Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Amerikanische Außenpolitik heute. Das Ende der harten Alternativen | APuZ 5/1967 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 5/1967 Artikel 1 Amerikanische Außenpolitik heute. Das Ende der harten Alternativen Krieg und Frieden in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Moskau und Peking

Amerikanische Außenpolitik heute. Das Ende der harten Alternativen

McGeorge Bundy

Die Vereinigten Staaten standen am Ende des Jahres 1966 vor schwierigeren Aufgaben als zu irgendeinem Zeitpunkt seit 1962. In Vietnam stehen wir im Kampf; daheim befinden wir uns mitten in einer echten sozialen Revolution; und wir sind unvermindert engagiert in Erdteilen und Ländern, die nicht so recht dem einfachen Bild entsprechen wollen, das wir uns von ihnen machen. Kein Wunder, daß man förmlich hören kann wie das Land fragt: Wohin geht die Reise? Vietnam gibt der Frage ihre besondere Schärfe, und aus Vietnam werden wahrscheinlich die ersten und wichtigsten Antworten kommen. Aber mit Vietnam soll hier nicht begonnen werden. Es ist besser, mit uns selbst zu beginnen und uns wieder einmal zu fragen, was wir in der Welt wollen — und was wir wollen sollten.

Bei aller Inanspruchnahme durch internationale Probleme bleibt der Amerikaner doch ein Mann der privaten Anliegen. Was er für diese Anliegen hofft oder fürchtet, entscheiden noch immer die meisten Wahlen. Auslandsreisen und Investitionen im Ausland nehmen zu (zur Verzweiflung jener, denen der Dollar ein Zweck und nicht ein Mittel ist, und zum großen Vorteil einer Nation, die nicht mehr für sich allein leben darf), aber sie nehmen hauptsächlich aus privaten Gründen zu. Hunger und Leid erregen das Mitgefühl der Amerikaner, und sie schicken Nahrungsmittel nach Indien und Hilfe aller Art nach Israel; aber der amerikanische Traum bleibt dem eigenen Land verhaftet. Wie groß auch die überseeischen Interessen ihres Landes sein mögen, die „Boys" möchten immer nach Hause. Solch ein

Kein Geschmack am Imperialismus

Abbildung 1

nach innen gewandtes Nationalgefühl kann seine Gefahren haben; für andere Länder jedoch hat es die äußerst wichtige Konsequenz, daß die amerikanische Demokratie auf die Dauer keinen Geschmack am Imperialismus findet.

Das amerikanische Volk wünscht also nach wie vor von der Welt, sie möge ihm zugestehen, was George Washington „die Sicherheit seines Bundes und die Beförderung seines Glücks“ nannte. Der gewaltige Unterschied zwischen der Außenpolitik Washingtons und unserer eigenen — ein Unterschied, der sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren verzehnfacht hat — liegt in der Zahl, der Vielfalt und der Größe der amerikanischen Aktionen, die von diesem Wunsch hervorgerufen werden. Das nationale Ziel hat sich nicht geändert. Jedem ernsthaften und nachdrücklichen Engagement der Vereinigten Staaten liegt die ausdrückliche oder stillschweigende Feststellung zugrunde, daß diese Aktion wichtig für die Sicherheit und Wohlfahrt der Vereinigten Staaten selbst ist. Eine Politik, die sich nicht überzeugend in diesem Sinne rechtfertigen läßt, ist nicht von Dauer, mag sie eine Zeit-lang oder für einen Teil unserer Öffentlichkeit auch noch so anziehend sein. Die Verpflichtungen, die Amerika in irgendeinem Teil der Welt übernimmt, sind immer nur so fest wie die Überzeugung der Amerikaner, daß ihr eigenes Interesse diese Verpflichtungen erfordert.

Regelmäßige Überprüfung der politischen Konzeption

In einer Welt des immer schnelleren Wandels, der ständigen Umwälzungen in Wissenschaft und Gesellschaft ist es nicht nur natürlich, sondern notwendig, eine Politik, die in einem Jahrzehnt richtig war, im nächsten in Frage zu stellen. Kein Wortführer der amerikanischen Außenpolitik sollte davor zurückschrecken, seine eigenen Prämissen in Zweifel zu ziehen, und keiner sollte sich der immer-währenden Aufgabe entziehen, das, was das Land sagt und tut, im Zusammenhang mit Sicherheit und Wohlfahrt des Landes zu sehen. Der Brauch unserer beiden letzten Präsidenten, eingebürgerte politische Standpunkte regierungsintern ständig daraufhin zu überprüfen, ob sie noch gültig bleiben können, war und ist sehr verdienstlich. Präsidenten sind mit Recht vorsichtig, was durchgreifende Veränderungen betrifft; sowohl Kennedy als auch Johnson haben mehr Standpunkte in Frage gestellt, als sie tatsächlich geändert haben. Als politische Führer erkannten sie immer wieder, was Professoren und Bürokraten allzu leicht vergessen: daß die schönsten Pläne und Strategien, ob frisch ersonnen oder durch lange Geltung geheiligt, nur soviel wert sind, wie sie nachweisbar dem amerikanischen Interesse dienen.

