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Der Dialog zwischen SPD und SED in der kommunistischen Deutschland-Politik | APuZ 9/1967 | bpb.de

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APuZ 9/1967 Artikel 1 Das KPD-Verbot aufheben? Der Dialog zwischen SPD und SED in der kommunistischen Deutschland-Politik

Der Dialog zwischen SPD und SED in der kommunistischen Deutschland-Politik

Gerhard Wettig

1. Die Funktion der SPD in der Deutschland-Politik von KPdSU und SED

Auf einer gesellschaftswissenschaftlichen Konferenz, die im September 1964 in Moskau aus Anlaß des 100. Jahrestages der I. Internationale stattfand, erklärte der Direktor des maßgeblichen Moskauer Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, Anusavan Arzumanjan, in Erläuterung des Parteiprogramms der KPdSU von 1961, der „Kapitalismus" habe sich verändert und sei in eine „staatsmonopolistische" Phase eingetreten. Das private Unternehmertum bestimme den ökonomischen Prozeß nicht mehr ausschließlich, sondern überlasse dem Staat in wachsendem Maße wirtschaftliche Funktionen. Eine derartige Tendenz implizierte für einen Kommunisten die Frage, ob denn der „Kapitalismus" nicht nunmehr evolutionär und selbstläufig auf die Wirtschaftsform sowjetischen Typs zusteuere. Arzumanjan gab zur Antwort, der „Kapitalismus" bleibe auch in seiner gewandelten Gestalt das gleiche negative Phänomen wie bisher, das revolutionär in den „Sozialismus" überführt werden müsse. Nach seiner Darstellung dient die Aktivität des Staates im wirtschaftlichen Bereich den „Kapitalisten" lediglich dazu, das in eine innere Krise geratene „kapitalistische" System neu zu festigen.

Arzumanjan erblickte in dem Anwachsen des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft der westlichen Länder auch eine Chance für den Kommunismus. Nach seiner Ansicht lag in der neuen Erscheinungsform des „Kapitalismus" nicht nur die Gefahr, daß sich die „Monopolherrschaft" mit staatlicher Hilfe stabilisiert, sondern auch die Möglichkeit, daß die ökonomische Tätigkeit des Staates den Übergang zum „Sozialismus" vorbereitet und einleitet. Als die gesellschaftlich-politische Kraft, welche diese Alternative verwirklichen könne, wurde die Arbeiterklasse in den westlichen Ländern herausgestellt. In der objektiven Lage wurden entscheidende Voraussetzungen für eine solche Entwicklung gesehen. Die Arbeiterklasse stehe nunmehr nicht allein den „Monopolen", sondern zugleich dem mit diesen verbundenen Staat gegenüber. Daher müsse der „ökonomische Kampf" — früher nicht unmittelbar mit dem politischen Ringen verknüpft und darum vielfach in unpolitisch-„tradeunionistischer" Weise geführt — jetzt notwendigerweise in den „politischen Kampf" übergehen. Arzumanjan forderte, die gesellschaftlich-politischen Reformen, zu denen dieser Kampf führen werde, systematisch als Hebel für eine schließlich revolutionäre Veränderung zum „Sozialismus" hin zu benutzen. Auch wenn im Westen zunächst nur um das „demokratische Programm" gekämpft werden solle, dürfe man doch „das Endziel, die revolutionäre Perspektive, nicht aus den Augen verlieren"

Als zentrales Erfordernis für einen erfolgreichen „antimonopolistischen Kampf" in den westlichen Ländern bezeichnete Arzumanjan die „Herstellung der Einheit aller Abteilungen der Arbeiterklasse". Nach seiner Ansicht konnten die Kommunisten diese Aufgabe nicht allein bewältigen, solange die sozialdemokratischen Parteien in Westeuropa — vor allem in Großbritannien, in der Bundesrepublik und in den skandinavischen Ländern — noch einen starken Einfluß auf die breiten Massen der Arbeiterschaft ausübten. Daher komme es darauf an, die Einheit der Arbeiterklasse „auf der Grundlage gemeinsamer Aktionen und der Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialisten" herbeizuführen. Dementsprechend verwarf Arzumanjan die Stalinsche These, nach der die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten" zu verurteilen waren, und billigte den westlichen Sozialisten zu, daß sie weithin eine progressive Rolle spielten. Diese positive Bewertung betraf freilich vor allem die „Mitglieder der sozialdemokratischen Parteien, insbesondere die Arbeiter"; ihren Führern dagegen wurde vorgeworfen, sie hätten sich vielfach „in den letzten Jahren noch mehr der Ideologie und Politik der Bourgeoisie angenähert" und dabei „nicht nur den Marxismus, sondern auch viele traditionelle sozialistische Parolen über Bord" geworfen. Soweit sie solcherart zu „Verteidigern der Monopolbourgeoisie" geworden seien, wurde ihnen eine rücksichtslose „Entlarvung" von kommunistischer Seite in Aussicht gestellt. Inwieweit die „weitere Evolution einzelner sozialistischer Parteien zur Aktionseinheit der Arbeiterklasse unter den Parolen des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus" möglich werden würde, hing nach Arzumanjan von dem Verhalten der „werktätigen Massen" ab Die Formulierungen lassen darauf schließen, daß im letzten Sinne nicht an eine Zusammenaibeit mit den sozialdemokratischen Parteien, sondern an eine Einflußnahme auf ihre Anhänger gedacht ist.

Die neue Linie wurde sogleich in Ost-Berlin auf die deutsche Situation angewandt. Am 25. September 1964 erklärte Walter Ulbricht — soeben aus Moskau zurückgekehrt — auf einem internationalen Kongreß kommunistischer Gesellschaftswissenschaftler in Ost-Berlin, daß eine „höchstmögliche Zusammenarbeit und Einheit mit den Sozialdemokraten" zustande kommen müsse. Im einzelnen machte er wechselseitige Vereinbarungen zum Ziel; dabei behielt er der SED das Recht zur „Kritik am Revisionismus und Opportunismus" der SPD vor. Die Bemerkung, daß diese Polemik der ideologischen Klärung und der politischen Annäherung dienen solle, deutet darauf hin, daß die SED-Spitze das Parteivolk der SPD agitatorisch gegen seine Führer einnehmen und in die eigene Gefolgschaft einfügen wollte. Ulbricht versuchte den Sozialdemokraten das Mißtrauen gegen die Absichten der SED zu nehmen, indem er ihnen versicherte, die organisatorische Selbständigkeit der SPD solle nicht zerstört werden. Wenn in der „DDR" die SED entstanden sei, so heiße dies nicht, daß man „in Westdeutschland den gleichen Weg gehen" könne. Als Ziel nannte Ulbricht den „Übergang zu einer demokratischen Entwicklung in Westdeutschland" und die „Wiedervereinigung nach der Bändigung des deutschen Militarismus". Mithin wurde als Grundlage der Kooperation von SPD und SED gefordert, daß beide Parteien gewillt sein müßten, auf eine gesellschaftlich-politische Umwälzung in der Bundesrepublik hinzustreben, die nach Arzumanjan dazu bestimmt sein muß, die revolutionäre Wende zum Kommunismus vorzubereiten. Zugleich machte Ulbricht deutlich, daß es der SPD nicht gestattet werden könnte, „ihre gegenwärtigen Auffassungen auf die DDR anzuwenden". Die gesellschaftlich-politische Dynamik sollte nur von Osten nach Westen, nicht aber umgekehrt wirken können Ulbrichts Thesen wurden während der folgenden Monate von dem Direktor des Instituts für Gesellschaftswissenschaft beim ZK der SED, Otto Reinhold, näher ausgearbeitet.

