Einleitung: Zwei traditionelle Legenden
Die Welle von Militärstaatsstreichen, die von Mitte 1965 bis August 1966 über Afrika hin-wegging, ist natürlich dazu geeignet, für oberflächlich denkende Zeitgenossen das alte Vorurteil zu bekräftigen, daß Afrikaner unfähig seien, sich selbst zu regieren. Im Augenblick erlebt Afrika eine historisch sozusagen normale Phase — die große Adaptionskrise, als äußeren Ausdruck jenes komplizierten und spannungsreichen Prozesses, den die Umwandlung von der traditionellen Agrargesellschaft zur modernen Industriegesellschaft notwendig nach sich zieht. Nach den Erfahrungen der europäisch-nordamerikanischen Geschichte sollte es niemanden überraschen, daß diese Spannungen auch in Afrika zu politischen Explosionen, zu gewaltsamen Zuckungen, zu partiellem und temporärem Chaos führen würden, denn in Afrika sind in wesentlich kürzerer Zeit wesentlich mehr Probleme zu bewältigen als in der jahrhundertelangen Entwicklung der führenden Industriestaaten zu ihrem gegenwärtigen Niveau des hohen Lebensstandards und der relativen politischen Stabilität. Wenn Kriege, Bürgerkriege, Revolutionen und Staatsstreiche Kriterien dafür sein sollten, daß ein Volk (oder eine ganze „Rasse") unfähig zur Selbstregierung sein sollte, so blieben von der „weißen Rasse" an Kandidaten für die Selbstregierung nur wenige übrig, selbst wenn man nur die neuere Geschichte zur Beurteilung heranziehen würde: Angefangen von den USA mit ihrem vierjährigen blutigen Bürgerkrieg, der vor etwas über einem Jahrhundert stattfand, und ihrem permanenten Rassenproblem, das bis in unsere Gegenwart immer wieder lokale Unruhen und Gewalttätigkeiten produzierte, über die europäische Staatengemeinschaft mit zwei Weltkriegen, über Deutschland mit dem Dritten Reich, Rußland mit seinem Stalinismus bis hin zu Frankreich mit seiner Serie von Revolutionen und Gegenrevolution, und Belgien mit seinen nun seit Jahren andauernden Sprachenkämpfen zwischen Wallonen und Flamen.
Eng verwandt mit dem politischen Argument gegen die Afrikaner ist das historische — die Behauptung, Afrika hätte keine Geschichte. Die angebliche Geschichtslosigkeit Afrikas ist natürlich ein im Abendland weitverbreitetes, von Hegel nur dogmatisiertes Vorurteil, das gelegentlich auch noch in Deutschland vorsichtig und indirekt vertreten wird
Als besonders fruchtbar erweisen sich knappe, skizzierende Längsschnitte durch die Geschichte der beiden wichtigsten afrikanischen Länder, in denen Anfang 1966 Staatsstreiche der Armee Schlagzeilen der Weltpresse machten — Nigeria und Ghana. Allerdings ist von vornherein zu betonen, daß beide Länder eine besonders reiche politische Geschichte aufweisen, daß ihre Geschichte bereits relativ gut durchforscht ist, da sich beide seit langem einer besonders intensiven und kritischen Publizität erfreuen — Nigeria als das volkreichste Land Afrikas, Ghana, das (von Äthiopien, Liberia und dem Sudan abgesehen) als erster afrikanischer Staat südlich der Sahara die Unabhängigkeit erhielt und unter Nkrumah stets eine Sonderrolle in Afrika beanspruchte, teilweise auch einnahm. Deshalb sind beide vielleicht nicht ganz typisch, aber da es sich nun einmal um einwandfrei afrikanische Länder handelt, wird man ihr Zeugnis nicht so einfach abweisen können. Außerdem ist zumindest Nigeria besonders aufschlußreich, weil durch seine Größe die den meisten afrikanischen Staaten eigenen Probleme auf einen ganz großen Maßstab projiziert werden und daher für den Außenstehenden leichter sichtbar sind als in den meisten kleineren, weniger bekannten afrikanischen Staaten. Zum richtigen Verständnis der Problematik in Nigeria muß man rund 400 Jahre in der Geschichte der auf nigerianischem Boden heute lebenden Völker zurückgehen, und um den Sturz Nkrumahs zu verstehen, muß man in der Geschichte mindestens vor 200 Jahren ansetzen.
Fast alle gegenwärtigen afrikanischen Staaten sind erst durch den Kontakt mit den Europäern entstanden. Ihre Vorgeschichte beginnt daher im wesentlichen mit jenem ersten Kontakt, aber das heißt nicht, daß es nicht schon davor eine eigenständige afrikanische Geschichte gegeben hätte. Außerdem setzt die erste Berührung mit den Europäern nicht erst mit dem Zeitalter des Kolonialismus ein, sondern reicht in manchen Küstenregionen bis ins späte 15. Jahrhundert zurück, als die Afrikaner keine willenlose Objekte europäischer Politik waren, sondern durchaus selbstbewußt handelnde Subjekte.
Der geschichtsmächtige Einfluß Europas auf Afrika beruht auf keiner konstanten, angeblich „rassisch bedingten" Überlegenheit der Europäer und entsprechender permanenter Unterlegenheit der Afrikaner, sondern auf — historisch erklärbaren — Niveauunterschieden in der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Entwicklung. Die historische Wirkung Europas auf Afrika läßt sich am besten mit der Wirkung des kulturellen Einflusses des Römerreichs auf die keltischen und germanischen Barbarenstämme vor 2000 Jahren vergleichen, oder des alten Ägyptens auf die griechischen Barbarenstämme vor 3000 Jahren
I. Die prä-koloniale Epoche (bis ca 1850)
Zur Aufhellung des äußerst komplizierten historischen Hintergrunds
Die kleineren Stämme zwischen Hausa und Kanuri einerseits, zwischen beiden und den Küstenvölkern andererseits, waren in der Regel heidnisch, ohne übergreifende politische Organisation. Die große Ausnahme bilden die Nupe mit ihrem beachtlichen Königreich
An der Küste nahm das Edo-Königreich Benin die überragende Stellung ein, obwohl es zeitweilig in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Oyo stand. Die erste bedeutsame Kontaktaufnahme mit den Portugiesen, den ersten Europäern, fand Ende des 15. Jahrhunderts in Benin statt und führte sogar zu einer raschen Christianisierung des Hofs von Benin, wovon im 19. Jahrhundert jedoch nur noch fast unkenntliche Spuren übriggeblieben waren, z. B. zahlreiche portugiesische Lehnworte in einer Geheimsprache des innersten Hofs von Benin. Immerhin ist beachtlich, daß die Portugiesen den König von Benin als souveränen Herrscher behandelten, mit ihm Verträge abschlossen etc., was teilweise die wirklichen Machtverhältnisse widerspiegelte, teilweise aber auch wohl aus Taktik geschah.