Für die regelmäßige Überprüfung unserer politischen Konzeption gibt es noch eine andere, fast entgegengesetzte Rechtfertigung: nämlich, daß die Politik dieser Musterung im großen und ganzen standhält. Als sich Außenminister Acheson 1950 gegen die Spezies der „Überprüfer" wandte, gab es gute Gründe, ein Wiederaufleben des Isolationismus zu befürchten, und es mochte durchaus weise erscheinen, Debatten abzuwenden, durch die vielleicht der ganze Kurs der amerikanischen Politik in Zweifel gezogen wurde. Aber sechzehn Jahre später ist diese Reaktion nicht mehr am Platze. Die Jahre Eisenhowers, Kennedys und Johnsons haben eine allgemeine Politik des Engagements bekräftigt, die in Geist und Praxis ebenso weit vom Isolationismus entfernt ist wie von dem bloß moralistischen Globalismus, der früheren Generationen manchmal als einzige Alternative erschien. Die Debatte zwischen Woodrow Wilson und Hiram Johnson ist Vergangenheit, und einfache Lösungen für harte Probleme sind nicht mehr so verlockend wie früher. Es gibt Radikale am Rande, aber auf der Hauptbühne dreht sich selbst die Auseinandersetzung über Vietnam um Taktik und nicht um Grundsätze. Das war der tiefere Sinn der vernichtenden Niederlage Senator Goldwaters. Goldwater war vielleicht nicht so rabiat, wie er sich gab, aber das Land wollte es nicht darauf ankommen lassen. 1966 zeigten Kandidaten aller Richtungen, daß sie sich diese Lehre zu Herzen genommen hatten.

Die Politik der groben Simplifizierungen

Es ist den Amerikanern nicht leichtgefallen, sich mit der Vielgestaltigkeit der Welt abzufiiiden. Die von der Niederlage Frankreichs datierende Umwälzung in der amerikanischen Außenpolitik stellte Anforderungen, die nur um den Preis grober Vereinfachung erfüllt wurden. Zwanzig Jahre lang, von 1940 bis 1960, wurde über Außenpolitik nach dem Grundmuster des Entweder-Oder diskutiert: Isolation oder Intervention, Europa oder Asien, Wallace oder Byrnes, Marshall-Plan oder Pleite, SEATO oder Neutralismus, Vereinte Nationen oder Machtpolitik — und die ganze Zeit besonders nachdrücklich: Antikommunismus oder Verständigung mit den Kommunisten. Die Erregtheit dieser Debatten, die versthwommeneh Äußerungen der politischen Führer von Roosevelt bis Eisenhower, die übermäßige Selbstgewißheit aller Außenminister von Hull bis Dulles — all das trug bei zur Verdunklung der Tatsache, daß die Welt nicht einfach ist.

Zudem gab es in den vierziger Jahren ganz besondere Gründe für eine entschiedene, einfache Stellungnahme. Zugegeben, die Amerikaner ergreifen zu leicht Partei. Die Bilderbuchhelden und Kino-oder jetzt auch Fernsehschurken entsprechen einer tiefeingewurzelten nationalen Gewohnheit, die Welt in gute und schlechte Kerle zu teilen. (Hochnäsig auf diese Gewohnheit herabzublicken, ist nicht angebracht; auch einige unserer hervorragendsten Intellektuellen erliegen ihr.) Aber die ersten Jahre nach 1940 wiesen echte Schurken und Helden in Fülle auf: Hitler und Churchill, Stalin und Marshall, Mao Tse-tung und Magsaysay. Diese wahrhaft polaren Gegensätze bestärkten die Amerikaner in einer ihnen natürlichen Denkgewohnheit und rechtfertigten die Zuspitzung der Argumente. Wir dürfen nicht selbstgerecht sein, wenn wir die Vereinfachungen kritisieren, die in jener Generation im Schwange waren. Sofern wir alt genug sind, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß auch wir ihnen angehangen haben. Häufig genug in der Geschichte war Simplifikation die Voraussetzung des Entscheidens und Handelns, und das Wichtigste an diesen zwanzig Jahren ist, daß die meisten großen Entscheidungen, die von den Vereinigten Staaten damals gefällt wurden, richtig waren. Ge-wiß, sie erkannten die Komplexität der Welt etwas spät an, und die politischen Kosten ihrer ersten großen Begegnungen mit der Niederlage (in China) und dem Unentschieden (in Korea) waren hoch; dennoch gibt es kein großes Land, dessen Verhalten in dieser Periode auch nur ein halb so gutes Zeugnis verdiente.

Anerkennung der Komplexität der Welt

In den fünfziger Jahren aber zeigten sich mehr und mehr die Nachteile des Schwarzweißdenkens. Es war die Tragödie der Regierung Eisenhower, daß der Präsident, der Großzügigkeit und Verständigungsbereitschaft instiktiv als notwendig erkannte, einen Außenminister an der Seite hatte, der große taktische Gewandheit, ja Verschlagenheit mit einem tiefen inneren Bedürfnis verband, unumstößliche moralische Urteile zu Wo es um wirklich klare Fragen ging (wie in Berlin oder in der Formosa-Straße), da wußte die Regierung Eisenhower mit einer wohlüberlegten Festigkeit zu handeln, die viele von uns damals unterschätzten. Wo die Dinge nicht so einfach aber standen — und das war die meiste Zeit in den meisten Ländern der Fall —, da war ihr Vorgehen enttäuschend.

