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Vertrauen und Mißtrauen in der Demokratie | APuZ 12/1967 | bpb.de

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APuZ 12/1967 Artikel 1 Vertrauen und Mißtrauen in der Demokratie Lehrjahre für Minister? Zur Frage der Staatsminister und Parlamentarischen Staatssekretäre

Vertrauen und Mißtrauen in der Demokratie

Karl Holzamer

Die Sprache macht, wenn sie menschliche Beziehungen zum Ausdruck bringt, oft recht bemerkenswerte Unterscheidungen. Man spricht von der menschlichen Gesellschaft, der demokratischen Gesellschaft, einer wissenschaftlichen oder einer Aktiengesellschaft, aber ebenso auch von einer Ehegemeinschaft, der Familiengemeinschaft, der Gemeinschaft eines Volkes, eines Schicksals. Gerade die beiden letzten sprachlichen Wendungen wurden während des Krieges über die Maßen strapaziert und auch derart verformt, daß man in der Nachkriegszeit vielfach jede gefühlsmäßige Bindung an das Staats-oder Gesellschaftsleben, wie sie in dem Wort „Gemeinschaft" zum Ausdruck kommt, als schädlich betrachtete oder gar für anrüchig hielt. Der Unterschied, der in den Begriffen „Gesellschaft" und „Gemeinschaft" zum Vorschein gelangt, besagt, daß eine „gesellschaftliche" Bindung meist eine Angelegenheit des Verstandes und nicht eine Sache des Herzens ist. Um beispielsweise einer Aktiengesellschaft anzugehören, braucht es keiner gefühlsbetonten Einstellung zu den übrigen Aktionären, während etwa eine eheliche Gemeinschaft sehr wesentlich von dem wirklichen Zusammenstimmen der Herzen abhängt. Meine These ist nun die, daß nicht nur die Beziehungen der Menschen untereinander, sondern auch die innerhalb des Ganzen einer demokratischen Ordnung im Staat sowohl gesellschaftliche als auch gemeinschaftliche Züge tragen müssen. Dies soll im Hinblick auf unser Verhältnis zur Demokratie näher dargestellt werden.

In Staat, Politik und Öffentlichkeit gilt es, sich für das sachlich Richtige zu entscheiden und es dann auch zu tun. Die hierbei gewiß notwendige kühle Distanz und Gelassenheit reichen aber für den Aufbau und das Funktionieren eines echten demokratischen Gemeinwesens nicht aus. Wäre dem so, dann könnte man die demokratischen Verhältnisse spielend einfach durch die Verwaltung oder mittels der Organisation durch eine fachlich und sachlich ausreichend geschulte Bürokratie herbeiführen. Das Gemeinwesen besteht zwar aus Menschen, die zum Gebrauch der Vernunft gelangt sind und denken können; aber — und das darf nicht übersehen werden — diese Menschen bleiben Menschen, das heißt sie entwickeln zugleich auch Sympathien und Antipathien, werden von Zuneigungen und Abneigungen, von sinnenhaften und gefühlsmäßigen Tendenzen durchherrscht und haben die Freiheit eines Willens, der sich für dieses und gegen jenes, für das Richtige und gegen das Falsche, aber auch für das Verkehrte und gegen das Richtige entscheiden kann.

