Gelder der Allianz für den Fortschritt sind vornehmlich zu Sozialinvestitionen verwendet worden, um die lateinamerikanischen Massen zu befriedigen. Die richtige Beurteilung der revolutionären Gefahr in Lateinamerika — nämlich die Erkenntnis, daß nicht die aktuelle Bedrohung durch den chinesischen Kommunismus, sondern die langfristige Strategie Moskaus das wichtigste Gefahrenmoment für Lateinamerika bildet — sollte dazu führen, daß die langfristigen Entwicklungsaufgaben deutlicher gesehen werden. Moskau hofft auf einen Erfolg seiner Strategie-, es mag zu Recht hoffen, wenn die lateinamerikanischen Wirtschaftsplaner weiterhin hauptsächlich den Weg der kurzfristigen direkten Hilfe gehen, der den langfristigen Projekten das erforderliche Kapital vorenthält; obwohl doch gerade die Verwirklichung solcher Projekte die Möglichkeit schafft, die Ziele der Sozialinvestitionen mit geringem Aufwand und weitgehend durch Selbsthilfe zu erreichen.
Die Regierung des chilenischen Präsidenten Frei verkündete zum Beispiel bei ihrer Amtsübernahme 1964, sie werde jährlich 60 000 Sozialwohnungen, im Laufe ihrer Amtsperiode 360 000 Wohnungen bauen. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, mit den gigantischen Summen, die ein solch umfangreiches Programm erfordert, die integrale Landreform zu finanzieren, die ebenfalls im großen Umfang geplant war und die über die bloße Besitzneuverteilung hinausgehen sollte? Wäre es nicht sinnvoller, für diese Summen Fachschulen und Universitäten zu bauen und angesichts des Facharbeitermangels bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit die Berufsausbildung zu fördern? Wäre es nicht sinnvoller gewesen, für diese Summen Straßen zu bauen und Lastwagen-Flotten zu schaffen, die für Santiago die Märkte des tiefen Südens und des hohen Notdens erschlossen hätten und die eine Lebensmittelversorgung durch den Süden über Santiago hinaus in den Norden ermöglicht hätten? Haben wirklich die Meinungsforscher und Wahlstrategen recht, die behaupten, ohne solche Programme sei die nächste Wahl nicht gegen die kommunistische Volksfront zu gewinnen? Infrastrukturinvestitionen und Human Investment würden mit Sicherheit mehr Personen begünstigen, als es durch noch so umfangreichen Wohnungsbau geschehen kann.
4. Entwicklungsprojekte und Auslandshilfe
Die Auslandsverschuldung Die Unterscheidung in Infrastruktur-Investitionen, Sozialinvestitionen und Human Investment ist für die Bestimmung nützlich, welche Kredite unter welchen Bedigungen für welche Projekte in Anspruch genommen werden können. Die langfristige Auslandsverschuldung Lateinamerikas in harten Währungen nahm zwischen 1956 und 1964 von DM 17, 2 Milliarden auf DM 42, 4 Milliarlen (174 °/o) zu. Wenngleich nicht alle lateinamerikanischen Länder nach Gutachten der Weltbank ihre Verschuldungsgrenzen erreicht haben (z. B. Peru, Kolumbien und vor allem Venezuela), so haben doch andere Länder sie seit Jahren längst überschritten und vermögen nunmehr nicht ihren internationalen Verpflichtungen termingerecht nachzukommen (vor allem Argentinien, Chile und Brasilien).
Das Interamerikanische Komitee der Allianz für den Fortschritt hat geschätzt, daß die zur Tilgung der lateinamerikanischen Auslands-verpflichtungen erforderlichen Mittel 1965 DM 12, 8 Milliarden und 1966 DM 10, 4 Milliarden betragen. Der überwiegende Anteil an diesen riesigen Summen entfällt auf die Beiträge für Kapitalrückzahlungen und Zinsen, die sich zwischen 1956 und 1964 von DM 1. 8 Milliarden auf DM 5, 4 Milliarden jährlich verdreifachten. Der Anteil dieser Schuldenlast an der Zahlungsbilanz Lateinamerikas erhöhte sich auf 15, 4 °/o. In einigen Ländern betragen die jährlichen Schuldverpflichtungen bereits ein Drittel der Exporteinnahmen.
Die Zahlen zeigen, daß die Tilgung weiterer Entwicklungskredite vorzugsweise durch die geförderten Projekte selbst aufgebracht werden sollte.
Infrastruktur-Investitionen Infrastruktur-Investitionskredite müssen in ihrer Laufzeit und Verzinsung so berechnet sein, daß sie aus den von den Experten berechneten Einnahmen und durch die durch sie verursachten zusätzlichen Steueraufkommen abgelöst werden können. Zu kurzfristige Kredite verschlechtern nur noch mehr die Zahlungsbilanzen und engen den Import weiter ein. Auf die Erwähnung dieser Prinzipien sollte man eigentlich verzichten können, aber sie haben sich selbst im privatwirtschaftlichen Außenhandel noch nicht durchgesetzt. Leider gibt es Beispiele, daß auch die deutsche Industrie mit Hilfe staatlicher Lieferantenkredite und Kreditversicherungen nach Lateinamerika technische Großanlagen mit kurzfristigen Zahlungszielen verkauft hat, obwohl den Beteiligten klar war, daß die Rendite der neuen Unternehmungen keineswegs die termingerechte Abtragung der Schuldenlast ermöglichen würde. Diese Haltung des „Nach uns die Sintflut" mag mancher Industriefirma lohnende Exportaufträge eingebracht haben, sie hat aber dazu beigetragen, einige Entwicklungsländer an den Rand des finanziellen Ruins zu führen. In den Industrieländern sind es vielfach die Gelder der Steuerzahler, die für die folgenden „Kredite zur Bezahlung von Krediten" verwandt werden müssen.
Vor allem die Weltbank hat bisher in den Entwicklungsländern Infrastruktur-Investitionsprojekte finanziert. Umfassende Untersuchungen der Experten dieser erfahrenen Entwicklungsbank prüften jeweils die langfristige Wirtschaftlichkeit solcher für Privatinvestitionen unwirtschaftlichen oder übergroßen Projekte. Die Weltbank ist zu einem Spezialinstitut zur Finanzierung von Straßen, Eisenbahnen, Häfen, Staudämmen etc. in der ganzen Welt geworden. Sie vergibt ihre Gelder allerdings zu harten Kreditbedingungen, mittelfri-stigen Laufzeiten, selten über 15 Jahre, und Bankratenzinsen. In Lateinamerika ist ihr die interamerikanische Entwicklungsbank mit ihren regulären Fonds der „hard Ioans" zur Seite getreten.
