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Voraussetzungen, Schwerpunkte und Zukunftsaspekte weltweiter Urbanisierung | APuZ 3-4/1967 | bpb.de

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APuZ 3-4/1967 Uber Stand und Wachstum der Weltbevölkerung Zur Bevölkerungsbewegung in vorindustriellen Gesellschaften Voraussetzungen, Schwerpunkte und Zukunftsaspekte weltweiter Urbanisierung Artikel 1

Voraussetzungen, Schwerpunkte und Zukunftsaspekte weltweiter Urbanisierung

Amos H. Hawley

Antike Stadtkultur

Städte ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich und erregen unsere Neugier, weil sie einen so großen Einfluß auf den Aufstieg und den Niedergang von Zivilisationen hatten und noch haben. Die Stadt und die Zivilisation stellen in der Tat zwei verschiedene Aspekte ein und derselben Sache dar. Wenn wir unter Zivilisation eine hoch entwickelte und weit verbreitete Kultur verstehen, dann muß es für jede Zivilisation ein Zentrum geben, in dem Kenntnisse, Ansichten und Erfahrungen gesammelt, verarbeitet und in rationale Schemata ausgebaut werden, so daß ein mehr oder weniger zusammenhängender Lebensstil entsteht. Ein solches Zentrum fördert auch die Verbreitung des neuen Lebensstils in den umliegenden Gebieten. Soll ein Zentrum diesen Anforderungen gerecht werden, so muß es eine feste Siedlung sein, die an einem Verkehrsknotenpunkt liegt und deren Einwohner nicht mehr in der Landwirtschaft tätig sind, so daß sie ihren besonderen Pflichten und Fähigkeiten nachkommen, mit Reisenden von nah und fern Kontakt aufnehmen und aus diesem Umgang lernen können.

Die frühesten uns bekannten Zentren dieser Art entstanden um 3500 v. Chr. im Euphrat-

Tal. Von dort aus breiteten sich die Städte im Osten bis in das Indus-Tal und bis nach Südchina aus, und im Westen über die Ebenen von Mesopotamien bis in das Nil-Tal. Sie folgten dabei der Verbreitung neuer Methoden zur Ertragssteigerung in der Landwirtschaft, beispielsweise Bewässerung, Fertigung und Gebrauch von Metall-werkzeugen, Pferdepflug, Räderkarren usw. Aber sowohl die Städte dieser frühen als auch sehr viel späterer Perioden waren nur schwache Prototypen der Städte, die später entstehen sollten. Ihre Größe und die Möglichkeiten, ein echtes städtisches Leben zu entwickeln, waren begrenzt durch den kargen Uberschuß, den die Landwirtschaft gewährte. Obwohl keine genauen Zahlen überliefert sind, können wir doch vermuten, daß die Bevölkerungsrate, die in nicht landwirtschaftlichen Gebieten — also in Städten — ernährt werden konnte, 3 bis 4 Prozent selten überstieg; nur in wenigen, besonders begünstigten Orten waren es vielleicht 5 bis 6 Prozent.

Etwa ein Jahrtausend vor Christi Geburt begannen die Städte, sich um das Mittelmeerbek-

ken auszubreiten. Die von älteren Zentren in Kleinasien und Griechenland begründeten Kolonien wurden später selbst Ausgangspunkte weiterer Kolonisation. Zwischen den Mutter-städten und den neuen Städten bildete sich ein weitverzweigtes Netz von Handelsbeziehungen, das den Zuwachs der städtischen Bevölkerung, die Ansammlung von Reichtum und den Aufschwung der Kultur förderte. Milet, Athen, Alexandria, Karthago und Syracus, um nur einige zu nennen, wuchsen zu eindrucksvollen städtischen Zentren heran. Ihre Bevölkerung betrug 20 000, 30 000 oder noch mehr Einwohner, in ein oder zwei Städten waren es sogar rund 100 000. Wie hoch der prozentuale Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung des jeweiligen Herrschaftsgebietes gewesen ist, kann man nur schätzen. Er muß aber in Anbetracht der Unergiebigkeit der Landwirtschaft zu dieser Zeit sehr niedrig gewesen sein.

Ihren Höhepunkt erreichte die Entwicklung der Städte in dieser frühen Periode im Römischen Reich, besonders in der Zeit vom ersten bis dritten Jahrhundert nach Christi Geburt. Die Ausweitung des Reiches hatte die Entstehung neuer Handelsstraßen und eines vergrößerten Verwaltungsapparates zur Folge. Die zunehmende Betriebsamkeit förderte das Wachtsum der bereits um das Mittelmeerbekken bestehenden Städte und führte zur Gründung weiterer an den ins Landesinnere führenden Wasserstraßen und im Umkreis der Grenzforts des Reiches. Im Herzen des Imperiums lag natürlich die mächtige Metropole Rom, die auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung etwa 50 000 Einwohner gehabt haben dürfte. Historiker wenden bei der Geschichtsschreibung Roms wie auch späterer Epochen den Städten unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit zu. Infolgedessen sind unsere Vorstellungen von der Einwohnerzahl dieser Städte übertrieben hoch. Es ist möglich, daß die in Städten lebende Bevölkerung Italiens etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Aber man sollte nicht vergessen, daß die Bevölkerung Italiens bereits seit langem über die Produktionskapazität ihres Landes hinausgewachsen war und ihre Nahrungsmittel aus Nordafrika und anderen Provinzen herbeischaffte. In den übrigen Gebieten des Römischen Reiches war der prozentuale Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung zweifellos sehr viel niedriger als in Italien selbst.