Die große Zeit des Entweder-Oder endete mit dem Tod von John Foster Dulles, denn General Eisenhower neigte von Natur aus nicht zum Schwarzweißdenken. Aber mit John F. Kennedy begann eine neue Ära. Gewiß war auch vor 1961 vielfach erkannt worden, daß die Dinge komplex sind; Kennedy jedoch war der erste amerikanische Präsident, der sich diese Sehweise systematisch zu eigen machte. Wieder und wieder proklamierte er in einem Atemzug politische Ziele, die, oberflächlich betrachtet, einander entgegengesetzt waren: Widerstand gegen die Tyrannei und unermüdliches Streben nach Verständigung; Verstärkung der Verteidigungsmacht und neue Vorschläge für die Abrüstung; Rebellenbekämpfung und Friedenskorps; Öffnung nach links, ohne der vernünftigen Rechten die Tür zu verschließen; Allianz für den Fortschritt und beharrliche Opposition gegen Castro — mit einem Wort: Ölzweig und Pfeile. Kennedy erklärte, daß hier in Wirklichkeit kein Widerspruch bestehe, und das Land war bereit, ihm zu fokgen. Unter Präsident Lyndon B. Johnson ist diese Sicht in Geltung geblieben. Wie Theodore Roosevelt — und aus ähnlichen Gründen wie dieser — neigt Johnson oft mehr zum Holzschnitt als zur Radierung; aber diejenigen, die seine Sprache zu derb finden, übersehen meist, daß die Kehrseite der Sache mit ebenso viel Überzeugung und in ebenso derber Sprache vorgebracht wird. Zumindest unter den beiden letzten Präsidenten war und ist Anerkennung der Komplexität oberster Grundsatz der amerikanischen Politik.

Gleichzeitig wurde den Amerikanern demonstriert, daß sie nicht allein bestimmen, was in Welt der geschieht. (Für andere, mit übersteigertem Gefühl der eigenen Wichtigkeit, war diese Lektion noch schmerzhafter als für uns — Moskau und Peking sind tröstliche Beispiele —; aber dieser Aufsatz handelt von amerikanischen Sorgen und nicht von russischen oder chinesischen.) Schon in den letzten Jahren der Regierung Truman machten die schmerzlichen Erfahrungen in China und Korea einigen Scharfblickenden die Grenzen des amerikanischen Einflusses bewußt, und diese Erkenntnis fand Ausdruck in mehreren gedankenreichen Büchern von Männern, die zusammen mit Dean Acheson den Staatsdienst verließen. Aber die Rhetorik der Zurückhaltung war Washington in den fünfziger Jahren fremd, und erst spätere Ereignisse lehrten uns als Nation, was einige wenige schon früher aus unmittelbarer harter Erfahrung gelernt hatten.

Die geschichtliche Entwicklung auf allen Kontinenten hatte in den letzten zehn Jahren mit den Handlungen der Vereinigten Staaten im großen und ganzen nur am Rande zu tun. Politiker anderer Länder pflegen ihre Mißerfolge mit amerikanischer Dummheit oder Schlechtigkeit zu entschuldigen, während sie ihre Erfolge als eigenes Verdienst in Anspruch nehmen. Dieser Anspruch auf eigene Verdienste ist begründeter als die Entschuldigung für die Fehlschläge. Nur selten spielen die Vereinigten Staaten in den inneren Angelegenheiten anderer Staaten eine zentrale Rolle. Selbst da, wo die Amerikaner in so großem Maße direkt eingriffen, wie sie es lange Zeit in Deutschland und Japan taten, sind die politischen Kräfte des betreffenden Landes dennoch entscheidend für Auswahl und Unterstützung der Regierenden. Die Vereinigten Staaten haben nicht de Gaulle ins Amt und Goulart aus dem Amte gebracht; sie sind nicht verantwortlich für Glanz und Elend Sukarnos und Nkrumahs; sie waren nicht imstande, mit Nasser „fertig zu werden“, sondern konnten nur kleine Geschäfte mit ihm machen; sie haben weder den Sturz Chruschtschows noch den Aufstieg Lin Piaos betrieben. Nicht einmal das Ergebnis der letzten Wahlen in der Dominikanischen Republik haben sie entscheidend beeinflußt. Wer sich die von Washington ausgehenden Einflußlinien wie Drähte vorstellt, an denen lauter Marionetten hängen, der hat nie hinter die Kulissen geblickt. Wir haben mehr und mehr einsehen müssen, daß wir inmitten von Wirren leben, die zumeist nicht unser Werk sind, und mit Regierungen zu tun haben, die mit ihren eigenen Problemen und Anliegen beschäftigt sind.