Human Investment Die Zusammenhänge zwischen Human Investment und Wirtschaftsentwicklung sind immer noch schwer durchschaubar. Inwieweit Alphabetisierungskampagnen, Berufsschulen, Fach-schulen, Gesundheitsdienste, Förderung der Entwicklungsmentalität der Bevölkerung, Kinderfürsorge etc. die Wirtschaft fördern und nach welchem Zeitpunkt sie wirksam werden, kann bestenfalls vermutet werden. Fest steht lediglich, daß alle diese Projekte mehrere Jahre dauern müssen und daß sie dann der Wirtschaftsentwicklung außerordentliche Impulse verleihen. Die Früchte einer allgemeinen Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung können sich wohl bestenfalls erst nach etwa 10 Jahren zeigen, ebenso die Ergebnisse eines verbesserten Volksschulsystems. Fachschulprogramme würden früher wirksam werden; aber für ein wirklich großzügiges Programm sind Maßnahmen zur Ausbildung der Fachschullehrer erforderlich.
Die reinen Materialkosten der Human-Investment-Programme sollten von den Regierungen der Entwicklungsländer aufgebracht werden, schließlich handelt es sich hierbei um die klassischen Funktionen jedes Staatswesens. Der Erfolg solcher Programme ist durch ihren Umfang bedingt, deshalb kann ausländische Hilfe sich auf technische Hilfe beschränken, die allerdings für umfangreiche Projekte sehr wesentlich ist. Lehrmeister, Berater, Universitätsprofessoren vor allem technischer und medizinischer Fakultäten werden in jeder der lateinamerikanischen Nationen zu Hunderten gebraucht und würden zu Tausenden gebraucht werden, wenn umfangreiche Human-Investment-Programme zur Verbreitung von Fachwissen und Hebung der Entwicklungsmentalität begonnen würden. Der Bedarf an technischer Hilfe würde noch größer durch das mindestens ebenso umfangreiche Programm einer integralen Landreform auf dem Kontinent. Wie wenig auf diesem Sektor bisher getan wurde — obwohl die theoretischen Erkenntnisse seit Jahren vorliegen —, zeigt beispielsweise, daß die Interamerikanische Entwicklungsbank seit ihrem Bestehen von einer Gesamtausschüttung von DM 6, 12 Milliarden nur DM 146, 4 Millionen für das Erziehungswesen und DM 212 Millionen für technische Hilfe zur Verfügung stellte. 1963/64 wurden unter dem „Erweiterten Technische-Hilfe-Programm" der UN Expertendienste für Lateinamerika im Werte von knapp DM 80 Millionen bereitgestellt. Die US-Agency for International Development (AID) beschäftigt in Lateinamerika etwa 3000 technische Berater.
Die gesamte industrialisierte Welt hat sich bisher zu wenig um diese wichtigen Aspekte einer integrierten, geordneten Entwicklung Lateinamerikas gekümmert. Weniger die verhältnismäßig geringen Kosten solcher Programme, sondern vielmehr das Fehlen geeigneten Personals und mangelnde Organisation waren die Haupthindernisse.
Bekanntlich belastet technische Hilfe nicht die Zahlungsbilanz der Entwicklungsländer, das heißt, wenn sie auch in vergrößertem Umfange weiterhin ohne Verrechnung gewährt wird. Es ist von den Entwicklungsländern zu erwarten, daß sie aus eigener Anstrengung die für eine gedeihliche Arbeit der Experten erforderlichen Voraussetzungen (Schulgebäude etc.) als Selbsthilfebeitrag schaffen. Sofern allerdings hierfür Devisen aufgebracht werden müssen (Krankenhausausrüstungen etc.), sollten diese durch möglichst langfristige Entwicklungskredite bereitgestellt werden. Humaninvestment-Programme bedürfen vor allem örtlichen Kapitals und des Fachwissens der industrialisierten Welt.
Sozialinvestitionen Wenn Kredite für Sozialinvestitionen die Zahlungsbilanzsschwierigkeiten Lateinamerikas nicht vermehren sollen, müssen sie zu so weichen Konditionen gewährt werden, daß die Einkommen der Projekte ihre Rückzahlung ermöglichen. Unter günstigen Voraussetzungen würden Sozialinvestitionen, wie Wohnungsbau, Versorgung mit fließendem Wasser, Abwässeranlagen, Aufbau einer organisierten Müllabfuhr etc., sich über die Jahre durch Mieten und Gebühren amortisieren. Allerdings müssen hierfür langfristige Zeiträume angesetzt werden. Staatliche Wohnungsbaugesellschaften, die nunmehr in allen lateinamerikanischen Staaten errichtet wurden, rechnen mit einer Amortisation der erforderlichen Investitionen in 25— 30 Jahren. Kredite mit derart langen Laufzeiten verleiht zu geringfügigen Zinssätzen (11/4°/), sogenannte „soft Ioans" (weiche Darlehen), nur die Interamerikanische Entwicklungsbank aus dem Special Operations Fund.
Sie hat in den ersten fünf Jahren ihres Bestehens für Wasserversorgung und Kanalisation DM 1, 15 Milliarden, für sozialen Wohnungsbau DM 908 Millionen zur Verfügung gestellt. Dazu kommen Darlehen zu ähnlichen Bedingungen etwa in halber Höhe durch die Agency für International Development (AID) der US-Regierung. Es ist klar zu erkennen, daß unter den nicht-kommerziellen Bedingungen der „soft Ioans" Kredite beinahe Schenkungen gleichkommen. Die Allianz für den Fortschritt — die die politische Radikalisierung des Kontinents verhindern will — kann sich der politisch orientierten Sozialinvestitionen annehmen. Dieses an den Zielen der US-Außenpolitik ausgerichtete und für die USA kostspielige Programm sollte aber nicht Vorbild für eine konventionelle, Entwicklungsimpulse fördernde — nicht direkt politisch ausgerichtete —Wirtschaftshilfe sein; noch ist es auf lange Sicht ein Ersatz für entwicklungskonforme Infrastruktur-Investitionen und Human Investment.