Die Ibos lebten bis ins 20. Jahrhundert hinein ohne übergreifende politische Organisation ganz auf der Ebene einer Dorf-Demokratie, aber mit einem relativ starken geistigen und kulturellen Zusammengehörigkeitsbewußtsein. Das Ibo-Land war das am stärksten bevölkerte Gebiet, mit einem ständigen Bevölkerungsüberschuß, der bis zum 19. Jahrhundert durch den Sklavenhandel, anschließend durch Auswanderung in übrige Teile des heutigen Nigeria teilweise aufgefangen wurde. 2. Die Zeit des Sklavenhandels (1500— 1850)
a) Der Aufstieg der Küstengebiete Die Ankunft der Europäer in Westafrika seit dem Ende des 15. Jahrhunderts — zunächst der Portugiesen, später vor allem der Engländer — löste tiefgreifende Veränderungen aus: Bis dahin waren alle Völker und Stämme ganz dem Landesinneren zugewandt, überwiegend nach Norden orientiert. Die Küsten waren so gut wie unbewohnt, weil unprofitabel. Das Auftauchen der Europäer an der Küste brachte allmählich — von den Küsten ausgehend — eine radikale Umpolung des gesamten Landes mit sich. Der von den Europäern eingeführte transatlantische Sklavenhandel in großem Stil ersetzte weitgehend den traditionellen, viel bescheideneren Sklavenhandel durch die Sahara zur nordafrikanischen Küste und gab den unmittelbar am Meer lebenden Stämmen eine starke Schlüsselstellung. Ijebus, Edos, Ibibios und Effiks wurden die wichtigsten Zwischenhändler und afrikanischen Profiteure am Sklavenhandel. Aus kleinen Fischerdörfern wurden große Handelsstädte und Zentren mächtiger Staaten, deren Hauptzweck der Krieg zum Einfängen von Sklaven war, um die ständig anwachsende Nachfrage nach Sklaven für die Plantagen und Bergwerke in Amerika zu befriedigen. Neben Benin stiegen damals Calabar, Bonni, Brass, später Lagos zu den bedeutendsten Zentren des amerikanisch-afrikanischen Sklavenhandels auf. Zugleich wurden sie Ausgangspunkte des europäischen kulturellen und wirtschaftlichen Einflusses.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts machten sich im Oyo-Reich immer stärker zentrifugale Kräfte bemerkbar. Mit dem Abfall der Provinz Ilorin (1817) begann eine Serie von Bürgerkriegen, die zur Auflösung des Oyo-Reichs führten, schließlich 1893 zur Errichtung des britischen Protektorats über das Yorubaland. Die inneren Wirren wurden kompliziert und gesteigert durch einen Druck aus dem Norden und aus dem Westen, wo die Dahomeys zweimal, 1851 und 1864, die bedeutende Yoruba-Stadt Abeokuta erfolglos belagerten 7a).
b) Der „Jihad“ der Fulani (1804— 1840)
Der Druck aus dem Norden auf die Yoruba
Die Fulani hatten bisher friedlich im Hausaland gelebt, zum größten Teil als heidnische Hirten halbnomadisch auf dem Land, teilweise aber auch als islamische Kaufleute, Intellektuelle und Hofleute in den Städten. Um 1800 waren die Fulani in den Hausa-Städten, die Fulanin Gidda, so mächtig geworden, daß sie als Ferment politischer, sozialer und religiöser Reformen unbequem wurden. Als Reaktion auf den Versuch, den bereits betagten islamischen Schriftgelehrten Usman dan Fodio aus dem Staat Gobir, damals der Vormacht unter den Hausastaaten, zu vertreiben, anschließend die weitere Bekehrung zum Islam zu verhindern, erhoben sich die Stadt-Fulani, unterstützt von zahlreichen nomadischen Fulani auf dem Land, zu einem Jihad, zu einem Heiligen Krieg, und stürzten innerhalb von vier Jahren die Herrschaft der Hausa-Monarchien. Der Jihad war jedoch mehr als nur eine Angelegenheit islamischer Fulani, nämlich zugleich auch eine politische und soziale Reformbewegung. Darauf deutet die Tatsache hin, daß sich mit der Mehrheit der Fulani auch der Hausa-Bauer, der „talakawa" oder der „gemeine Mann", zu einem erheblichen Teil gegen die Hausa-Monarchien wandte. Zunächst brachte die neue Ordnung auch zahlreiche Reformen, bis die Fulani-Herrschaft ihrerseits rasch zu einer mittelalterlichen feudalen Despotie erstarrte.
Nach der Eroberung des Hausa-Landes organisierten die Fulani ihre Herrschaft von dem Sultanat Sokoto aus, das zugleich als Mittelpunkt für die übrigen Emirate diente, die in der Folgezeit relativ autonom wurden. Noch im ersten Siegeslauf erfolgte das Ausgreifen über das Hausa-Land hinaus. Im Osten scheiterte es bereits 1811 an dem Widerstand eines Nomadenstammes, der in vielen Punkten den Fulani ähnlich war, der Kanembu, unter der Führung El Kanemis, der zugleich das alte Reich Bornu konsolidierte. Weiter nach Süden drangen die Fulani aber schier unaufhaltsam weiter vor, bis sie fast den gesamten Mittelbereich des heutigen Nigeria, bis weit in das heutige Kamerun hinein, erobert hatten. Lediglich in das hochgelegene Gebiet der Tiv vermochte die Kavallerie der Fulani nicht mehr vorzudringen. c) Die Auflösung desOyo-Reiches (1817— 1837) Gleichzeitig drückten die Fulani auch auf das alte Oyo-Reich der Yoruba. Nachdem sie bereits Nupe erobert hatten, gab ihnen die Auflehnung des Yoruba-Herrschers in Ilorin gegen Oyo Gelegenheit, sich in die inneren Angelegenheiten der Yoruba einzuschalten. Ilorin fiel 1817 ab und stürzte damit die Yoruba in ihre lange Periode der Bürgerkriege, geriet aber seinerseits sehr bald in Abhängigkeit der Fulani, die Ilorin als Bundesgenossen gegen die Zentralgewalt in Oyo gewonnen hatten.