Wir haben unsere Bereitschaft bekräftigt, uns weiterhin weltpolitisch zu engagieren, brauchen aber dazu nicht mehr — als einigermaßen künstlichen Antrieb — den Glauben, wir seien allgerecht und allmächtig. Wir zweifeln nicht mehr daran, daß wir in Europa, in Südamerika, in Asien und auf allen Ozeanen extensive Politik treiben und extensiv handeln müssen. (Zweifel haben wir noch im Hinblick auf Afrika; das zeigt sich an der verhältnismäßig geringen Beachtung, die wir den Problemen dieses Kontinents schenken, und an unserem etwas sprunghaften Vorgehen in Ländern wie dem Kongo.) Wir rechnen nicht mehr damit, daß diese Unternehmungen zu festgesetzten Terminen endgültige Ergebnisse bringen. Wir akzeptieren unser Beteiligtsein am Geschehen in der wirklichen Welt, und wir sehen jetzt diese Welt klarer wie sie ist.

Eindrucksvolles Kapital an politischer Erfahrung

Inzwischen ist unsere absolute und relative Stärke weiter gewachsen. Die allgemeine Entwicklung unserer Wirtschaft ist seit fast sechs Jahren ausgezeichnet, und noch glänzender sind unsere Erfolge an der Front der Wissenschaft und Technik. Die Furcht vor Stagnation, die kennzeichnend für die ersten Jahre nach dem Sputnik war, haben wir überwunden; bei unseren Freunden sind Besorgnisse wegen unserer möglichen Schwäche der Befürchtung gewichen, unsere ununterbrochene technische Revolution könnte eine derartige Dynamik annehmen, daß sie alle anderen zu trauriger Zweitrangigkeit verurteilte. Diese Besorgnisse sind wahrscheinlich übertrieben, zeigen aber, wie stark wir heute sind. Ähnlich aufschlußreich ist die Tatsache, daß gegenwärtig über vier Fünftel aller Auslandsinvestitionen in der Welt amerikanischer Herkunft sind.

Wir haben jetzt auch zwei Jahrzehnte harter außenpolitischer Praxis hinter uns, und kein Land kann mehr behaupten, es sei uns an Erfahrung voraus. In einzelnen Weltteilen und auf bestimmten Sachgebieten besitzen andere Nationen spezielle Fähigkeiten, die wir nicht aufzuweisen haben. Aber alles in allem ist die Summe an Erfahrung, Verständnis, Anteilnahme und einfach Wissen, über die die Vereinigten Staaten verfügen, bei weitem die eindrucksvollste in der Welt.

Diese Feststellungen sind jedoch nur relativ ermutigend. Es folgt aus ihnen nicht, daß wir alle Machtmittel und Fähigkeiten besäßen, die wir brauchen. Die Komplexität nimmt zu; die Aggressionsdrohung besteht fort; nach wie vor gefährden Kernwaffen die Zukunft der ganzen Menschheit. Die Anforderungen an die Kraft und den gesunden Menschenverstand Amerikas werden nicht geringer. Nirgendwo können wir Frieden und Fortschritt allein sichern. Aber nirgendwo gibt es Sicherheit für freie Menschen ohne uns. Und der Zusammenhang zwischen diesem erstaunlichen Sachverhalt und den komplexen Zuständen in allen Weltgegenden macht die Führung der ameri-kanischen Außenpolitik zu einer so überwäl-tigenden Aufgabe.

Vietnam: Beweisgründe für jede Ansicht

Das große Problem des Tages ist natürlich Vietnam. Nichts daran ist einfach. Was bei Vietnam das Debattieren so leicht und das Handeln so schwer macht, ist gerade der Umstand, daß jeder Disputant auf eine Menge Tatsachenmaterial zurückgreifen kann, in dem sich Beweisgründe für jede Ansicht zu Genüge finden. In unseren Handlungen müssen wir aber mit dem Ganzen leben. Die Wahrheit ist, daß es in Vietnam sowohl Aggression aus dem Norden als auch Bürgerkrieg im Süden gibt, sowohl Korruption als auch Aufopferung, sowohl starke antikommunistische Gefühle als auch Verdrossenheit gegenüber der jetzigen antikommunistischen Führung. Die politische Grundlage für einen arbeitsfähigen nichtkommunistischen Staat ist noch schwach — aber sie ist vorhanden. Die Vietnamesen denken über die Amerikaner nicht so, wie sie über die Franzosen dachten, aber sie bestehen hartnäckig darauf, die Dinge auf ihre eigene Weise zu tun.

Die innere Komplexität hat ihr Gegenstück auf internationaler Ebene. Vietnam ist tatsächlich ein Testfall für die kommunistische Revolutionslehre: was dort geschieht, wird das Geschehen in anderen Teilen der Welt beeinflussen. Aber ein Sieg Ho Chi Minhs würde nicht bedeuten, daß ganz Asien automatisch dem Kommunismus anheimfiele, und eine Niederlage der Aggression hätte nicht zur Folge, daß die ständige — wenn auch manchmal überschätzte — Drohung Chinas aufhörte. Einflüsse und Interessen sind allenthalben wirksam, aber fast nie einfach und direkt. Weder die Kommunisten noch die Nicht-kommunisten sind sich über Vietnam einig. Diejenigen, die unserer Auffassung beipflichten, tun das aus unterschiedlichen Gründen, und viele von denen, die uns kritisieren, würden noch kritischer werden, wenn wir uns jetzt zurückzögen. In Vietnam wie im internationalen Maßstab scheint nur eines festzustehen, nämlich, daß Thesen, die alles auf einen einfachen Nenner bringen, einen Wert nur für Leute haben, die keine Verantwortung tragen.