In den Anfängen der modernen Demokratie im Zeitalter des Rationalismus des 18. Jahrhunderts wurde gerade diese Gegebenheit vielfach entweder übersehen oder wenigstens überschätzt. Etwas vereinfacht kann man die damalige Auffassung auf die pädagogisch-politische Formel bringen: „Der Mensch ist ein Vernunftwesen. Folglich braucht man ihm nur durch die Aufklärung zu seiner Vernunft zu verhelfen und ihm das Vernunftgemäße an der einzelnen Sache vor Augen zu stellen, dann wird sich der einzelne und die Mehrzahl der Menschen für das Richtige, das heißt für das Vernunftgemäße entscheiden." Hier liegt, wie wir inzwischen immer wieder durch geschichtliche Ereignisse schmerzlich belehrt wurden, ein großer Irrtum vor. Gewiß, auch wir sind der Auffassung, daß die Vernunft für den Menschen wesentlich ist. Wir möchten nicht dahin gehend mißverstanden werden, als riefen wir zu Irrationalismus und Emotionalismus auf. Wir stellen lediglich fest, daß sie wirksam sind, und überlegen, wie man dem Rechnung tragen kann. Die Freiheit des Willens, die Freiheit der Entscheidung, die die höchste Würde des Menschen umfaßt und die auch der Ausgangspunkt für den Aufbau eines demokratisch geordneten Gemeinwesens ist, ist zugleich auch die Bürde für den Menschen. Sie ist, wenn man es bis in die letzte Konsequenz hinein verfolgt, ein Wagnis, das der Schöpfer mit dem Menschen eingegangen ist. Freiheit schließt wesensgemäß die Möglichkeit ihres Mißbrauches ein, und zwar ihres totalen Mißbrauches. Sie ist eine riskante Mitgift.

Der demokratische Staat — das Werk einer demokratischen Gesellschaft

Abbildung 1

Ein demokratisch parlamentarisch geordneter Staat hängt nicht in der Luft. Er gründet, wenn er nicht abstrakt gepredigt, sondern konkret gelebt wird, stets auf einer demokratisch geordneten Gesellschaft. Wenn das Berufsleben, wenn die Familie, wenn Interessenverbände, zu denen in dieser oder jener Form heute ein jeder gehört, kurzum, wenn irgendwelche Gruppierungen der Gesellschaft in ihrer Zielgebung oder Praxis tyrannische oder anarchische Züge haben, dann wird ganz zwangsläufig auch die staatliche, die parlamentarische Ordnung davon betroffen. Das gleiche gilt natürlich auch umgekehrt. Es handelt sich hier um ein Wechselspiel, das nach keiner Seite hin unberücksichtigt bleiben darf.

Wenn wir mit gutem Grund auf das Funktionieren etwa der parlamentarischen Demokratie in England verweisen, oder — was wir leider zu wenig tun — auch auf ein gewisses, schon lange vorgeformtes demokratisches Leben in manchen Zeiten unserer eigenen Geschichte, etwa in den freien Städten, dann entdecken wir bei tieferer Betrachtung immer diesen grundlegenden Zusammenhang zwischen der Gesellschaft und der staatlichen Ordnung. Nur wenn bis in unser Vereins-und Familienleben hinein die selbstverständliche Achtung vor dem anderen und das „fair play" gegenüber kontroversen Auffassungen, Geschmacks-einstellungen usw. geübt und zur Selbstverständlichkeit eines Lebensstils entwickelt wird, kann es sich auch im engeren parlamentarischen Bereich durchsetzen. Auf eine Formel gebracht: Der demokratische Staat gedeiht nur in der demokratischen Gesellschaft. Darum ist er einzig dann zu realisieren, wenn wir alle ihn auch in unserer Lebensführung mit herauf-führen.

Das heißt nichts anderes, als daß der demokratische Staat kein fertiges Produkt ist, das mit der Einführung einer Verfassung — und mag sie noch so gut sein — bereits da ist. Gerade dem demokratischen Staat ist es wesentlich, daß er immer wieder hervorgebracht werden will und muß. Von der Kinder-und Schulstube an müssen wir uns mit diesem seinem Lebensgesetz vertraut machen, müssen uns zunächst in den demokratischen Staat ein-leben und uns später, wenn wir entscheidungsfähig geworden sind, nicht nur bewußt in ihn einordnen, sondern ihn von uns aus mittragen.