Den Anfang vom Ende des Oyo-Reichs hat Samuel Johnson auf Grund von mündlichen Überlieferungen rund 70 Jahre später eindrucksvoll geschildert. Den Höhepunkt seiner Darstellung bildet der Fluch des Alafin, kurz bevor er entsprechend der Tradition Selbstmord beging. Da dieser Fluch in der späteren Geschichte der Yoruba eine große Rolle spielte und die Darstellung Johnsons heute zu den klassischen Texten Nigerias gehört, lohnt es sich, an dieser Stelle näher darauf einzugehen:
Das auslösende Moment kam mit der Rebellion des „Kakanfo", des zweitmächtigsten Manns im Oyo-Reich, gegen den Alafin. Das Amt des Kakanfo war ein nicht vererbliches Feudalamt und entsprach etwa dem eines Reichs-Marschalls. Der damalige Kakanfo war Afonja, der Stammesfürst von Ilorin, der so mächtig geworden war, daß der Alafin ihn mit einer an König David erinnernden List ausschalten wollte: Als Ziel des üblichen Kriegszugs benannte er eine so gut wie uneinnehmbare Stadt. Da traditionsgemäß der Kakanfo innerhalb von drei Monaten siegen oder Selbstmord begehen mußte, revoltierte Afonja, tötete die Vertreter des Königs in der Armee, zog mit einigen verbündeten Stammesfürsten vor die Hauptstadt und lagerte mit der Armee vor der Hauptstadt Oyo. Verhandlungen mit dem Alafin lehnten die Stammesfürsten ab: „Mehrere Wochen vergingen, und sie lagerten immer noch vor Oyo, unschlüssig, was sie weiter tun sollten. Endlich schickten sie einen leeren, bedeckten Kalabash
Damit erhob er die tönernde Schale, warf sie auf den Boden und zerschmetterte sie und sagte dazu: , Igba la iso a ki iso awo, beheni ki oro mi o se to! to! ‘(ein zerbrochener Kalabash läßt sich heilmachen, aber keine zerbrochene Schale; so laßt meine Worte sein — unwiderruflich!). Anschließend nahm er Gift und starb, worauf das Lager abgebrochen wurde und die Fürsten nach Flause gingen."
Nach dem Abfall von Ilorin und der sich anschließenden Absorbierung durch die Fulani scheiterte die Rückeroberung von Ilorin an der von den Fulani kräftig genährten Uneinigkeit der Yoruba-Fürsten, die sich nun alle der Reihe nach von der Zentralgewalt lösten, so daß bereits 1821 der Alafin auf die Herrschaft der Stadt Oyo reduziert war. Der Zusammenbruch der Zentralgewalt und der politische Zerfall der Yoruba ermöglichte eine weitere Expansion der Fulani. Nach der Eroberung der Provinz Kebba fiel 1837 die Hauptstadt Oyo und eine neue Stadt Oyo wurde weiter im Süden gegründet, allerdings ohne die Macht und die politischen Ansprüche von Old Oyo (wie die verlorene Hauptstadt seitdem genannt wurde). Anschließend verheerten Bürgerkriege mit wechselnden Allianzen zwischen den verschiedenen Yoruba-Stämmen um die politische Nachfolge Oyos und die Hegemonie im Yorubaland weite Teile des Landes und lieferten ständigen Nachschub an Sklaven für den transatlantischen Sklavenhandel, so daß etwa von 1820 ab die Yoruba bis zur Unterbindung des Sklavenhandels mit dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges das stärkste Kontingent unter den Sklaven stellten. 3. Der Beginn der modernen Einflüsse Im Lande selbst lösten die Expansion der Fulani und der allgemeine Zerfall eine politische Umgruppierung unter den Yoruba aus: Um 1830 gründeten die von den Fulani vertriebenen Egba mit Abeokuta im Südwesten einen neuen Schwerpunkt
Die „Sierra Leoneans" waren ehemalige Sklaven, die die britische Flotte von Sklavenhändlerschiffen vor der westafrikanischen Küste befreit und anschließend in Sierra Leone angesiedelt hatte, wo sie als „Liberated Africans" bald die Mehrheit in der 1787 gegründeten Kolonie bildeten. Während die meisten mit den drei älteren Gruppen von Einwanderern — den ursprünglichen, aus England gekommenen Siedlern (ehemalige, 1772 freigelassene Sklaven), den „Nova Scotians" (ehemalige Sklaven, die im amerikanischen Bürgerkrieg auf britischer Seite gekämpft hatten, nach Friedensschluß mit den Briten nach Kanada abgezogen und vorübergehend in Nova Scotia angesiedelt worden waren) und den „Maroons" (Abkömmlinge ehemaliger Sklaven, die sich seit der Besitznahme Jamaikas durch die Briten im Jahre 1652 eine Art Unabhängigkeit in den Bergen Jamaikas errungen hatten, 1795 nach einem Aufstand teilweise nach Nova Scotia deportiert worden waren, von wo aus sie 1800 in Sierra Leone eintrafen) — bald eine einheitliche, quasi-bürgerliche Oberschicht in Sierra Leone bildeten, die „Creolen"
II. Die Epoche des Kolonialismus (1850— 1960)
1. Die koloniale Administrationseinheit Nigeria a) Die Errichtung der Kolonialherrschait Während die Briten von Lagos aus gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich in Feldzügen gegen einzelne Yorubastämme und dann im* Friedensschluß von 1893 ihre direkte Kolonialherrschaft ausweiteten, vollzog sich ein paralleler, vielleicht noch komplizierterer Vorgang weiter östlich vom Nigerdelta aus. Mission und Handel erwiesen sich auch hier als die beiden wichtigsten Instrumente zur ersten Er-Schließung des Landes. Hinzu kamen die Unterdrückung des Sklavenhandels, die Abschaffung von Menschenopfern und der Zwillingstötung. Schrittweise wurden aus europäischen Kaufleuten, die in Schwierigkeiten die briti-sche Flotte herbeiholten, Vize-Konsuln und Konsuln mit immer wachsenden Befugnissen, schließlich Administratoren. An der Küste selbst war zunächst der oft hartnäckige Widerstand der Häuptlinge in den Städten zu brechen, die eine den Sklavenhandel monopolisierende quasi-aristokratische Stellung einnahmen
Die vorgegebene Heterogenität der Sozial-strukturen wurde nur noch durch die Praxis des Kolonialregimes verstärkt, denn die Engländer behandelten auch nach 1914 Nigeria nur formal und dem Namen nach als Einheit. Ihre Machtstellung beruhte geradezu auf der im Norden Nigerias zum System erhobenen „indirect rule", der indirekten Herrschaft, die die Position der Fulani-Emire unangetastet ließ, ja nur noch stärkte, selbst gegenüber der Prä-Kolonialzeit