Es ist hier nicht der Ort, die lange Kette von Entscheidungen zu verfolgen, die uns dahin gebracht haben, wo wir heute in Vietnam stehen. Unverändert herrscht seit zwölf Jahren die Überzeugung, daß wir bereit sein müssen, nach besten Kräften verhindern zu helfen, daß die Kommunisten sich mit Gewalt und Terror Südvietnams bemächtigen. Diese Überzeugung hat zu Entscheidungen geführt, die in den frühen fünfziger Jahren wenige vorhersahen. Die Kosten sind gestiegen, und die Konsequenzen von Erfolg oder Mißerfolg sind bedeutend größer geworden. Am meisten fällt die Verstärkung unseres militärischen Einsatzes ins Auge, und mehr als einmal sind Entscheidungen gerade noch rechtzeitig getroffen worden. Ohne die Truppenentsendungen, die Präsident Kennedy Ende 1961 und Präsident Johnson Anfang 1965 anordneten — jedesmal nach sorgfältigster Erwägung der Folgen von Handeln oder Nichthandeln —, wäre Südvietnam so gut wie sicher Hanoi ausgeliefert worden, und die Aussichten für friedlichen Fortschritt in vielen pazifischen Ländern hätten sich beträchtlich vermindert. Meine eigene Überzeugung ist, daß diese großen Entscheidungen bei aller Kostspieligkeit richtig waren und daß es richtig ist, standhaft zu bleiben — im Interesse der Vietnamesen, in unserem eigenen Interesse und im weiteren Interesse des Friedens und Fortschritts im Pazifik.

Die politischen Anforderungen — weniger dramatisch, aber ebenso wichtig — sind gleichfalls im Laufe der Zeit gewachsen. Auf diesem Gebiet steht den vielversprechenden Erfolgen der Streitkräfte Ende 1966 noch nichts Gleichwertiges gegenüber. Die Schwierigkeiten rühren natürlich teilweise einfach daher, daß ohne allgemeine und gesicherte militärische Überlegenheit in einem gegebenen Raum kaum daran zu denken ist, mit der politischen Arbeit zu beginnen. Außerdem ist diese Arbeit uns allen viel weniger vertraut. Und schließlich: Im Gegensatz zu den direkten Kampfhandlungen gegen größere militärische Verbände der Kommunisten ist der politische Einsatz in allen seinen Formen nur dann erfolgreich, wenn es gelingt, das Bewußtsein und die Energie des vietnamesischen Volkes selbst zu gewinnen. Wir dürfen uns daher nicht wundern, daß eine wirkliche Befriedung des vietnamesischen Dorfes so schwer zu erreichen ist. Gerade und vor allem das wollen ja die Kommunisten mit allen erdenklichen Mitteln verhindern. Daß diese Arbeit langsam und mühsam vorangeht, ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, daß vor knapp zwei Jahren die Kommunisten ihre Hoffnungen schon fast erfüllt sahen. Wir haben aber auch keinen Grund zur Selbstzufriedenheit, und Saigon und Washington tun recht daran, dieser Aufgabe höchsten Vorrang einzuräumen.

Vietnam ist also ein politisches und ein militärisches Problem. Es stellt die Vereinigten Staaten vor ein weiteres doppeltes Erfordernis: zu handeln und sich zurückzuhalten. Handeln ist notwendig; es ist aber auch notwendig, die Aktionen in Grenzen zu halten. Was diese Regel auf militärischem Gebiet so entscheidend wichtig macht, ist natürlich das Gespenst eines nuklearen Schlagabtauschs — wo und mit wem auch immer. Aber zur Zurückhaltung gibt es noch andere Gründe. Auch wenn die „letzten Waffen" nicht wären, würden wir keinen Krieg mir China wollen. Auch ohne China wäre es für uns grundverkehrt, in Worten und Taten auf die Vernichtung des Regimes in Hanoi hinzuarbeiten. Die gewaltsame Vernichtung kommunistischer Staaten ist einfach nicht unsere Sache (was sich in der Schweinebucht höchst schmerzhaft bestätigt hat).

Die Bombardierung Nord-Vietnams

Die umstrittenste unserer militärischen Aktionen in Vietnam ist natürlich die Bombardierung des Nordens. Dabei handelt es sich weniger um einen Streit zwischen der Regierung und ihren Kritikern als vielmehr zwischen zwei Denkrichtungen, die beide von der Regierung abgelehnt werden. Die beiden Gruppen gehen von völlig entgegengesetzten politischen und militärischen Voraussetzungen aus: die eine befürwortet uneingeschränkten Bombenkrieg, die andere hält — ebenso einseitig — alle Formen des Bombenkriegs für unmoralisch und wirkungslos. Diejenigen, die Hanoi als den angegriffenen Teil ansehen, sind in ihrem Urteil noch härter. So haben die Debattierenden in Amerika und anderwärts die Bombenangriffe zu einem zentralen Thema gemacht, was den Kommunisten offenkundig taktische Vorteile verschafft.

