I. Das neue Geschichtsbild der Sozialistischen Republik Rumänien
Rumänien wird häufig als ein Land der Zukunft bezeichnet. In der späten Ära des Parteichefs Georghe Gheorghiu-Dej und unter dem heutigen Ersten ZK-Sekretär Nicolae Ceausescu hat die kommunistische Führung dieses Landes erkannt, daß es ohne bewußte Gegenwart und ohne Bekenntnis zur eigenen Vergangenheit keine begründete Hoffnung auf eine größere Zukunft geben kann. Im Westen herrschte und herrscht vielfach die Meinung vor, in Rumänien müßten die Vorkriegsver-hältnisse wiederhergestellt werden. Die sowjetischen Machthaber der Stalin-Ära wiederum waren willens, die geschichtliche Überlieferung Rumäniens zu säubern, teilweise auszulöschen. Eine im Eiltempo vorgenommene ideologische Umerziehung sollte dem Rumä-nentum den Weg zu einem proletarischen Internationalismus ebnen, der zum einsprachigen, klassenlosen Weltvolk führen sollte.
Im Westen wie im Osten hat es also nicht an Vorstellungen gefehlt, in welcher Richtung das kleine Volk der Rumänen seinen geschichtlichen Weg in die Zukunft zu wählen hätte. Ungeachtet all dieser Wünsche und Bestrebungen entscheidet sich Rumänien seit über einem halben Jahrzehnt — von Tag zu Tag, oft mit überraschender Plötzlichkeit — in einem seltsamen und doch zielstrebigen Beharren „ganz anders". Rumänien hat gewissermaßen stellvertretend für alle kleinen Länder innerhalb und außerhalb Europas den Nachweis geliefert, daß eine kleinstaatliche Außenpolitik keine absolute Abhängigkeit, sondern nur situationsbedingte Wandlungen der eigenen Interessenwahrung gegenüber der Umwelt anzuerkennen hat.
Der deutsche Gelehrte Albrecht Wirth unternahm 1916 den Versuch, Gegenwart und Zukunft des Rumänentums aus seinem geschichtlichen Werden zu deuten: „Die Rumänen sind die zäheste Rasse der Erde ... Sie waren acht bis neun Jahrhunderte verschwunden. So völlig verschwunden wie gewisse Bäche im schwäbischen Jura und Karst, die meilenlang unterirdisch fließen. Plötzlich aber im 13. Jahrhundert tauchen die Rumänen wieder auf, und diesmal bleiben sie. Seitdem haben sie um sich gegriffen wie eine große Wasserflut, eine schier uferlose Überschwemmung bildend. Sie leben, außer unter eigener, unter nicht weniger als fünf fremden Flaggen, aber kein Herrenvolk ist imstande gewesen, sie zu Boden zu drücken. Im Gegenteil, sie drücken auf ihre Herren." Albrecht Wirth war die Epoche der rumänischen Volkwerdung in geringerem Maße bekannt als der heutigen Forschung. Dennoch sind bis jetzt die Jahrhunderte nach dem Abzug der römischen Legionen und Kohorten (275 n. Chr.) aus Dakien, das heißt etwa dem heutigen rumänischen Staatsgebiet, wenig erschlossen. Lediglich über zwei Tatbestände gibt es keinen Zweifel: Die lateinische Kontinuität der rumänischen Sprache ist überwältigend bezeugt, und es gibt heute in der Nation der Rumänen keinen, der sich nicht als Nachkomme dakischer Urväter und römischer Legionäre empfindet.
Der Mythus der lateinischen Kontinuität im Donauraum hat das Antlitz dieses Volkes seit dem 16. Jahrhundert geistig, kulturell und politisch geprägt. In den allerersten Nachkriegsjahren bemühten sich Beauftragte und Um-erzieher des Stalinismus in Rumänien, den romanischen Charakter des Rumänischen anzuzweifeln und zurückzudrängen. Anstatt „Trai-asca Stalin" (rumänisch: „Es lebe Stalin") trugen rote Spruchbänder auf dem Bukarester Platz der Republik die Inschrift: „Slava lui Stalin" („Ruhm für Stalin"; Slava ist ein aus dem Kirchenslawischen stammendes Wort, das seit Jahrhunderten im Rumänischen nicht mehr gebräuchlich war). Handlanger der Überfremdung verteufelten die eigene Geschichte, die ihre erzieherische und begeisternde Kraft für das junge Geschlecht einbüßen sollte.
Der Versuch dieser stalinistischen Ideologen, eine geistige und gesinnungsmäßige „Kehrtwendung" der Rumänen zu bewirken, hat — darüber besteht heute schon kein Zweifel mehr — nicht die erwarteten Ergebnisse gebracht. Seit Rumänien 1960 den „Alleingang" erst zögernd, dann entschlossen wagte, hat eine Wiederbesinnung auf das nationale Geschichtserbe, zugleich die Wiedererweckung des nationalen Selbstbewußtseins eingesetzt. Allerdings beginnen Gegenwart und Zukunft nicht etwa erst mit dem späten Rebellentum des 1965 verstorbenen Gheorghe Gheorghui-Dej oder mit dem Bekenntnis des Parteiführers Nicolae Ceausescu zum eigenen Volkstum. Jeder Beobachter, der heute den Wagemut des „Rittes über den Bodensee" anerkennt, muß aus der rumänischen Geschichte gewahr werden, daß Rumäniens Außenpolitik, die Politik eines kleinen Volkes, stets ein wenig waghalsig war und bleibt. Passiver Widerstand, Frontwechsel, Erdulden fremder Herrschaft, blitzschnelle Schachzüge und ungezählte Opfer, all das hat es in der Geschichte dieses Volkes, dem eigentlich bis 1918 das alles überwölbende, schützende Dach des gemeinsamen Staatsraumes fehlte, immer wieder gegeben.
Geht es indessen um ein bloßes überdauern, um eine Selbstbehauptung dank höherer Geburtenzahl, dank raschem Wechsel der fremden Herrsdiaften und Ordnungen, dank der „Wachablösungen“ der Großreiche in diesem Raum? Zuerst und zuletzt geht es um den geschichtlichen Auftrag, um die künftige Sendung des Rumänentums zwischen Adria und Schwarzmeerküste.
Man nennt die Rumänen gelegentlich auch die „Kosmopoliten des Donau-Balkanraumes". Dieser Wesenszug, südlich der unteren Donau deutlicher sichtbar als im dakoromanischen Siedlungsraum, hat dazu beigetragen, daß man die Rumänen früher und heute gerne unterschätzt. über die Moldauer östlich der Karpaten, die Siebenbürger Rumänen, durch die Walachen („Welsche") zwischen Südkarpaten und Donau, durch Aromunen, Makedo-Rumänen, in Istrien, in der Ukraine und selbst im Kaukasus hat rumänisches Wesen zur kulturellen Leistung und zur geschichtlichen Gestaltung benachbarter Völker und Reiche beigetragen: Die beiden aromunischen Brüder (Aromunen: Zweigstamm der Rumänen mit Wohnsitzen in Makedonien, Albanien und Griechenland) aus dem Geschlecht der Asan werden 1187 die Begründer des Zweiten Bulgarischen Reiches der Asaniden; Ungarns Johannes Hunyadi (f 1457) und König Mathias Corvinus (1458— 1490) entstammen einem rumänischen Geschlecht Südsiebenbürgens ; weltbekannte griechische Heer-führer und Freiheitshelden gegen die Osmanen sind Aromunen. Der Metropolit von Kiew, Petru Movila (1596— 1647), Gründer der berühmtesten theologischen Akademie Rußlands, ist ebenso rumänischer Abstammung gewesen wie der ökumenische Patriarch Athenagoras zu Konstantinopel in unserer Gegenwart. Dichter-und Künstlernamen von internationalem Ruf lassen ebenfalls nicht immer erkennen, daß ihre Träger Balkan-oder Dako-Rumänen sind: so etwa Antioh Cantemir (1708 bis 1744), russischer Dichter und Gesandter der Zarin Katharina I. in Frankreich, und Anno Gräiin von Noailles (1876— 1933), französische Dichterin, aus der fürstlichen Familie Branco-veanu stammend.
Nicht die Anpassungsfähigkeit, nicht der bluts-mäßige und geistige Beitrag zum schöpferischen Werden anderer Völker sind indes eine Gewähr der eigenen Zukunft. Und auch das Seiltanzen über dem Abgrund, das geschickte Durchmanövrieren müssen einem Fernziel dienen. Zugeständnisse gegenüber Großmächten und Gewalthabern dürfen nicht den Weg einer Nation bestimmen. Wir lesen etwa über Wahrhaftigkeit und „Konjunkturismus" des eigenen Geschichtsbildes Mitte 1966 in den Bukarester „Studii" eine sehr deutliche Stellungnahme des rumänischen Geschichtsforschers V. Live-anu: „Der parteiische Geist der materialistischen Geschichtsschreibung stellt sich jedoch zutiefst feindselig ein gegen eine ausschließlich gegenwartsbezogene, pragmatische Geschichtsauffassung, die das Vorhandensein einer objektiven geschichtlichen Wahrheit leugnet und die Geschichte funktional ausschließlich als Konjunktur der Gegenwart darstellt. Die materialistische Geschichtsauffassung verdammt den Konjunkturismus und ist der Auffassung, daß die Verhinderung, Enthüllung, Bekämpfung seiner Äußerungen eine vitale Forderung für die Entwicklung der Geschichtsschreibung bedeutet. . . . Die führenden Vertreter der rumänischen Geschichtsschreibung, beginnend mit den großen Chronisten Dimitrie Cantemir, mit den Historikern der Siebenbürgischen Schule, mit den Begründern der modernen rumänischen Geschichtsschreibung Nicolae Balcescu und Mihail Kogalniceanu, mit George Baritziu und Bogdan Petriceicu-Hasdeu, haben in den geschichtlichen Krisen nicht das Mittel der Befriedigung einer einfachen Neugierde erblickt, sondern einen Ansporn für die bessere Organisation von Staat und Gesellschaft, für die Bekräftigung der Idee der Einheit des rumänischen Volkes und seines Rechts auf Unabhän-B gigkeit. Die bedeutendsten Vertreter der rumänischen Kultur haben die Geschichte als die Schule des Patriotismus, des . Patriotismus innerhalb der Grenzen der Wahrheit'betrachtet, über den Titu Maiorescu sprach."
Heute formt sich also unter Hammer und Sichel zur eigenen nationalen ein Bekenntnis Geschichte, das nicht mehr vorgeprägt ist von taggeborenen Rücksichtnahmen. Gewiß weist das heutige Gemälde der rumänischen Vergangenheit noch manche Mißverständnisse, Leerstellen und „Unpersonen" auf — insonderheit, wenn die Geschichte des 20. Jahrhunderts noch sowjetisch-kommunistisch gedeutet wird. Doch das Beispiel der nahezu lückenlosen Wiederentdeckung der Geschichte Rußlands durch die moderne sowjetische Historiographie mag in diesem Falle zum Modell werden. Wir können wohl auch von der Geschichtsforschung der Sozialistischen Republik Rumäniens eine noch vollständigere Analyse des rumänischen Geschichtsablaufes erwarten. Vor anderthalb Jahrzehnten habe ich in einer Abhandlung über Rumänien an eine uralte Volksweisheit über die Wildbäche erinnert: „Apa curge, pietrele ramän" („Das Wasser fließt fort, die Steine bleiben"). Auch heute möchte ich an dieses Sprichwort erinnern, da die Gefahrenlage der Gegenwart, die Schwierigkeiten des Umbruchs und beginnenden Aufbaues für das Rumänentum unübersehbar sind. Die Tatsache, daß gerade die Wiederentdek-kung des nationalen Geschichtsbildes, die Erforschung und Kenntnis des rumänischen Siedlungsbodens, die Anerkennung des nationalen Kulturschaffens in Vergangenheit und Gegenwart so wesentlich zu dem einsetzenden Wiedererwachen in rumänischen Nation beigetragen haben, bezeugt die verwandelnde und erneuernde Kraft des Geistes in allen Lebensbereichen des rumänischen Volkes. Heute bereits lassen sich das halbe Jahrhundert seit dem Ersten Weltkrieg und die wandlungsreichen Jahrzehnte zwischen Tradition und Erneuerung in Rumänien mit dem Goethe-Wort kennzeichnen: „Wenn das Einzelne durch die Zeit ausgelöscht wird, so geht das Allgemeine rein hervor; die Handlungen verschwinden, die Gesinnungen bleiben übrig, man hört auf, nach den Mitteln zu fragen, die erreichten Zwecke treten vor die Seele des Betrachters."