Wenn nun aber — und damit komme ich direkt zum Thema „Vertrauen und Mißtrauen in der Demokratie" — der Mensch ein Wesen ist, in dem Verstand, Gemüt und Willen bei jeder menschlichen Handlung und bei jeder menschlichen Beziehung, wenn auch in verschiedenem Maße, zusammenwirken, dann darf nicht darüber hinweggesehen werden, daß der Mensch sich aus seiner Freiheit heraus bewußt und willentlich unvernünftig, ja wider-vernünftig verhalten kann. Nach Auffassung der Pessimisten tut er das tatsächlich in der Mehrzahl aller Fälle auch, seien es Entscheidungen, Handlungen oder Wertungen. Unsere Beziehung zum Staat und damit zur Politik ist also, wie gesagt, weder rein sachlich vernünftig noch nur schwärmerisch gefühlsbetont. Das staatlich-politische Leben entspricht weder ausschließlich dem einer Aktiengesellschaft noch einzig dem einer Intimgesellschaft mit all den Herztönen, wie sie innerhalb der engen persönlichen Gruppierungen, etwa in der Ehe und Freundschaft, notwendig sind.

Am ehesten, und doch nur in einer schwachen Analogie, kann man den Staat mit der Familie vergleichen, und zwar mit der Familie, in die wir ohne unser Zutun hineingeboren sind, an der wir Anteil haben, in guten wie in bösen Zeiten, mit deren redlichen wie auch unredlichen Mitgliedern, die wir nicht verleugnen können und dürfen, wir Zusammenhängen. Wir können uns von ihr nicht einfach los-sagen. Aber wir können -— unter Umständen ohne Aufkommen einer Sympathie — positiv an der Gestaltung des Familienlebens mitwirken. „Warum wollen die Deutschen nicht mehr Deutsche sein?" fragte mich im Jahre 1945 im Kriegsgefangenenlager der französische Kommandant. In dieser unzulässig verallgemeinernden Frage steckt auch Verständnis für das Positive tragender Gemeinschaften, in die wir hineingeboren werden. Die Menschen werden nicht nur in verschiedenen Familien, sondern auch in unterschiedene Nationen und in unterschiedliche gesellschaftliche und staatliche Ordnungen — mit allem, was dazugehört — hineingeboren; und sie haben deswegen auch durch positive Wirksamkeit für diese mit einzugestehen. Wir können uns nicht einfach davon machen, wenn die Dinge schieflaufen oder wenn sie gar zusammenbrechen. So wie wir aber auch innerhalb der Familie Sympa-B thie und Antipathie empfinden, ohne daß wir den Aufbau einer solchen Gemeinschaft davon abhängig machen können, so ist auch unser gesellschaftliches und staatliches Leben als menschliches Leben von Sympathien und Antipathien getragen, die wir ebensowenig einfach beiseite schieben können, selbst wenn sie nicht als einzige Wertanzeiger für unsere Handlungen gelten können und dürfen. Zwar wird jede menschliche Zusammenarbeit — auch die politische — leichter werden, wenn Sympathie herrscht, wenn Freundschaft verbindet. Aber ebensowenig wie wir unsere Schulen oder das Berufsleben einzig auf Sympathie gründen können, ist dies für die demokratische Ordnung möglich.

Nicht grundsätzliches, sondern begründetes Mißtrauen

Eines aber, das nicht mit Sympathie, die flüchtig und vorübergehend sein kann, verwechselt werden darf, ist als Grundlage für eine Demokratie unerläßlich. Ich meine das Vertrauen, ohne das es keine kontinuierliche und beständig wirksame menschliche Kooperation gibt.

Hierzu zwei einfache Beispiele: Wenn wir nicht alle das selbstverständliche Vertrauen hätten, daß die Ärzte über den menschlichen Körper und das Zusammenspiel seiner Funktionen Bescheid wüßten ünd über Möglichkeiten der Heilung verfügten, dann dürften wir uns ihnen niemals anvertrauen oder ihnen unsere Angehörigen buchstäblich „ans Messer liefern". Und wenn wir nicht davon überzeugt wären, daß etwa unsere großstädtische Wasserleitungen ständig in Ordnung gehalten würden und aus sauberen Brunnen oder durch eine Filteranlage das Wasser zu uns gelangen ließen, dann könnten wir es nie wagen, einen Wasserhahn aufzudrehen.