2. Der SED-Kurs eines Dialogs mit der SPD

Die im September 1964 formulierten Thesen wirkten sich auf die Deutschland-Politik der SED zunächst noch nicht aus. Bis in den Spätherbst 1965 richtete die SED nur beiläufige und vage Appelle an die „Bürger Westdeutschlands" oder an die „Werktätigen" und „kleinen Leute" in der Bundesrepublik. Seit Mitte 1965 wurde gelegentlich auch die „westdeutsche Arbeiterklasse" angesprochen. Die SPD wurde anläßlich des Programms, das sie für die Bundestagswahlen vorlegte, heftig angegriffen. Alle diese Äußerungen blieben im Rahmen des seit langem üblichen und müssen daher als agitatorische Pflichtübungen gewertet werden, die keine spezifische Kampagne andeuten. Allem Anschein nach war die SED-Führung der Ansicht, daß die Situation in der Bundesrepublik noch nicht herangereift sei, um dem im September 1964 umrissenen Kurs dort hinreichende Erfolgsaussichten zu bieten. Mit dem Bericht, den Erich Honecker namens des SED-Politbüros am 15. Dezember 1965 vor dem Zentralkomitee der Partei erstattete, zeichnete sich eine Wende ab. Honecker forderte nachdrücklich ein „Bündnis der Arbeiterklasse" in Deutschland, das in einem Zusammengehen von SED und SPD politische Gestalt annehmen sollte. Um diesen Kern sollten sich dann die übrigen „friedliebenden“ und „demokratischen" Kräfte des Landes gruppieren. Als gemeinsamer Gegner wurde die „Reaktion", das heißt die herrschenden Kreise der Bundesrepublik und vor allem die CDU CSU, herausgestellt. Um des gemeinschaftlichen Kampfes willen erklärte sich die SED bereit, ihre Auseinandersetzungen mit der SPD zurückzustellen.

Wie aus der Rede Honeckers und nachfolgenden Stellungnahmen der SED deutlich wird, basierte die Kursänderung auf der Annahme, daß sich das europäische und vor allem das innerdeutsche Kräfteverhältnis zugunsten der „DDR" entwickelt habe und weiter entwickeln werde. Als wichtige Faktoren wurden angesehen: 1. die wachsende wirtschaftliche Stärke der . DDR", 2. das Scheitern der Deutschland-Politik Bonns und 3. die zunehmende Isolierung der Bundesrepublik unter den Westmächten.

Die Führer der SED rechneten damit, einen immer größeren Einfluß in gesamtdeutschem Rahmen geltend machen zu können, während die Bundesrepublik allmählich in eine Position ohnmächtiger Schwäche gerate. Als entscheidender politischer Durchbruch, der zu dieser vorteilhaften Entwicklung geführt habe, stellte sich ihnen der Bau der Berliner Mauer vom 13. August 1961 dar, denn dieser habe die Wirtschaft der „DDR" konsolidiert, die Bonner Deutschland-Politik endgültig um den Erfolg gebracht und das Bündnis der Bundesrepublik mit den angelsächsischen Mächten zutiefst erschüttert, indem sich an der Haltung gegenüber der Mauer der politische Gegensatz zwischen beiden Seiten entfaltet habe. Von dieser Bewertung her wird es verständlich, daß die SED im Sommer 1966 den 5. Jahrestag der Errichtung der Berliner Mauer als einen „Triumph der DDR" und als „Sieg des Sozialismus" in Deutschland feiern konnte.

Unter diesen Umständen sahen die Führer der SED gute Aussichten für ein agitatorisch-propagandistisches Hineinwirken in die Bundesrepublik. Als Anzeichen einer herannahenden Krise wurden dort vermerkt:

1. eine fortlaufende Verschärfung der gesellschaftlichen „Widersprüche", 2. zunehmende Uneinigkeit innerhalb der herrschenden Kreise über den weiteren Kurs in der Deutschland-Frage sowie sich ausbreitende Tendenzen zur Revision des bisherigen Konzepts und 3. das Entstehen einer breiten „demokratischen" Bewegung gegen die Bonner Führung aus Anlaß der Auseinandersetzungen um Ost-politik, Atomrüstung, Notstandsgesetzgebung und Mitbestimmung.

Wo immer in der Bundesrepublik neue Ansichten hervorzutreten begannen oder Differenzen ausgetragen wurden, glaubten die Führer der SED Tendenzen zu erkennen, die sich der „DDR" näherten. Unter dieser Perspektive lag es für sie nahe, durch Appell und Beifall die sich in der Bundesrepublik anbahnenden politischen Vorgänge zu fördern und voranzutreiben. Für marxistisch-leninistisches Denken nimmt in den entwickelten kapitalistischen Ländern die Arbeiterklasse die zentrale gesellschaftlich-politische Machtposition ein. Dementsprechend wies die SED die entscheidende Rolle in der Bundesrepublik der SPD zu. Die „rechte SPD-Führung", so lautete die These, habe die Macht, die sie vermöge des Einflusses auf große Teile der Arbeiterschaft besitze, bisher der „reaktionären" CDU/CSU-Regierung geliehen und damit deren Herrschaft ermöglicht. Wenn sich aber die SPD gegen die CDU/CSU wende, könne die Arbeiterklasse im Kampf gegen ihre Feinde vereint ihre Macht entfalten und so endlich ihren Willen in gesamtdeutschem Rahmen geltend machen. Wie Walter Ulbricht am 21. April 1966 ausführte, lag der „Schlüssel zur Sicherung des Friedens, zur europäischen Sicherheit und zur friedlichen Lösung der deutschen Frage, soweit Westdeutschland in Betracht kommt, ... in den Händen der Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten und parteilosen Werktätigen". Aus drei Gründen hatte nach Darstellung der SED die SPD nunmehr ein dringliches Interesse daran, ihre bisherige Politik zu revidieren: 1. Die Krise der CDU/CSU-Herrschaft in der Bundesrepublik lasse die Frage aufkommen, ob eine weitere „Gemeinsamkeitspolitik" nicht die SPD in das Verderben der CDU/CSU mit hineinziehe;

2. das Anwachsen der „demokratischen" Bewegung außerhalb der Parteien setze die SPD-Führung einem zunehmenden Druck von unten aus, so daß ihr schließlich nur noch die Wahl zwischen Mitmachen oder Einflußlosigkeit bleiben werde;

3. auch die Führer der SPD könnten sich nicht länger der Einsicht verschließen, daß die Bonner Deutschland-Politik gescheitert sei, und seien daher genötigt, im Sinne der SED einen „realistischen" Kurs einzuschlagen.

Mit großen Erwartungen Wurden Initiativen aus den Reihen der SPD begrüßt, in denen — wie in einem Vorschlag des schleswig-holsteinischen Landesvorsitzenden Joachim Steffens — Verhandlungen mit der „DDR“ gefordert wurden. Daß Willy Brandt Steffens Kritikern gegenüber in Schutz nahm, vermehrte die Hoffnungen in der SED.

Von diesen Annahmen ausgehend, richtete das Zentralkomitee der SED am 7. Februar 1966 einen Offenen Brief „an die Delegierten des Dortmunder Parteitages der SPD und an alle Mitglieder und Freunde der Sozialdemokratie in Westdeutschland". Die Adressierung ist bezeichnend: Der Offene Brief war nicht als Grundlage für ein Gespräch mit dem Partei-vorstand der SPD, sondern als agitatorischer Appell an die Anhänger der SPD gedacht. Das zeigte sich auch daran, daß in dem Offenen Brief und — meist noch deutlicher — in zahlreichen anderen Stellungnahmen die Haltung der SPD-Führung nicht nur prinzipiell kritisiert, sondern auch als Hindernis der notwendigen Zusammenarbeit hingestellt wurde. Als Hauptvorwürfe fungierten die Kooperation mit der CDU/CSU, die Mitwirkung der SPD an „undemokratischen" Maßnahmen wie etwa der Notstandsgesetzgebung, das Eintreten für einen proamerikanischen Kurs Bonns und antikommunistische Gesinnung. In mehreren offiziellen Äußerungen der SED wurde darüber hinaus klargestellt, daß keine Partnerschaft mit der SPD-Führung beabsichtigt war, weil diese den Ost-Berliner Funktionären als nicht vertrauens-und unterstützungswürdig galt. Dafür wurde der DFU bescheinigt, „realistische Vorstellungen" für eine bundesdeutsche Friedenspolitik zu besitzen. Aus den Aufrufen der SED an die Sozialdemokraten spricht die Absicht, der Gefolgschaft der SPD die Unrichtigkeit des von ihrer Führung verfolgten Kurs vor Augen zu führen und sie zu einer Neuorientierung zu veranlassen. Allem Anschein nach sollte die Kampagne der SED den vermeintlichen Druck von unten auf den Partei-vorstand der SPD verstärken und entfalten. Ziel dabei war, die Revisionstendenzen in der SPD auf dem Dortmunder Parteitag von Anfang Juni in die Vorhand zu setzen.