II. Rumänien — Fürstentümer, Königreich, Sozialistische Republik
Der Außenhandel Rumäniens
Der Außenhandel Rumäniens
1. Latinität als europäisches Geschichtsbewußtsein und das nationale Erwachen im 19. Jahrhundert
Nationales Bewußtsein und staatliche Selbstbehauptung des Rumänentums wurzeln heute wieder im Bekenntnis zur Kontinuität", in der „Insellage" dieser Latinität zwischen Theiß und Schwarzem Meer, in dem Wissen um eine kampf-und leiderfüllte Geschichte, die das Rumänentum erstaunlich klug gemeistert hat.
Natürlich hat es seit Jahrhunderten Zweifler und Spötter gegeben, die der Latinität der rumänischen Stämme nördlich und südlich der unteren Donau geringe Bedeutung beimessen. Denn tatsächlich besetzten zwei römische Legionen, wenige selbständige Kohorten und Reitereinheiten nicht länger als 170 Jahre das Land der Daker (106— 275 n. Chr.). Dann folgte der Rückzug. Aber zweifellos wurde damals die einheimische Bevölkerung nachhaltig für den Glanz und die Vorteile des römischen Lebens gewonnen. Veteranen der Legionäre lebten nach ihrer aktiven Militärdienstzeit mit den meist einheimischen Ehefrauen in Militär-siedlungen. Der bäuerliche Alltag wird überwiegend durch Worte lateinischen Ursprungs bezeichnet. Es ist auch kein Zufall, wenn in dem uralten rumänischen Neujahrslied „Plu-gujorul" („Das Pflügerlein") eine Strophe verkündet: „Unser Vater Traian (das heißt der römische Kaiser Trajan) hat uns den Ackerbau gelehrt."
Episodenhaft und wenig bekannt ist die Tatsache einer anderen romanischen Begegnung, als nämlich die Genuesen am Ende des 13. und Beginn des 14. Jahrhunderts ihre Niederlassungen am Schwarzen Meer gründeten, diese bis zum Stromlauf der Donau ausdehnten, wo sie ein Volk antrafen, das sich einer dem Italienischen verwandten Sprache bediente. Von den Genuesen lernten die Rumänen die Schifffahrt und übernahmen auch unmittelbar eine Anzahl von Bezeichnungen in den Wortschatz. Die rumänische Donaustadt Giurgiu ist eine Gründung der Genuesen und verdankt ihren Namen dem Schutzheiligen von Genua, San Giorgio. Der Donauhafen Calafat leitet sich vom italienischen cal fatare (kalfatern, teeren) her.
Wichtiger für die Latinität des Rumänentums ist indes die Drucklegung des ersten Werkes in rumänischer Sprache. Die evangelisch-lutherischen Siebenbürger Sachsen wünschten die orthodoxen Rumänen zum Protestantismus zu bekehren. Bis zu diesem Zeitpunkt stand das rumänische Kirchenwesen unter dem Einfluß serbischer und bulgarischer Mönche, und die Geistlichkeit bediente sich der soge-nannten kirchenslawischen Sprache, in der auch die Kirchenbücher abgefaßt waren. Die siebenbürgisch-sächsischen Stadtrichter von Hermannstadt druckten 1544 den „Lutherischen Katechismus" in rumänischer Sprache und damit das erste Buch in rumänischer Sprache überhaupt. Mit Hilfe des Diakons Coresi aus Tärgovi? te gaben die Stadtrichter von Kronstadt zwischen 1556 und 1583 eine Anzahl evangelischer Kirchenbücher heraus, die in der rumänischen Mundart der Walachei und Südsiebenbürgens verfaßt sind und die Grundlage der späteren rumänischen Literatursprache bilden. Die Bedeutung dieser Bücher wird noch offenkundiger, wenn man in Betracht zieht, daß auf diese Weise die rumänische Sprache nun auch die Sprache des Gottesdienstes wurde und sich überall durchsetzte und daß von nun an die Einheitlichkeit der rumänischen Nation allenthalben und von allen Chronisten und Schriftstellern unterstrichen wurde. Coresis Katechismus war der erste Meilenstein auf dem Wege zur politischen Einheit der Rumänen.
Der moldauische Chronist Grigore Ureche schrieb im 16. Jahrhundert zu Jassy: „Die Rumänen, alle die sich als Einwohner im ungarischen Lande, in Siebenbürgen, im Marmarosch befinden, sie stammen aus demselben Ort wie die Moldauer und alle zusammen haben ihren Ursprung in Rom." Nicht minder bekundet wenig später diese Latinität der Rumänen Dimitrie Cantemir, regierender Fürst der Moldau, der eine in lateinischer Sprache verfaßte „Descriptio Moldoviae" herausgab. Während in den mehr als hundert Jahren, in denen die Fanarioten, griechische Lehnfürsten der Hohen Pforte, über die Walachei und Moldau herrschten, die romanische Kontinuität ohne literarische Bekenntnisse blieb, entfaltete das Rumä-nentum Siebenbürgens (aufgrund der kirchlichen „Union" 1698 mit Rom) von Blasen-dorf (Blaj) aus eine eifrige Tätigkeit, die die Vereinigung der Fürstentümer 1859 geistig und bekenntnismäßig vorbereitete.
In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde das romanische Bewußtsein schließlich Gemeingut aller Volksschichten. Der Mythus der Latinität hat seither an Tiefgang und Überzeugungskraft gewonnen. Das überzeugende Beispiel dieses wiederbelebten romanischen Bewußtseins der Nation bildet der kleine walachische Herdenbesitzer Badea Gheorghe Cartzan (1849— 1911), der im Herbst 1905 seine Herde aus den Südkarpaten zu Tal trieb und wochenlang zu Fuß, mit Wagen und mit der Eisenbahn unterwegs war, um schließlich in Rom einzutreffen. Dort eilte er zur Trajans-Säule und legte sich abends auf seinem Hirten-pelz vor der Säule zur Nachtruhe, „um einmal zu Füßen des Vaters unseres Volkes" zu schlafen.
Es ist also kein Zufall, wenn heute, am Beginn eines nationalpolitischen Aufbruchs, das romanische Sprach-und Kulturerbe als geschichtsbildender, zukunftsträchtiger Mythos des Rumänentums wiederentdeckt und erneuert wird. Man hat auch nicht zufällig Vergleiche zwischen dem Frankreich de Gaulles und dem „Gaullismus" der Rumänen gezogen. Bukarest hat seit 1960 die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu den lateinischen Schwesternationen Frankreich und Italien besonders eng und herzlich gestaltet. Diese geschichtlich und bewußtseinsmäßig verwurzelte Gemeinsamkeit der Latinität erleichtert auch zweifellos den „Brückenschlag“ zwischen Ost und West, zu dem die rumänische Nation avantgardistisch, aber ohne Überheblichkeit beizutragen wünscht. Der Mythos der romanischen Kontinuität nördlich der unteren Donau wird tagtäglich zur politischen Wirklichkeit und wegweisenden Kraft, weil die Dako-Roma-nen sich immer wieder vor Freund und Feind zu dieser verpflichtenden Leitidee ihrer nationalen Eigenständigkeit bekennen. 2. Vereinigung der Fürstentümer und das Königreich Rumänien 1859— 1947
Tudor Vladimirescu, ein walachischer Bauern-sohn, begann 1821 einen Aufstand gegen die Türkenherrschaft in der großen Walachei (Muntenia). Der revolutionäre Aufbruch brach zwar zusammen, doch wurde er zum Fanal für die späteren Jahrzehnte. Das Jahr 1848/49 brachte unter Nicolae Balcescu, Ion Ghica und Gheorghe Magheru ein neues Aufbegehren gegen die Fremdherrschaft. In den Fürstentümern und in Siebenbürgen wandten sich nach einem Aufmarsch von 40 000 rumänischen Bauern auf dem Freiheitsfeld von Blasendorf (3. Mai 1848) ein Nicolae Balcescu, Avram Iancu, Gheorghe Baritzu gegen Habsburg und die Feudalordnung des Stephansreiches. Vor diesem national-und sozialrevolutionären Hintergrund vollzog sich schließlich durch die gleichzeitige Wahl des Obersten Alexandru Ioan Cuza zum Fürsten der Moldau (Jassy) 'und der großen Walachei (Bukarest) am 24. Januar 1859 die Vereinigung der beiden Fürstentümer unter einem gemeinsamen Herrscher.
Auf dem Thron der Vereinigten Rumänischen Fürstentümer folgte Karl von Hohenzollern-Siegmaringen, der am 10. Mai 1866 als Fürst Rumäniens vereidigt wurde. 1877 errang Rumänien durch seine bravouröse Teilnahme am russisch-türkischen Krieg die volle Unabhängigkeit gegenüber der Türkei. Am 10. Mai 1881 wurde Fürst Carol I. zum König von Rumänien gekrönt. Tatsächlich begann mit der Herrschaftsperiode Carols I. die Wandlung Rumäniens zu einem modernen Staatswesen. Unter seinem Neffen und Nachfolger König Ferdinand I. (1914— 1927) trat das Königreich Rumänien am 29. August 1916 in den Krieg gegen die Mittelmächte ein. Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte dem neuen Großrumänien der Zwischenkriegszeit beträchtlichen Gebiets-erwerb: Ostbanat, Kreischgebiet, Sathmar, Siebenbürgen, Buchenland, Bessarabien, Dobrud-scha. Rumäniens Staatsgebiet erweiterte sich von 137 900 qkm auf 285 099 qkm (nach 1944 wurde es auf 237 500 qkm verkleinert). Zugleich wuchs der Anteil nichtrumänischer Volksgruppen auf mehr als ein Viertel der Staatsbevölkerung, darunter Magyaren-Szeke-ler mit rund zwölf Prozent, Deutsche mit vier Prozent usw. (s. Tabelle S. 22).
Irrungen und Wirrungen der Zwischenkriegszeit ließen die glückhafte Geburtsstunde Groß-rumäniens allmählich vergessen. Nach dem Tod des „ersten Königs aller Rumänen", Ferdinand I. von Hohenzollern-Siegmaringen, im Jahre 1927, wurde für den Großenkel Michael I. ein Regentschaftsrat eingesetzt. Am 8. Juni 1930 vollzog Carol II., der Vater Michaels I., seinen ersten Staatsstreich und ließ sich anstelle seines Sohnes krönen. Am 11. Februar 1938 folgte das Verbot aller politischen Parteien Rumäniens und die Diktatur des Königs, die bis zum 6. September 1940 währen sollte.
Damals brachte ein nationalistischer Aufstand Marschall Ion Antonescu an die Führung, und Michael I. bestieg zum zweiten Mal den Thron Rumäniens, den er am 30. Dezember 1947 verlieren sollte.
Auch die opfervolle Zeit dieser Königsherrschaft unter der alleinigen Diktatur von Marschall Antonescu (seit dem 23. Januar 1941) ist den Zeitgenossen bekannt: Am 21. Juni 1941 begann Rumänien den Waffengang gegen die UdSSR zur Rückgewinnung Bessarabiens an der Seite der Wehrmacht. Am 23. August 1944 beendete der rumänische Frontwechsel diese Phase und leitete die Übergangszeit des „Antifaschismus" und der Koalitionsregierungen in Rumänien ein.
König Michael I., einziger überdauernder König „aus der Gnade Gottes und durch den Willen des Volkes" im europäischen Vorfeld des Sowjetimperiums, erleichterte der sowjetischen Besatzungsmacht und den Spitzenfunktionären der KP Rumäniens die im großen und ganzen gewaltlose Vorbereitung und Übernahme der unumschränkten Macht im Lande. Bezeichnend für diesen fast lautlosen Umbruch und zugleich für das politische Temperament des damals aufsteigenden KP-Chefs Gheorghe Gheorghiu-Dej waren die höflichen Worte, mit denen er am 30. Dezember 1947 in einer Audienz dem König die Absetzung mitteilte: „Es ist jetzt so weit, Majestät!"