Eine Analyse der Allianz-für-den-Fortschritt-Projekte könnte dazu verleiten, in Wirtschaftshilfe hauptsächlich Sozialinvestitionsprogramme (Wohnungsbau, Elendsviertelbereinigung, Kanalisation etc.) zu sehen. Das aber hieße tatsächlich, das „Faß ohne Boden" füllen zu wollen. Es könnte ferner dazu verleiten — und in vielen Fällen hat es bereits dazu geführt —, mit konventionellen Kreditschemen Unternehmungen mit nur langfristiger Rentabilität zu finanzieren. Mittelfristig kreditierte Sozialinvestitionen beladen aber die Regierungen der Entwicklungsländer mit der Bürde, die von den Geberländern oftmals propaganda-stark verkündete Wirtschaftshilfe binnen kurzer Zeit selbst zu zahlen. Grundsätzlich sollten Sozialinvestitionsdarlehen nur vergeben werden, wo es durch Selbsthilfe möglich ist, die Kosten der Projekte erheblich zu senken.
5. Verbesserte Methoden der Planung
Mängel der zentralisierten Planungsbürokratie In Lateinamerika wird oftmals im Elfenbeinturm geplant. Die gesamte Wirtschaftsplanung aller Ebenen konzentriert sich in den Hauptstädten. Industrieministerien, Ministerien für öffentliche Arbeiten, Landwirtschaftsministerien, Gesundheitsministerien, Verkehrsministerien, Staatskanzleien, Zentralbanken haben Planungsabteilungen, die meist unter eifersüchtiger Wahrung ihrer Aufgabenbereiche nebeneinander her wirken. Die neuerlich um sich greifende Einsetzung autonomer Planungskörperschaften bringt meist nur bedingt Abhilfe, da sie bestenfalls koordinieren, nicht aber Entscheidungen an einer Stelle zentralisieren können oder gar die Autorität haben, die Arbeit zu dezentralisieren und Befugnisse auf untere Ebenen zu delegieren. In den Provinzen oder gar in den Gemeinden finden sich nur selten Planungsstäbe. Bei Entwicklungsprojekten haben die örtlichen Leiter meist nur beschränkte Entscheidungsbefugnisse, dafür aber mehrere voneinander unabhängig arbeitende Vorgesetzte in verschiedenen Ämtern.
Das Anwachsen der Planungsbürokratie hat in Ansätzen bereits zum Wandel des Planungsinhalts geführt. War man zunächst vor allem bemüht, Entwicklungsprojekte auszuarbeiten, die für die Gewährung von Kapitalhilfe in zunehmendem Maße verlangt werden, so zeigt sich mehr und mehr die Tendenz, deren Durchführung zentral zu lenken, die durch sie erschlossenen Fabrikationsmöglichkeiten selber zu nutzen oder für ihre Nutzung dirigistische Anweisungen zu erteilen, die vielfach in die Preispolitik und Investitionspolitik privater Unternehmungen marktantagonistisch eingreifen.
Es muß andererseits den lateinamerikanischen Planungsbehörden zugute gehalten werden, daß sie vielfach von privaten Wirtschaftskreisen zu solcher Tätigkeit angehalten werden. Staatliche Entscheidungen auf dem Gebiet der Zollpolitik, der Steuerpolitik, der Lohnpolitik, der Währungspolitik, der Verkehrspolitik etc. greifen ständig ins freie Wirtschaftsgefüge ein, ermöglichen Gewinne und können Existenzen vernichten. Die Macht der verschiedenen Planungsbehörden über solche Entscheidungen drängt die Wirtschaft, staatliche Protektion durch Schutzzölle, Investitionsförderungsgesetze, Steuervergünstigungen und Zuschüsse zu suchen. Diese Privilegien machtvoller Lobbys werden oftmals durch Korruption der unterbesoldeten, schlecht ausgebildeten Beamten oder das Wohlwollen „wirtschaftsfreundlicher" Minister erlangt. Auch ausländische Industrie-firmen haben oft genug Kredite von solchen Privilegien für ihre Kunden abhängig gemacht. Nationalismus ist ein tragendes Motiv aller lateinamerikanischen Politik. Auch in der Wirtschaftspolitik und in der Entwicklungsplanung finden nationalistische Tendenzen ihre Berücksichtigung. Allzuoft werden ausländische Firmen vom nationalen Markt ausgeschlossen. Hierdurch wird dringend benötigtes Anlagekapital verscheucht. Unter dem kostspieligen Motto „Entwicklung nationaler Industrien" wird vielfach lediglich eine immobile, eingesessene Industrieoligarchie geschützt.
In Lateinamerika ist die Schutzzolltheorie oft sehr unvernünftig angewandt worden. Mit der Begründung, nationale Arbeitsplätze zu schaffen und Devisen zu sparen, wurden Zoll-mauern errichtet, die unwirtschaftlich arbeitenden Betrieben mit in einigen Nationen viel zu kleinen Märkten sichere Gewinne garantieren. Den Gewinn dieser Unternehmer aber zahlt der Verbraucher durch höhere Preise. Exportförderung wäre in den meisten Fällen eine angemessenere Politik gewesen als Import-substitution. Diese Politik hat dazu geführt, daß die lateinamerikanische Freihandelszone kaum Ergebnisse brachte, die nicht auch ohne ihre Organisation erreicht werden konnten, da der interregionale Handel nur mittels des nunmehr Existenzen bedrohenden Abbaus der Schutzzollmauern gesteigert werden kann.
Diese Politik ist das Ergebnis der leider noch weitverbreiteten und von interessierten Kreisen nach wie vor propagierten Theorie, Industrialisierung sei das Allheilmittel für Lateinamerika. Seit Jahrzehnten zeigt sich, daß die Früchte solcher Industrialisierung der überwiegenden Mehrheit der lateinamerikanischen Massen nur relativ geringe Vorteile brachte. Auch die Planungsbürokratie Lateinamerikas scheint noch weitgehend diesen Vorstellungen zu huldigen. Das Versagen ihrer bisherigen Politik scheint sie zu beflügeln, den alten Weg um so intensiver zu verfolgen. In einigen Staaten wurde bereits versucht, ganze Wirtschaftszweige zentralwirtschaftlich zu dirigieren. In Uruguay hat der Staat durch Verstaatlichung nicht allein ein Monopol für die Elektrizitätsversorgung, die Telefondienste und die Eisenbahnen. Der Staat fabriziert Zement und Alkohol, raffiniert Petroleum und unterhält Fleischkonservenfabriken, Papierfabriken und eine Fischereiflotte mit Verpackungsbetrieben. Der Staat kontrolliert die Milcherzeugung und stellt Chemikalien her. Staatsbanken beherrschen das Bankgeschäft, der Staat hat das Monopol für das Versicherungswesen. Die weitaus größte Zahl der Staatsbetriebe macht seit Jahren erhebliche Defizite.