Das sind zwar Binsenwahrheiten. Trotzdem gewinnt man angesichts des politischen Lebens unserer Tage gelegentlich den Eindruck, als ob viele Zeitgenossen unter Demokratie diejenige Lebensform der Gesellschaft verstünden, die von einem permanenten Mißtrauen der einen gegen die anderen und vor allem der Staatsbürger, der Wähler gegen „die da oben" oder die jeweiligen Regierungen beherrscht sein müßte. Sicher, mit einer solchen Formulierung übertreibe ich; aber ich glaube, man sieht gerade durch diese Übertreibung hindurch den wichtigen Sachverhalt um so klarer. Ihn zum Bewußtsein zu bringen ist in einem gewissen Sinne lebenswichtig für die Demokratie.

Gewiß, es gibt Gründe für dieses Aufkommen des Mißtrauens, das zu einer Art Grundformel für die Betätigung, aber auch für die Kritik im öffentlichen Leben geworden zu sein scheint. Nach alledem, was ein Teil der heute Lebenden erfahren mußte, also auf Grund vieler Enttäuschungen, die besonders aus dem Bereiche des öffentlichen Lebens stammen, ist dieses Mißtrauen zu einem guten Teil verständlich. Unverständlich wird es jedoch dann, wenn es trotz dieser Erfahrungen zu einem absoluten Mißtrauen gegen die Politik überhaupt gesteigert wird. Begründetes Mißtrauen ist etwas anderes als grundsätzliches Mißtrauen.

Auch hierzu ein Beispeil: Vor einigen Jahren war ich aus der mir auferlegten Verantwortung für das Programm des Zweiten Deutschen Fernsehens gezwungen, innerhalb einer Magazinsendung einen Bericht, der sich mit dem Thema „Südtirol" beschäftigte, sage und schreibe während der Sendung herauszunehmen. Das war kaum geschehen, als von einem Mißtrauischen gefragt und dann von einer Agentur verbreitet wurde, die Absetzung dieses Beitrages sei erfolgt, weil der italienische Botschafter in Deutschland das von mir gefordert habe. Daß davon keine Rede sein kann, brauche ich wohl nicht eigens zu betonen. Kennzeichnend ist, wie hier ein durchgängiges oder weitverbreitetes Mißtrauen, das man für die Grundlage — und das mag durchaus subjektiv redlich gemeint sein — einer demokratischen Haltung hält, einen eigentlich selbstverständlichen Vorgang, eine Handlung aus Pflicht, gar nicht mehr zu sehen vermag und sofort einen massiven Druck und einen ihm nachgebenden Unverantwortlichen „unterstellt". Ein solches unbegründetes, aber grundsätzliches Mißtrauen ist im genauen Sinne des Wortes tödlich. Es unterstellt, öffentlich wirksame Entscheidungen und Handlungen würden in der Regel von einem egoistischen Machtstreben oder einem Interessendruck, der hinter diesen Entscheidungen steht, ausgelöst. Daß sie aber von jemandem verantwortet werden, daß jemand das tut, was er tun muß, das wird bei einem solchen Grundsatzmißtrauen, das man für notwendige Kontrolle hält, praktisch negiert. Ist aber die Vertrauensgrundlage beseitigt, dann ist Zusammenarbeit prinzipiell unmöglich geworden.

Zweifellos gibt es in der Politik — in der Demokratie ebenso wie in anderen Formen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung — Lüge, Verantwortungslosigkeit, Geldgier, Machtgier; aber es gibt auch das Gegenteil.