a) Initialzündung durch die unabhängigen afrikanischen Kirchen Ersten Ausdruck fand der nigerianische Proto-Nationalismus in den Kirchen als Reaktion auf den parallel zum Aufstieg des klassischen Kolonialismus sich auch in den Missionsgesellschaften breitmachenden Rassismus, wenn auch in einer paternalistischen Form. Bereits 1888 kam es in Lagos zur ersten Sezession der Baptisten. Die Baptisten-Mission war an sich klein, aber die Bedeutung des Vorgangs lag vor allem darin, daß mit der Sezession einer der bedeutendsten nigerianischen Kirchenmänner und frühe Nationalist, Dr. Mojola Agbebi, seinen Aufstieg begann. Als Protest auf die Säuberungskampagne von britischen jungen und fanatischen Missionaren, die sich gegen die starke Beteiligung der Afrikaner in der jungen anglikanischen Missionskirche (symbolisiert in dem 1864 zum Missionsbischof erhobenen Samuel Crowther) richtete, wurde in Lagos 1891 die erste bedeutende der unabhängigen afrikanischen Kirchen Nigerias gegründet, der im Laufe zweier Jahrzehnte noch zahlreiche weitere folgten
Die Kirchen, abhängige wie unabhängige, boten ein erstes Betätigungsfeld für den Selbständigkeits-und Tatendrang der neuen Klasse und wurden zur Pflanzschule für die frühen Nationalisten. Einer der Schwiegersöhne Crowthers, Pfarrer T. B. Macaulay, auch ein „Sierra Leonean", gründete 1859 die erste Grammar School in Lagos, und dessen Sohn, Herbert Macaulay, Crowthers berühmtester Enkel, stieg zum bedeutendsten nigerianischen Nationalistenführer vor Azikiwe auf. Zu den großen Kirchenmännern und frühen Nationalisten gehört schließlich Bischof James Johnson, ebenfalls ein „Sierra Leonean"
Der Erste Weltkrieg gab dem Nationalismus neuen Auftrieb und löste in den Nachkriegsjahren die erste politische Agitation in moderner Form aus. Nigerianer beteiligten sich an dem 1920 in Accra von dem bedeutenden Nationalistenführer der Goldküste, Casely Hayford, gegründeten „National Congress of British West Africa", der alle vier britischen Territorien in Westafrika umfaßte (Gambia, Sierra Leone, Goldküste, Nigeria), wenn auch der Schwerpunkt der Organisation stets in Accra blieb. Widerhall fand in Nigeria auch die Agitation des Garveyismus, der von 1918 bis 1925 in den USA eine starke Wirkung ausübte
Als Konzession an den nigerianischen Nationalismus gewährte Großbritannien 1922 durch eine neue Verfassung die Beteiligung afrikanischer gewählter (im Gegensatz zu ernannten) Vertreter im Legislative Council für die südlichen Provinzen Nigerias. Zwar handelte es sich nur um drei Mandate, zwei für Lagos, eines für Calabar, dazu noch mit einem stark eingeschränkten Wahlrecht, immerhin war das der Anfang moderner, artikulierter Politik. Bei den Wahlen von 1923 gewann Macaulays 1923 gegründete „National Democratic Party" alle drei Sitze, ebenso in den Jahren 1928 und 1933.
In der Zwischenzeit verlagerte sich zeitweilig das Schwergewicht der nationalistischen Entwicklung aus Nigeria nach England, wo eine Vereinigung westafrikanischer Studenten, „West African Students'Union" (WASU), unter der Führung des Yoruba Dr. Ladipo Solanke 1925 gegründet und rasch zum Zentrum politischer Diskussion wurde
a) Die Veriassungen Richardsons und Macphersons Wie fast überall in der Welt bedeutete das Jahr 1945 einen tiefen Einschnitt in die Geschichte Nigerias. 1945 veröffentlichte der Gouverneur Sir Arthur Richardson seine Vorschläge zu einer Verfassungsreform, die am 1. Januar 1947 in Kraft traten: Erstmalig erhielten die Afrikaner eine Mehrheit im Legislative Council, wenn auch von den 28 Afrikanern nur vier gewählt wurden. Erstmalig führte die Richardson-Verfassung Vertreter des Nordens in die für das ganze Land zuständige gesetzesgebende Versammlung ein, was die Isolierung zwischen Nord und Süd beendete und scheinbar die Einheit förderte, tatsächlich aber erst später sichtbare neue Probleme schuf. Die Mängel der Richardson-Verfassung und ihre brüske Oktroyierung gaben in den folgenden Jahren reichlich Agitationsstoff, wobei der NCNC im Verlauf einer mehrmonatigen V ersammlungskampagne durch ganz Nigeria im Jahre 1946 mit Macaulay und Azikiwe als den führenden Rednern erstmalig tatsächlich den nigerianischen Rahmen politisch auszufüllen suchte. Bei dieser Gelegenheit sammelte der NCNC Geld, um eine starke Delegation nach London zu schicken, die Proteste gegen die Verfassung erheben sollte. Die Delegation kam zustande, hatte aber keinen Erfolg, und der anschließende Streit um die Verwendung der Gelder vergiftete auf Jahre die politische Atmosphäre. Bereits 1948 kündigte der neue Gouverneur Macpherson eine neue Verfassung an, die aus intensiven Beratungen im ganzen Land hervorgehen sollte. Als Ergebnis schälte sich das Konzept eines Bundesstaates heraus mit drei Regionen, dem Norden, Westen und Osten. b) Tribalismus und Parteien Gleichzeitig entstand ein neues Phänomen — der Tribalismus. Stämme, die sich bisher nur wenig gekannt hatten, kamen dank der neuen horizontalen Mobilität erstmalig miteinander in Berührung, woraus zunächst heftige Spannungen erwuchsen, namentlich aus dem Bemühen der Ibo, den Bildungsvorsprung der Yoruba aufzuholen, während die Yoruba das Eindringen von Ibos in ihre bisherigen Domänen als Dominierung durch die Ibos verstanden. Da der NCNC im wesentlichen eine politische Formierung von Ibo-Vereinen der verschiedensten Art darstellte, organisierten sich nun auch, nachdem es 1948 zu heftigen Zusammenstößen zwischen Yorubas und Ibos gekommen war, die Yoruba, zunächst in der 1948 in Ife, dem alten kulturellen Zentrum der Yoruba, offiziell in Nigeria gegründeten Kulturorganisation „Egbe Omo Oduwa“ (sie war bereits 1945 in London von Studenten gegründet worden), 1951 als Weiterentwicklung in der „Action Group" unter Obafemi Awolowo, einem Ijebu, zunächst Kakaohändler, dann Jurastudent in London, später Rechtsanwalt in Nigeria