Das Prinzip der Selbsthilfe Die Versuche, private zu dirigieren, Wirtschaft haben die Planer Lateinamerikas weitgehend von den wichtigsten staatlichen Planungsaufgaben abgelenkt. Sofern aber vernünftige Planziele verfolgt werden, bedient man sich vielfach auch hierbei dirigistischer Methoden. Entwicklungsprojekte werden am grünen Tisch geplant, ihre Ausführung wird detailliert von der Hauptstadt aus gelenkt. Die Planungsunterlagen umfassen meist alle nötigen technischen Einzelheiten. Politische und soziologische Aspekte werden aber zu häufig übersehen. Es regiert die technokratische Vorstellung, daß alle Schwierigkeiten überwunden sind, wenn nur genügend Kapital und genügend Techniker zur Verfügung stehen. Es wird eine Befehlshierarchie errichtet, durch die ein eingleisiger Kommandostrom von oben nach unten sickert.
Solche staatliche Entwicklungsplanung vergeudet Unsummen und lenkt Kapital von Projekten ab, an denen es größere Ergebnisse hätte erzielen können. Das ungenutzte Potential der Arbeitskraft der unterbeschäftigten Massen kann für die staatliche Entwicklungspolitik erschlossen werden, wenn die sozialen Gemeinschaften der unteren Ebene, wie Kommunen, Genossenschaften, Gemeinden, Gewerkschaften, Zünfte, Kreis-und Provinzverwaltungen, als Teilnehmer und Träger von Entwicklungsprojekten mobilisiert werden. Das erfordert eine wechselseitige Kommunikation, so daß in der Befehlshierarchie auch Anregungen von unten weitergeleitet werden. Das erfordert fernerhin eine Dezentralisation der Ausführung und eine Beschränkung der Zentrale auf Koordination und Überwachung. Selbsthilfe kann sich nur dann entfalten, wenn Entwicklungsprojekte nicht hauptsächlich von Technikern, sondern vornehmlich von Soziologen gelenkt werden.
In Lateinamerika werden Straßen gebaut, indem man aufwendige, importierte Bulldozer und Planiermaschinen, unterstützt von mitziehenden Arbeitskolonnen, im Lohnauftrag arbeiten läßt, während die Bevölkerung den Arbeiten unbeteiligt zusieht. Es wurden in Lateinamerika aber auch schon Straßen von Indiokommunen gebaut, nachdem Soziologen sie über die Bedeutung einer Anschlußstraße aufgeklärt hatten. Die Regierung stellte Spitzhacken und andere einfache Werkzeuge bereit, und in ihrer — von Erntezeiten abgesehen — überreichlichen Freizeit planierten und befestigten die Indios selbst die Straße von ihrem Dorf zum nächsten, die von Technikern vorher trassiert wurde.
In manchen lateinamerikanischen Großstädten wurden in den Elendsvierteln Gemeinschaftshäuser und Schulen von staatlich bezahlten Hoch-und Tiefbaufirmen gebaut. Es gibt aber auch bereits in einigen Elendsvierteln ganze Kirchen und Gemeindehäuser, die mit unvergleichlich niedrigeren Kosten von den Anliegern selbst gebaut wurden.
Von den meisten Regierungen Lateinamerikas werden in Zusammenarbeit mit ausländischen Firmen großzügige Bewässerungsprojekte geplant. Die Campesinos der weiten lateinamerikanischen Trockenregionen würden aus eigenem Interesse wohl gern an der Verbesserung ihrer Bewässerungskanäle arbeiten, wenn die Regierung dafür die nötigen Werkzeuge bereitstellte und Anleitung und Koordination übernehmen würde.
Der Testfall „Cooperaciön Populär“
Das wohl neuartigste, interessanteste Entwicklungsprojekt auf dem ganzen lateinamerikanischen Kontinent ist das peruanische Programm „Cooperaciön Populär", das von dem sozialreformerischen Präsidenten Fernando Belaunde Terry entworfen wurde. Es bezweckt die Einbeziehung des Volkes in die Entwicklungspolitik mittels freiwilliger Arbeitsleistungen der Begünstigten und mittels der Errichtung von „Centrales de Cooperaciön Populär" (Volksgenossenschaftszentralen oder Zentralen für die Mitarbeit des Volkes) im ganzen Land. 131 Grundeinheits-Zentralen sollen in allen Provinzen errichtet werden, die unter der Leitung einiger technischer Berater mit einigen LKWs, mit Dutzenden von Schubkarren, Hunderten von Spitzhacken, Schaufeln, Brechstangen, Maurerkellen und Mörteleimern ausgerüstet werden sollen. Sie würden darüber hinaus mit einfachen Stahlpflügen, Insektenbekämpfungsgeräten, Brechmaschinen und Silovorrichtungen versehen sein und einen Gemeinschaftssaal für kommunale Zusammenkünfte haben, über den Grundeinheiten sollen 25 mittlere Einheiten stehen, die die Grundeinheiten bei Bedarf mit schwerem Gerät unterstützen sollen. Sie haben voll eingerichtete mechanische Werkstätten und bemühen sich um die systematische Ausbildung von Schlossern, Maurern, Tischlern und sonstigen praktischen Handwerkern. Darüber hinaus sollen 16 große Einheiten gebildet werden mit Kränen, Bulldozern, Brunnenbohrgeräten, LKW-Traktoren-park. Sie sollen von mehreren Ingenieuren geleitet werden und dienen zugleich als Betreuungs-und Reparaturwerkstätten für -die ge samten in der Zone eingesetzten Maschinen der Regierung.