In Wirklichkeit jedoch sind die Bombenangriffe immer nur ein militärisches Instrument unter vielen gewesen. Sie wurden legitimiert durch vorausgegangene feindliche Handlungen, wurden notwendig gemacht durch die gefährliche Lage im Jahre 1965 und sind heute dadurch gerechtfertigt, daß sie Infiltration und Nachschub der Kommunisten behindern. Das

Risiko, daß Irrtümer unterlaufen und Zivil-personen geschädigt werden, ist mit jedem Bombenangriff verbunden. Die Bombardierung Nordvietnams ist die zielgenaueste und am strengsten begrenzte in der neueren Kriegsgeschichte. Wer den Präsidenten und seinen Verteidigungsminister bei ihrem Vorgehen in dieser Sache beobachtet hat, kann bezeugen, wie falsch der Vorwurf ist, sie hätten leichtfertig gehandelt oder die Verantwortung von sich abgewälzt. Sie widerstehen nach wie vor dem Druck der wenigen, die den Krieg stark ausweiten möchten, weil sie ihn dadurch beenden zu können glauben, und dafür verdienen sie die verständnisvolle Unterstützung aller, die für Zurückhaltung sind.

Genau hier lag und liegt noch jetzt der Punkt, über den der Wähler durch seine Stimmabgabe im Jahre 1964 entschied. Die wirkliche Wahl, die wir zu treffen haben, ist nicht die zwischen „Tauben" und „Falken”. Wir müssen wählen zwischen denen, die einen schweren und problemreichen Kampf unter straffer, sorgfältiger ziviler Kontrolle halten wollen, und denen, die jedes militärische Mittel einsetzen möchten, das irgendein Befehlshaber irgendeiner Waffengattung für erforderlich hält.

Festigkeit in der Belastungsprobe

Ein entscheidender Unterschied liegt auch darin, ob man den Preis der Aggression herauf-setzt oder ob man „siegen" und Hanoi „schlagen" will. Nach einem solchen „Sieg" zu streben, wäre aus drei Gründen verhängnisvoll falsch: 1. könnte es sehr leicht Krieg mit China und der Sowjetunion bedeuten; 2. würde es uns in einen neuen schrecklichen Kampf verwickeln, nach dem uns durchaus nicht der Sinn steht — einen Kampf um die Zukunft Nordvietnams; 3. würde es die Probleme im Süden nicht lösen. Was drei Regierungen stets klar war, gilt noch heute: unser entscheidendes Interessengebiet in Vietnam ist der Süden. Dort können und müssen unsere militärischen und politischen Aktionen verstärkt werden. Dort können wir auch massive Hilfe für den Wiederaufbau und für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt gewähren — immer hinter dem Schild wachsender militärischer und politischer Stärke und Selbstsicherheit.

Der Kampf in Vietnam wird vermutlich nicht kurz sein, doch dürfte das eigentliche Befriedungs-und Wiederaufbauwerk viel länger dauern als die Phase größerer Kampfhandlungen. Glücklicherweise hat das amerikanische Volk ein viel größeres Stehvermögen bewiesen, als Freund und Feind erwarteten. Trotz wiederholten Enttäuschungen, trotz heftiger Debatten und ungenügenden Verstehens auf allen Seiten hat unser Volk große Festigkeit gezeigt. Es hat die Belastungen dieses Einsatzes auf sich genommen und bequeme falsche Antworten von beiden extremen Standpunkten abgelehnt. Die Opposition bekennt sich ganz offen zu ihrer Meinung. Es gibt weniger Hurrapatriotismus als in irgendeinem Krieg unserer Geschichte. Die Nation hält der besonderen Belastungsprobe stand, die ein Krieg ohne Zensur bedeutet — mehrere Männer, die ihn offen mißbilligen, haben ungehindert von unserer Seite der Front aus berichtet. Es ist auch der erste Krieg mit täglichen Fernsehberichten vom Kampfgebiet. Alles in allem halte ich es für gut, daß uns der Krieg ins Wohnzimmer gebracht wird, aber befremdlich ist es doch, daß wir diesmal unsere Dosis „Die Nackten und die Toten" nicht hinterher bekommen, sondern sofort.

Daß das Volk der Vereinigten Staaten in dieser beispiellosen Situation seine Fassung be8 hält, ist sehr ermutigend. Mag im Ausland noch so viel Kritik geübt werden — gerade diese Festigkeit haben alle unsere Freunde schon einmal nötig gehabt und mögen sie auch in Zukunft wieder nötig haben. Der wahre Wert der Vereinigten Staaten als Bündnispartner und Freund beruht nicht auf Vertragstexten, die immer Ausfluchtmöglichkeiten bieten, und nicht auf mechanischen Begriffen von Ursache und Folge, sondern darauf, daß hier eine Nation ist, die sich bemüht, eine Sache geradlinig bis zum Ende durchzustehen.

Verhandlungsfrieden oder stillschweigende Kampfeinstellung?