Die KP Rumäniens bildete noch zu diesem Zeitpunkt einen zahlenmäßig unbedeutenden harten Kern, umgeben von einer Vielzahl von Opportunisten und Glücksrittern. Die besondere Leistung der illegalen KP-Führung vor dem 23. August 1944 bestand darin, daß einige der im Untergrund agierenden Führer mit wenigen maßgeblichen Offizieren der königlich-rumänischen Armee Absprachen trafen, die eine spätere Belohnung dieser Militärs mit Schlüsselstellungen vorsahen. Die Förderung des überfallartigen Frontwechsels, die Mitwisserschaft und Verlautbarung König Michaels I. am Abend des 23. August 1944 gaben den Ausschlag zugunsten der Kehrtwendung der Armee. 3. Von der Rumänischen Volksrepublik (RVR) zur Sozialistischen Republik Rumänien (SRR)
Die ersten Jahre des forcierten gesellschaftspolitischen Umbruchs — die „Säuberungen" außerhalb und innerhalb der KP Rumäniens, die „Vereinigung" der Kommunistischen Partei mit dem linken Flügel der Sozialdemokraten am 21. Februar 1948, Abkehr und Ab-schließung der RVR von Westeuropa und vom Westen — wären von einer Handvoll Altkommunisten ohne sowjetischen Schutz kaum zu meistern gewesen. Die sowjetische Besatzung übte darüber hinaus direkte Regie und direkte Intervention in allen grundsätzlichen Entscheidungen der KPR. Auch ist die sowjetische „Beuteperiode" in Rumänien ebenso unleugbar wie die offenen oder versteckten Reparationen an die Besatzungsmacht. Nicht minder bleibt festzuhalten, daß demokratische Politiker (überwiegend der zweiten Garnitur) noch lange nach 1944 an eine Wendung der Dinge im Sinne einer westlichen Demokratie glaubten oder aus Berechnung kollaborierten — dadurch aber zweifellos der kommunistischen Zielsetzung in Rumänien dienten.
Die Rumänische Volksrepublik erhielt am 13. April 1948 ihre erste Nachkriegsverfassung, die am 21. September 1950 durch ein zweites Verfassungswerk abgelöst wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren die lückenlose Verstaatlichung der Großwirtschaft (11. Juni 1948) sowie der Beginn der Agrarkollektivierung, die Zentralisierung der Verwaltung und die Planwirtschaft in den Ansätzen begonnen oder bereits durchgeführt. 1951 begannen die Mehrjahrspläne, die mit dem 4. Fünfjahrplan (1966— 1970) ihren vorläufigen Höhepunkt erfuhren. Die Oktobertage 1956 hatten auch in Rumänien Unrast und revolutionäre Erregung ausgelöst. Nicht bloß in Bukarest und Jassy, sondern gerade auch in Klausenburg, in Tärgul Murejului (Marosväsärholy, Neumarkt am Mieresch) fanden Versammlungen und Kundgebungen zugunsten des Ungarischen Oktober statt. Während der kurzlebigen Regierung Imre Nagy forderten magyarisch-szeklerische Intellektuelle die Rückgliederung ganz Siebenbürgens (das indessen eine rumänische Bevölkerungsmehrheit hat) an die Ungarische Volksrepublik. Die Reaktion der Bukarester Regierung darauf bestand in einer grundlegenden Umstellung der gesamten Nationalitätenpolitik der Rumänischen Volksrepublik gegenüber den nichtrumänischen Volksgruppen. Das eigene Schulwesen der „mitwohnenden Nationalitäten" erfuhr Einschränkungen. Der muttersprachliche Unterricht wurde verkürzt. Die magyarische Universität in Klausenburg wurde 1959 mit der rumänischen Hochschule „vereinigt". Ebenso folgte die Einbeziehung nichtrumänischer in rumänische Schulanstalten. Die Entwicklung zielte auf die einheitliche Staatsnation. Der „Klassenkampf" hörte nach und nach auf, Triebfeder der innerstaatlichen Führungspraxis zu sein.
Am 20. Juni 1960 hatten Rundfunk und Presse die Kollektivierung von 83 % der Agrarfläche Rumäniens gemeldet. Am 21. März 1961 wurde das Gesetz über Schaffung eines Staatsrates durch die Große Nationalversammlung verabschiedet. Präsident des neuen Obersten Gremiums wurde zugleich der Erste ZK-Sekretär der Rumänischen Arbeiterpartei Gheorghe Gheorghiu-Dej. Der gesellschaftspolitische Umbruch, die neue innere Führungsordnung, die endgültige Gleichschaltung und Einschaltung Rumäniens in das sowjetkommunistische „Commonwealth" der Ära Chruschtschows schienen vollendet und abgeschlossen. Gewiß, es gab Unzuträglichkeiten zwischen Bukarester KP-Hierarchie und Kreml. Wer aber hätte den „Walachen" zugetraut, daß sie sich bereits zu diesem Zeitpunkt zu einem „Alleingang" anschickten, der mit der neuen Verfassung und der Umbenennung der Rumänischen Volksrepublik in Sozialistische Republik Rumänien am 21. August 1965 erst recht eine neue Welle des nationalen Gedankens bringen sollte.
Das Verhältnis der staatlichen Behörden gegenüber den Kirchen Rumäniens stand 1945 zunächst unter dem Zeichen der Duldung. Die freie Betätigung im kirchlichen Bereich schien gesichert. Sehr bald aber, am 30. Oktober 1948, wurde die uniiert-katholische Kirche der Rumänen Siebenbürgens gezwungen, in einem großen Festakt in der Kathedrale zu Karlsburg (Alba Iulia) ihrer 250jährigen „Union" mit Rom zu entsagen und ihre „Wiedervereinigung" mit dem rumänisch-orthodoxen Patriarchat unter dem Patriarchen lustinian feierlich zu verkünden. Gegen die römisch-katholische Kirche in Rumänien begann eine zum Teil offene Verfolgung. Noch erfreute sich ein Teil der christlichen Sekten einer besonderen Nachsicht und „Förderung". Insgesamt aber läßt sich rückblickend feststellen, daß bis jetzt die atheistische Propaganda, die Beeinträchtigung der kirchlichen Tätigkeit und religiösen Erziehung noch nicht jenes Ausmaß erreicht haben wie in einigen benachbarten Volksdemokratien oder gar in der Sowjetunion selbst.
III. Die KP Rumäniens und die Führungsordnung der SR Rumänien
1. Aufstieg der Kommunistischen Partei zur beherrschenden Stellung in der Innenpolitik Rumäniens
Am 31. Dezember 1965 zählte die Rumänische Kommunistische Partei (RKP) 1 518 000 Mitglieder. Erstmalig machte der Anteil der bäuerlichen Parteiangehörigen (480 000) 31, 8 °/o des Bestandes aus (Arbeiter 39, 6 %, Intellektuelle und Angestellte 22%). Bei einer Einwohnerzahl von rund 20 Mill, beträgt somit die Zahl der Parteimitglieder rund 71/2 % der Bevölkerung. Man muß allerdings als Organisationen hinzuzählen den Verband der Kommunistischen Jugend, der anläßlich seines VIII. Kongresses im März 1966 einen Mitgliederbestand von 2 250 000 Mitgliedern meldete, davon 1 300 000 „Pioniere" im Alter von 9— 14 Jahren (70% der Pflichtschüler), und die Studentenvereinigung (94 000 Mitglieder). Ebenso zählt der Rumänische Gewerkschaftsbund, der anläßlich seines V. Kongresses im Mai 1966 4 060 000 Mitglieder verzeichnete, zu den organisatorischen Stützen der heutigen Führung — abgesehen von einer „Demokratischen Front" (die bloß zu Wahlzeiten aktiv wird), von den Sportorganisationen, Frauenvereinigungen usw. Mit diesen beeindruckenden Zahlen muß man den Ausgangspunkt der KP Rumäniens im Jahre 1944 vergleichen, um den Weg einer Handvoll Kaderfunktionäre zur unumschränkten Macht und zur staatstragenden Organisation in seiner Bedeutung zu ermessen. Die 1924 gesetzlich verbotene KP zählte 1939 nicht mehr als rund 1000 eingeschriebene Genossen, darunter einen hohen Hundertsatz an Mitgliedern magyarischer Herkunft oder mosaischer Religion.
Man hat zu Recht darauf hingewiesen, daß der kometenhafte Aufstieg der KP nur im Schatten der sowjetischen Besatzungsmacht denkbar war. Bereits am 16. Oktober 1945 nannte der 1. KP-Kongreß der Nachkriegszeit die Zahl von 180 000 Mitgliedern, Ende 1947 war die Zahl auf 570 000 emporgeschnellt. Der „Vereinigungs" -Parteitag der KPR (21. — 23. 2. 1948) brachte einen kollaborationistischen Flügel der Sozialdemokratie in die kommunistischen Reihen. Die KP Rumäniens nannte sich seither und bis zum IX. Parteikongreß (19. bis 22. Juni 1965) „Rumänische Arbeiterpartei". Seither hat sie ihre frühere Bezeichnung „Rumänische Kommunistische Partei“ (RKP) wieder eingeführt.
Die Kommunisten Rumäniens galten im Urteil der Bevölkerung während der ersten Nachkriegsjahre wegen ihrer politischen Abhängigkeit und der wirtschaftlichen Ausbeutungsmethoden als Handlanger der Sowjets. Auch in der Zusammensetzung der Mitgliedschaft mußten erst eine entscheidende Strukturänderung und ein Generationswechsel eintreten, bevor die KP Rumäniens tatsächlich ohne sowjetische Beratung und Kontrolle die Geschicke des Landes aus der Sicht Rumäniens selbst zu bestimmen imstande war. Diese „Wachablösung" und das Nachrücken der zweiten Generation hat vor etwa einem Jahrzehnt eingesetzt und sich seit der Ära des Parteichefs Nicolae Ceausescu beschleunigt.
Man wird bei der Analyse der Geschichte der KP Rumäniens seit 1944 zu berücksichtigen haben, daß die Genossen der illegalen Kampf-zeit (1924— 1944) seit eh und je an die Führung der KPdSU im Weltmaßstab geglaubt hatten. Der Sieg der Sowjetunion über Hitler-Deutschland und dessen Verbündete ließ in den kleinen Bruderparteien zunächst keinen Zweifel an der Unfehlbarkeit Stalins und der Sowjetunion aufkommen. Die Bukarester KP-Hierarchie mußte sich seit der Besetzung Rumäniens durch die Sowjetarmee darüber klar sein, daß nur in engster Tuchfühlung mit dem größeren „Bruder“ ein Umbruch von Gesellschaft und Staat, die Umerziehung zu einem neuen Bewußtsein möglich sein würden.
An sich aber verfügte auch die zahlenmäßig mehr als bescheidene KP Rumäniens am Kriegsende über sämtliche Spielarten von „Nationalkommunisten“, „linken“ und „rechten" Abweichlern usw. All diese Schattierungen, sachliche und persönliche Gegnerschaften mußten ausgeschaltet werden, bevor der langjährige Parteichef Gheorghe Gheorghiu-Dej wirklich zum „ersten Mann“ Rumäniens aufgerückt war und sich dabei auf zwei wesentliche Gruppierungen in seinen Führungskadern stützen konnte: die anwachsende junge Generation und kollaborationswillige Vertreter des als Schicht liquidierten Bürgertums.
Der erste maßgebliche Nationalkommunist Rumäniens, der ein Opfer seiner Überzeugung wurde, war Lucretiu Patrascanu. Der zeitweilige Justizminister sprach sich 1948 gegen die landwirtschaftlichen Kollektivierungsmethoden aus, erklärte vor Klausenburger Studenten, daß er zuerst Rumäne und dann Kommunist sei. Er wurde 1949 „wegen Hochverrat und Spionage" zum Tode verurteilt, aber erst am 15. April 1954 in Bukarest erschossen.