Die Aktion „Cooperaciön Populär" ist ein praktisches Programm zur Anwendung des Prinzips der Selbsthilfe. Ein Großteil der Unterentwicklung Perus soll durch die Mobilisierung vom Volk selbst überwunden werden. Wo heute dumpfe Lethargie in den „verlorenen Dörfern", Städtchen und Siedlungen im Landinnern herrscht, soll die unterbeschäftigte Arbeitskraft durch die jeweilige Lebensgemeinschaft zu wertschaffender Gemeinschaftsarbeit genutzt werden. Siedlergruppen, Dorf-gemeinschaften, Kommunen, Bauern-und Handwerksgenossenschaften sollen die in ihren Lebensbereichen notwendigen Gemeinschaftsaufgaben vollbringen. Wege, Schulen, Kanalisation und Wasserversorgungsanlagen, Märkte, Lebensmittel-und Futterlager, Dränagegräben, Dämme werden so vornehmlich in Selbsthilfe errichtet werden können, da der Staat nicht nur die Pläne ausarbeitet, die technischen Berater und Werkzeuge bereitstellt, sondern darüber hinaus alle Materialien und Ausrüstungen zusteuert, die nicht in Selbst-leistung erbracht werden können.
Das peruanische Projekt „Cooperaciön Populär" wurde als Beispiel einer wirksamen Entwicklungspolitik so eingehend beschrieben, weil es offensichtlich ist, daß dieses Programm in Methode und Organisation sich außerordentlich von den üblichen Entwicklungsprojekten unterscheidet. In ganz Lateinamerika müssen die hergebrachten Planungskonzeptionen überdacht und korrigiert werden. Um einen möglichst großen Fortschritt in der Entwicklung Lateinamerikas zu erreichen, ist folgendes notwendig: Konzentration auf die wesentlichen Planungsaufgaben des Staates, Dezentralisation, Beteiligung der unteren Schichten. Auf teure, wenngleich politisch wirksame Großprojekte ist zu verzichten, statt dessen sind genossenschaftlich organisierte Direkthilfeprogramme zu bevorzugen, die die Vorteile der Selbsthilfe ausnutzen. Für das alles bedarf es einer soziologisch fundierten Entwicklungsstrategie, die der ineffizienten Herrschaft der Technokraten und Ökonometriker in den Planungsstäben Lateinamerikas ein Ende setzt.
III. Die Entwicklungsmentalität der Bevölkerung
1. Viva la Fiesta
In Lateinamerika werden die Feste gefeiert, wie sie fallen. Sie fallen recht häufig. In allen Nationen kommen zu der Vielzahl nationaler Ehrentage eine ganze Reihe zusätzlicher kirchlicher Feiertage und verschiedene örtliche Festtage. Der Rekord an Fiestas wird wohl in Kolumbien gehalten, wo es örtlich verschieden im Jahr an die 40 Feiertage gibt. Liegt zwischen den verschiedenen Sonn-und Feiertagen nur ein Arbeitstag, wird dieser meist „überbrückt", so daß solche „Arbeitnehmerfeste“ oftmals eine ganze Woche anhalten. Die Ersparnisse von Wochen werden auf den Fiestas verjubelt. Bekanntlich werden die aufwendigen Umzüge des glanzvollen Carnevals von Rio hauptsächlich von den unteren und untersten sozialen Schichten aufgeführt. Ein ganzes Jahr lang leben sie unter elenden Verhältnissen, um für einige Tage — unter Umkehrung der sozialen Rangordnung — meist als Edelmänner in bestickten Seidenkostümen und als Rokoko-Kokotten mit Reifrock und Perücke herumzuziehen.
In den abgelegenen kleinen Dörfern und Gemeinden des Landesinnern des Kontinents wird erwartet, daß diejenigen, denen günstige Ernten oder gute Geschäfte überdurchschnittliche Gewinne brachten, besonders viel für die Fiestas spenden und für die Gemeinschaft ausgeben, damit so der alte Zustand sozialer Gleichheit wieder hergestellt wird. Hier nämlich gilt es vielfach als unsozial, reich zu werden, da eine Bereicherung allein auf Kosten der Gemeinschaft möglich sei oder aber die Gemeinschaft der sozial Gleichgestellten zerstöre. Die Möglichkeit des Sparens — durch Verzicht auf Genüsse von heute größere Befriedigung in der Zukunft vorzubereiten — ist vielen der unteren sozialen Schichten Lateinamerikas noch nie recht bewußt geworden, zumal sie denen mißtrauen, denen sie ihre Ersparnisse anvertrauen könnten, oder befürchten müssen, daß die Inflation ihre Ersparnisse auffrißt. Vor allem der kleine Mann zieht es vor, die Feste zu feiern, wie sie fallen.
Immer wieder trifft man auf den bunten lateinamerikanischen Fiestas inmitten von Karussells, Tanzflächen und Jahrmarktbuden jene fliegenden Händler des Glücks, die ein mit acht numerierten Feldern bemaltes Brett wie einen Bauchladen mit sich tragen. Ein mit Zahl eins bis acht bemalter Oktaederwürfel ersetzt die Roulettkugel. Auf die einfachen Chancen wird der sechsfache Gewinn ausgezahlt. Ist es schon verwunderlich, daß dieses Spiel mit so ungleichen Chancen so viele Glückssuchende anzieht — da doch hier die Bank einen Vorteil von zwei auf acht hat, gegenüber von nur eins auf siebenunddreißig beim klassischen Roulett —, so ist es noch aufschlußreicher zu beobachten, daß fast ausschließlich auf die einfachen Chancen gesetzt wird, in der Hoffnung, den sechsfachen Gewinn einzuheimsen, obgleich das Spiel auch die Möglichkeit bietet, „ä cheval" zu setzen, wobei zwei der acht Zahlen Gewinne bringen — bei allerdings nur dreifacher Gewinnausschüttung. Vor allem die jungen Schuhputzer, Zeitungsjungen und Schnorrer, die an Wein, Weib und Gesang noch nicht den rechten Spaß finden, umlagern wie Trauben die Stände, verspielen hier so manchen sauer verdienten oder mühsam erbettelten Peso, Sol oder Bolivar und nehmen dis Verluste in fatalistischer Ergebenheit hin.