Das hängt von den Menschen, das hängt von dem — im weitesten Sinne — moralischen Zustand der ganzen Gesellschaft ab. Ich bin nicht der Auffassung der Pessimisten; ich glaube, wenn man das eine gegen das andere aufwiegen könnte, würde sich trotz aller Enttäuschungen, trotz aller schlimmen Ereignisse und Vorkommnisse in der Welt im kleinen wie im großen die Waagschale des Anständigen, wie man sie einmal umschreibend nennen kann, tiefer neigen. Auch im parlamentarischen Leben zeigt sich die überall im menschlichen Leben bestehende Ambivalenz, jene Doppelgesichtigkeit oder, wenn man es negativ ausdrückt, eine Doppelzüngigkeit. Aber es wäre eine maßlose Übertreibung, wenn man behaupten wollte, daß sie das demokratische und das zwischenmenschliche Leben beherrscht. Es wäre allerdings ebenfalls ein Mißverständnis, wollte man — und das wäre die Kehrseite — jedes Mißtrauen ausschalten. Dann würde man sich sowohl im privaten als auch im gesellschaftlichen Leben wie ein „tumber Tor" bewegen. Dann würde man jenen Kräften freien Lauf lassen, die sich auf den blinden Glauben ihrer Anhänger stützen und weniger führen als verführen. Warnen sollte man nicht vor dem echten, sondern vor dem schlechten Mißtrauen. Es gilt das „gesunde Mißtrauen" zu stärken, das sowohl das Vertrauen wie auch das Mißtrauen einschließt. Auf eine praktische Formel gebracht könnte man sagen: Ein grundsätzliches Mißtrauen bietet auf keinen Fall eine Grundlage für eine funktionierende Demokratie, und es zieht möglicherweise — wie politische Vorgänge auch der jüngsten Zeit zeigen — die Gefahr der Parlaments-oder sogar der Politik-, mindestens aber der Parteiverdrossenheit nach sich. Das liegt daran, daß das grundsätzliche Mißtrauen allem, nur nicht sich selbst mißtraut. Hier zeigt sich, daß es eigentlich gar nicht grundsätzlich ist, sondern einzig so sein will. Das Mißtrauen sollte sich darauf besinnen, wo es etwas Rechtes zu leisten vermag, nämlich als eine ständige wache Aufmerksamkeit gegenwärtig zu sein, die zwar auch an das Gute im öffentlichen Leben glaubt, aber ständig mit dem Bösen und Verkehrten rechnet. Macht man diese Haltung dem parlamentarischen Leben, dem Verhältnis zwischen Parlament und Regierung, dem Verhältnis von Parlament und Wähler oder dem Verhältnis der drei klassischen Gewalten — der Gesetzgebung, der Regierung und der Rechtsprechung — zueinander nutzbar, dann läßt sich zeigen:

Das gesunde Mißtrauen, die wache Aufmerksamkeit jeder der einzelnen Gewalten gegenüber der anderen, besteht in einer Art Kontrollfunktion. Das Parlament soll und hat die Regierung zu kontrollieren. Die höchstrichterliche Gewalt oder der Rechnungshof oder andere Gewalten haben ihrerseits eine Kontrolle bis hin zu der berühmten Normenkontrolle gegenüber der Legislative, aber auch gegenüber der Exekutive. Eine solche Aufmerksamkeit, ein Wille zur Kontrolle sollte auch dem Wähler zu eigen sein. Nicht das grundsätzliche Mißtrauen, sondern das genaue und aktive Verfolgen dessen, was vorgeht und wie die Menschen tatsächlich handeln, ist geboten. Und noch: Wer behauptet, daß Demokratie einzig die wechselseitige Kontrolle der Gewalt sei, der irrt. Denn die Demokratie geht wesensgemäß von dem Vertrauen auf die Freiheit und Würde des Menschen aus. Aber gerade weil sie diese an den Anfang aller ihrer Funktionen stellt, hat sie auch darüber mißtrauisch zu wachen, daß sie nicht verletzt werden. Innerhalb dieses allerdings unvollständigen Katalogs von Gefährdungen in unserer jüngsten Geschichte muß auch auf die oft fehlende Bereitschaft hingewiesen werden, sich in einer sachlichen und demokratischen Weise mit den Irrtümern auseinanderzusetzen, die von Staatsbürgern im politischen Bereich begangen wurden und begangen werden. Ich bin der Auffassung, daß es etwas wie ein Recht auf Irrtum gibt, aus dem das Recht und die Anerkenntnis auch einer Konversion von einem Irrtum folgt. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dazu aufzufordern, politische Irrtümer zu begehen; und es ist hier natürlich nicht die Rede von Verbrechen, seien sie im privaten oder im öffentlichen Bereich geschehen. Ich meine vielmehr den trotz redlicher Einstellung begangenen und noch möglichen politischen Irrtum. Wenn es uns ernst ist mit der Anerkennung einer jeden menschlichen gewissentlichen Entscheidung — und darauf beruht die Demokratie —, dann sollten wir uns persönlich und auch politisch um jene bemühen, von denen wir glauben oder auf Grund unserer jüngsten Entwicklung zu Recht annehmen, daß sie politischen Irrtümern unterliegen oder vielleicht eine Schwärmerei mit politischer Gestaltung verwechseln. Auch dieses Bemühen um den politisch Irrenden kann wiederum nur aus einem Grundvertrauen, das Ausdruck für den Glauben an den Bestand, an die Kraft, an die Überzeugungsfähigkeit der Demokratie ist, erfolgreich sein. Wer davon ausgeht, daß man den Menschen zum Besseren überzeugen kann, kann nicht mit einem Grundmißtrauen beginnen; denn wie will man dann einen politisch Irrenden oder politisch Verführten überzeugen? Das Bessere muß dann freilich ebenso wie die „Besserung" in der Lebensführung, in der Stilgebung und in der sachlichen Bewältigung von Aufgaben sichtbar werden.