Patrascanus Sturz blieb keine Episode. Der „in der Wolle gefärbte Titoist" Gheorghe Gheorghiu-Dej wurde 1949 auf Betreiben seiner energischen Nebenbuhlerin Ana Pauker in Konstanza eingesperrt. Erst ungezählte Bittgesuche von eilig aufgebotenen Gewerkschaftsversammlungen bewogen Stalin, Gheorghe Gheorghiu-Dej den Weg nach Bukarest wiederum freizugeben. Von 1950 bis 1958 galt hierauf der geschickte und harte KP-Führer Rumäniens als Stalinist und ergebener Erfüllungsgehilfe des Kreml. 2. Gegensätze, Säuberungen und die Linie der Partei unter Gheorghiu-Dej Nach außen hin galt die KP Rumäniens bis zum Frühjahr 1952 als stabilste KP-Hierarchie im Vergleich zu den benachbarten Volksdemokratien. Ihre obersten Ränge rekrutierten sich zum geringsten Teil aus ehemaligen Spanienkämpfern; eine größere (in ihrer Haltung nicht einheitliche) Anzahl Emigranten war aus Moskau heimgekehrt. Den eigentlichen Kern aber bildeten jene Genossen, die in Gefängnissen wie Gilava oder im Untergrund den Einmarsch der Roten Armee und ihre eigene Handlungsfreiheit erwartet hatten. Unabhängigkeitsstreben und Aufbegehren einzelner Kaderfunktionäre gegen die sowjetische Besatzungsmacht oder gegen Beauftragte der KPdSU endeten fast ausnahmslos mit der raschen Säuberung. Vor allem vermochten die Sowjets persönliche Gegensätze innerhalb der rumänischen KP-Hierarchie bis gegen Ende der fünfziger Jahre erfolgreich auszuspielen.
Das Märzplenum 1952 des ZK der RAP reinigte die Partei von so maßgeblichen alten Kämpfern wie dem Planungschef Vasile Luca (Lszl Lukäcs), ZK-Sekretär Ana Pauker und dem ehemaligen Finanzminister Theohari Georgescu. Zwei Jahre später erfolgte eine kleine Reinigung, die sich zum Teil gegen die Sündenböcke des fehlgeplanten Baues des Donau-Schwarzmeer-Kanals richtete. Im Hochsommer 1957 wurde schließlich der geschickte „zweite Mann", der moskowitisch eingestellte Josil Chisinevschi, samt Gattin Ljuba abgesetzt. Der Kreml hatte hierdurch zwei seiner wichtigsten „linientreuen" Gefolgsleute in Rumänien eingebüßt. 1958 ließ Gheorghiu-Dej in der Parteispitze noch eine „rechte" Abweichung begradigen. Seit 1960 aber zählten die abgesetzten und abgelösten Kaderfunktionäre fast ausnahmslos zu den übereifrigen Verfechtern einer Hörigkeit gegenüber Moskau; teilweise handelt es sich wohl auch um persönliche Kritiker des nunmehr allmächtigen Partei-und Staatschefs Gheorghe Gheorghiu-Dej.
Man wird mit Recht fragen, wie es Gheorghiu-Dej jahrzehntelang glückte, die Tod-feindschaften und Säuberungen, das Mißtrauen Stalins, den Jähzorn Chruschtschows zu überdauern. Der 1901 geborene Südrumäne trat mit harten Maßnahmen, scharfen Formulierungen oder gar Absetzungen innerhalb der obersten KP-Führung Bukarests persönlich fast nie in Erscheinung. Er überließ es wechselweise seinen engsten Kameraden und Mitarbeitern, kleine und große „Säuberungsfeldzüge" zu führen. So blieb der sympathisch wirkende „erste Mann" im Urteil der Bevölkerung volkstümlich, galt sogar als eine Art Harun al Raschid, dessen persönliches Sekretariat und Erhebungsabteilung manches Unrecht wiedergutmachte. Als Gheorghiu-Dej den „Alleingang" antrat, war er gewiß, daß die oft zitierten „werktätigen Massen" der Rumänischen Volksrepublik ihm wirklich Gefolgschaft leisten würden, sobald es um die nationale Selbstbehauptung, um die Abwehr fremder Vorherrschaftsbestrebungen ging. In den Jahren 1960— 1964 zerbrach der einstige „Kinderglaube" der rumänischen Genossen an die Selbstlosigkeit und den Modellcharakter der KP der Sowjetunion. Gerade deshalb aber war die Parteiführung der KP Rumäniens bemüht, ihre eigene Linientreue, ihre Opferbereitschaft bei jeder Gelegenheit zu unterstreichen. Selbstverständlich mußte dabei das ZK-Sekretariat und Politbüro Stimmung und Zustimmung der kleinen Mitglieder stärker berücksichtigen, sobald die Konfrontation mit unerfüllbaren Wünschen des Kreml begann. Ähnlich wie seinerzeit in Jugoslawien mußte die KP Rumäniens eine gewisse Mauserung zur „Volkspartei" mitmachen. 3. Nationalkommunismus in der ausgehenden Ära des Rebellen Gheorghe Gheorghiu-Dej Spät, aber nicht zu spät, warf Gheorghiu-Dej das Steuer der „Erfüllungspolitik" gegenüber Moskau herum. Bekanntlich lösten so-B wjetische Wünsche an die Planwirtschaft Rumäniens die ersten negativen Reaktionen Bukarests aus: Bukarest war nicht bereit, die Landwirtschaft gemäß den Wünschen Chruschtschows umzustellen, und auch nicht willens, den eigenen Industrieaufbau zu bremsen und den Weisungen des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON) zu einer „Arbeitsteilung" anzupassen. Nicht minder verärgerte es die Rumänen, daß Moskau sein Erdölleitungsnetz ohne jede Klärung und Abstimmung bis tief nach Mitteleuropa hinein baute.
Dennoch waren und sind diese Motive vordergründige Anlässe, nicht die Ursachen der Entfremdung selbst. Bukarest setzte sich gegen eine Behandlungsweise zur Wehr, die sich in den Stalinära wenig von Kolonialmethoden des 19. Jahrhunderts unterschieden hatte. Es ging den rumänischen Genossen (eben weil sie iibeizeugte Kommunisten und geborene Rumänen waren) um Gleichstellung, Gleichberechtigung, Mitsprache in der Zusammenarbeit und Planung eines kommunistischen Commonwealth.
Den breiten Volksmassen unvergeßlich, erfolgte am 15. März 1962 die Entfernung der Namensschilder Stalins von Straßen, Plätzen, öffentlichen Gebäuden usw. Am 26. April 1964 verlautbarte das ZK der Rumänischen KP die Magna Charta der rumänischen Souveränität und führungspolitischen Selbstbestimmung innerhalb des kommunistischen Welt-lagers. Doch diese politische Grundsatzerklärung erfolgte nicht mit parteipolitischen Argumenten, sondern unter Bezugnahme auf die wirtschaftsdirigistischen Wünsche der Sowjets innerhalb des COMECON. Am 29. Juni 1963 blieb Gheorghe Gheorghiu-Dej der Ostberliner Tagung der Parteisekretäre des Ostblocks fern. Manche Ereignisse dieser Monate und Jahre sind noch nicht völlig geklärt. Eindeutig aber kam es im Jahre 1964 zur Feuerprobe des nationalen Zusammenhalts der proletarischen Internationalisten in Bukarest. Erstmalig traten Parteiführer mit offenen Erklärungen über die sowjetischerseits ausgelösten Schwierigkeiten im Plan-apparat vor die Wirtschaftsmanager, vor die Arbeiter und Bauern. Die durch das COMECON geplante Zerreißung Rumäniens in unterschiedliche „Wirtschaftsregionen" stieß auf heftigen Widerstand. Der letzte Versuch Chruschtschows, den verhaßten Gheorghiu-Dej handstreichartig durch einen anderen Spitzen-funktionär zu ersetzen und in die Sowjetunion zu entführen, so wird in Gesprächen mit
Kaderfunktionären versichert, sei fehlgeschlagen. Nicht minder verdient Beachtung, daß die Sowjetarmee im Juni und Juli 1964 entlang den rumänischen Grenzen (auch in Ungarn) Bereitstellungen übte und die Rumänische Volksarmee ihrerseits in der südlichen Bukowina, in der Moldau und in Norwestrumänien große Manöver abhielt und Reservistenjahr-gänge einberief.
Es war Gheorghiu-Dej nicht beschieden, den „Alleingang" zur Wiedererlangung der nationalpolitischen vollen Entscheidungsfreiheit zum Ende zu führen. Am 19. März 1965 starb er. 4. Neuordnung von Partei und Staat im Zeichen des IX. Parteikongresses der KPR.
Am 22. März 1965 wurde der 1918 geborene Nicolae Ceausescu zum Nachfolger des Parteichefs Gheorghiu-Dej bestellt. Wer ist Nicolae Ceausescu? Jene Funktionäre der Bukarester KP-Hierarchie, die ihn in den letzten Lebenstagen des Gheorghiu-Dej noch als „jungen Mann" einschätzten und Ion Gheorghe Maurer oder Alexandru Brledeanu als obersten Repräsentanten von Partei und Staat vorgezogen hätten, wurden durch die blitzschnelle Taktik und das kaltblütige Abwägen des damals 47jährigen ebenso überrascht wie kurz darauf die Delegierten der KPdSU zum IX. Parteikongreß der Rumänischen Kommunistischen Partei mit Leonid Breshnew an der Spitze (19. — 22. Juli 1965). Der neue Parteichef trat „fertig" in die Arena, folgte unbeirrbar dem vorgezeichneten Weg und formulierte messerscharf. Damals klatschten die sowjetischen Freunde und Gäste „nur mit den Fingerspitzen Beifall". Später beruhigte man sich in Moskau zeitweilig über den jungen Bukarester Parteichef mit seinem Römerkopf: Erziehung, Werdegang, Weltanschauung des neuen Parteichefs waren und blieben eindeutig kommunistisch. Doch sollen die Beziehungen zwischen RKP und KPdSU (im Urteil der neuen rumänischen Führungsgeneration) auf gemeinsame Grundsatztreue, Gleichstellung und fallweise unbeeinflußbare Einzelentscheidungen jeder Bruderpartei abgestellt werden. Deshalb wurden auch die Bukarester Beziehungen zur KP Rotchinas — wenn auch stets mit einiger Zurückhaltung und Vorsicht — fortgesetzt. Als anfänglich ganz und gar unterschätzes enfant terrible des Sowjetblocks hat sich die KP Rumäniens am längsten gegen ein Scherbengericht über Peking gewehrt. Verschiedentlich bot Bukarest seine guten Dienste zur Entspannung zwischen den beiden Parteien der UdSSR und der VR China an. Vom Standort der Partei geurteilt, spielt in Bukarest sicher auch der Wille zur Macht und Selbsterhaltung mit eine Rolle. Rumäniens Vietnam-Hilfe und die mit Eifer gepflegten Beziehungen zu kommunistischen und Arbeiterparteien innerhalb und außerhalb des Ostblocks entspringen dem gleichen Wunsch der jüngeren Führungsgeneration, „Linie“ und weltweite Solidarität zu wahren.
Der IX. Kongreß der RKP beschloß am 22. Juli 1965 ein neues Parteistatut. In seiner Präambel fehlt die einstige Bezugnahme auf die russische Oktoberrevolution, dafür gewinnen Begriffe wie Vaterland, Liebe zu Volk und Partei, nationale Unabhängigkeit einen beherrschenden Platz. Allgemein bekundet sich ein gesteigertes Selbstbewußtsein der RKP — handle es sich nun um die neue Bezeichnung der Partei, um die Änderung der Staatsverfassung und des Namens der Rumänischen Volksrepublik in „Sozialistische Republik Rumänien." Die dörflichen Grundorganisationen der RKP werden (Kapitel VII) in erster Linie nicht mehr zum „vollen Sieg des Sozialismus in der Landwirtschaft", sondern zur „weiteren Steigerung der pflanzlichen und tierischen Produktion" aufgerufen. Allgemein fordern das neue Parteistatut und die am 21. August 1965 angenommene dritte volks-republikanischeStaatsverfassung nicht mehr eine klassenkämpferische Zielsetzung innerhalb der SRR und den „sozialistischen Aufbau", sondern sprechen von der „Vollendung des Sozialismus". Die seinerzeitige „Vasallitätserklärung“ in der Verfassung des Jahres 1962 gegenüber der UdSSR fehlt in der neuen Verfassung. Das Moment der persönlichen Freiheit, der „breiten nationalen Basis“ spielt eine ausschlaggebende Rolle. Im übrigen aber läßt gerade die verfassungsrechtliche Verankerung der Agrarpolitik der RKP (Hofland nur zur Nutzung!) keinen Zweifel, daß sich am eindeutigen Bekenntnis zum Kommunismus als Weltanschauung nichts geändert hat. Dies ist zu unterscheiden von der Absage an ausländische Vorbilder, die ihren Glanz und ihre frühere Anziehungskraft eingebüßt haben.