2. Erfolgsmotivation und Wirtschaftsentwicklung
Die Beobachtungen zeigen, daß zumindest diese Spieler anzunehmen scheinen, man könne seinen Besitz auch ohne eigenes Zutun leicht vermehren, daß sie selbst bei ungünstigen Chancen gern dem Glück vertrauen, daß sie die hohen Risiken des möglichen hohen Gewinns wegen dem sichereren niedrigeren Risiko vorziehen und daß sie mit dem Schicksal nicht hadern, wenn sie keinen Erfolg haB ben. Diese Beobachtungen lassen sich verallgemeinern. Weitaus seltener als in den entwickelten Industrienationen trifft man in den Entwicklungsländern auf jenen Unternehmergeist, jene Gründermentalität, die den Wirtschafts kreislauf ankurbelt und in sich beschleunigender Bewegung hält. Die Qualitäten des »En trepieneurs“ — wie Schumpeter ihn als Schlüsselfigur der Wirtschaftsentwicklung beschrieb — sind vor allem die Überzeugung, daß einem nichts geschenkt wird, der Glaube, daß man sein Los durch eigene Anstrengungen verbessern kann, die Bereitschaft, auf die Früchte seiner Erfolge zu verzichten, um noch größere Erfolge zu erzielen, die Vorliebe, gemäßigte Risiken einzugehen — die sich auch in ihrer Berufswahl angesichts gesicherter Karrieren wie Beamtenlaufbahn und Priester-stand ausdrückt — und eine Abneigung gegen das allzu hohe Risiko, bei dem der Erfolg weniger von eigenem Können als vom Glück abhängt. Das wichtigste Motiv des Entrepreneurs aber ist, etwas erreichen zu wollen (achievement motivation). Er betrachtet deshalb den Aufbau seiner Unternehmungen nicht unter dem materialistischen Gesichtspunkt, wieviel Luxus sie ihm ermöglichen, sondern als Gradmesser, wie erfolgreich er ist.
Dieses wichtige Motiv, etwas erreichen zu wollen, erfolgreich zu sein, das den Unternehmer in seinen Entscheidungen leitet, ist nach — freilich nicht ganz unumstrittenen — wissenschaftlichen Methoden aus den Denkvorstellungen aller Menschen durch psychologische Tests zu abstrahieren. Untersuchungen des Harvard-Professors David Mc. Clelland haben ergeben, daß Mitglieder der mittleren und oberen sozialen Schichten mehr Antrieb und Ehrgeiz haben als Angehörige der unteren sozialen Klassen. Das Motiv ist, wie Max Weber bereits darstellte, bei Juden und Protestanten höher als bei Katholiken vergleichbarer Gruppen, es ist in den Industrienationen weiter verbreitet als in den unterentwickelten Ländern. Länder mit höherem Erfolgsmotivationsindex verzeichnen ein schnelleres Wirtschaftswachstum als Länder, in deren Bevölkerung der Ehrgeiz nach Erfolg weniger ausgeprägt ist. Diese Feststellung bewahrheitet sich bei Vergleichen innerhalb von industrialisierten Ländern und innerhalb von Entwicklungsländern wie auch bei Vergleichen zwischen beiden Ländergruppen.
3. Die Rolle der Unternehmer
Nach Professor McClelland ist Wirtschaftsentwicklung direkt abhängig vom Vorhandensein einer möglichst großen Anzahl von Entrepreneurs mit ausgeprägtem Unternehmergeist. Unternehmerpersönlichkeiten aber finden sich vor allem in Gesellschaften mit hohem Erfolgsmotivationsindex. Da in den Entwicklungsländern diese Motive weniger stark ausgeprägt sind, wird die Entwicklung der Wirtschaft in diesen Ländern auch davon abhängig sein, ob es gelingen wird, „the achievement motivation", den Anreiz erfolgreich zu sein, wesentlich zu steigern.
Kolumbien verdankt seine Industrialisierung weitgehend der sich vom gesamtlateinamerikanischen Bild deutlich abhebenden Entwicklungsmentalität der Antioquier aus Medellin, wie Brasilien sie vornehmlich dem „Bandeirantes-Mythos" gewisser Paulistaner aus Säo Paulo verdankt. Aber selbst dort, und mehr noch im übrigen Lateinamerika, trifft man heute immer und immer wieder auf Gesinnungen und Geschäftsgebaren, die in der vorindustriellen Zeit allgemeines Gedankengut auch der europäischen Länder waren, die heute aber einer Modernisierung der Nationen und vor allem einer beschleunigten Entwicklung der Wirtschaft im Wege stehen. Lateinamerikanische Geschäftsleute werden nur bei erstaunlich hohen Gewinnaussichten aktiv. (Renditen von 20— 30’/o pro Jahr gelten durchaus als normal und sind vielfach als Investitionsanreiz Mindestvoraussetzung.) Sofern solche Gewinnchancen nicht gegeben sind, belassen lateinamerikanische Oligarchen ihr Kapital bewußt — aus außerwirtschaftlichen Motiven — in der wenig gewinnträchtigen Landwirtschaft oder „investieren" in ausländischen Banken. Prestige und Ansehen ist vielfach nicht so sehr vom materiellen Reichtum, sondern von traditionellen Bindungen — wie Zugehörigkeit zu aristokratischen Familien, bestimmten Berufen und exklusiven Verbindungen, von kirchlichen Ehrenämtern und militärischem Rang — abhängig. Besitz, insbesondere der der „Nuevo Ricos", der Neureichen, öffnet keineswegs in dem Maße den Zugang zu höher gestellten sozialen Schichten oder gar zur „Elite" wie in den modernen Nationen. Dadurch verliert das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg an Anreiz, und die Tugenden, die zu Besitzerwerb führen, Sparsamkeit, Enthaltsamkeit, Initiative, Bereitschaft zu kalkuliertem Risiko und vor allem harte Arbeit, werden gering geschätzt. Die Motive wirtschaftlicher Tätigkeit sind deshalb nicht so sehr Gründermentalität, das Streben nach wirtschaftlicher Macht und der Wille, Familien-dynastien zu errichten, sondern der Ausblick auf den Luxus, den Geld erkaufen kann.