Bei ihrem Appell suchte sich die SED verschiedener Ansatzpunkte zu bedienen. Die Enttäuschung weiter SPD-Kreise über den ausgebliebenen Erfolg bei den Bundestagswahlen vom September 1965 wurde zu der Darlegung benutzt, daß der Gemeinsamkeitskurs mit der CDU/CSU die SPD habe scheitern lassen. Daraus wurde der Schluß abgeleitet, daß die SPD nur bei einer entschlossenen Abkehr von der offiziellen Bonner Politik politisch gedeihen könne. Das sich in der Bundesrepublik ausbreitende Unbehagen über eine Deutschland-politik, für die sich keine Effolgschancen mehr erkennen lassen, wurde auf die Forderung nach einer radikalen Wende des Verhaltens gegenüber der „DDR" im Sinne von Anerkennung und Verhandlung — also eines Verzichts auf das Wiedervereinigungsziel — hingeführt. Der behauptete nukleare Ehrgeiz der Bundesregierung diente dazu, für die „demokratische" Bewegung der Atomrüstungsgegner und Ostermarschierer zu werben. Auch mit den Parolen des „demokratischen Kampfes" gegen die Notstandsgesetze und für die Mitbestimmung hoffte die SED die oppositionelle Front verstärken zu können. Alle diese Bemühungen standen unter dem Motto der „Verständigung" und „Aktionseinheit" aller „proletarischen“ und „demokratischen" Kräfte gegen die CDU CSU. Gelegentlich wurde die angebliche Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Kommunisten in der SED als Vorbild herausgestellt. Besondere Aufmerksamkeit galt dem Abbau der antikommunistischen Haltung bei den angesprochenen Kreisen.

Die SED betonte zwar mehrfach, daß mit dem Vorschlag des Zusammengehens mit den Sozialdemokraten keine Bedingungen verknüpft seien, doch machten alle ihre Stellungnahmen überdeutlich, daß bestimmte Voraussetzungen für unerläßlich erachtet wurden, wenn OstBerlin die Kontakte als sinnvoll ansehen sollte. Es wurde insbesondere verlangt:

1. Die SPD sollte eine Alternative zu dem derzeitigen Kurs der Bundesrepublik formulieren und damit ihren bisherigen Standpunkt aufgeben, während die SED mit Nachdruck erklärte, daß an den von ihr eingenommenen Positionen nicht im mindesten gerüttelt werden könne;

2.der SPD wurde kein dritter Weg zwischen CDU/CSU und SED zugestanden, sondern ein völliger Frontwechsel zur SED abgefordert;

3. die Opposition der SPD gegen die Politik der CDU/CSU sollte im Sinne eines entschiedenen, rücksichtslosen „Kampfes" realisiert werden.

Im übrigen erklärte die SED eine Lösung der deutschen Frage durch Verhandlungen mit der SED unter völligem Verzicht auf gesamtdeutsche Wahlen für notwendig. Honecker fügte in seiner einleitenden Stellungnahme vom 15. Dezember 1965 hinzu, daß der Friede in Deutschland nur erhalten werden könne, wenn die herrschenden Kreise der Bundesrepublik von der dortigen Opposition bezwungen werden würden.

Das Programm der SED war sehr detailliert. Außenpolitisch sollte sich die SPD gegen die Bindung der Bundesrepublik an den Westen wenden, während die SED ihren festen Willen zur engen Bindung der „DDR" an die UdSSR bekundete, die sich auch auf ein künftiges Gesamtdeutschland übertragen müsse. Innenpolitisch ging das Verlangen der SED noch weiter. Der SPD wurde die Unterstützung aller „demokratischen Forderungen" wie Verhinderung der Notstandsgesetze, Verwirklichung der Mitbestimmung und Verzicht auf nukleare Mitsprache vorgeschrieben. Aus dem Dialog mit der SED sollten von vornherein alle Fragen ausgeschlossen sein, die der SED nicht genehm waren. Diese Auflage wurde mit der These gerechtfertigt, es gehe um eine Verständigung und nicht um die Hervorkehrung von Gegensätzen. Vor allem sollte an den Institutionen und Maßregeln der „DDR" keine Kritik geübt werden können. Die SED machte deutlich, daß sie entschlossen sei, an den Verhältnissen der „DDR" nicht rütteln zu lassen, sondern den dortigen „Aufbau des Sozialismus" unbeirrt fortzusetzen. Zugleich verlangte sie eine ge-

selischaitlich-politische Umwälzung in der Bundesrepublik. Die dortigen Machtverhältnisse müsten zugunsten der „demokratischen Kräfte" geändert werden. Den Westdeutschen wurde zwar ein eigener Weg zugebilligt, doch wurde in zahlreichen Stellungnahmen, die sich an die eigenen Anhänger richteten, die Ordnung der „DDR" nachdrücklich als verpflichtendes Vorbild herausgestellt. Honecker und Ulbricht erklärten, daß die kommunistische Ordnung nunmehr auf die Bundesrepublik übergreifen müsse. Nach Ulbrichts Worten vom 21. April 1966 erachtete die SED eine . Vereinigung der deutschen Staaten" für „unmöglich", solange „nicht in Westdeutschland durch grundlegende innere Veränderungen die im Potsamei Abkommen festgelegten Voraussetzungen für eine friedliche Politik geschaffen" seien. Auf diese Weise sollte gewährleistet werden, daß sich ein wiedervereinigtes Deutschland ohne „Reaktion" unter der „Herrschaft der Arbeiterklasse" konstituieren werde. Die SED erstrebte eine gesellschaftlich-politische Dynamik in Deutschland — aber ausschließlich in Ost-West-Richtung.

In dem Offenen Brief vom 7. Februar 1966 schlug das Zentralkomitee der SED als ersten Schritt zur Anbahnung des Kontaktes zur SPD eine Zusammenkunft von Vertretern beider Parteien vor. Danach sollte ein Gremium wechselseitiger Aussprache geschaffen werden. Vermutlich haben die Führer der SED nicht mit einer offiziellen Reaktion der SPD gerechnet: Alle dreizehn derartigen Schreiben, welche die SED bis dahin an die SPD gerichtet hatte, waren ignoriert worden. Diesmal aber entschloß sich der Parteivorstand der SPD zu einer Antwort. Bereits einen Tag nach der Veröffentlichung des SED-Schreibens, am 12. Februar 1966, äußerte sich Herbert Wehner im RIAS zu dem Offenen Brief und kündigte an, daß das Zentralkomitee in jedem einzelnen Punkt eine Antwort erhalten werde Die Führer der SPD, die gar nicht die eigentlichen Adressaten waren, schalteten sich in die Diskussion ein. Mit der Offenen Antwort vom 19. März 1966 zogen sie die Initiative an sich: Den unklaren Vorschlag der SED, in gemeinsame Vorgespräche und Beratungen einzutreten, konkretisierten sie dahin, daß überall in Deutschland „die Voraussetzungen dafür geschaffen werden“ sollten, „daß Vertreter der im Deutschen Bundestag und in der Volkskammer vertretenen Parteien offen ihre Auffassungen zur Deutschlandfrage darlegen, vertreten und austragen können" Statt der erstrebten „Verständigung der Arbeiterklasse" wurde der SED der Verzicht auf das Meinungsmonopol in der „DDR" vorgeschlagen. Offensichtlich versetzte diese Antwort die SED-Führung in Verlegenheit: Eine Woche lang konnten westliche Journalisten in OstBerlin keinerlei Äußerungen zu dem Brief der SPD erlangen. Am 26. März 1966 antwortete das Zentralkomitee der SED mit dem Ausdruck der Befriedigung darüber, „daß trotz vieler Meinungsverschiedenheiten in prinzipiellen Fragen die Aussprache der deutschen Arbeiterparteien . . . begonnen" habe. An Stelle der freien Meinungsäußerung in beiden Teilen Deutschlands regte die SED-Führung gemeinsame Rednerveranstaltungen in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und Essen an. Welche weiteren Schritte folgen könnten, sollte von den „Erfahrungen dieses ersten Versuchs" abhängen. Dieser Vorschlag begrenzte das von der SPD gewünschte Arrangement in dreifacher Weise:

1. Statt aller bundesdeutschen Parteien sollten nur die Sozialdemokraten in der „DDR" auftreten können;

2.der Redneraustausch sollte sich zunächst auf jeweils eine Gelegenheit in beiden Teilen Deutschlands beschränken;

3. das Zentralkomitee der SED behielt sich vor, ausschließend nach Maßgabe des Erfolgs über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Die Tatsache, daß die Führung der SED überhaupt auf eine Aussprache mit dem Parteivorstand der SPD einging, obwohl dieser an seinen gegensätzlichen Ansichten zur Deutschland-Frage keinen Zweifel gelassen hatte, bezeugte ein starkes Interesse an Kontakten mit der SPD. Welche Motive dem zu Grunde lagen, mußte die weitere Entwicklung zeigen. Anschließende Stellungnahmen der SED lassen erkennen, daß ihre Führer die Tatsache, daß der Parteivorstand der SPD überhaupt geantwortet hatte, auf drei Faktoren zurückführten:

1. auf die Schwierigkeiten der SPD infolge der Krise der Bonner Politik im allgemeinen und des von ihr gestützten CDU/CSU-Regimes im besonderen, 2. auf den Druck, dem der Parteivorstand von Seiten der sozialdemokratischen Mitglieder und Wähler ausgesetzt sei, und 5 3. auf eine zunehmende Tendenz zu einer ostpolitischen Neuorientierung im sozialdemokratischen Lager.

Die Führung der SED hegte dabei offensichtlich starke Zweifel daran, ob mit dem Partei-vorstand der SPD eine Politik in ihrem Sinne zu machen sei. Herbert Wehner und Fritz Erler, zuweilen auch Helmut Schmidt und andere, waren und blieben Zielscheiben zahlreicher kommunistischer Angriffe. Gegenüber Willy Brandt dagegen hielt sich die kommunistische Publizistik auffallend zurück. Vielfach wurde sogar versucht, ihn für eine sozialdemokratische Opposition gegen die Parteiführung zu reklamieren, um auf diese Weise die große moralische Autorität des Parteivorsitzenden den Zwecken der SED dienstbar zu machen. Die Linien, die SED und SPD bei ihrem Meinungsaustausch verfolgten, waren gegensätzlich, ja unvereinbar. Die SED strebte ein Gespräch über die „Lebensfragen des deutschen Volkes" an. Damit war gemeint, daß die Maßnahmen, mit denen die „DDR" die innerdeutschen Kontakte unterband, nicht diskutiert werden sollten. Statt dessen war nach Ansicht der SED die Aussprache ausschließlich auf das politische und staatliche Verhältnis der „beiden deutschen Staaten" zu konzentrieren. Zur Begründung diente die These, daß die menschlichen Trennungen in Deutschland die unausweichlichen der unnormalen Beziehungen und zwischen „DDR" seien und daß daher nur über eine „Normalisierung" auf politisch-staatlicher Ebene Abhilfe geschaffen werden könne. Das Verhalten zielte darauf ab, die westliche Seite im Sinne einer einseitigen Vorleistung vermittels einer Anerkennung der „DDR" zu einem Verzicht auf die weitere Infragestellung ihres Regimes zu nötigen, während Ost-Berlin auch nach erfolgter „Normalisierung" an den trennenden Maßnahmen festhalten mochte, um damit weiteren Druck auf die Bundesrepublik auszuüben und eine innerdeutsche Dynamik so weit zu unterbinden, wie diese nicht erwünscht schien. Die SPD dagegen stellte die Forderung nach „menschlichen Erleichterungen" in den Mittelpunkt und suchte einer Diskussion über die politisch-staatliche Situation in Deutschland auszuweichen. Dieser Kurs wurde gewählt in der Auffassung, daß die Haltung des Ostblocks und die internationale Lage in Europa nicht den geringsten Fortschritt auf ein nicht-kommunistisch wiedervereinigtes Deutschland erwarten ließen und daß daher jedes Gespräch über damit verbundene Fragen nur in einseitige Konzessionen der westdeutschen Seite ausmünden könne. Eine derartige Gefahr erschien um so größer, als zwar die Führung der SED, nicht aber die SPD die politischen Tendenzen in dem von ihr vertretenen Landesteil kontrollieren konnte. Das Zentralkomitee der SED konnte dessen sicher sein, daß ungeachtet aller in der Bevölkerung etwa geweckten Wiedervereinigungshoffnungen in der „DDR" keine andere als die von ihr befürwortete Haltung hervortrat. Die SPD dagegen mußte mit der möglichen Gegenwirkung anderer Kräfte rechnen. Unter diesen Umständen war eine Auseinandersetzung für sie nur dort sinnvoll, wo die Position der Gegenseite nicht von vornherein absolut unerschütterlich war.

Das Vorgehen der SED-Führung läßt zwei gegensätzliche und doch einander ergänzende Tendenzen erkennen: Zum einen wurde die Parole des „Realismus" in den Mittelpunkt gerückt. Alle Tatbestände, die UdSSR und „DDR" in Deutschland einseitig geschaffen hatten, wurden für unantastbar erklärt. Sie sollten jeder Diskussion entzogen sein. Wer immer ihre Berechtigung in Frage stellte oder ihre Revision forderte, wurde eines „aggressiven" Verhaltens beschuldigt. So wurden als Vergehen gegen den Frieden vor allem die Mißbilligung der Herrschaftsverhältnisse in der „DDR" und die Kritik an den Abschließungsmaßnahmen des SED-Regimes gegenüber der Bundesrepublik gewertet. Der Hinweis auf die machtpolitische Unabänderlichkeit der in der „DDR" geschaffenen Fakten diente dazu, den Zweifel an ihrer Legitimität als unzulässig hinzustellen und so die These ihrer normativen Gültigkeit zu etablieren. Zum anderen zielten die Forderungen der SED auf eine Veränderung der Verhältnisse in der Bundesrepublik. Auf Maßnahmen und Demonstrationen, mit denen Bonn die Ost-Berliner Politik in gewisse Schranken zurückzuweisen bemühte (etwa in der Frage, ob West-Berlin ein „selbständiges Gebilde" auf dem „Territorium der DDR" sei), erfolgten scharfe Reaktionen mit dem Vorwurf „provozierenden" Vorgehens. Unter Berufung auf „demokratische" Prinzipien, den Gang der „historischen Entwicklung" und die Potsdamer Beschlüsse wurde eine Änderung nicht nur der bundesdeutschen Politik, sondern auch der bundesdeutschen Herrschaftsverhältnisse verlangt. Im Namen einer stipulierten Normativität drängte die SED-Führung auf die Beseitigung der in der Bundesrepublik bestehenden Fakten. Der Status quo galt ihr nur so weit als Maßstab, wie er die „DDR" sicherte und die Bundesrepublik restringierte.