Als ein wesentliches Element der neuen Ordnung im parteibestimmten Lenkungsbereich kann man die Reform der kommunistischen Jugendorganisation ansehen: Der Trend von der Massenorganisation zur bewußten Auslese auf freiwilliger Basis ist unverkennbar. Kapitel VIII des neuen Parteistatuts bringt mit der Umbenennung des „Verbandes der Werktätigen Jugend" in „Verband der Kommunistischen Jugend" die bewußte Aussage: Der VKJ ist die Hauptreserve der Partei. Diese Reorganisation erklärt auch, daß es ab jetzt in der RKP keine „Anwärter", sondern nur noch Vollmitglieder gibt.
IV. Umbruchjahre und Entwicklung der Wirtschaftsund Sozialpolitik Rumäniens (1944— 1967)
1. Verstaatlichung, Zentralismus und Plan-ideologie der „stalinistischen Ära Rumäniens
Rumäniens kollektivistische Wirtschaftsordnung entspricht gegenwärtig noch in mancher Beziehung der kommunistischen Planideologie früherer Jahre. Man gewinnt beim ersten Zusehen den Eindruck, daß sich an dirigistischen Rahmenbestimmungen, an der allgemeinen Richtungsentwicklung der staatlichen Verwaltungswirtschaft der SRR wenig geändert, der „Reformismus" anderer sozialistischer Länder in Rumänien noch keinen Widerhall, keine Auswirkungen gewonnen hat. Diese Beobachtung gilt noch in besonderem Maße für den Arbeitsstil und die Organisation der Landwirtschaftlichen Erzeugergenossenschaften (LEG) und selbst für die Staatsgüter. Denn vergleichsweise erzielt man in Österreich durchschnittlich den doppelten Weizenertrag sowie die dreifache Milcherzeugung und verfügt (auf meist klein-und mittelbäuerlicher Grundlage) über eine weit höhere und zweckmäßigere Technisierung, ein leistungsfähigeres demokratisches Genossenschaftswesen usw.
Dennoch bleibt nicht alles beim alten. Das Dilemma wird gegenwärtig zum Teil einfach über den Weg der wirtschaftspolitischen Praxis und mit Hilfe einer besseren qualifizierten Schicht jüngerer Wirtschaftsmanager Schritt um Schritt angegangen und überwunden. Aufs Ganze gesehen, ist Rumäniens Wirtschaft ausbaufähig. Die SRR verfügt über vielseitige Möglichkeiten und zahlreiche natürliche Reichtümer. Die Lebenshaltung Rumäniens liegt im Durchschnitt über jener der UdSSR, die zunehmenden sozialen Forderungen auf Teilhabe am Sozialprodukt und Mitsprache sind gepaart mit einer größeren Bereitschaft der Arbeitnehmer zur Mitverantwortung.
Langjährige Funktionäre der RKP erwidern immer wieder auf Erkundigungen über die Wirt ersten Nachkriegsjahre rumänischer -schaftsund Planpolitik: „Danach sollt ihr uns lieber nicht fragen. Damals hatten wir selbst ja nichts zu sagen!" Der Gesprächsteilnehmer überprüft das Gewicht dieser Aussage unwillkürlich mit jener Szene 1963 im Kreml, als der verärgerte Chruschtschow gegenüber dem beharrenden Bukarester Wirtschaftsführer Alexandru Birledeanu ausspukte und beinahe tätlich wurde.
Wie also vollzog sich die erste Etappe des planpolitischen Umbruchs in Rumänien? Es ist, mehr als zwei Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg, nicht mehr notwendig, die wirtschaftlichen Opfer Rumäniens zur Zeit des rumänisch-deutschen Bündnisses und vor allem die rumänischen Reparationen nach 1944 an die Sowjets näher zu belegen. Denn das Land hat sich von den Kriegswirren und der sowjetischen „Beuteperiode" erholt. Gigantische und kostspielige Fehlplanungen wie der Donau-Schwarzmeer-Kanal gehören inzwischen ebenso der Geschichte an wie die Jahre des statistischen Zahlenrausches und der hoffnungslosen Planverzerrungen. Man sollte gegenwärtig zur Kenntnis nehmen, daß Rumäniens Eigenentwicklung und sozialwirtschaftliche Gesundung beachtliche Fortschritte verzeichnet, seit es sich von dem Preisdiktat des Kreml befreit hat, und daß der beiderseitige Nutzen innerhalb des COMECON mehr und mehr die ausschlaggebende Rolle spielt.
Die strukturelle und funktionale Gleichschaltung Rumäniens setzte am 23. März 1945 mit einer ersten Bodenreform und Besitzenteignung deutschsprachiger Staatsbürger und rumänischer „Faschisten" ein. Diese gesetzlichen „Ausnahmebestimmungen" sollten wenige Jahre später auf die gesamte Bauernschaft sowie auf das private Groß-und Kleingewerbe Rumäniens angewandt werden. Im Juni 1947 schuf man staatliche Industrieverwaltungen. Nach der Abdankung König Michaels und im Zeichen des „Kalten Krieges" zwischen Ost und West beeilte sich auch die Bukarester Koalitionsregierung, die Volkswirtschaft Rumäniens durch lückenlose Verstaatlichung der Industrie-, der Montanbetriebe, der Handels-und Verkehrsunternehmen „planreif" zu machen. Zwei Einjahrpläne und der Beginn des ersten Fünfjahrplanes der RVR (1951— 1955) bilden die Wegzeichen für beachtliche soziale Opfer der Erwerbstätigen. Insbesondere muß man die „Sozialisierung des Bauernlandes" als kostspieliges Experiment bezeichnen. Dabei wich die Bukarester Agrarpolitik von der Kollektivierungs-Kampagne der volksdemokratischen Nachbarländer taktisch insoweit ab, als Vergenossenschaftung und Verstaatlichung der Landwirtschaft nicht mit einer einmaligen Gewaltmaßnahme verfügt wurde, sondern abgestuft und nach einem etwas verzögerten Zeitplan erfolgte. Das erste sowie das zweite Planjahrfünft der RVR (nach vier Jahren abgebrochen), schließlich der Sechsjahrplan (1960— 1965) erreichten wesentliche Zielsetzungen nicht. Insonderheit muß man Rückstände der Verbrauchsgüterindustrie, an Qualität, Nichterfüllung der projektierten Kostensenkung und Produktivitätssteigerung vermerken. Fehlleistungen, umfangreiche Lieferungen an die UdSSR, der anhaltende Druck auf die Lebenshaltung zugunsten der Industrialisierung und Rüstung trugen — neben den sowjetischen Führungsmethoden innerhalb des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe — wesentlich dazu bei, daß sich der passive Widerstand Rumäniens gegen den Stalinismus und dessen Relikte versteifte. 2. Rumäniens Volkswirtschaft und die Zusammenarbeit im COMECON In unserem Zusammenhang seien kurz einige der wichtigsten Daten über den 1966 angelaufenen Fünfjahrplan mitgeteilt, weil sie die beigegebene Statistik (s. Seite 23) in mancher Beziehung ergänzen:
Die industriellen Zuwachsraten pro Jahr wurden mit 10, 5% der Bruttoerzeugung angesetzt, während der vorangegangene Sechsjahrplan (1960— 65) eine jährliche Zunahme von 14, 4% gebracht hatte. Demgegenüber fiel der Leistungsrückstand der Landwirtschait auf: Für 1970 sind die ursprünglichen Solls von 1965 nur geringfügig erhöht und neuerlich als Plan-ziele vorgesteckt worden (jährlich etwa 3, 5 %). Gleichzeitig mit dem neuen Fünfjahrplar verabschiedete der IX. Kongreß die „Richtlinien über die Verwaltung der Energiequellen und die Elektrifizierung des Landes in der Zeit-13 spanne 1966 — 1967". Bekanntlich ist die Energiebilanz Rumäniens — verglichen mit den benachbarten Volksrepubliken — günstiger, und die Zunahme der Stromerzeugung hält mit dem Eigenbedarf Schritt. Betrug der Brutto-Energieverbrauch 1965 je Einwohner 2, 100 kg konventionelle Brennstoffe, so ist bis 1970 eine Steigerung auf 2, 745 kg und bis 1975 auf rund 3, 550 kg vorgesehen. Ein gigantisches Unternehmen, das in Zusammenarbeit mit anderen Donaustaaten projektiert ist, bildet die Errichtung eines Großkraftwerkes am Eisernen Tor an der Donau.
Bis 1970 soll die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen nur noch 50 °/o aller Berufstätigen betragen (1965 = 57 °/o, 1950 = 74 ’/o). Die Zunahme der Lohnempfänger außerhalb der Landwirtschaft ist mit rund 900 000 angesetzt, wobei die derzeit darniederliegende Landwirtschaft 400 000 Arbeitskräfte beizusteuern hätte.
So sollten ferner zum Beispiel bis 1970 pro Jahr aus Staatsfonds jährlich 60 000 Kleinwohnungen errichtet werden, das heißt um etwa 25% mehr als in der vorangehenden Vergleichszeit (1961— 1965). Vergleichsweise betrugen die Leistungen des österreichischen Wohnungsbaus seit 1960 pro Jahr rund 40 000 Wohneinheiten. Da Rumänien 20 Millionen und Österreich 7 Millionen Einwohner hat, ist das österreichische Ergebnis der vergangenen Jahre auf den Kopf der Bevölkerung umgerechnet etwa doppelt so hoch, wie Rumäniens Wohnbauwirtschaft für die Zukunft plant.
Die neuen Ausbaupläne der Volkswirtschaft der SRR zeigen, daß bisher zum Teil vernachlässigte Sparten wie der Chemiesektor, metallverarbeitende Branchen, Verbrauchsgüter-sparten beschleunigt aufgebaut werden sollen. Neben einer Standortbereinigung sollen neue Leitungsmethoden in den Planapparat Eingang finden, will Rumänien seine Erzeugung und Außenwirtschaft differenzierter auf die Märkte des COMECON, Westeuropas und der Handelspartner in Ubersee abstellen.
Die Chronik der wirtschaftspolitischen Beziehungen Rumäniens zum COMECON zeigt für den Außenstehenden bis etwa Ende 1962 die widerspruchslose Hinnahme sowjetischer Planeingriffe, Lieferauflagen und Preisfestsetzungen. So zahlte die Sowjetunion für 1 1 rumänischen Benzin 0, 08 Lei (1 Leu = 0, 667 DM; 0, 08 Lei = etwa 5, 33 Pfennige), für 1 kg Getreide zeitweilig nur 0, 05 Lei (= etwa 3, 33 Pfennige) — Verlustgeschäfte, die auf längere Sicht durch keinerlei Manipulation auszugleichen waren. Das „klassische“ Beispiel sowjetisch-rumänischer Koproduktion und Kooperation bildeten zwischen 1945 und 1954 die SOVROM-Gesellschaften — eine Konstruktion mit so gut wie ausschließlich sowjetischen Leitungsbefugnissen, Kontrollrechten und einer Geschäftsgebarung, die völlig einseitig die UdSSR bevorzugte. Es handelte sich bei diesen Moskauer Beteiligungen unter direkter sowjetischer Regie in der Wirtschaft Rumäniens um beschlagnahmte Betriebe aus ehemaligem deutschen Eigentum. Durch Abkommen vom 24. September 1954 wurde Bukarest zu einer neuerlichen Ablösung der sowjetischen SOVROM-Gesellschaftsanteile verpflichtet.
Doch sei hier ebenso auf die positive Seite der Wirtschaftsverflechtungen Rumäniens mit dem COMECON-Raum hingewiesen. Die UdSSR liefert Rumänien zum Beispiel Erze und Rohprodukte aller Art sowie Maschinen und Anlagen, die CSSR wurde Maschinenlieferant, steuerte zur Entwicklung der Feinmechanik in Rumänien bei und erwies sich durch technische Beratung beim Aufbau neuer Industriezweige (z. B. Donauschilf) als wertvoll und wichtig. Koks und hochwertige Kohle (Polen, CSSR) bleiben ebenfalls für längere Zeitdauer bedeutende Posten auf der rumänischen Einfuhrseite, Ferner war und ist die eingeplante Entwicklung schwerindustrieller Sparten oder neuer Chemiekombinate nur sinnvoll im Rahmen einer vernünftigen Kooperation innerhalb des COMECOM.
Ebenfalls unter wirtschaftlichem Aspekt sind ferner sowjetische Waffenlieferungen ‘für die Rumänische Volksarmee zu beurteilen. Der im Westen geschätzte Haushaltanteil der SRR für Militär-und Rüstungsausgaben beträgt rund 28 %. Dieser Aufwand ist in einigen benachbarten Volksdemokratien anteilmäßig noch höher. Rumänien hat seit Herbst 1964 die Militärdienstzeit um fast ein Drittel gekürzt, gleichzeitig den Wehretat aber erhöht.