Vertrauen in der Bewährung

Wie steht es nun aber mit dem Vertrauen des Staatsbürgers in seine Demokratie, in unsere Bundesrepublik Deutschland, mit ihren im Grundgesetz verankerten Ländern und Gemeinden?

Wer die letzten Jahre der Weimarer Zeit bewußt miterlebt hat, wird im Vergleich zur Gegenwart feststellen können, daß heute bei der übergroßen Mehrheit des Volkes ein Grundvertrauen vorhanden ist. Es ist stärker lebendig als es trotz guter Verfassung und trotz vieler fairer politischer Persönlichkeiten in der Weimarer Zeit —-in dieser oft glücklosen Epoche — der Fall war. Aber obwohl man dies mit Genugtuung verzeichnen darf, muß man doch gleichzeitig auf gewisse entfernte Parallelen oder mögliche Gefahren aufmerksam machen, durch die dieses Grundvertrauen bei uns schwach und bröckelnd werden kann oder schon schwächer und bröckelnder geworden ist. Vielleicht ist hier sogar in erster Linie ein berufsbezogenes „mea culpa" zu sprechen.

Wie steht es um unsere Publizistik von heute im ganzen? Die Informationspflicht einerseits, die ihr auferlegt ist, und die Neigung und auch die Notwendigkeit andererseits, den Staatsbürger an den Vorgängen des öffentlichen Lebens in allen Dimensionen mit Interesse teilnehmen zu lassen, führt in vielen Fällen praktisch zu etwas wie einer Art Abwertung des politisch parlamentarischen Lebens. Spektakuläre oder ohne Zweifel kritisch zu bewertende Ereignisse und auch Personen treten „lauter“ auf als alles, was im Bereich der Erfüllung von Pflichten geschieht und was man oft für selbstverständlich und obendrein für langweilig hält. Sensationen lassen mitunter einen zu einseitigen und vor allem durch die Macht des Bildes emotional noch übersteuerten Eindruck ent-stehen. Vieles trübt oder schwächt die intellektuelle Klarheit, die für eine Entscheidung notwendig ist.