Wenn das Zentralkomitee der SED Ende März auf die Offene Antwort des SPD-Parteivor-Standes einging, obwohl dieser den Dialog in anderer als der vorgesehenen Weise führen wollte, so lag dem deutlich die Annahme zu Grunde, daß sich der SED trotz des Widerstandes der SPD-Führung besonders gute gesamtdeutsche Chancen böten. Der Wandlungsprozeß in der Bundesrepublik und vor allem in der SPD, der die erstrebte einseitige Dynamik nach sich ziehen sollte, schien den Führern der SED, wie ihre Stellungnahmen ausweisen, hinreichend weit gediehen. Sie werteten es als Folge eines unwiderstehlichen Drucks von unten, wenn der Parteivorstand der SPD dies-mal auf das Ost-Berliner Schreiben geantwortet und damit die bisherige ignorierende Haltung aufgegeben hätte. Allem Anschein nach 'wollte das Zentralkomitee der SED die politische Wende, die es in der SPD sich anbahnen sah, durch ein vorsichtiges Entgegenkommen vorantreiben, statt sie durch ein brüskes Nein zu verzögern. Es scheint so, als hätten die Führer der SED erwartet, daß sich nunmehr unter den Westdeutschen und besonders unter den Sozialdemokraten eine starke Bewegung unter den östlichen Parolen bilden werde. Eine Reaktion dieser Art blieb jedoch aus. Daraufhin scheinen in Ost-Berlin Zweifel aufgetaucht zu sein, ob die Sicht der Lage, von der man ausgegangen war, nicht der wirklichen Situation vorauseile. Jedenfalls lehnten die Führer der SED Ende April den Vorschlag der SPD ab, den vorgesehenen Redneraustausch so bald wie möglich — nämlich im Mai — durchzuführen. Unter dem Vorwand, daß die Anfang Juli bevorstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen einem sachlichen Gespräch im Wege stehen könnten, befürworteten sie statt des-sen Termine im Juli: Offensichtlich wollten sie abwarten, wie der Anfang Juni bevorstehende Dortmunder Parteitag der SPD verlaufe, um das weitere Vorgehen danach zu bestimmen. Auf eine solche Absicht deutet auch hin, daß die SED im Mai Argumentationen aufzubauen begann, die im Bedarfsfälle als Vorwände für eine Absage des Redneraustausches herhalten konnten. Vor allem wandte sich die Agitation im Zusammenhang mit den Bonner Beratungen über ein „freies Geleit" für SED-Redner gegen die bundesdeutsche „Rechtsund Al ein Vertretungsanmaßung". Daß Ost-Bei lin dama s noch am Redneraustausch festhielt, zeigt sich an der offiziellen These, daß es den Wünschen der CDU/CSU entsprechen würde, wenn das Vorhaben scheitern sollte. Als entscheidendes Hindernis für den Redneraustausch wurde die den SED-Funktionären in der Bundesrepublik drohende Strafverfolgung bezeichnet. Der Verlauf des Dortmunder Parteitages der SPD vom 1. bis 5. Juni 1966 enttäuschte die kommunistischen Hoffnungen: Das Parteivolk scharte sich geschlossener denn je um seine Führer. Die breite Zustimmung zur Politik des Parteivorstandes bezog sich auch — oder vielmehr gerade — auf den Kurs gegenüber der SED. Weder für einen offiziellen Kurswechsel der SPD noch für ein Gegeneinander-Ausspielen von Führung und Gefolgschaft boten sich Ansatzpunkte. Die Kommentare der SED fielen entsprechend scharf aus; die bisherige Taktik, die Differenzen mit der SPD zurückzustellen, wurde aufgegeben. „In den Referaten und Beschlüssen von Dortmund", so hieß es in einer Ost-Berliner Stellungnahme von Anfang Juli, „wurde deutlich, daß die SPD-Führung die Vorschläge für eine Versachlichung der Beziehungen zwischen SED und SPD ablehnt, daß sie keine eigene sozialdemokratische Alternative zur Politik der Bundesregierung zu bieten hat, daß sie sich in die Rolle eines Vorreiters einer flexiblen imperialistischen Revanchepolitik drängen läßt und daß sie grundsätzlich mit der Staats-und Wirtschaftspolitik des Monopolkapitals übereinstimmt." Diese Bewertung bedeutete das Gegenteil der Annahmen, die Ar-zumanjan und Ulbricht im September 1964 dem Postulat eines neuen Kurses gegenüber der Sozialdemokratie zugrunde gelegt hatten. Die Angriffe der SED richteten sich nunmehr vor allem gegen den Parteivorsitzenden Willy Brandt: Er wolle die Arbeiter vom „Kampf gegen die kapitalistischen Ausbeuter" ablenken, den westdeutschen „Revanchismus . . . verniedlichen" und bei der „verhängnisvollen Unterstützung der CDU/CSU-PoIitik" bleiben, und es gehe ihm darum, „berechtigte nationale Anliegen . . . für eine bewußte revanchistische Taktik gegenüber der DDR einzusetzen Die veränderte Haltung der SED in der Frage des Dialogs mit der SPD deutete sich erstmals am 9. Juni 1966 in einem Fernsehkommentar Karl-Eduard von Schnitzlers an: „Die SPD-Führung ist antikommunistisch, sie ist von heißem Haß gegenüber der DDR erfüllt. Hat ein Dialog, ein Redneraustausch mit einer sol-chen Parteiführung eigentlich einen Sinn?" Am 16. Juni kritisierte Walter Ulbricht die Haltung des Parteivorstandes der SPD: Dieser sei nicht bereit, „eine sozialdemokratische Alternative zu der das deutsche Volk schädigenden CDU/CSU-Politik zu entwickeln", sondern habe sich statt dessen „mit der CDU-Politik solidarisch erklärt". Wie Ulbricht andeutete, entfiel damit die moralische Basis für einen Redneraustausch. „Will die SPD-Führung den Dialog in Hannover führen mit den Entwürfen der Notstandsverfassung, den Richtlinien für den verdeckten Krieg und dem grauen Plan der Bonner Regierung als Redemanuskript? Glaubt die SPD-Führung etwa, daß diese Musterexemplare neonazistischer Regierungspolitik der CDU, auch wenn sie von SPD-Funktionären verbreitet werden, Begeisterung für ein solches kapitalistisch formiertes Deutschland hervorrufen werden? Glauben sie, daß sie mit solchen Dokumenten unter dem Arm in Karl-Marx-Stadt begeistert empfangen werden?"

Seitdem richtete sich das Verhalten der SED immer deutlicher darauf, sich von dem vorgesehenen Redneraustausch zurückzuziehen. Das Zentralkomitee der SED forderte Mitte Juni, daß die technischen Vorgespräche beider Parteien, die bisher abwechselnd in Ostund West-Berlin stattgefunden hatten, nunmehr in Ost-Berlin und Bonn — als den „Hauptstädten beider deutscher Staaten" — geführt werden müßten. West-Berlin wurde mit der provozierenden Begründung abgelehnt, daß es nicht zur Bundesrepublik gehöre. Gegen das Bonner Gesetz über „freies Geleit" für SED-Redner, das Mitte Juni fertiggestellt wurde, entfaltete sich eine heftige Kampagne unter den Parolen „Handschellengesetz" und „Rechtsanmaßung". Obwohl es im Gegensatz zu dem bisherigen Zustand die persönliche Sicherheit aller SED-Funktionäre gewährleistete, die bei einem Redneraustausch in die Bundesrepublik kommen würden, wurde es jetzt als ein absolutes Hindernis für die vorgesehene Veranstaltung hingestellt. Das war ein Vorwand, wie auch Walter Ulbricht am 16. September 1966 durchblicken ließ, als er die „Ablehnung politischer Verhandlungen zwischen den Parteiführungen von SED und SPD" als den entscheidenden Grund für die Absage des Redneraustausches nannte. Nunmehr wurden als Vorbedingungen dafür, daß die vereinbarten Veranstaltungen stattfinden könnten, der offizielle Verzicht der Bundesrepublik auf den Alleinvertretungsanspruch und die Zustimmung der SPD zu den Anklagen des Ostblocks gegen die USA in der Vietnam-Frage gefordert — was beides keine Aussicht auf Erfüllung hatte. Mitte Juni verhärtete sich auch die Haltung des „DDR" -Vertreters bei den Passierscheingesprächen, die daraufhin scheiterten.

Die Führung der SED kleidete ihre Absage in die Formel: „Der Dialog geht weiter." Diese Parole sollte nicht nur verschleiern, daß der Redneraustausch an der SED gescheitert war. In ihr war auch die Absicht der SED zum Ausdruck gebracht, die begonnene Kampagne fortzuführen. In Anbetracht des Umstandes, daß die SPD für die kommunistischen Avancen noch nicht so reif war, wie die SED-Führer zunächst gemeint hatten, wurde der Redneraustausch als eine zunächst ungeeignete Form des Dialogs verworfen. Walter Ulbricht gab am 16. Juni offen zu erkennen, daß der „weitere Gang des Dialogs zwischen SED und SPD" wesentlich von der künftigen Haltung der Sozialdemokratie gegenüber dem Kurs der CDU/CSU abhängen werde. Solange die antikommunistische Geschlossenheit der Sozialdemokratischen Partei fortdauerte, war es für die Führer der SED enttäuschend und gefährlich zugleich, eine Aussprache zu beginnen, bei der ihr Meinungsmonopol in der „DDR" nicht mehr voll aufrechterhalten wurde. Daher zogen sich die Führer der SED wieder auf einen gesamtdeutschen „Dialog" in Form einer einseitig in die Bundesrepublik hineingetragenen Agitationskampagne zurück Auf diese Weise gedachten sie abzuwarten, bis die westdeutsche Situation für weitere Vorstöße reif sei. „Obwohl die SPD-Führung mit ihrer verhängnisvollen Politik den notwendigen Prozeß des Umdenkens in Westdeutschland in negativer Weise beeinflußt, wird sie ihn nicht verhindern können."