Es erwies sich verhältnismäßig frühzeitig, daß Gleichschaltung nicht die wirkungsvollste Koordinierung ist und eher autarkistische Neigungen in den einzelnen Volkswirtschaften der Volksdemokratien hervorrief. Es war denn auch kein Zufall, daß anläßlich der Moskauer Tagung des Exekutivausschusses des COMECON vom 25. Februar 1963 Rumäniens Vertreter, Alexandru Birladeanu, der sowjetischen Rahmenplanung widersprach. Nach einer neuerlichen Kontroverse anläßlich der COMECON-B Tagung vom 27. Juli 1963, die ebenfalls noch unter Ausschluß der rumänischen Öffentlichkeit ausgetragen wurde, bedurfte es gewissermaßen nur noch eines spektakulären Anlasses, um in der Öffentlichkeit Rumäniens eine Woge der Erregung gegen die sowjetische Gängelei heraufzubeschwören: Den Anlaß brachte eine am Jahresbeginn 1964 erscheinende Nummer des „Vestnik Moskovskogo universiteta". In Nr. 2/1964 behandelte der eher etwas weltfremde sowjetische Ordinarius der Geographie E. B. Valev „Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung der Donaugebiete in Rumänien und in der UdSSR" und stellte in einer inzwischen berühmt gewordenen Kartenskizze den „zwischenstaatlichen Produktionskomplex der unteren Donau" dar, dessen Kerngedanke die wirtschafts-und verkehrsgeographische Aufteilung des rumänischen Staatsgebietes sowie eine Zusammenlegung mit Gebieten der UdSSR und Bulgariens war.
Die Sozialistische Rumänische Republik hätte in diesem „zwischenstaatlichen Komplex" von insgesamt 150 000 km 2 und 12 Millionen Einwohnern beizusteuern: 100 000 km 8 und 9 Mill. Einwohner, ferner 42 % der Rohöl-und Erdgasförderung, 54 % der Maschinenproduktion, 54, 5 °/o der Anbaufläche der SRR usw. Die Kritiker in Bukarest fragten: Wie sollte dieser Komplex organisiert werden? Wer sollte ihn leiten? Nach welchem Plan sollte er geführt werden? Die für Rumäniens Volkswirtschaft ganz und gar defizitäre Bilanz des Valev-Projekts erregte in Rumänien allenthalben Entrüstung. 3. Bukarests Außenwirtschaft zwischen Ost und West 1966 beherbergte Rumänien mehr als 30 Wirtschaftsausstellungen aus 20 Ländern. Auch im Jahre 1967 sind programmgemäß zahlreiche Firmen aus England, der „DDR", der Bundesrepublik Deutschland, Italien, Japan, Polen, Ungarn in der rumänischen Hauptstadt durch Ausstellungen vertreten. Zu einer der größeren Veranstaltungen wird dabei die Handels-und Industrieausstellung der UdSSR zählen, die eine Fläche von über 20 000 m 8 einnehmen dürfte, sowie eine Industrieausstellung Japans. Bemerkenswert war jedoch an diesen Veranstaltungen seit 1964, daß es dabei nicht bloß um Schaustellungen, um Investitionen für die Zukunft geht, sondern daß durch Bukarest planmäßig ein lebhafter Geschäftsverkehr auch mit dem Westen ausgebaut wird. Der Westanteil des rumänischen Außenhandels erreichte 1966 mit rund 35 °/o einen neuen Höchststand. Es gelang der SRR dabei, das Passivum im Handelsverkehr mit den meisten westeuropäischen Staaten beträchtlich abzubauen. Gleichzeitig verstärkte sich der Warenverkehr mit der Sowjetunion, mit Jugoslawien und der VR China.
Eine bemerkenswerte Entwicklung der rumänischen Außenwirtschaft liegt wohl darin, daß sich die Rumänen nicht bloß als beachtliche Außenpolitiker, sondern ebenso als taktisch kluge Kaufleute bewähren. Die Ansprüche der importierenden rumänischen Monopolfirmen zielen auf günstige Zahlungsmodalitäten und Gegenlieferungen der SRR an westliche Länder in klug ausgewählten Warengattungen. Bei größeren Installationen des Auslandes in Rumänien werden der einheimische Maschinenbau oder andere Erzeugerbetriebe zu Teillieferungen herangezogen, um bei solcher KoProduktion neue technische Erfahrungen zu gewinnen.
Dies zielt keineswegs auf „Autarkie" oder gar „Abkehr" vom gemeinsamen COMECON-Wirtschaftsraum. Kürzlich äußerte ein rumänischer Industriemanager: „Die Bindungen der SRR an die Sowjetunion liegen beschlossen in langfristigen Liefervereinbarungen, in dem ständigen Nachholbedarf der rumänischen Industrie an Maschinensätzen, Ersatzteilen, an Erzen und Rohstoffen aus der UdSSR. Von einer . Emanzipation’ im Sinne einer vollen Unabhängigkeit vom sowjetischen Partner kann keine Rede sein. Günstigstenfalls wäre es innerhalb von einem Jahrzehnt möglich, die wirtschaftliche, technische und wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Bukarest und Moskau so auszugestalten, daß Rumänien schließlich verbesserte terms of trade erzielt und im Außenverkehr zwischen Ost und West wirkliche Wahlfreiheit dazu gewinnt!"
Gegenwärtig werden einschneidende wirtschaftspolitische Reformen in Rumänien nicht vor einer breiten Öffentlichkeit und in der Tagespresse diskutiert. Ungeachtet dessen sind eine Rationalisierung in der Landwirtschaft und die Anpassung bestimmter Industriesparten an internationale Wettbewerbsbedingungen des Weltmarktes notwendig. Die verstärkten handelspolitischen und kulturellen Beziehungen Bukarests zum „Westen" vermitteln dabei der SRR einen Anschauungsunterricht von der Unternehmerwirtschaft, dessen Anregungen sich nicht bloß auf exportorientierte Erzeugerund Außenhandelsfirmen Rumäniens beschränken dürften.
V. Rumäniens „Alleingang" und die Entspannung zwischen Ost und West
Der Erste ZK-Sekretär Nicolae Ceausescu erklärte vor dem IX. Kongreß der RKP zur Außenpolitik Rumäniens u. a.: „Die internationale Politik unseres Landes hat die Prinzipien der Souveränität, der nationalen Unabhängigkeit, der Gleichberechtigung, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und des gegenseitigen Vorteils zur ständigen und dauerhaften Grundlage. Rumänien setzt sich für die konsequente Förderung dieser Prinzipien auf internationaler Ebene ein, da es der Auffassung ist, daß ihre Beachtung eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen den Staaten, die Festigung des Vertrauens zwischen den Völkern und die Achtung des unveräußerlichen Rechts eines jeden Volkes ist, selbst über sein Schicksal zu entscheiden.
Rumänien, das sich an der Tätigkeit der Organisation der Vereinten Nationen beteiligt, spricht sich konsequent für die Verbesserung der Aktivität dieses internationalen Forums aus, damit es die Wirklichkeit der heutigen Welt widerspiegelt. Wir erklären uns konsequent für die wesentliche Forderung nach Universalität der Organisation und die Wiederherstellung der legitimen Rechte der VR China, die eine internationale Großmacht und allein berechtigt ist, das chinesische Volk zu vertreten."
Diese programmatische Erklärung beinhaltet keinerlei weltanschauliche Abweichung von der „Linie" des Weltkommunismus, wendet jedoch offenbar den Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten auch auf die auswärtigen Beziehungen der SRR zu kommunistischen Bruderstaaten an. Man nimmt in Ost und West solche Äußerungen als selbstverständlich hin, weil — bei allem atemraubenden Wechsel der Szenerie — das rumänische Selbständigkeitsstreben, der romanische „Gaullismus“ an der Donaumündung nachgerade zur Gewohnheit geworden sind. Man wird sich oft nicht mehr bewußt, daß sich Rumäniens Kommunisten zu einem Weg entschlossen haben, der einmalig ist, zugleich aber Bedeutung über den Bereich der Staatsgrenzen Rumäniens hinaus gewinnt. Der rumänische „Alleingang" trägt insoweit das Merkmal der Einmaligkeit, als — über ein Jahrzehnt nach Titos Abfall — eine bisher als treuer Satellit geltende Volksdemokratie in Einzelfällen Widerstand und Ungehorsam gegenüber dem Kreml wagte. Titos Jugoslawien hatte 1948 immerhin gemeinsame Grenzen mit westlichen Staaten und den Auslauf zur Adria. Rumänien aber liegt tief im kommunistischen „Kessel" des Balkans, umgeben von zum Teil wenig freundlichen Nachbarn. Schon diese denkbar ungünstige Grundvoraussetzung für einen Alleingang läßt den Beobachter fragen, wieso der rumänische Versuch überhaupt begonnen und bis jetzt mit Glück fortgesetzt werden konnte. 1. Vom Satellitentum zur eigenständigen Konzeption der rumänischen Außenpolitik In den allerersten Nachkriegsjähren haben sowjetische Beauftragte und stalinistische „Berater" dem rumänischen Nationalstolz Wunden geschlagen, die bis zur Stunde nicht vernarbt sind. Die Außenpolitik einer Nation empfängt jedoch Triebkräfte und Leitideen nicht von Gefühlsausbrüchen, einem zeitweiligen Erdulden, sondern beruht auf nüchternen Erfordernissen und Gegebenheiten der nationalen und eigenstaatlichen Existenz. Deshalb müssen zwei Brennpunkte der auswärtigen Nadikriegspolitik Rumäniens genannt werden, die die Außenpolitik Bukarests wesentlich bestimmen: Die 600 Jahre alte rumänische Provinz Bessarabien, ein Teil des rumänischen Fürstentums der Moldau, ist ein rumänisches Grenzland, das seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zwischen Rumänien und Rußland mehrfach den Besitzer gewechselt hat. Karl Marx persönlich brandmarkte die Annexion Bessarabiens durch das zaristische Rußland als „imperialistischen“ Akt. Seither haben sich die nationalen und territorialen Grundvoraussetzungen des Problems Bessarabien nicht geändert.
Die zweite wesentliche Triebfeder der rumänischen Außenpolitik — auch für den Front-wechsel des 23. August 1944 — wurde Siebenbürgen. Dieses „Kaschmir" Europas, zweifellos ein Grundpfeiler der ungarischen Reichsidee, Heimat des Szeklerstammes, gelangte 1919 mit einer unzweifelhaft rumänischen Bevölkerungsmehrheit unter die Hoheit des rumänischen Staates. Im Jahre 1940, das insgesamt ein Jahr der nationalen und territorialen Substanzverluste genannt werden muß, verfügten Ribbentrop—Ciano am 20. August eine Zweiteilung Siebenbürgens in eine südliche Hälfte, die Rumänien verblieb, und in einen nord-
westlichen Teil, der dem ungarischen Bundesgenossen Hitler-Deutschlands zuerkannt wurde. Als Marschall Antonescu am 21. Juni 1941 die Pruth-Offensive an der Seite der deutschen Wehrmacht begann, erfolgte der Kriegseintritt Rumäniens nicht bloß zur Rückgewinnung der alten Teilprovinz Bessarabien, sondern auch mit einem Seitenblick auf Nordsiebenbürgen, dessen Rückgabe vitales Anliegen der rumänischen Außenpolitik war. Die UdSSR und die westlichen Alliierten boten Rumänien für den Frontwechsel des 23. August 1944 eben die Rückgabe Siebenbürgens, das für die Rumänen die Losreißung Bessarabiens weniger schmerzhaft gestalten sollte.
Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß über die Annexion Bessarabiens hinaus der „Anschluß" des gesamten rumänischen Staates als Sowjetrepublik an die UdSSR geplant war. Zwei kritische Zeitpunkte soll es gegeben haben, in denen dieser „Anschluß" Rumäniens unmittelbar bevorstand. Man muß indessen lediglich an den militärischen Aufmarsch des Sommers 1964 denken, um die zeitweilig gespannten Beziehungen in den vorangegangenen Jahren zu begreifen. Die Annexion Bessarabiens und des nördlichen Buchenlandes konnte — besonders im Blick auf die Nationalitätenpolitik Moskaus in Mittelbessarabien, in der sogenannten »Moldauischen Unionsrepublik" — als anhaltende, schweigende Drohung des Kreml gelten, bei Widersetzlichkeit das gesamte rumänische Staatsgebiet sich einzuverleiben, überdies war es den Sowjets jederzeit möglich, die Frage der Rückgliederung Siebenbürgens an Ungarn erneut aufzuwerfen. Das vorerst anekdotenhaft bezeugte Ereignis des Breshnew-Besuchs in Bukarest im Mai 1966 beleuchtet die Variationsmöglichkeiten allein in dem blockpolitischen Dreieckverhältnis Moskau—Budapest—Bukarest. Damals, am 7. Mai 1966, sei der inoffizielle und geheimgehaltene Besuch des sowjetischen Parteichefs Leonid Breshnew erfolgt, um die rumänische KP-Führung hinsichtlich Siebenbürgens zu beruhigen und der Beibehaltung des Status quo zu versichern. 2. „Gaullismus" Außenwirtschaft und der der Kulturbeziehungen als Ansätze einer Koexistenz mit dem Westen
Auf diesem Hintergrund ist das Wagnis der rumänischen Außenpolitik zu sehen. Begreiflich, daß Bukarest in der „Ausweglosigkeit" sich zu einem neuen Weg entschlossen hat. Dieser Weg verläuft zwar innerhalb des sowjet-imperialen Systems gemeinsamer Außenpolitik und militärischer Sicherung. Doch zeichnen sich immerhin drei Merkmale des „Alleingangs" zwischen 1960 und 1967 ab:
1. Bukarest fordert gegenüber der sowjetischen Vor-Macht „beweglichere Scharniere“ des Zusammenhaltes und widerstrebt einem offenen und für die kommunistische Weltbewegung belastenden Bruch Moskau—Peking.
2. Die Bukarester Außenpolitik greift einige außenpolitische Erwägungen der Balkanpolitik des 1941 verstorbenen Außenministers Nicolae Titulescu auf: Gemeinsam mit Jugoslawien und Bulgarien soll ein festeres Dreieck gebildet werden. Darüber hinaus wäre mit Griechenland und der Türkei eine gute Nachbarschaft herzustellen, deren Frucht unter anderem eine kernwaffenfreie Zone im Donau-Balkanraum sein könnte. Auch freundliche Beziehungen zu dem neutralen Österreich gehören in dieses Konzept rumänischer Balkan-politik. 3. Rumäniens „Gaullismus" trachtet ferner nach verbesserten Beziehungen zum Westen. Sie sollen auf der Grundlage des wechselseitigen Nutzens beruhen und zielen auf sehr praktische Nutzeffekte des Wirtschafts-und Kulturaustausches. Die Aufnahme und Verstärkung dieses „Brückenschlages geschieht unter Wahrung aller ideologischen und block-politischen Vorbehalte. Doch schon die Ausklammerung mancher Probleme im Verkehr mit den lateinischen Schwesternationen, mit England, mit der Bundesrepublik Deutschland, den USA schafft eine günstigere Atmosphäre. Für die praktische Außenpolitik Bukarest wirkt dabei entscheidend mit, daß diese „Streuung" der Beziehungen im Rahmen und auf der Aktionsebene der „Vereinten Nationen“ erfolgt. Seit Gheorghiu-Dej am 27. September 1960 vor der UN-Generalversammlung sein Bekenntnis zu dieserOrganisation äußerte, „deren wichtigste Bestimmung es ist, die multilaterale Zusammenarbeit zwischen den Ländern und Völkern zu entwickeln und die Menschheit vor der Drohung des Krieges zu bewahren", hat Rumänien seine Mitarbeit in den verschiedenen Gremien dieser Weltorganisation jeder Weise verstärkt und verdichtet. Am 24. 6. 1964 unterstrich die außenpolitische Zeitschrift „Lumea“ die bejahende Einstellung Bukarests zur UN, als sie feststellte: „Die Behauptung, daß die Vereinten Nationen an ihren Mißerfolgen selber schuld seien, ist gleichbedeutend mit der Klage darüber, daß eine Uhr nicht geht, weil man sie nicht aufge17 zogen hat." In diesem Sinne hat Rumänien seit 1960 mehrfach in den Vereinten Nationen Vorschläge zur Verbesserung „gutnachbarlicher Beziehungen zwischen den europäischen Staaten unterschiedlicher politisch-sozialer Ordnung", sowie Anregungen über die „Bedeutung und Nützlichkeit langfristiger Handelsverträge" unterbreitet und im Rahmen der UNESCO für den gemeinsamen Balkanraum zugunsten einer Förderung von Wissenschaft und Forschung in den überseeischen Entwicklungsländern Abkommen vorgeschlagen. Entsprechend einem Bukarester Antrag sollen die nationalen Sektionen der UNESCO 1967 in Bukarest eine Konferenz zur Intensivierung der europäischen kulturellen Zusammenarbeit abhalten.
Nicht minder bedeutsam ist aber die vereinbarte Wahl des rumänischen Außenministers Corneliu Manescu zum Präsidenten der im Herbst 1967 beginnenden Session der UN-Vollversammlung. Zweifellos bieten sich hier für die Bukarester Initiative und ein ehrliches Maklertum zwischen Ost und West, zwischen Ost und Ost neue, günstige Ansatzpunkte. Alles in allem bleibt festzuhalten: Es ist eine nüchterne Rechnung, die das außenpolitische Pfadfindertum der rumänischen Außenpolitik bestimmt. Aus dieser Nüchternheit heraus sind auch Entwicklung und schrittweiser Ausbau der rumänisch-deutschen Beziehungen zu verstehen. 3. Zur Chronik der rumänisch-deutschen Beziehungen seit 1962
Die Mobilität der Bukarester Außenpolitik seit etwa 1962 hat neben verbesserten Beziehungen zu Frankreich, Italien, Großbritannien auch die Bundesrepublik Deutschland in den „rumänischen" Gesamtplan der „Öffnung gegen den Westen" einbezogen. Bekanntlich haben am 31. Januar 1967 die Regierungen von Bonn und Bukarest, anläßlich eines offiziellen Besuches des rumänischen Außenministers Corneliu Manescu in der Bundesrepublik Deutschland, die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen und einen Botschafteraustausch vereinbart. Nach Inhalt, Form, Zeitpunkt entbehrt diese Vereinbarung jedes sensationellen Beigeschmacks. Die Herstellung normaler diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Bukarest entspricht den Erfordernissen eines intensivierten Warenaustausches, des gesteigerten Fremdenverkehrs und verbesserter kultureller Beziehungen. Das außenpolitische Grundsatzprogramm des Kabinetts Kiesinger—Brandt hatte im Dezember 1966 nicht bloß eine allgemeine Entspannungspolitik gegenüber Osteuropa festgelegt, sondern sah eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu den Staaten Ostmitteleuropas vor. Für Bonn wurde die Aufwertung der deutsch-rumänischen Beziehungen ein erster Schritt; für Bukarest bildet diese Normalisierung weder Beginn noch Ende einer seit Jahren beobachteten Tendenz des rumänischen „Gaullismus".
Wichtig erscheint vor allem die Feststellung, daß sich das offizielle rumänisch-bundesdeutsche Verhältnis jenseits von politischen Emotionen und Auflagen entfaltet hat. Auf beiden Seiten bestanden und bestehen Vorbehalte, keine der beiden Vertragsseiten hat auf seine Grundsätze, geschweige denn auf den östlichen oder westlichen „Rahmen" der Bukarester oder Bonner Politik verzichtet.
Die Bündnisverpflichtungen der SRR stehen ebenso außer Frage wie diplomatische Beziehungen und engere Bindungen mit der „DDR'— wie am 2. Februar 1967 das ZK-Organ der RKP „Scinteia" wieder ausdrücklich versicherte. Welche Etappen sind nun in den deutsch-rumänischen Beziehungen seit 1962 zu verzeichnen?
Am 17. Oktober 1963 wird in Bukarest ein rumänisch-deutsches Handelsabkommen unterzeichnet. Handelsmissionen werden ausgetauscht. Am 19. Mai 1964 finden deutsch-rumänische Kontakte in Bonn statt. Am 17. Mai 1966 stattet Rumäniens Außenhandelsminister der Bundesrepublik Deutschland einen offiziellen Besuch ab. Anfang September 1966 besucht Wirtschaftsminister Schmücker Bukarest. Während dieser drei Jahre haben Messen, Industrieausstellungen, Delegationen einzelner Wirtschaftszweige den außenwirtschaftlichen Verkehr und einen Kulturaustausch intensiviert. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Bukarest beruht also auf wechselseitiger realistischer Einschätzung. Die sofortige Reaktion in Ost-Berlin gegen Bukarests Schritt, der Zusammentritt der Außenminister bzw. ihrer Stellvertreter in Warschau vom 7. — 10. Februar 1967 und Vorbesprechung zwischen den ZK-Sekretären mehrerer ost-und westeuropäischer Bruderparteien zeigen, welche Bedeutung man dem rumänischen Schritt beimißt. Offenkundig hat Ost-Berlin es den Bukarester Freunden verübelt, daß sich Rumäniens Außenpolitiker vor der Reise Manescus nach Bonn nicht in der „DDR" Richtlinien und WeiB sungen geholt haben. Zu der Ausklammerung bestimmter Fragenkomplexe vermerkte ADN am 2. Februar 1967: „Wenn der Außenminister der Sozialistischen Republik Rumänien nicht bereit war, bei den Verhandlungen die Alleinvertretungsanmaßung zurückzuweisen und eindeutig zu erklären, daß unter den Bedingungen der Alleinvertretungsanmaßung und anderer revanchistischer Forderungen die Voraussetzungen für diplomatische Beziehungen noch nicht gegeben sind, so ist das bedauer-lich."
Die Warschauer Tagung der osteuropäischen Außenminister (an der rumänischerseits lediglich ein Stellvertreter des zuständigen Ressortchefs teilnahm) erbrachte im Sinne von Ost-Berlin kein zufriedenstellendes Ergebnis, nämlich die Ablehnung einer Entspannungspolitik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland: Der Intransigenz der Ost-Berliner, Warschauer und Moskauer Außenpolitik folgt Prag nur zögernd, während Budapest und Sofia dem „harten" Kurs gegen eine Bonner Friedenspolitik nicht voll zustimmten. Man weiß in den Hauptstädten Ostmitteleuropas ebenso wie in Bonn, daß Handelsinteressen, technischer und wissenschaftlicher Erfahrungsaustausch, die wechselseitige Vermittlung kultureller Leistungen zur Debatte stehen, nicht aber Grundsatztreue der Bündnispolitik in Ost oder West. Ein bilateraler diplomatischer Verkehr zwischen Staaten mit unterschiedliche Gesellschaftssystemen könnte ja auch darauf gar keinen Einfluß haben.
Somit wurde der rumänische Schritt in Bonn beinahe ungewollt zu mehr als einem bloßen Symptom, einer kleinen Episode, sondern ein Paradigma, das für die kleinen Bündnisteilhaber in Ost und West ermutigende Impulse birgt, eine Koexistenzpolitik der kleinen Schritte fortzusetzen.
VI. Die „stille" Revolution des Rumänentums im Kulturbereich
1. Die „mitwohnenden Nationalitäten" und das Problem der „nationalen Einheit"
Man wird rückblickend die Volkstumskämpfe und nationale Spannungen im königlichen Großrumänien nicht zu überschätzen haben. Gewiß, die ungarische Anschlußpropaganda in Siebenbürgen bewirkte gelegentliche Zusammenstöße und Härten, gelegentlich Diskriminierung. Daneben aber erlebten etwa das deutsche oder jüdisch-mosaische Bevölkerungselement im großen und ganzen eine friedliche Entwicklung. In Bessarabien oder im Buchenland (Bukowina) ließen der Rechtsstatus und der muttersprachliche Unterricht der ukrainischen und russischen Volksgruppen zu wünschen übrig. Die kleinen und kleinsten Gruppen fanden oft beachtliches Entgegenkommen. Teilweise beruhte die Autonomie dieser Nationalitäten auf einer kirchlichen autonomen Rechtsgrundlage mit kirchlichen Kultur-und Schuleinrichtungen, religiösen Vereinigungen usw. Der 23. August 1944 hatte zum Teil auf breiter Ebene eine Art „Wiedergutmachung" an jenen nichtrumänischen Bevölkerungsgruppen bewirkt, die nach 1918 oder seit 1938 Zurücksetzung oder Unbill erfuhren: Die jüdischen Bürger, die ukrainisch-russische Nationalitätengruppe (hauptsächlich in der Süd-Buko-
wina), regionale Gruppen der Magyaren, denen (besonders in Bukarest) kulturelle Institutionen ihres Volkstums fehlten, Türken und Tartaren sowie andere Splittergruppen erhielten erstmals im modernen Rumänien ein eigen-nationales Schulwesen usw.