4. Entwicklungshemmnisse und Charakterbildung
Eine der liebenswürdigsten Eigenschaften der Lateinamerikaner, die vergleichsweise geringe Verbreitung von Neid und Mißgunst, wirkt entwicklungspolitisch zunächst als mangelnder Anreiz, sich durch wirtschaftliche Erfolge den Beneideten gleichzustellen. Der Lateinamerikaner bevorzugt im allgemeinen traditionelle Freundschaften vor funktionellen Bindungen. Er wählt lieber Familienmitglieder und Freunde als Mitarbeiter, wo Spezialisten und Fachkräfte gebraucht würden. Die fatalistische Überzeugung, daß der Mensch die Natur nicht beherrschen könne, findet sich in weiten Kreisen der lateinamerikanischen Bevölkerung. Dieses Fehlen von Fortschrittsglaube äußert sich in geringer Selbsteinschätzung, mangelndem Zutrauen zur eigenen Initiative und dumpfer Lethargie. Oftmals ergibt sich aus falschverstandener oder aus falschgelenkter Religiosität eine bewußte Abwendung vom materiellen Streben und den „materialistischen" Tugenden des Sparens und Arbeitens. Bereits in sehr frühen Jahren prägt sich die Grundhaltung des Menschen zum Erfolg. Die grundsätzlichen Charaktereinstellungen werden bereits in den Kinderjahren erworben und sind bei fortschreitendem Lebensalter immer schwieriger zu ändern. Wesentlich beeinflußt werden sie durch die elterliche Erziehung und die Fabeln, Märchen und Kindergeschichten, die erste Orientierungen für eine erstrebenswerte Lebensauffassung liefern. Was den Jungen an den erwähnten Roulett-Ständen der fliegenden Händler des Glücks fehlte, war — überspitzt ausgedrückt — die Großmutter, die ihnen in Märchen erzählte, daß „Hans im Glück“ ein Tölpel war, daß die Pfiffigkeit des „kleinen Klaus" sich auszahlte, daß die überspannten Erwartungen des „Fischers un sien Froo" enttäuscht werden mußten, daß böses, faules, tückisches, leichtsinniges, unbeständiges und verschwenderisches Verhalten letztlich nie Erfolg haben kann, wie es sich aus der „Moral von der Geschieht" ergibt.
Psychologen würden sich sicherlich zu der Behauptung versteigen, daß möglicherweise der Export der Grimmschen Märchen und die Verbreitung geeigneter Schulfibeln der Wirkung massiver Kapitalhilfe nicht nachsteht.
5. Schule, Religion und Sozialprestige
Sicher ist aber wohl, daß zur Grundschulausbildung nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch Charaktererziehung gehört. Würden alle Lehrer in den Entwicklungsländern für diese schwierige Aufgabe in Spezialkursen ausgebildet und Kindergärten und Vorschul-Klassen für diese Aufgaben errichtet, dann könnte man die Erkenntnisse der Psychologie über die Bedeutung der Erfolgsorientation in der Mentalität der Entwicklungsländer für die Wirtschaftsentwicklung nutzbar machen.
Wo die VerhaltensVorschriften der Kirche für das weltliche Leben noch ein Hindernis zur Verbreitung einer modernen Entwicklungsmentalität darstellen, wäre es angebracht, diese Vorschriften auf die Wertvorstellungen eines modernen Wirtschaftssystems abzustimmen. In den USA der Gründerjahre entstammten die erfolgreichen Unternehmer hauptsächlich den xadikal protestantischen Sekten der Calvinisten, Methodisten und Quäker, für die wirtschaftlicher Erfolg ein Zeichen der Zuneigung Gottes darstellte und für die somit das Erstreben wirtschaftlichen Erfolges religiöse Bedeutung hatte. Eigentum war hier stets auch soziale Verpflichtung. Es galt als unsittlich, die Früchte göttlicher Zuneigung in Luxus zu verprassen. Die Modernisierung der katholischen Kirche in Lateinamerika wird hoffentlich zu einer Annäherung an diese Denkvorstellungen führen.
Untersuchungen der Herkunft erfolgreicher Unternehmer in den Entwicklungsländern zeigen, daß sie sich vor allem aus den unteren Schichten von Elitegruppen rekrutieren, die vermeinten, sie würden ihren Verdiensten gemäß ungerecht behandelt werden, und die durch wirtschaftlichen Erfolg jene Achtung erreichen wollten, die sie zu verdienen glaubten. Die Elitegruppen der Antioquier aus Medellin waren es leid, ewig als ländliche Vettern von der Führungsschicht Bogotas bemitleidet zu werden. Die Paulistaner aus Säo Paulo sind überzeugt, daß sie es den überheblichen Cariocas aus Rio zeigen müssen, daß sie mehr vermögen, als allein Carneval zu feiern und darauf zu vertrauen, daß Got Brasilianer sei, was sie den lebenslustigen Bewohnern Rios — der angeblich glücklichsten Stadt der Welt — als Hauptbeschäftigung unterstellen.
Aus dieser Erkenntnis darf gefolgert werden, daß in weitaus umfangreicherem Maße die Mitglieder der unteren Schichten von Elitegruppen, insbesondere die des gehobenen Mittelstandes, unternehmerische Initiative zeigen würden, falls es gelänge, wirtschaftlichem Erfolg zu gesteigerter allgemeiner Achtung zu verhelfen und unternehmerische Leistung zu einem entscheidenden Kriterium der sozialen Stellung zu machen. Ordensverleihungen, Einbeziehen der Wirtschaftsführer in das staatliche Protokoll, Beauftragung erfolgreicher Unternehmer mit ehrenvollen Ämtern etc. wären geeignete Maßnahmen. Noch ist in Lateinamerika die Mitgliedschaft im „Verein des ehrbaren Kaufmanns" nicht das non plus ultra gesellschaftlicher Distinktion, noch bevorzugt man den Anschluß an die gesellschaftlichen Kreise der Generäle und Kardinäle, der Politiker und Professoren, des — wenngleich nicht überall betitelten, aber überall gleich aristokratischen — Landadels.
Daneben müßten sich auch die Unternehmer durch machtvolle Verbände, durch Leistungen in der karitativen Arbeit und durch Pflege der öffentlichen Meinung um eine Verbesserung ihres „Image" bemühen. Eine zwischen Wirtschaft und Staat koordinierte, mit viel Energie betriebene Public-Relations-Politik für den „erfolgreichen Unternehmer", die auf soziale Mobilität innerhalb der Oligarchie hinzielt, dürfte einen bedeutenden Impuls für die Wirtschaftsentwicklung auslösen, da es die Energien der mit ihrer sozialen Stellung Unzufriedenen in wirtschaftliche Aktivität lenkte und die Privilegierten veranlaßte, durch Erfolge als Unternehmer ihre soziale Stellung zu halten.