Voraussichtlich stehen also in Vietnam weitere Kämpfe und weitere Opfer bevor. Natürlich ist es immer möglich, daß die Kommunisten ihren Widerstand gegen Verhandlungen aufgeben, und gewiß ist es wichtig, daß wir solch einen Wechsel ihres Standpunkts herbeiwünschen und darauf vorbereitet sind. Die Aufgeschlossenheit und Bereitwilligkeit, die der Präsident und der Außenminister nicht nur in Worten, sondern auch in ihrer öffentlichen und nichtöffentlichen Diplomatie wiederholt gezeigt haben, ist vollauf begründet. An dem Tag, an dem ihr Angebot angenommen wird, werden alle Zweifler Beweis in den Händen haben, wie leidenschaftlich aufrichtig es gemeint war. Es wäre aber falsch, mit einer baldigen Reaktion der Kommunisten zu rechnen.

andere Wie Menschen verhandeln auch Kommunisten dann, wenn sie glauben, damit ihrem Ziel näherzukommen; und das klare Ziel der Kommunisten ist immer noch die Machtübernahme in Südvietnam. Mit vollem Recht nehmen sie an, daß wir bei Verhandlungen ein ganz anderes Ziel verfolgen würden als sie. Außerdem würde der Kampf zwangsläufig während der Verhandlungen weitergehen, bis annehmbare Waffenstillstandsbedingungen ausgearbeitet wären, und unter diesen Umständen könnten langwierige Verhandlungen leicht die Zuversicht der Kommunisten im Süden untergraben. Aus diesen Gründen ist es daß unwahrscheinlich, die Männer Hanoi in Verhandlungen zustimmen, solange unsere oder ihre Ziele nicht geändert worden sind. Selbst dann bestünde vielleicht kaum Aussicht auf eine ausgehandelte Lösung; denn wenn die Kommunisten zu dem Schluß kommen sollten, daß ihre derzeitigen Ziele ihre Möglichkeiten übersteigen, würden sie dann nicht lieber stillschweigend die Konsequenzen ziehen als dies öffentlich zugeben? So war es seinerzeit in Griechenland. Ein derartiges Ende der Feindseligkeiten ist ebenso wahrscheinlich wie ein formeller Friedensschluß. Handlungen, die entsprechende Handlungen auf der anderen Seite zur Folge haben, können ein Weg sein, der schließlich weg vom offenen Kampfe führt; und die Vereinigten Staaten taten recht daran, als sie im September 1966 durch Botschafter Goldberg abermals klarmachen ließen, daß sie bereit sind, auch diesen Weg zu gehen.

Es ist nicht angenehm, in so dürren Worten über die Aussichten auf eine Verständigung mit den vietnamesischen Kommunisten schreiben zu müssen. Mehrere begabte und angesehene Autoren haben ihren Glauben an ganz andere Möglichkeiten bekundet. Aber sie bringen wenig vor, was Glauben rechtfertigen könnte. Es wäre erfreulich, wenn es reale Chancen für eine friedliche Koalition mit kommunistischer Beteiligung unter nichtkommunistischer Führung gäbe; doch dieses Modell, das den außergewöhnlichen Erfahrungen Frankreichs und Italiens in den vierziger -Jahren ent nommen ist, scheint auf die vietnamesische Wirklichkeit nicht anwendbar zu sein. Es wäre auch gut, wenn die Kommunisten als organisierte Kraft dahin gebracht werden könnten, einen politischen Wettstreit ohne Gewalt und Terror in einem sicher neutralisierten und garantierten aber bis zu akzeptieren; das -herige der Kommunisten in Vietnam gibt dieser Hoffnung keine Stütze. Ich muß leider annehmen, daß viele von denen, die über eine derartige Lösung schreiben, damit die Tatsache verschleiern — vielleicht sogar vor sich selbst —, daß sie eher bereit sind, Südvietnam den Kommunisten zu überlassen, als die Belastungen weiteren Kampfes auf sich zu nehmen. In dieser Hinsicht sprechen sie einfach nicht für ihr Land, und es ist von großer Bedeutung, daß die Kommunisten in aller Welt diese Tatsache richtig begreifen.

Interesse an Europa hat sich nicht verringert

Vietnam ist unser unmittelbarstes auswärtiges Problem, aber wir dürfen daher nicht vergessen, daß unsere Stärke aktiven Einsatz in anderen Welteilen erlaubt und unser Interesse ihn erfordert. Wie in Südvietnam selbst, so darf auch im Verhältnis zwischen Vietnam und anderen Angelegenheiten kein Entweder-Oder, sondern vielmehr ein Sowohl-als-Auch gelten. Erstens brauchen wir sowohl militärische als auch wirtschaftliche Aktionen. Unser Interesse an Vietnam und unser größeres Interesse an Asien wird nicht erlöschen, wenn die Aggression aufhört. Wir haben ein dauerndes nationales Interesse am Fortschritt der Völker jenseits des Pazifiks. Dieses Interesse ist durch die Asienreise des Präsidenten nachdrücklichst bekräftigt worden, über Asien hinaus haben die Vereinigten Staaten ein Interesse daran, unvoreingenommen all denen Hilfe zu leisten, die sich selbst helfen. Das heutige Niveau unserer Wirtschaftshilfe ist zu niedrig, um unseren eigenen Interessen zu dienen, und vielleicht ist im neuen Jahr der Kampf um ein starkes, verständnisvolles Programm die dringendste außenpolitische Aufgabe für Menschen guten Willens.