Angesichts des Mißtrauens der Emire gegen solche revolutionären Neuerungen, wie sie für ihre Begriffe eine moderne Schulbildung darstellte, schlief die neue Organisation bald wieder ein. 1951 wurde sie aber zu den ersten Parlamentswahlen unter der neuen Verfassung hastig wieder zum Leben erweckt, jetzt als parteiähnlicher Verband, der die Interessen der Fulani-Aristokratie vertrat, in Zusammenarbeit mit den anpassungswilligen Elementen unter den unterworfenen Hausa und den kleineren Stämmen im „Middle Belt", das heißt im südlichen Teil der Nordregion. Nahziel war, die behutsame Modernisierung des Nordens mit der Konservierung der traditionellen Herrschergruppe zu kombinieren, also der Fulani-Aristokratie. Auf die Abwehr der südlichen Hegemonie folgte aber bald das weitergehende Ziel, nunmehr den Süden durch den Norden politisch zu dominieren. Die Aufteilung des Südens in zwei miteinander rivalisierende Regionen oder Bundesstaaten, während der Norden einheitlich unter der Herrschaft der Fulani stand, ferner das zahlenmäßige Übergewicht des Nordens ermöglichten eine solche Politik, die praktisch der friedlichen Fortführung der 1840 abgebrochenen, später durch die Errichtung der Kolonialherrschaft endgültig beendeten kriegerischen Expansion der Fulani im Anschluß an den Jihad gleichgekommen wäre. Selbst der relativ gemäßigte Balewa ließ sich im Parlament einst zu der Erklärung hinreißen, nach der Unabhängigkeit würden die Fulani ihren Marsch zum Meer wieder aufnehmen. Der Ehrgeiz der Fulani, jetzt endlich „den Koran zum Meer zu tragen", sollte nach 1960 zum Alptraum des Südens werden. c) Regionalismus und Föderalismus Neues taktisches Nahziel des NPC wurde nun, das Datum der Unabhängigkeit für Nigeria nach Möglichkeit hinauszuschieben, was 1953 mit der Drohung gelang, der Norden werde die Föderation verlassen, wenn er nicht in ihr die Führung erhielte. Die Vertreter des Südens beugten sich beiden Forderungen — Verschiebung der Unabhängigkeit und Führungsanspruch des Nordens — um der „nationalen" Einheit Nigerias willen. Der Süden konzentrierte sich nach den ersten Regionalwahlen von 1952 auf den Ausbau der regionalen Autonomie, wo die Action Group den Westen, der NCNC den Osten beherrschten — eine Entwicklung, die die neue Verfassung von 1954, die das föderative Prinzip vorläufig endgültig verankerte, nur noch verstärkte. Unmittelbar vor der Unabhängigkeit zeichnete sich so allmählich der schwere Konflikt zwischen dem progressiven, sich bald vom Norden majorisiert fühlenden Süden und dem rückständigen Norden, der seine innere Schwäche durch die Majorisierung und Bremsung des dynamischeren Südens kompensieren wollte, bereits ab — ein Konflikt, der Nigeria zu zerreißen drohen sollte.
Daneben entwickelten sich eher sekundäre Spannungen, die jedoch zum Hauptkonflikt beitrugen: In allen Regionen meldeten Minoritäten Widerspruch gegen die Herrschaft der jeweils dominierenden Gruppe an — der Fulani und Hausa im Norden, der Yoruba im Westen, der Ibo im Osten. Im Norden reklamierten erhebliche Teile der kleineren Stämme die Schaffung einer neuen Region, des „United Middle Belt", und gründeten zur Durchsetzung ihrer Forderung den „United Middle Belt Congress" (UMBC). Besonders aktiv waren die Tiv, die nie von den Fulani beherrscht worden waren und jetzt gegen ihre Hegemonie auf-begehrten. Im Osten waren es vor allem die Ibibio und kleinere Gruppen im Nigerdelta, die die Errichtung eines Niger-Delta-Staats forderten. Im Westen strebten die Edo, die Bewohner des früheren Benin-Reichs, die Sezession aus der von den Yoruba beherrschten Westregion und die Bildung eines neuen Bundesstaats im mittleren Westen, des Mid-West-State mit Benin als Hauptstadt an. Die Action Group war mit der Schaffung neuer Bundesstaaten gemäß dem ethnischen Prinzip durchaus einverstanden, allerdings unter der Bedingung, daß im Zuge einer internen Flurbereinigung nunmehr die beiden früher zum Oyo-Reich gehörigen, noch immer überwiegend von Yoruba bewohnten Provinzen Ilorin und Kebba
Der NCNC bejahte zwar — nach allerlei Schwankungen — ebenfalls das Prinzip neuer Bundesstaaten, wollte aber praktisch seine Anwendung auf den Osten verhindern. Auch der NPC war für neue Bundesstaaten, aber nur im Süden, während er sie für den Norden strikt ablehnte. Gemäß der offiziellen Propaganda war der Norden eine kulturelle, religiöse, historische und politische Einheit, die unter allen Umständen erhalten bleiben sollte, natürlich unter Führung der Fulani-Aristokratie. Die Einheitsthese war jedoch eine Fiktion, denn weder ethnisch noch religiös (zahlreiche Stämme des „Middle Belt" sind noch heidnisch) noch historisch oder politisch bildet das Konglomerat der Nordregion eine Einheit. Alles wird nur durch die Eroberung der Fulani im Jihad zusammengehalten, wozu noch alle die Gebiete hinzukamen, die ihnen einst widerstanden hatten, die ihnen aber Lugard überwies — Rest-Bornu und die Tiv. d) Wahlen und Regierungsbildung von 1959 Alle diese Spannungen wurden nach den Bundeswahlen von 1959 zunächst mit einer formal-demokratisch perfekten Konstruktion verdeckt
III. Nigeria in der Unabhängigkeit (1960— 1966)
1. Spannungen im Gefüge der Föderation a) Der Schlag gegen Awolowo und die Action Group (1962/63)