Die heute rund 400 000 Seelen zählende deutsche Bevölkerungsgruppe in Rumänien war zunächst Diskriminierungsmaßnahmen ausge-sezt: Im Januar 1945 erfolgte die Verschickung jüngerer Altersklassen der Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion. Die später allgemeine Enteignung des Bauernbesitzes wurde im März 1945 zunächst als „Ausnahme" gegen den liegenden Besitz des schwäbischen und sächsischen Gewerbes, der deutschen Bauern des Banates und Siebenbürgens verfügt. Seit 1949 wurde zwar eine offizielle Diskriminierung durch Sondergesetze, Verfügungen usw. gegenüber den deutschen Staatsbürgern der Volksrepublik Rumänien aufgehoben, doch normalisierten sich die Verhältnisse im Zusammenleben dieser restlichen deutschen Gruppe mit den übrigen Einwohnern Rumäniens erst gegen Mitte der fünfziger Jahre.
1959 begann eine „nationalistische" Ära unter der Ägide des Partei-und Staatschefs Gheorghiu-Dej: Der muttersprachliche Unterricht wurde neuerlich eingeengt, die Zusammenlegung der nichtrumänischen Schulanstalten mit nationalrumänischen Instituten gleicher Bildungsrichtung wurde verfügt. Begreiflicherweise gab es und gibt es noch immer Vorurteile und Voraussetzungen für Spannungen zwischen dem Rumänentum und den Magyaren-Szeklern in Rumänien. Im Sommer 1965 veranstaltete der neugewählte Parteichef Nicolae Ceausescu mit „fliegenden Kommissionen" der obersten Führungsspitze eine Enquete, um die Ursachen für die rund 60 000 Anmeldungen deutschsprachiger Staatsbürger zur Ausreise und Familienvereinigung in die Bundesrepublik Deutschland, nach Österreich und in den übrigen „Westen" zu erfahren. Einige der damals bekanntgewordenen Wünsche und Beschwerden wurden in der Folge positiv geregelt. 2. Erziehung und Wissenschaft auf neuen Wegen Rumänische Bildungspolitik war in den ersten Jahren der Nachkriegszeit durch zwei Leitideen beherrscht: Ausbildung des technischen Nachwuchses im Dienste der Planerfordernisse einerseits, „Klassenkampf" im Erziehungswesen andererseits insoweit, als „die gesunde soziale Herkunft“ unerläßliche Bedingung für einen beruflichen und sozialen Aufstieg wurde. Die weitgehende Anpassung an das sowjetische Vorbild bedeutete jedoch für die meisten rumänischen Provinzen eher einen Rückschritt. Die Folgen waren auch an der Schulpolitik und der Lehrplanentwicklung spürbar: Umerziehung, Schnellkursmethoden der Stalin-Ära,Überspezialisierung und Verpolitisierung pendelten aber aus dem Extrem gewöhnlich wieder zurück auf eine mittlere Linie, wie sie im Grunde das bürgerliche Schulsystem vertreten hatte. Gegenüber der Zwischenkriegszeit entfaltete sich Berufsschulwesen und die technische Mittelschulbildung weit umfassender. Humanistische Fächer dagegen weisen einen gewissen Rückstand auf. Auch in Rumänien wurde der neue Typ der Fachhochschulen eingeführt, die lediglich den kleineren Ausschnitt eines umfassenden Forschungsgebietes vermitteln. Wie in den übrigen Volksdemokratien hatten Kunst und Wissenschaft eine erste Phase der Sowjetisierung, der „Gleichschaltung", durchzumachen. Zu diesem Zeitpunkt fiel es verhältnismäßig leicht, rumänische Forscher, Künstler, Literaten der Vergangenheit aufzuzählen — blieben doch nur ganz wenige der „feudalen" und „bourgeoisen" Vertreter einstigen Kulturschaffens von der „Säuberung" verschont. Erst allmählich begannen, mit der Besinnung auf die nationale Würde, Wiedereinsetzung und Anerkennung des beachtlichen rumänischen Kulturerbes.
Nachfolgend einige Bemerkungen zum Stand der Bildungspolitik im heutigen Rumänien: Am 3. Oktober 1966 meldete der Erste Partei-sekretär der RKP 130 000 Hörer an Rumäniens hohen Schulen und ausländische Studenten aus 72 Ländern. Für jeden Hochschüler zahlt der Staat jährlich 15 000 Lei. Die Zahl der Ingenieure hat sich von etwas über 9000 im Jahre 1938 auf insgesamt 78067 Ingenieure und Tech-niker im Jahre 1964 erhöht. Andererseits hält der Hochschulnachwuchs in den nationalökonomischen und technischen Fächern mit dem Investitionstempo noch nicht Schritt. Der Anpassung an den wissenschaftlichen Fortschritt sollen die Vermittlung eines umfassenderen Allgemeinwissens, ein intensiviertes Sprachen-studium sowie sechs-bis neunmonatige Fortbildungskurse für Post-Graduierte dienen. Der eigentliche „Engpaß" bleibt bis jetzt die Heranbildung einer befähigten mittleren Techni-kerschicht.
Während man in der SRR seit dem Zweiten Weltkrieg mindestens fünf einschneidende Wandlungen im Unterrichtswesen vermerkte, sind die Wandlungen der politischen Erziehung der jungen Generation fast ungezählt. Gheorghiu-Dej überwand die mehrfache Führungskrise der RAP, indem er dem Nachwuchs der Parteischulen vorzeitig und frühzeitig auf der mittleren Ebene führende Stellungen einräumte. Ihre Lebensansprüche, ihre zunehmende Forderung auf Mitsprache und Mitbestimmung werden den Generationswechsel auch in der Sozialistischen Republik Rumänien prägen. Unleugbar läßt sich aber ein „nationalistischer“ Zug beobachten, der das unerwartete Ergebnis einer „Erziehung zum Internationalismus" darstellt. 3. Moderne Schriftsteller und Künstler in Rumänien Wenn heute etwa der Dichter einer der großartigsten bäuerlichen Romane, „Jon", Liviu Rebreanu (1885— 1949), rehabilitiert worden ist oder der unvergängliche Künder rumänischer Einheit, Octavian Goga, wiederum Anerkennung findet, zeigt das, bis zu welchem Grade die vorurteilsfreie Aufwertung der kulturellen Vergangenheit gediehen ist. Denn tatsächlich hat Rumäniens Kultur und Wissenschaft in der Vergangenheit der Mitwelt bedeutende Männer geschenkt. Man denke etwa an den Mathematiker Simion Stoilov, den Physiker Horia Hulubei, an den Geologen Gheorghe Macovei, an den international bekannten Bakteriologen Mihai Ciuca, den Gerontologen C. J. Parhon, den Historiker Nicolae Iorga oder die rumänischen Komponisten Gheorghe Enescu und Paul Constantinescu. Weltberühmte Künstler aus Rumänien haben zum Teil über Wien und Paris ihren Aufstieg erlebt. Ein Blick auf die rumänische Dichtung der Gegenwart zeigt, daß einzelne rumänische Schriftsteller Eingang in die Übersetzungsliteratur Westeuropas gefunden haben. Nennen wir etwa Mihail Sadoveanu (1880— 1964) mit Romanen wie „Zeiten der Flucht" oder „Der Stamm der Soimaresti". Der betagte Dichter gab sich als Aushängeschild der Stalinära her und schrieb damals das mißglückte sowjet-rumänische Heldenepos „Mitrea Cocor". Indessen starb der Stalinpreisträger Sadoveanu als überzeugter Christ im Kloster Neamtzu. Zu nennen wären unter anderen Nicolae D. Cocea, Cezar Petrescu (1862— 1961), Camil Petrescu (1894— 1957), Eugen Jebeleanu (geb. 1911), der Bauerndichter Emil-Victor Balan (geb. 1921). Durch Übersetzung in die deutsche Sprache besser bekannt ist auch Zacharia Stacu (geb. 1902), dessen Roman „Barfuß" die Geschehnisse des Aufstandes von 1907 ungemein lebensecht geschildert hat. Nicht minder aber sind die in der Emigration lebenden rumänischen Dichter anzuführen, darunter Aron Cotrus (1894— 1960), Mircea Eliade (geb. 1906) Petru Dumitriu (geb. 1914) Con stantin-Virgil Gheorghiu (geb. 1916) usw. Die Nennung der vielen Namen sollte mindestens dazu beitragen, daß die hervorragendsten literarischen und wissenschaftlichen Vertreter des Rumänentums dem deutschen Publikum intensiver vermittelt werden.
Wir haben die Wandlungen in der politischen und wissenschaftlichen Sphäre der SRR seit etwa 1958 einmal die „stille Revolution" des Rumänentums genannt. Ein Blick auf das Kulturleben zeigt nun, daß die Entwicklung der schöpferischen Kräfte in Wissenschaft, Kunst, Literatur in gleicher Weise zu beobachten ist. Die eigentlichen Weichenstellungen aber haben verhältnismäßig spät begonnen. Eine Zeitschrift wie „Luceafarul" („Morgenstern") oder „Gazeta Literara" bringen erst seit zwei, drei Jahren kritische und avantgardistische Beiträge junger Dichter und Literaten. Die „Wachablösung" im rumänischen Schriftstellerverband im Februar 1965 entfernte den langjährigen stalinistischen „Kulturpapst" Mihai Be-niuc vom Vorsitz dieses Verbandes. Während die Umwelt eher geneigt ist, den beginnenden Erneuerungsprozeß des kulturellen Schaffens abschätzig zu beurteilen, erwächst mit der neuen Generation eine neue Lebensauffassung, die in dem gegebenen Rahmen ein hohes Maß persönlicher Freiheit und Freizügigkeit verwirklichen will.
VII. Wegscheide der Zeitalter im Donauraum
Das Volk der Rumänen hat sich einst im Widerstand gegen die Osmanen und gegen europäische Großmächte der Vergangenheit durchgesetzt. Das rumänische Sprichwort „Armänlu nu chiare" (der Rumäne geht nicht unter) gilt auch für unsere Zeitgeschichte. Dabei werden für die Rumänen wie für ihre Nachbarn Gleichberechtigung und freie Entwicklung der kleinen Völker die einzige Gewähr für eine Zusammenarbeit aller Nationen im Balkan-Donauraum sein. Es wäre verkehrt, den „Alleingang" Bukarests nach 1960 einzig und allein als Auflösungserscheinung des „Monoliths" im südöstlichen Bereich zu diagnostizieren. Die Lockerung, der „Polyzentrismus" könnte ebensogut zu einer neuen und dauerhaften Form ebenbürtiger Zusammenarbeit zwischen Großimperium und Kleinstaat führen. Voraussetzung dafür wäre allerdings die politische Weisheit des Großen, die Freiheit wirklich als die Freiheit des anderen anzuerkennen.
Die Sendung der rumänischen Nation beginnt mit der Erneuerung ihres geistig-politischen Standortes im Donauraum und beinhaltet ebenso den romanischen „Gaullismus" zwischen Ost und West wie den Brückenschlag zu all seinen Nachbarvölkern — einschließlich der Ukrainer und Russen. Der eigene Standort befähigt das Rumänentum, den Bogen seines Verständnisses so weit zu spannen, daß nicht nur Osteuropa, sondern mehr und mehr auch das westliche Teileuropa in dieses Konzept der guten Nachbarlichkeit einbezogen werden.
Damit aber zeichnet sich die europäische Aufgabe dieser kleinen Nation ab: Aus lebendiger Überlieferung, aus einem bleibenden Kultur-erbe des eigenen Volkstums über alle Epochen, Systeme und Entwicklungsstufen hinweg den Weg zur Erneuerung zu suchen. Der Ertrag dieser nationalen Erneuerung aber wird für die Umwelt und alle Mit-Europäer in der Verständigung, im Ausgleich, in der Gleichberechtigung und freundschaftlichen Zusammenarbeit der Völker Ost-und Westeuropas bestehen.