Das Verhalten der SED-Führung in der Frage des Redneraustausches mit der SPD zeigt, in welchem Ausmaß ideologische Prämissen den deutschen Kommunisten den Blick für die Wirklichkeit verstellen können. Die Hoffnung auf ein Klassenbündnis von SED und SPD ge-gen die CDU/CSU als der „Partei des Monopolkapitalismus" entsprach zwar den kommunistischen Vorstellungen vom Klassenkampf in den „kapitalistischen" Ländern, nicht aber der politischen und psychologischen Situation in der Bundesrepublik. Die in Westdeutschland sich mehrenden Anzeichen des Unbehagens und der Opposition gegenüber einer als verfehlt erscheinenden amtlichen Deutschlandpolitik konnte Ost-Berlin offenbar nicht anders als einen prokommunistischen Frontwechsel weiter Bevölkerungsteile deuten — was den Realitäten überhaupt nicht gerecht wurde.

3. Die Frage der Einwirkung von Seiten anderer Ostblock-Länder

a) UdSSR Die neue Linie der SED, die zu den Offenen Briefen an die SPD vom Frühjahr 1966 führte, ist offenbar vorher mit der KPdSU abgespro-chen worden. Die Rede, in der Erich Honecker am 15. Dezember 1965 die neue Parole vom «Bündnis der Arbeiterklasse" herausstellte, bildete erklärtermaßen das Fazit eines unmittelbar vorangegangenen Moskau-Besuches. Nachdem die neue Linie grundsätzlich bereits im September 1964 sowohl von der KPdSU als auch von der SED verkündet worden war, ist während Honeckers Aufenthalt in Moskau vermutlich Übereinkunft darüber erzielt worden, daß die Zeit für ein entsprechendes Vorgehen in der Bundesrepublik nunmehr herangereift sei.

Die Parolen, welche die KPdSU gleichzeitig ausgab, entsprachen voll dem neuen Kurs der SED. Am Tage nach der Abreise Honeckers aus Moskau, am 12. Dezember 1965, veröffentlichte die „Prawda" aus Anlaß des 5. Jahrestages der Erklärung der 81 kommunistischen Parteien von 1960 eine Stellungnahme zu den Problemen der internationalen kommunistischen Bewegung. Darin wurde eine Aktivierung des Kampfes gegen die „imperialistischen Kräfte" gefordert, wobei je nach Situation der Einsatz von „friedlicher" oder bewaffneter Macht für notwendig erklärt wurde — eine Darlegung, die mit dem Standpunkt der SED genau übereinstimmte. Ebenso wie in den Äußerungen der SED wurde die Arbeiterbewegung als der entscheidende Faktor des antiimperialistischen Kampfes" in den „kapitalistischen Ländern" bewertet. Demzufolge sollte der „Kampf gegen den Klassenfeind" vermittels der „Einheit aller Abteilungen der Arbeiterbewegung" geführt werden. Der „marxistisch-leninistischen Avantgarde", also den kommunistischen Parteien, fiel dabei die Aufgabe zu, die Arbeiterklasse zu organisieren und die sonstigen Oppositionskräfte um die-sen Kern zu sammeln. Dem Prawda-Artikel zufolge war dabei so zu verfahren, daß die breiten Massen der Arbeiterschaft und des Volkes für den Kampf um die gesellschaft-lidi-politischen Forderungen der Kommunisten mit Hilfe vorgeschobener „Friedensziele“ gewonnen und mobilisiert werden sollten. Als Endziele wurden der „Übergang der grundlegenden Produktionsmittel in die Hände des Volkes", die „Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse" und die „Diktatur des Proletariats" angestrebt. Alle diese Punkte lassen sich, wenn auch zumeist in weniger offenen Formulierungen, in den Stellungsnahmen der SED wiederfinden.

Bevor sich das Zentralkomitee der SED zu der Antwort auf den ersten Offenen Brief des SPD-Parteivorstandes entschloß, in der es sich zu der versuchsweisen Durchführung eines Redneraustausches bereit erklärte, scheinen Beratungen mit sowjetischen Stellen in Ost-Berlin stattgefunden zu haben. Als Zeitraum kommt hier die Woche des so auffälligen totalen Ost-Berliner Schweigens vom 19. bis 26. März 1966 in Frage. Der stets außerordentlich gut unterrichtete Berliner Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung", Otto Frei, berichtete am 27. März, daß die Antwort der SED-Führung an die SPD „wahrscheinlich nach einer Absprache mit Moskau" erfolgt sei, und fügte am 17. April hinzu, es bestehe „kein Zweifel" daran, daß Ost-Berlin „im engen Einvernehmen mit Moskau" handele Die Übereinstimmung von KPdSU und SED in der Frage des Dialogs mit der SPD kommt auch in zahlreichen beifälligen Kommentaren in Presse und Rundfunk der UdSSR in der Zeit von Mitte April bis Ende Mai zum Ausdruck. Mehrfach erhielten in sowjetischen Zeitungen führende SED-Funktionäre — Walter Ulbricht, Hermann Matern und Joachim Hermann (Staatssekretär für gesamtdeutsche Fragen) — selbst das Wort zu diesem Problem. Da ein Abdruck der sowjetischen Presse in aller Re-gel eine sehr weit reichende Billigung von amtlicher Seite impliziert, ist anzunehmen, daß der Kurs der SED den Wünschen der KPdSU entsprach.

überdies stimmten die Stellungnahmen sowjetischen Ursprungs mit den Thesen der SED überein — und zwar sowohl wenn sie einem russischen als auch wenn sie einem deutschen Publikum galten. In ihnen zeichneten sich folgende Grundlinien ab:

1. Die beabsichtigte Einflußnahme richtete sich auf die Anhängerschaft der SPD;

2. Ziel des Dialogs mit der SPD sollte die Herstellung einer Aktionseinheit, nicht ein Schlagabtausch sein;

3. in der Polemik gegen die SPD-Führung hielt man sich sehr zurück, und das Vorgehen war darauf abgestellt, einen — vermeintlich schon sehr stark vorhandenen — Druck der Sozialdemokraten auf ihre Führer weiter zu entfalten; 4. vollgültige Verhandlungen von SED und SPD wurden als Mittel einer künftigen Wiedervereinigung Deutschlands hingestellt, für die außerdem eine vorausgehende gesellschaftlich-politische Umwälzung in der Bundesrepublik unerläßlich sein sollte;

5. es trat ein starkes Interesse an dem Zustandekommen des Dialogs hervor — sein etwaiges Scheitern wurde als im Sinne der CDU/CSU liegend bezeichnet.

Bis Ende Mai befürworteten alle sowjetischen Äußerungen trotz deutlicher Kritik am Verhalten der SPD-Führung die Durchführung des Dialogs in den vorgesehenen Formen. Dabei hoffte man erklärtermaßen auf den Einfluß, den die breite Masse der sozialdemokratischen Anhänger geltend machen werde. Das alles entsprach ganz dem Kurs der SED. Es fällt jedoch auf, daß Leonid Breshnew in dem Rechenschaftsbericht vor dem 23. Parteitag der KPdSU vom 29. März 1966 die westdeutschen Arbeiter nicht an der Seite der Arbeiter Frankreichs und Italiens als auf dem Wege des Fortschritts befindlich erwähnte. Im Unterschied zu den Stellungnahmen der SED nahmen die sowjetischen Kommentare im Mai auf die Bonner Entwürfe zu einem Gesetz über „freies Geleit" keinen Bezug.