Bald nachdem Nigeria am 1. Oktober 1960 die Unabhängigkeit erhalten hatte, zeigten sich bereits erste Tendenzen, das komplizierte Gleichgewicht wieder zu zerstören. Am harmlosesten war noch die 1962 beschlossene Herauslösung des Mid-West-State aus dem Westen, da die leidtragende Partei, die Action Group, sich dem nie widersetzt hatte, allerdings hoffte, ähnliche Umgruppierungen auch in anderen Regionen zu sehen. Gravierender war schon, daß sich die folgenden innenpolitischen Ereignisse alle gegen die gleiche Partei, die Action Group, richteten: Im Mai 1962 löste sich der konservative Flügel unter Samuel Akintola aus der Action Group, provozierte politische Unruhen und die sofortige Einsetzung eines politischen Kommissars der Bundesregierung, der dem abtrünnigen Akintola und seinen Anhängern die Regierung im Westen zusprach
Die Action Group war somit dreifach demoralisiert: durch die Verdrängung aus der Regierung im Westen, ihre Zerschlagung als Partei und die Verurteilung ihrer politischen Führer. Damit war eine der drei Säulen, auf denen die Föderation Nigeria ruhte, schon geborsten, und es war nur noch eine Frage der Zeit, wann das gesamte Gebäude einstürzen würde. Die permanente politische Malaise in der Westregion seit der Machtübernahme Akintolas führte über verschiedene Etappen, wobei der jahrelange Streit um die Volkszählung eine Rolle spielte, schnurstracks in die Dauerkrise der Föderation. b) Die Neue Klasse Inzwischen hatte im Westen und Osten die neue, ursprünglich aus den Rückwanderern (aus Sierra Leone und Brasilien) und den ersten Christen zusammengesetzte Führungsschicht die Macht vollkommen übernommen, verstärkt von der nur noch teilweise aus der neuen Schicht stammenden Intelligenz, die etwa zwischen 1930 und 1950 ihr Studium abgeschlossen hatte. Diese neu-alte Führungsschicht wuchs mit der traditionellen auf mannigfache Weise zusammen: durch die Wahl gebildeter Nigerianer zu Häuptlingen oder auch nur zu Häuptlingen ehrenhalber, gemeinsame kommerzielle Unternehmen, die Aufnahme von Häuptlingen in Verwaltung, Regierung und Politik. Nach wie vor abseits hielt sich im Norden die Fulani-Aristokratie, die aber durch den NPC politisch den konservativsten Flügel der südlichen Elite unterstützte und stärkte.
Innerhalb kurzer Zeit formierten sich so die verschiedensten Elemente der neuen und alten Führungsschicht zu einer relativ homogenen Neuen Klasse, die Staat und Gesellschaft wie ihr kollektives persönliches Eigentum behandelte, sich durch Geschäfte, Korruption und Politik bereicherte, bedenkenlos die vielfältigen Privilegien der abgezogenen (und von ihnen einst bekämpften) Kolonialherren übernahm und ihren üppigen neuen Reichtum mit einer Aufdringlichkeit demonstrierte, die nur zusätzliche Erbitterung hervorrufen mußte
Während sich der Westen in einem permanenten Zustand latenter Opposition zum unpopulären Regime Akintolas befand, der Mid-West-State sich unter einer gemäßigten NCNC-Regierung zu einem relativen Stabilisierungsfaktor entwickelte, setzte die Entdekkung reicher Erdölvorräte in der Ost-Region neue Akzente, weil nun der Osten sehr viel selbstbewußter und reicher wurde, potentiell das reichste Land in Schwarzafrika, außer vielleicht Katanga. Alle diese Faktoren trugen zu einer vorübergehenden Politisierung des bisher überwiegend tribalistisch strukturierten Parteiensystems Nigerias bei. Die Bundeswahlen, auf den verfassungsmäßig letztmöglichen Termin gesetzt und dann aus (angeblich technischen Gründen) auf den 30. Dezember 1964 verschoben, provozierten im August eine Umgruppierung der Parteien: Action Group, NCNC, NEPU und der „United Middle Belt Congress" vereinigten sich als Wahlkoalition zur „United Progressive Grand Alliance" (UPGA), die oberflächlich die politische Repräsentation des Südens war, tatsächlich aber des progressiven, moderneren Elements im Land. Kurz zuvor bildeten NPC und Akintolas 1963 gegründete „Nigerian National Democratic Party" (NNDP) zusammen mit kleineren Verbündeten (vor allem „Niger Delta Congress") eine Gegenkoalition, die „Nigerian National Alliance" (NNA). In einem offen tribalistischfeudal-bourgeois-kapitalistischen Land nahmen auch die führenden Regierungsparteien das Bekenntnis zum „afrikanischen Sozialismus" für sich in Anspruch — ein Beweis, wie inhaltsleer dieser Begriff innerhalb weniger Jahre geworden ist.
Der Wahlkampf erstreckte sich über die zweite Hälfte des Jahres 1964 und wurde in einer Atmosphäre der Verbitterung, des Hasses, der Gewalttätigkeit, des politischen Drucks und der Manipulation geführt und endete politisch mit einem Debakel. Im Norden wurden-Kandidaten der UPGA entweder überhaupt nicht zugelassen, unter Druck gesetzt oder (zusammen mit Hunderten oder gar Tausenden von Wahlkampfhelfern) als „Agitatoren" oder „Störenfriede" der angestammten Ordnung ins Gefängnis geworfen. Im Gegensatz zu früheren Wahlen, als Action Group und NCNC in den südlichen Randgebieten des Nordens immerhin noch eine ganze Anzahl von Mandaten hatten gewinnen können, sah die UPGA nunmehr in der quasi-totalitären Atmosphäre des Nordens keine Garantie mehr für eine faire Wahl. Unmittelbar vor dem Wahltag boykottierte sie die Wahl, mit dem Ergebnis, daß die NNA einen auf dem Papier überwältigenden Sieg errang. 2. Krise in Permanenz (1964— 1966) a) Die Krise um die Jahreswende 1964/65 und die Regionalwahlen im Westen (Oktober 1965)
Um die Jahreswende 1964/65 kam es zur bis dahin schärfsten Staatskrise Nigerias, als die verbitterten Vertreter des Südens, namentlich der NCNC der Ostregion, von der Sezession sprachen, nachdem im Wahlkampf der Führer der NNA, der Sardauna von Sokoto, Sir Ahmud Bello, zugleich Premier der Nord-Region, mit der Sezession des Nordens gedroht hatte, falls UPGA die Mehrheit erringen und die Regierung bilden sollte
Durch die Aufrechterhaltung des ungesunden Zustands, daß eine Partei zugleich in der Regierung ist und als politische Opposition auftritt, rettete die UPGA zwar noch einmal die Föderation, trug aber dazu bei, daß die Bevölkerung von einem tiefen Zynismus der Verzweiflung gegenüber dem Treiben der politischen Parteien erfüllt wurde, so daß die Parteien selbst die demokratische Substanz in Nigeria zersetzten.