Ein deutliches und gefährliches Zeugnis für eine solche übertriebene Gereiztheit scheint mir im Augenblick beispielsweise dieser gewisse negative Beiklang zu sein, den das Wort „Bonn" durch die publizistische Verbreitung für viele angenommen hat; als ob es sich hier nicht um unsere freilich provisorische Bundes-hauptstadt, sondern um eine Art Intrigen-zentrale handelte. Leicht werden mit einem solchen assoziativen und gefühlsmäßigen Bei-klang nicht nur bestimmte Einstellungen suggeriert, es besteht sogar die — vielleicht nicht gesehene — Gefahr, daß durch die unsachliche Verallgemeinerung die Politik und das Parlament zu „denen da oben" gestempelt werden und die Zusammenarbeit boykottiert wird. über Ausmaß und Bedeutung dieser Erscheinung müssen wir uns wirklich Gedanken machen. Es ist zu überlegen, wie man bei aller Informationspflicht, bei aller kritischen Notwendigkeit doch verhindert, durch die emotionalen Mittel der Fernwirkung etwas beschwört, was die Haltung eines grundsätzlichen Mißtrauens auslöst und die so notwendige Vertrauensgrundlage aushöhlt. Ich hoffe, daß schon dadurch, daß man das Problem sieht und offen anspricht — selbst auf die Gefahr hin, mißverstanden zu werden —, die Aufmerksamkeit manches vermeidet, was den Zuschauer, den Wähler und auch den Leser gegen das einnimmt, von dem für ihn so viel abhängt: die echte Demokratie.

Uber die speziellen Probleme eines bestimmten Berufes hinaus fordert etwas Beachtung, das „praeter propter" für uns alle, für den Träger des aktiven politischen Lebens ebenso wie für den schlichten Staatsbürger, gilt. Vielleicht hängt es mit einer unserer deutschen Eigentümlichkeiten zusammen, daß wir leicht, allzu leicht nur in Alternativen denken, in diesem „entweder so oder so", und nicht genügend das Wesen der menschlichen Handlung, die in der Regel ein gewisses „sowohl als auch" hat, erkennen und praktizieren. Deshalb fällt ein vielleicht notwendiger Regierungswechsel, der voreilig zu einer Regierungskrise aufgebauscht wird, für uns bereits schnell und leicht aus der Normalität heraus. Wir vermeinen, daß etwas so Normales für das politische Geschehen in der Demokratie, wie es im Unterschied zu einem Wechsel etwa in einem totalitären System die Ablösung der Führungskräfte in einer funktionierenden Demokratie nun einmal ist, gleich mit einer persönlichen oder gesellschaftlichen Diffamierung verbunden sei oder sein müsse. Ich glaube allerdings, daß sich in diesem Punkte der Bundestag und die deutschen Landtage in der Nachkriegsentwicklung in der persönlichen Wertschätzung bei aller sachlichen Auseinandersetzung meist auch der Öffentlichkeit gegenüber bewährt haben, mehr als dies manchmal in der gezielt-kritischen Berichterstattung zum Ausdruck kommt. Wenn wir diese Gefahr im Sinne eines wirklichen Vertrauens bannen wollen, das zugleich auch eine wache Aufmerksamkeit dem politischen Leben gegenüber mit sich bringt, dann sollten wir der nach Devise handeln: Nehmen wir doch die politisch parlamentarischen Maßnahmen menschlich. Machen wir nicht aus jeder Sache gewollt oder ungewollt etwas so Grundsätzliches, als gehe es gleich — wie die Vokabeln oft heißen — um die Existenz des Staates.

Sicher wird es — wie auch in der Vergangenheit — bei uns immer wieder Situationen im politischen Leben geben, die einen gewissen Notstand, auch im geistig-politischen Bereich darstellen können. Aber wegen einiger folgenreicher Einzelmaßnahmen oder Ereignisse sofort einen Notstand zu berufen, heißt, das Grundvertrauen in die Demokratie, die wie alles auch eine menschliche Erscheinung ist, zu erschüttern. Sollte nicht auch hier die Gelassenheit, die nicht mit einem inaktiven „laissez faire" verwechselt werden darf, eine viel größere Rolle spielen?