Zweitens sind wir sowohl ein atlantischer als auch ein pazifischer Partner. Unser Interesse an der Zukunft Europas ist nicht kleiner geworden, bloß weil die akuteste Gefahr heute in Asien liegt. Seit der Raketenkrise von 1962 hat Europa vier Jahre der Ruhe erlebt, wie sie der Kontinent im letzten halben Jahrhundert nicht gekannt hat. Nicht alle Europäer haben diese Ruhe voll ausgenutzt, um für Harmonie über ihre jetzigen Grenzen hinaus zu arbeiten, und wir selbst haben bis vor kurzem etwas gezögert, von der erfolgreichen Verteidigung weiterzuschreiten zu einer umfassenderen Regelung. Es bedeutet für uns eine ernste Probe, zugleich gegen die Weitergabe von Kernwaffen und für die atlantische Partnerschaft zu arbeiten, aber es ist eine Probe, die wir bestehen können. Bestimmt ist es falsch anzunehmen, unser Einsatz in Vietnam verändere oder schwäche unser Interesse an Europa. Wir müssen Truppen dorthin schikken, wo sie am nötigsten gebraucht werden, aber wir können und werden die große atlantische Verpflichtung hochhalten, die wir fünfundzwanzig Jahre lang ohne Schwanken erfüllt haben.

Zuhause und draußen das Notwendige tun

Schließlich haben wir eine noch weiter ausgreifende zweifache Pflicht: wir müssen sowohl diese umfangreichen außenpolitischen Aufgaben lösen als auch zu Hause ein aktives Programm des sozialen Fortschritts verwirklichen. Wer sich gegen ein solches Programm wendet, benutzt gewöhnlich die Kosten des Vietnam-Krieges als Vorwand für eine innenpolitische Pfennigfuchserei, die ebenso kurzsichtig wie unnötig ist. Die letzten Wahlen haben wahrscheinlich die Position derjenigen gestärkt, die so denken. Sie haben unrecht. Auch wenn der Vietnam-Krieg doppelt so kostspielig wäre, wie er ist, und auch wenn er mit großer Wahrscheinlichkeit in ein paar Monaten zu Ende wäre, würde es ein Fehler sein, unter Berufung auf ihn die Maßnahmen hinauszuzögern, die in den Vereinigten Staaten getroffen werden müssen. Da die Kosten für Vietnam durchaus tragbar sind und da sie vermutlich noch jahrelang aufgebracht werden müssen, ist es absurd, mit ihnen eine Verschiebung der innenpolitischen Aufgaben begründen zu wollen. Den wahren Interessen eines jeden Amerikaners ist damit nicht gedient, denn die Arbeit, die wir in unserem Lande jetzt nicht tun, muß einfach später getan werden, und zwar mit viel höheren Kosten.

Für jeden echten Liberalen ist somit die Behauptung, wir müßten uns entweder für Vietnam oder für den sozialen Fortschritt entscheiden, eine Torheit. Das Gegenteil ist richtig. Amerikaner, die die großen neuen Ansätze im Bildungs-und Gesundheitswesen, im Kampf für bessere Städte und vor allem für wirklich gleiche Chancen weitergeführt sehen möchten, die, mit einem Wort, für sozialen Fortschritt sind, sollten nicht die Stellung ihrer Gegner stärken, indem sie die These anerkennen, daß wir nur eins von beiden haben könnten: Festigkeit in Vietnam oder ausreichend Haushaltsmittel für ein kraftvolles Aktionsprogramm im Innern. Das stimmt weder wirtschaftlich noch politisch. Rückzug in Vietnam bedeutet nicht Vormarsch in den Vereinigten Staaten. Die wirkliche innenpolitische Folge eines Abzugs aus Südasien wäre so gut wie sicher ein starkes Anwachsen der Reaktion.

Wir werden also im neuen Jahr nicht unter Arbeitsmangel leiden. In der letzten Generation haben wir einen langen Weg zurückgelegt, und ein langer Weg liegt vor uns. Einige unter uns sind ungeduldig und gereizt, aber die entscheidenden Momente — das können wir mit vollem Recht sagen —-sind andere: unsere Beharrlichkeit; unsere Fähigkeit, das Notwendige zu tun; unsere Kraft, an den Zielen des Friedens und des menschlichen Fortschritts auch in einer Zeit festzuhalten, wo der Weg zum Frieden durch den Dschungel-krieg führt und der Weg zum Fortschritt durch das Gestrüpp unserer Selbstsucht und unserer Vorurteile.

Vor fast zwanzig Jahren schrieb Henry Stimson in Foreign Affairs über „Die Aufgabe der Amerikaner". Er schrieb hauptsächlich über

Fussnoten

Weitere Inhalte

McGeorge Bundy, geb. 30. März 1919, 1954— 1961 Professor für politische Wissenschaften (government), 1961— 1965 Sonderbeauftragter (special assistent) des US-Präsidenten für Fragen der nationalen Sicherheit, seit 1966 Präsident der Fordstiftung.