Nachdem noch einmal die direkte Konfrontation zwischen Nord und Süd, also zwischen konservativ-reaktionären und liberal-progressiven Kräften vermieden wurde, verschärften die Regionalwahlen vom 11. Oktober 1965 nur noch die Situation, da sie im gleichen Klima des Wahlterrors, der Einschüchterung und des Wahlbetrugs stattfanden wie vorher die Bundeswahlen, so daß sich Akintola für seine Partei wiederum einen eindeutigen Sieg zurechtzumanipulieren verstand. Das in Nigeria ohnehin häufige Uberwechseln von Abgeordneten der unterlegenen Partei zur Regierung schlug diesmal in der West-Region psychologisch sozusagen bei der Bevölkerung den Boden aus dem Faß. Die Indifferenz oder vielmehr abgrundtiefe Verachtung gegenüber allen Parteien stieg nur noch. Im Westen protestierten zwar die übrig gebliebenen Führer der Action Group, aber auch sie hätten sich vielleicht wieder mit einem Arrangement abgefunden, wenn sich nicht im Volk selbst eine heftige Opposition in Form von Massendemonstrationen und Sabotageakten geregt hätte. Sie führte zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei, während die Regionalregierung Schlägertrupps in Bewegung setzte, um Anhänger der protestierenden Opposition zusammenzuschlagen oder nachts in ihren Hütten und Häusern mit Benzin im Schlaf zu verbrennen. Zwischen den Regierungen der Ost-und West-Region brach eine Art Kalter Krieg aus, mit Verboten von Zeitungen, Abhören der Rundfunksendungen der Stationen in der jeweils anderen Region. b) Der erste Staatsstreich der Armee (15. Januar 1966)
In dieser immer unhaltbareren Situation schlug am 15. Januar die Armee zu. Sie hatte im kleinen schon mit einer ähnlichen Situation zu tun gehabt, mit der permanenten Rebellion der Tiv im Jahr 1964 gegen die Regierung des Nordens, damals eine Art Kontinuum zum gleichzeitig stattfindenden Bundeswahlkampf. Die Armee war der Situation mit relativ unblutigen Methoden Herr geworden, nicht zuletzt deshalb, weil die Soldaten der Armee zum großen Teil selbst Tiv waren. Im Offizierskorps überwogen zwar die Ibo, aber die Armee war zuletzt die einzige Institution, die frei von Tribalismus und Korruption blieb. Die Offiziere — die einzige intakte Gruppe von Intellektuellen mit Macht in einer überwiegend noch nicht modernisierten Gesellschaft — fegten das ganze sich selbst hoffnungslos korrumpierte und diskreditierte Regime der Parteien und der nicht minder korrumpierten Neuen Klasse beiseite, deren Anfänge bis auf das Auftreten der „Sierre Leoneans" vor etwa 125 Jahren zurückreichen. Unter den ermordeten prominenten Politikern (Akintola, Bello, Finanzminister Festus O. Eboh und Balewa) trauerte die nigerianische Öffentlichkeit eigentlich nur dem eher im revolutionären Über-eifer oder aus einem Mißverständnis erschossenen, persönlich integren, aber politisch schwachen Balewa nach. Selbst dem eine Generation lang so außergewöhnlich populären Azikiwe („Zik"), der sich beim Putsch gerade in London aufhielt, scheinen nur noch wenige in Nigeria eine Träne nachzuweinen.
Der Staatsstreich war in Nigeria zunächst populär, vor allem im Süden, wo er wie ein Aufwachen aus einem Alptraum begeistert begrüßt wurde. Die nächsten Wochen brachten das Verbot aller Parteien und die Verhaftung zahlreicher Politiker, soweit sie der Korruption verdächtig waren. Nach anfänglichem Zögern wurden die Verhaftungen auch im Osten unter der NCNC vorgenommen, wo der Premier der Ost-Region, Dr. Okpara, verhaftet wurde, wahrscheinlich einer der fähigsten und integresten unter den nigerianischen Berufs-politikern.
Sonst hatte sich aber in Nigeria nicht sehr viel geändert: Die Regionalregierungen, offiziell aufgelöst, arbeiteten als Provinzialadministrationen weiter, jetzt unter Militärgouverneuren, die, ebenso wie die putschenden Offiziere und General Ironsi, der die Macht übernahm, zum größten Teil wirkliche „homines novi" waren. Lediglich der Militärgouverneur des Nordens, Hassan Katsina, stammte aus der alten Führungsschicht. Er war ein Sohn des Emir von Katsina. Die Machtposition der Fulani-Aristokratie blieb jedoch unangetastet, ebenso die der Obas im Westen und in der Mid-Western Region.