6. Neue Aufgaben für die Entwicklungspolitik
Wo immer die Revolution der steigenden Erwartungen in der Bevölkerung Unzufriedenheit schafft, entsteht nicht nur die Gefahr einer politischen Radikalisierung, sondern zunächst auch die Chance, daß eine Neuorientierung der herkömmlichen Denkvorstellungen und eine neue Beurteilung der überlieferten Werte erfolgt, die eine Hinwendung breiter Kreise zu modernen, die Entwicklungspolitik fördernden Verhaltensweisen bringt. Wo die Technik des 20. Jahrhunderts eindringt, erscheinen auch die Wirtschaftsformen des 20. Jahrhunderts und verbreiten sich die Ideen und Motive, die die Technik und die Wirtschaft der Neuzeit schufen. Immer wurden in Zeiten sozialen Umbruchs die traditionellen Werte in Frage gestellt. Unzufriedene Menschen zeigen sich für neue Ideen aufgeschlossen und haben eine größere Bereitschaft zur Nachahmung des Erfolgreichen. Man sollte nicht zuschauen, wie kommunistische Agitation dieses Vakuum füllt, sondern hier eine wichtige Aufgabe der Entwicklungspolitik sehen. Es gilt zu versüßen, allen Bevölkerungsschichten eine neue Einstellung zum Wert des Sparens, des Planens und der Erziehung zu vermitteln und die Freude an erreichbaren Annehmlichkeiten und an Besitz zu propagieren. So würde in der Bevölkerung der Anreiz zur Verbesserung des Daseins verstärkt. Der Hinweis, daß durch Arbeit das Dasein durchaus verbessert werden kann, würde jenen religiösen Vorstellungen entgegenwirken, die die elenden Massen dazu verleiten, allein auf ein besseres Jenseits zu hoffen und im irdischen Leiden eine Prüfung und die Quelle eines Anspruchs auf den Zugang zum Paradies zu sehen.
Eine solche Hinwendung zur Erfolgsmotivation des Handelns würde nicht nur unternehmerische Eigeninitiative einzelner auslösen, sondern in der Gemeinschaft den Willen zur gemeinsamen Selbsthilfe bestärken und die Bereitschaft zu genossenschaftlichen Unternehmungen vermehren.
Sollte es nicht möglich sein, auf dem ganzen lateinamerikanischen Kontinent jene Begeisterung für die Ziele der sozialen Reformen zu wecken, die zum Motor einer beschleunigten Wirtschaftsentwicklung werden könnte? Müßte man nicht den Massen das Gefühl vermitteln können, teilzunehmen an einem einzigartigen Prozeß der allgemeinen Entwicklung? Könnte man nicht gar eine „Entwicklungspsychose" schaffen, die — aus dem Glauben an den Fortschritt, aus dem Vertrauen auf die Fähigkeiten jedes einzelnen und der Gemeinschaft und aus der Überzeugung von der Notwendigkeit von Erfolgen in der Wirtschaftsentwicklung erwachsen — Glaube, Vertrauen und Überzeugung vermittelt? Könnte nicht ein Programm sozialer und wirtschaftlicher Reformen zu einem echten Fanal für ganz Lateinamerika werden, an dem sich ein Feuer begeisterter Hinwendung zu den entwicklungspolitischen Aufgaben entzündet, das sich bis in die kleinsten Gemeinschaften verbreitet?
Man vermißt solchen „Entwicklungs-Mythos" in Lateinamerika und findet statt dessen Lethargie und Bürokratie. Man vermißt eine Entwicklungs-Ideologie und findet als Ideologie-Ersatz überholte Vorstellungen eines rein defensiven Antikommunismus.
7. Versäumnisse der Allianz für den Fortschritt
Das olympische Jahr 1964 hat ganz Japan in einen Taumel allgemeiner Sportbegeisterung versetzt. Wo bleibt das „Wirtschaftsolympiadeprogramm" für Lateinamerika? Es findet sich auf dem Kontinent nur ein Vorbild: die Propaganda um die Alphabetisierungskampagne in Kuba 1963/64.
Eine Chance wurde bereits verpaßt. Das Projekt für den nicht der Fortschritt wurde zu einem „Programm" für Lateinamerika. Es verlor den Elan der Gründerstunde durch Bürokratie, nationalistische Reibereien, geschäftige Feilschereien und Kompromittierung der großen Ziele und vermochte somit nicht das psychologische Hindernis des Anti-Amerikanismus zu überwinden. Die Allianz ist keineswegs gescheitert, aber ihre Chancen wurden durch mangelnde Berücksichtigung ihrer politischen und psychologischen Aspekte vertan. Für das Jahr 1963 stellte die Regierung der LISA der Organisation der amerikanischen Staaten 6, 4 Millionen DM zur Verfügung, um damit die Allianz für den Fortschritt populär zu machen. Der Werbeaufwand zur Einführung eines neuen Waschmittels in der Bundesrepublik Deutschland dürfte bei etwa 10 Millionen DM liegen.
Es genügt nicht, neben Bauplätzen für Sozial-wohnungen, Stauwerken und Straßen Schilder aufzustellen, die auf die Finanzhilfe der Allianz für den Fortschritt hinweisen, und auf diesen Schildern das Emblem der Allianz, die Fackel, abzubilden. Die Fackel, die auf dem lateinamerikanischen Kontinent ein Feuer der Begeisterung für die sozialreformerischen Ziele der Allianz für den Fortschritt auslösen sollte, wird sich so gewiß nicht entzünden. Propaganda und nochmals Propaganda, Werbung und nochmals Werbung, Public Relations und Human Relations, Rundfunk, Fernsehen, Presse, Kommunikation und Kulturwandel heißen die Stichworte, wenn es gilt, die Erkenntnisse der Soziologie und der Psychologie für die Entwicklung der Wirtschaft zu nutzen. Kulturwandlung ist eine Voraussetzung für eine beschleunigte Wirtschaftsentwicklung. Im bestehenden kulturellen Rahmen werden sich die Ergebnisse der bisherigen entwicklungspolitischen Anstrengungen nur bei wesentlich höherem Kapitalaufwand und auch dann nur begrenzt verbessern lassen. Entwicklunsgpolitik ist ein viel zu bedeutendes Feld, als daß man es allein den Wirtschaftswissenschaftlern überlassen dürfte. Soziologen und Psychologen vermögen wertvolle Erkenntnisse für eine sinnvolle Entwicklungspolitik beizusteuern. Ihre Beiträge zielen auf die Änderung menschlicher Gesinnungen und Verhaltensweisen. Da sich ihre Vorschläge nur langfristig auswirken, sind sie in der Praxis kaum beachtet worden. Es ist an der Zeit, daß auch in Lateinamerika endlich den langfristigen Entwicklungsprogrammen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Man sollte nicht übersehen, daß man sich in Lateinamerika nunmehr seit mindestens einem guten Dutzend Jahren um eine planvolle Entwicklungsförderung bemüht.