Seit dem Dortmunder Parteitag der SPD verschwand in der Sowjetunion das Thema des Dialogs zwischen den „beiden deutschen Arbeiterparteien" schlagartig aus Presse und Rundfunk. Bereits am 7. Juni — also zwei Tage vor der ersten Ost-Berliner Stellungnahme — deutete die „Prawda" in versteckter Form an, daß der Redneraustausch nicht mehr den sowjetischen Wünschen entsprach. In einer langatmigen Routine-Polemik über den westdeutschen „Revanchismus" versteckt, hieß es, die amtlichen Kreise in der Bundesrepublik, vom „Bundeskanzler und den Führern der Parteien“ angefangen, schürten „Feindseligkeit und Haß gegen die Sowjetunion“. Damit war nunmehr im Gegensatz zu der bisherigen Sprachregelung auch dem SPD-Vorstand ausdrücklich ein Platz unter den unverbesserlichen Friedensfeinden angewiesen. Mehr freilich als die Haltung der SPD-Führer, von denen man sich in Moskau auch vorher nicht allzu viel Gutes versprochen hatte, durchkreuzte die Haltung des sozialdemokratischen Parteivolkes, wie sie in Dortmund sichtbar geworden war, die sowjetischen Pläne. Die „Prawda" beklagte, daß es der „herrschenden Klasse" in Westdeutschland gelinge, „den passenden Schlüssel zur Seele der Menschen zu finden". Demzufolge verbreite sich „der Geist des nationalen Hochmuts in der BRD wie eine Seuche" und dringe „auch in die Arbeiterklasse ein". Als betrübliches Resultat wurde herausgestellt, daß sich die „Klassenwachsamkeit und -aktivität [der westdeutschen Arbeiterschaft] im Kampf gegen die Monopole um die sozialen und demokratischen Rechte" empfindlich verringert habe. Diese pessimistische Darstellung kontrastierte sehr mit den hochgespannten Erwartungen, welche die sowjetische Publizistik bisher auf die Arbeiter und manche Intellektuelle in der Bundesrepublik gesetzt hatte. Die „Prawda" forderte, daß im Zuge einer „Entlarvung der revanchistischen Pläne des westdeutschen Imperialismus" die „friedliebenden Kräfte" in der Bundesrepublik mit den „friedliebenden Kräften aller europäischen Staaten" ein Bündnis eingehen müßten. Damit war die Parole einer Kooperation zwischen SED und SPD fallengelassen. Die zeitliche Priorität des „Prawda" -Artikels vom 7. Juni vor den Ost-Berliner Kommentaren und die Übereinstimmung der SED-Motivation mit der sowjetischen Linie lassen den Schluß zu, daß die Absage des Redneraustausches von Moskau ausgegangen ist.

Die sowjetischen Stellungnahmen lassen erkennen, daß die Führer der KPdSU die Hoffnung aufgegeben hatten, in baldiger Frist etwas an folgenden — ihren Plänen in Deutschland entgegenstehenden — Tatbeständen ändern zu können:

1. an der Weigerung der SPD, sich dem von der SED proklamierten Aktionsprogramm anzuschließen; 2. an der demokratischen Solidarität der sozialdemokratischen Oppositionspartei mit den „bourgeoisen" Regierungsparteien der Bundesrepublik; 3. an der westlich-atlantischen Orientierung der westdeutschen Sozialdemokraten.

Wie in der sowjetischen Publizistik stark betont wurde, kam ein offizielles Gespräch zwischen SED und SPD nicht mehr in Frage, solange die SPD als Vorhut des westlichen Lagers auftrete und im Verhältnis zur SED eine Konfrontation der Standpunkte statt einer Zusammenarbeit zu den kommunistischen Bedingungen erstrebe. Nach sowjetischer Darstellung konnte es nicht zugelassen werden, daß die westdeutschen Sozialdemokraten westliche Gedanken in die „DDR" trugen. Erst wenn die SPD, so lautete der Schluß, mit der „Reaktion" in der Bundesrepublik und in den anderen westlichen Ländern breche, könne sie wieder Verbindung zur SED anknüpfen.

Es ist im übrigen sehr aufschlußreich, daß die These von der unerträglichen „Rechts-und Alleinvertretungsanmaßung" der Bundesrepublik, mit der Ost-Berlin die Absage des Redneraustausches offiziell begründete, in den so-

wjetischen Verlautbarungen völlig fehlte. Auf das Bonner „Gesetz über freies Geleit" wurde nur einmal Bezug genommen — und dann in einem völlig anderen Sinne: Durch ihre Mitwirkung an diesem Gesetz, so erklärte die „Prawda" am 6. Juli, habe die SPD auf eine „selbständige Position" verzichtet und sich „an den Schwanz der CDU" geheftet. Nach dieser Darlegung wäre es die Pflicht des sozialdemokratischen Landes Niedersachsen gewesen, mit seiner Polizei die zu der Redeveranstaltung in Hannover erwarteten SED-Gäste gegen die Bundesregierung zu schützen. Was die sowjetischen Führer an dem angegriffenen Gesetz störte, waren also nicht die von der SED ausgespielten juristischen Implikationen, sondern enttäuschte Hoffnungen, daß die Frage des Schutzes für die SED-Redner als Hebel dienen könnte, um einen Bruch zwischen SPD und CDU/CSU herbeizuführen. Wie die SED so erklärte auch die KPdSU, daß der Dialog zwischen den „beiden deutschen Arbeiterparteien" trotz des abgesagten Redneraustausd. es weitergehe. Statt auf offizieller Ebene sollte das Gespräch nunmehr in Form einer agitatorischen Einflußnahme auf die individuellen Gefolgsleute und die lokalen Organisationen der SPD verwirklicht werden. Der Vorteil dieses Vorgehens lag für Moskau darin, daß hierbei die Einseitigkeit der Beeinflussung gewährleistet war und damit keine negativen Rückwirkungen auf die „DDR" zu befürchten standen. Als Nachteil mußte freilich eine stark verminderte Glaubwürdigkeit der kommunistischen Kooperationsappelle in Kauf genommen werden. Dementsprechend lassen die sowjetischen Stellungnahmen klar erkennen, daß Moskau seine innenpolitischen Erfolgschancen in der Bundesrepublik nach der Absage des Redneraustausches für erheblich verringert erachtete.

In allen entscheidenden Stadien des Dialogs tritt der bestimmende Einfluß Moskaus auf Ost-Berlin hervor. Offensichtlich sieht sich das SED-Regime veranlaßt, sich in allen wichtigeren praktischen Schritten, die es im Rahmen der Ost-West-Beziehungen unternimmt, nach den Wünschen der sowjetischen Schutzmacht zu richten. Einen größeren Spielraum besitzt es allem Anschein nach nur dort, wo es sich um bloße agitatorisch-propagandistische Attacken gegen den Westen handelt, die keine unmittelbaren praktischen Komplikationen heraufbeschwören können. b) Polen Die Stellungnahme der polnischen Presse zur Frage des Dialogs und vor allem des Redner-austausches gaben Zurückhaltung und Skepsis zü erkennen. Die negativen Gesichtspunkte wurden von Anfang an stark hervorgehoben: 1. Der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik, der auch von der SPD unterstützt weide, lasse sich mit der staatlichen Würde der „DDR“ nicht vereinen;

2. die Absichten der SPD ständen in Widerspruch zu den Zielen der SED: Statt auf eine proletarische Gemeinsamkeit hätten es die Führer der SPD auf eine Offensive gegen die „DDR" abgesehen, und so drohe der Redner-austausch ein „trojanisches Pferd" in die Reihen der SED zu ziehen;

3. die CDU/CSU sabotiere das Unternehmen und gefährde die persönliche Sicherheit der in die Bundesrepublik zu entsendenden SED-Redner.