Wir sprechen davon, daß die Volksvertretung vom Vertrauen der Wähler, die Regierung vom Vertrauen des Parlaments getragen sein muß, und wir tun recht daran. Das sind die entscheidenden Verbindungslinien; dieses Streben von unten nach oben muß auf ein Vertrauen gründen, das sich bewährt hat. Die Zustimmung des Wählers zu den Gewählten und zu ihrer sachlichen Arbeit im Parlament muß daraus erfolgen, daß die Gewählten das ihnen entgegengebrachte Vertrauen nicht verspielt und mißbraucht haben. Auch das Parlament als das gesetzgebende und kontrollierende Organ achtet gegenüber der Exekutive darauf, ob das Vertrauen in die Fähigkeit und das, was das Gesetz will, nicht enttäuscht wird. Auch die Länder als Gliedstrukturen des Bundes und die Gemeinden als untere Ebene des demokratischen Lebens müssen an diesem Wechselspiel des gegenseitigen Vertrauens teilnehmen, damit nicht durch grundsätzliches Mißtrauen der einen Ebene gegenüber der anderen eine wirkungsvolle Zusammenarbeit gehemmt wird.

Es wird oft der Vorwurf erhoben, die Denker der Menschheit hätten die demokratische Lebens-und Staatsform in ihrem Wesen und ihrer Wirkung nach doch recht verschiedenartig bewertet. Gewiß! Trotz aller Unterschiede, die sich zum Teil aus den zeitbedingten Formen der Demokratie ergaben, läßt sich aber ein konvergierendes, zusammenführendes Urteil ablesen. In der Demokratie handelt es sich um die beste, aber auch die am schwersten zu erreichende und zu bewährende Staats-und Lebensform. Gerade dies aber, daß sie eigentlich — gemessen an der Würde des Menschen und an seiner Freiheit — das Optimum und deswegen auch das Schwerste ist, das es im Gesellschaftlichen zu bewältigen gilt, hat sie mit anderen menschlichen Gemeinschafts-und Gesellschaftsformen gemeinsam. Auch eine optimale Liebesgemeinschaft in der Ehe, eine Lebensgemeinschaft der Familie ist ein Optimum, nicht einfach ein Geschenk, das einem in den Schoß fällt, ein Glück, das endgültig ist. Und selbst wenn mitunter der Eindruck nicht unbegründet ist, daß es sich, wenn es „gut geht", um so etwas wie ein Geschenk handelt, gerade dann muß es, damit es in seinem Wert, in seiner Bedeutung, in seiner Strahlkraft erhalten bleibt, immer wieder neu erworben werden.

So können wir abschließend sagen: überall, wo tiefe und umformende Bindungen erwachsen, entsprechen sie in ihrer optimalen Form dem menschlichen Wesen und seiner Würde. Da aber diese Würde in der Freiheit besteht und die Freiheit nicht eine einmalige Sache ist, sondern etwas, was — wie der Dichter sagt — täglich zu erringen ist, gilt dies Gesetz auch für die Demokratie. Sie wächst, wenn wir alle täglich an ihr mitarbeiten und weder von „denen da oben" erwarten, daß sie es machen, weil sie es machen müssen, noch von denen da unten, daß sie sich endlich einmal politisch aktivieren, obwohl wir uns nicht darum bemühen. Nur wenn das von jedem auf seine Weise verstanden und realisiert wird, wächst die Demokratie. Der Boden für sie aber ist das Vertrauen im grundsätzlichen und die stete Wachsamkeit im moralischen Sinne.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Karl Holzamer, Dr. phil., o. Professor für Philosophie, Psychologie und Pädagogik, Intendant des Zweiten Deutschen Fernsehens, geb. 13. Oktober 1906 in Frankfurt/Main. Veröffentlichungen: Einführung in die Philosophie, 1946; Grundfragen des neuzeitlichen Humanismus, 1947; Einführung in die Pädagogik, 1949; Grundriß einer praktischen Philosophie: Freiheit, Toleranz, Sittlichkeit, Ressentiment, 1951; Kind und Radio (Schriftenreihe), 1945; 2. Auflg. 1966 unter dem Titel „Kind vor Radio und Fernsehen"; Philosophie — Einführung in die Welt des Denkens, 1961; Die Verantwortung des Menschen für sich und seinesgleichen — Reden und Aufsätze, hrsg. von R. Wisser, 1966.