Im Süden waren bald Stimmen der Enttäuschung zu hören, daß Awolowo, das erste und prominenteste Opfer des Ancien Regime, mit seinen Mitgefangenen nicht aus dem Zuchthaus in Calabar befreit wurde. Nach dem Abebben der ersten Begeisterung kreideten manche auch Ironsi als Fehler an, daß seine angekündigten Reformen über die Einsetzung von Kommissionen kaum hinausgediehen waren und daß er sich nicht zur entschlossenen Abschaffung der Föderation aufraffen konnte. Hier aber lag die große Gefahr für das neue Militärregime, denn schon allein die Andeutung einer Entwicklung auf den Einheitsstaat zu provozierte den Norden. Das Mißtrauen wuchs als deutlich wurde, daß Ironsi — entgegen dem ursprünglich über-tribalen Charakter der Revolte — sich allmählich immer mehr mit Beratern aus seinem eigenen Stamm, den Ibos, umgab, so daß der Verdacht wuchs, das überwiegen des Ibo-Elements in der Armee sollte nun doch noch zu einer politischen Hegemonie der Ibo ausgebaut werden, was den Norden zunächst mehr beunruhigte als die Yoruba, die höchstens enttäuscht waren. Der alte Tribalismus entstand somit in einem neuen Gewand, und bereits im Mai 1966 kam es in einigen Städten des Nordens zu ersten und Ende September/Anfang Oktober 1966 zu weiteren massiven Anti-Ibo-Pogromen, denen Tausende Ibos zum Opfer fielen. Das Massaker wurde von Hausas begangen, aber man darf vermuten, daß hinter ihnen ihre alten religiösen und politischen Herren standen — die Führer der Fulani-Aristokratie, die um ihre Machtposition bangten. c) Der zweite Staatsstreich der Armee (30. Juli 1966)
Der zweite Militärputsch von Ende Juli/Anfang August 1966 wurde wegen des Mißtrauens gegen die Ibos ausgelöst. Ihm fiel nicht nur General Ironsi zum Opfer, der wahrscheinlich ermordet wurde, sondern auch zahlreiche Ibo-Offiziere in den Garnisonen außerhalb der Ost-Region. Die nigerianische Armee, die bisher trotz des Übergewichtes der Ibo im Offizierskorps die einzige Institution geblieben war, die über den Stämmen stand und wahrhaft national war, wurde nun ihrerseits in den Tribalismus hineingezogen. Ende September/Anfang Oktober 1966 beteiligten sich Hausa-Soldaten an den Massaker im Norden. Unter dem Druck der Massaker im Norden räumten die Ibo fast schlagartig den Norden in einer überstürzten Flucht vor weiteren Greueltaten der von den Fulani zweifellos angestifteten Hausa. Das plötzliche Rückströmen Hunderttausender von Flüchtlingen in die ohnehin übervölkerte Ost-Region schuf dort neue, zusätzliche Probleme, provozierte nach einigen Wochen Racheaktionen der erbitterten Ibo gegen im Osten lebende Hausa, die nun ihrerseits weitgehend nach dem Norden abzogen. 3. Gefahren für die Föderation a) Bemühungen um einen neuen Anfang Gegen Ende 1966 beruhigte sich die Lage etwas. Der neue Chef der Militärregierung, Oberstleutnant Gowon, mühte sich redlich, die zerstrittenen Gemüter zu besänftigen und die Föderation zusammenzuhalten. In seinen Vermittlungsbemühungen kam dem erst 31 Jahre alten Offizier seine Abkunft zustatten: Er kommt aus dem „Middle Belt", von einem der kleineren Stämme im südlichen Teil der Nord-Region, ist aber Christ. Eine seiner ersten Maßnahmen war, Awolowo und seine Mitgefangenen aus dem Gefängnis zu befreien und somit die Yoruba zu beruhigen. Die Massaker der Ibo im Norden und die Gegenaktionen gegen die Hausa im Osten vermochte er nicht zu verhindern, aber es ist sein Erfolg, daß Nigeria bisher noch nicht auseinanderbrach, wenn auch die einzelnen Regionen einander wie feindliche Staaten mißtrauen. Eine Verfassungskonferenz in Lagos blieb ohne positives Ergebnis, man blieb aber immerhin im Gespräch. Ein Schlaglicht auf die noch immer gespannte Situation wirft die Tatsache, daß die letzte Konferenz der Militärgouverneure mit der zentralen Militärregierung im Januar 1967 nicht in Nigeria stattfand, sondern auf „neutralem" Boden in Ghana. Offenbar fand sich kein gemeinsamer Boden mehr im heimatlichen Nigeria für die durch die Geschichte zusammengebrachten Nigerianer. b) Teilung? Kein Ausweg Die Forderung nach Aussiedlung aller region-fremden Einwohner einer Region in ihre Heimat — eine Forderung, die sich vor allem gegen die weitverstreuten Ibos richtet — mußte einerseits das Prinzip der Föderation und damit der einheitlichen Nation ad absurdum führen und andererseits die Ibo zur Gegenwehr provozieren. Seit Anfang August 1966 wird wieder offen von der Sezession, der »Selbstbestimmung" für die zehn Millionen Ibos, geredet, nicht von unverantwortlichen Demagogen, sondern vom neuen Militärgouverneur der Ost-Region. Andererseits ist das Iboland bereits jetzt schon hoffnungslos übervölkert, hat einen kargen Boden, so daß es unmöglich Millionen von Ibo-Rückwanderern aus den übrigen Teilen Nigerias aufnehmen könnte. Dazu liegen die Quellen des neuen Reichtums, das Erdöl, im Delta des Niger, im Gebiet von Stämmen, die ihrerseits die Sezession von den Ibos verlangen, erst recht sollte die Ost-Region ein souveräner Staat werden. Es ist also fraglich, ob die Aufteilung der bisherigen Föderation die Probleme auf weite Sicht lösen könnte.
Auch für den Norden würde eine Sezession, von seinen Führern oft angedroht, nur neue Probleme schaffen. Zwar bilden die Hausas einen mächtigen 20-Millionen-Block, wozu noch die Fulani zu rechnen sind, aber seit der Kolonialzeit und der Schaffung moderner Verkehrsverbindungen ist der Norden wirtschaftlich ganz nach dem Süden orientiert, und wenn nur für den Export seiner Produkte. Wahrscheinlich wäre die West-Region, also das Yorubaland, noch am ehesten einigermaßen in der Unabhängigkeit lebensfähig. c) Die Alternativen Im Augenblick ist nicht abzusehen, welche Lösung sich für die gegenwärtigen Spannungen in Nigeria abzeichnen wird. Rückkehr zu einer modifizierten Föderation würde den Sturz der feudal-theokratischen Fulani-Herrschaft und die Aufteilung des Nordens voraussetzen, so daß vielleicht fünf bis sechs einigermaßen gleich große und sozial homogene Bundesstaaten entstehen würden. Die entschlossene Hinwendung zum Einheitsstaat müßte höchstwahrscheinlich die Sezession des Nordens provozieren. Es bliebe also die Aufteilung der Föderation. Mitten in der Krise von 1964/65, als Nigeria schon einmal am Rande der Auflösung stand, warnte Staatspräsident Azikiwe seine Landsleute mit offenen Worten: „Wenn wir uns schon darauf einigen sollten, auseinanderzugehen, so laßt es uns friedlich tun, denn sonst wären die Ereignisse am Kongo ein Kinderspiel zu dem, was bei uns geschehen könnte."
Wie auch immer die Zukunft des heutigen Nigeria aussehen mag, ein Scheitern der Föderation Nigeria würde nicht beweisen, daß sich Afrikaner nicht selbst regieren können, sondern nur, daß Nigeria für afrikanische Verhältnisse zu groß war, die sozialen und kulturellen Unterschiede zu gewaltig, das Erbe der Geschichte zu belastend, als daß es möglich gewesen wäre, so viele heterogene Elemente in einen Rahmen zu spannen. Die wenigstens nur skizzenhafte Kenntnis der komplizierten Geschichte und das Verstehen der aus ihr resultierenden schier unlöslichen Probleme sollten jedes vorschnelle und selbstgerechte Urteil unmöglich machen.