Da die polnische Haltung von Anfang an negativ war, ohne daß sich die SED-Führung davon beirren ließ, kann angenommen werden, daß die polnische Partei keinen wesentlichen Einfluß auf den Kurswechsel der SED von Anfang Juni 1966 genommen hat. Als Motiv der polnischen Besorgnisse vor einem Redneraustausch möchte man vermuten, daß Warschau Unbehagen angesichts der Möglichkeit empfand, die beiden Teile Deutschlands könnten einander näherrücken und dabei an Stärke gewinnen — und zwar auch dann, wenn dies unter vorherrschend kommunistischen Vorzeichen geschehen sollte.

c) CSSR Die tschechoslowakische Beurteilung des Dialogs zwischen SED und SPD zeichnete sich durch bemerkenswerten Realismus aus. Der Dialog wurde nicht — wie in den Stellungnahmen der SED und der KPdSU — als Beginn einer gemeinsamen Politik der beiden beteiligten Parteien, sondern als eine unerbittliche Konfrontation angesehen. Wehners Wort vom „Schlagabtausch", gegen das sich die SED heftig wandte, war nach Ansicht der KPCS der Auseinandersetzung durchaus angemessen, um die es gehe. Die Konfrontation der beiden deutschen „Arbeiterparteien" wurde in der CSSR voll bejaht. Von ihr erhoffte man sich eine Bewegung der erstarrten Fronten in Mitteleuropa. Der SED wurde dabei Mut zugesprochen: Sie habe durch ihre überlegenen Argumente einen guten Stand und brauche daher die einsetzende Dynamik nicht zu fürch-ten. An kritischen Bemerkungen über die Haltung der SPD und die in der Bundesrepublik gegebenen Voraussetzungen war kein Mangel — aber die tschechoslowakischen Kommentatoren ließen nichts davon als Hindernis für die als notwendig betrachtete gesamtdeutsche Aussprache gelten. Man hoffte zuversichtlich darauf, daß ein kraftvolles Vorgehen der SED seine Wirkung auf die breiten Massen der westdeutschen Arbeiterklasse schließlich doch nicht verfehlen werde. Als Fernziel tauchten eine Verständigung der Deutschen und die Lösung der deutschen Frage am Horizont auf. Wie sehr sich die Haltung der KPCS von derjenigen der SED unterscheidet, zeigte sich daran, daß im Mai die Bonner Entwürfe für ein Gesetz über „freies Geleit" als ein Sieg der SPD über die CDU/CSU gefeiert wurden, der nunmehr den Redneraustausch völlig sichere. Die tschechoslowakischen Kommentatoren ließen dabei keinen Zweifel daran, daß sie den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik, der diesem Gesetz zugrunde lag, scharf ablehnten. Als entscheidend jedoch stellten sie nicht diesen Rechtsstandpunkt, sondern die praktische Möglichkeit des Redneraustausches heraus. Welche Wichtigkeit die tschechoslowakischen Parteiführer dem gesamtdeutschen Dialog beimaßen, zeigte sich daran, daß die Titelseite der Juni-Ausgabe der parteiamtlichen Zeitschrift für internationale Politik, „Mezin-rodni politika", Bilder von Walter Ulbricht und Willy Brandt sowie das Motto: „SED — SPD" brachte.

Der Verlauf des Dortmunder Parteitages der SPD konnte für die KPÖS offensichtlich keinen Grund bilden, der die SED zu einer Absage des Redneraustausches veranlassen sollte, schließlich hatte sie die hier zerstörten Illusionen über eine „Aktionsgemeinschaft" von SED und SPD schon vorher nicht geteilt. Von Seiten der KPÖS kann die SED also nicht im Sinne eines Kurswechsels beeinflußt worden sein. Vielmehr löste es in Prag großes Bedauern aus, daß die SED den begonnenen Dialog mit der SPD abbrach.

4. Fazit

Die Einwirkung der kommunistischen Staaten auf ihre Außenwelt findet auf zwei verschiedenen Ebenen statt: auf der Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen und auf der Ebene der „gesellschaftlichen" Aktion innerhalb anderer Länder. Die Initiative der SED zu einem Dialog mit der SPD gehört in die zweite Kategorie. Als Ziel tritt eine politisch-soziale Umwälzung in der Bundesrepublik hervor, zu der angesichts der Schwäche der kommunistischen Kräfte die SPD ihre Hand bieten sollte. Dementsprechend war der Dialog zwischen den „beiden deutschen Arbeiterparteien" grundsätzlich als Prozeß einer einseitigen agitatorischen Einflußnahme der „DDR" auf die Bundesrepublik und als Motor einer Angleichung der SPD an die SED gedacht. Soweit sich die sozialdemokratischen Führer hierzu nicht bereit zeigen würden, sollten ihre Anhänger gegen sie ausgespielt werden. Der Dialog war, soweit er auf die „DDR" zurückwirken konnte, an die Voraussetzung gebunden, daß die SPD mit der SED gemäß deren Bedingungen kollaborierte und damit von vornherein auf den Import eines nicht-kommunistischen Standpunktes in die „DDR" verzichtete. Die Führer der SED beurteilten die Aussichten hierfür zunächst allzu optimistisch, weil sie die Opposition, die sich innerhalb der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik gegen die Regierung regte, als Kampf gegen diese Ordnung selbst mißverstanden. Als dann aber deutlich wurde, daß die „rechte’ Führung der SPD Herr der Situation in der Partei war und daß sich auch die sozialdemokratische Anhängerschaft nicht von der bundesdeutschen Solidarität zur Aktionseinheit mit der SED überwechseln wollte, wurde der Dialog von seinen kommunistischen Initiatoren auf ein bloßes Agitationsmanöver ohne Einsatz reduziert: SED und KPdSU hielten im Gegensatz zur tschechoslowakischen Partei eine Konfrontation der Standpunkte für allzu gewagt. In diesem Verhalten offenbart sich die moralische Schwäche der kommunistischen Position in Deutschland: Statt sich auf irgendeine öffentliche Auseinandersetzung einzulassen, entschieden sich die Verantwortlichen in Ost-Berlin und Moskau dafür, sich ausschließlich auf ihre durch militärische und polizeiliche Gewalt abgesicherten Machtpositionen zu verlassen, deren sinnfälligster Ausdruck, die Berliner Mauer, in der Deutschland-Politik von SED und KPdSU eine zentrale Rolle spielt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. A. Arzumanjan, Itogi mirovogo razvitija, in: Mirovaja ekonomika i mezdunarodnye otnosenija, 1964, H. 11, S. 81 ff.

  2. A. Arzumanjan, a. a. O., 1964, H. 12, S. 81.

  3. W. Ulbricht am 25. 9. 1964, in: Dokumentation der Zeit (Ost-Berlin) [hinfort: ddz), S. 321/34 f.

  4. H. Wehner im Rias, 12. 2. 1966, 21. 45 Uhr, laut Pressemitteilungen und Informationen/SPD 77/66.

  5. Offene Antwort der SPD vom 19. 3. 1966, in: ddz 356/6.

  6. 12. Parteitag der SPD in Dortmund, in ddz 361/19, 24, 26, 25.

  7. Die Welt vom 10. 6. 1966 (D. F., Berlin).

  8. Die zweite Forderung taucht erstmals in einem Brief von W. Ulbricht an K. Jaspers vom 1. 6. 1966 auf, aber es ist wohl kein Zufall, daß dieser zunächst nicht veröffentlicht wurde (Publikation am 10. 6. 1966 im „Neuen Deutschland“ [hinfort: ND[).

  9. Die „Zehn Fragen an die Bundesregierung“ in ND vom 7. 8. 1966 und die „Sechs Fragen an die SPD-Führung, die der Sicherung des Friedens dienen", im ND vom 22. 10. 1966 sind offensichtlich in diesem Zusammenhang zu verstehen.

  10. 12. Parteitag der SPD in Dortmund in: ddz 361/19.

  11. Neue Zürcher Zeitung vom 18. 3. 1966 und 18. 4. 1966

Weitere Inhalte

GerhardWettig, Dr. phil., geboren 1934 in Gelnhausen/Hessen, Studium der Geschichte, Slavistik und Politikwissenschaft, Wiss. Referent am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen (im Erscheinen begriffen): Die Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung Deutschlands 1943— 1955. Internationale Auseinandersetzungen um die Rolle der Deutschen in Europa, in: Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Band 25; Die Rolle der russischen Armee im revolutionären Machtkampf 1917. Von der Februarerhebung bis zu den Julikrisen, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Band 12.