Rückgang der Städte nach dem Zerfall der antiken Großreiche

Mit dem Zerfall des Römischen Reiches seit dem 5. Jahrhundert verringerten sich auch die Handels-und Verkehrsbeziehungen zwischen den einzelnen Gebieten, überall im Westen nahm die Bedeutung der Städte ab; viele von ihnen wurden wieder Landstädte, während andere durch wiederholte Invasionen entvölkert oder zerstört wurden. Die städtische Lebensform verschwand in Europa für mehrere Jahrhunderte fast ganz; nur im östlichen Imperium hat sie in ihrer alten Form bis ins späte Mittelalter weiterbestanden.

Das Wiederaufleben des Handels in Europa im 10. Jahrhundert leitete auch eine neue Entwicklung der Städte ein. Orte, die vor der Zerstörung des Römischen Reiches blühende Zentren waren, wurden nun wieder empfänglich für den neu belebten Einfluß von Handel und Verkehr. An anderen Orten, besonders in der Nähe von günstig gelegenen Burgen und Kathedralen, entstanden neue Städte. Das Erwachen der Städte erfolgte allmählich. Bis in das 17. Jahrhundert hinein basierte die Entwicklung der Städte auf einer begrenzten handwerklichen Wirtschaft, die einen weitverzweigten Handel mit Luxusgütern versorgte und in der eigenen Stadt eine beschränkte Auswahl von Konsumgütern anbot. Die große Mehrheit der Bevölkerung wurde von den aktuellen Ereignissen nicht berührt. Dem Wachstum der Städte waren durch eine starre Gemeindepolitik, durch schwierige Transportbedingungen und durch die Last einer landwirtschaftlichen Tradition Grenzen gesetzt. Nur eine Handvoll Städte erreichte oder überschritt die Einwohnerzahl von 25 000 Menschen. Die ländliche Bevölkerung machte mehr als 90 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.

Sollte die Urbanisierung weitere Fortschritte machen, so mußten verschiedene neue Wege eingeschlagen werden. Vor allen Dingen waren eingreifende Verbesserungen in der Nahrungsmittelversorgung unerläßlich. Zu diesem Zweck wurde eine wachsende Zahl von Menschen in nicht-landwirtschaftlichen Berufen beschäftigt. Dienstleistungen und der Konsumgüterhandel mußten verstärkt und modifiziert werden, denn sie versorgen die städtische Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen. Darüber hinaus ermöglicht der Handel Nachrichtenverbindungen und die Überbrückung kultureller Differenzen. Aber ohne ein Wachstum des Gewerbes kann es keinen großen Handel geben.

Damit ist nicht gesagt, daß jede Stadt eine wachsende Industrie beherbergen muß, aber jede Stadt muß sich durch ihren Handel Zugang zu einer Industrie verschaffen, wo immer auch diese gelegen sein mag. Sowohl die Produktion als auch der Handel sind abhängig von der Akkumulation von Kapital. Dasselbe gilt für die Verbesserung des Transportwesens, ohne das die zunehmenden Mengen von Nahrungsmitteln und Konsumgütern nicht reibungslos vom Produzenten zum Konsumenten gelangen können. Schließlich ist auch die Zentralisierung der politischen Macht von Bedeutung, denn nur sie ermöglicht es, in den angrenzenden Gebieten eine stabile Währung, ein einheitliches Maß-und Gewichtssystem, Freiheit und Sicherheit auf den Straßen und andere einheitliche Regelungen, die für einen regelmäßigen und häufigen Handel erforderlich sind, einzuführen und aufrechtzuerhalten.

Rapide Urbanisierung in Europa seit 1800

Alle diese Entwicklungen brauchten Zeit, bevor sie im 17. und 18. Jahrhundert in Erscheinung traten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten schätzungsweise weniger als 2 Prozent der Weltbevölkerung in Städten von 100 000 oder mehr Einwohnern. Wir kennen nur 22 Städte, die diese Größe erreicht haben. Nicht mehr als zweieinhalb Prozent der Menschheit lebten in Städten, die 20 000 oder mehr Einwohner zählten. Die Urbanisierung war in Europa zu dieser Zeit nicht weiter fortgeschritten als in den übrigen Teilen der Welt. Der prozentuale Anteil der Bevölkerung, die in Städten von 10 000 oder mehr Einwohnern lebte, betrug in Österreich und Deutschland weniger als 5 Prozent, in Schweden 6 Prozent, in Frankreich 10 Prozent und in England etwa 21 Prozent. In den Vereinigten Staaten, später einem der an Städten reichsten Gebiete der Welt, lebten nur 4 Prozent der Bevölkerung in Städten von mehr als 2500 Einwohnern.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts glichen die ländlichen Gebiete einem bis zum überlaufen gefüllten Bevölkerungsreservoir. Die Ursache war im wesentlichen der langanhaltende Rückgang der Sterblichkeit seit 1750. Verschärft wurde das Problem der ländlichen Überbevölkerung noch dadurch, daß infolge der extensiven Landbebauung im allgemeinen und der erhöhten Produktivität des einzelnen Landarbeiters im besonderen immer weniger Menschen in der Landwirtschaft erforderlich waren. Deshalb wurde eine immer größere Anzahl von Menschen verfügbar und geradezu gedrängt, ihren Vorteil bei anderen Beschäftigungen zu suchen. Ein kleiner Anlaß genügte und riesige Menschenströme ergossen sich in die Städte. Auf diese Weise war der notwendige Bedarf an Menschen gedeckt, um die sich schnell ausbreitenden Städte mit Einwohnern zu versorgen.

Während der nächsten 100 Jahre verdoppelte und verdreifachte sich die städtische Bevölkerung Europas. In England, dessen wirtschaftliche Veränderungen am frühesten begonnen und sich am schnellsten entwickelt hatten, lebten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mehr als 61 Prozent der Bevölkerung in Städten von 10 000 oder mehr Einwohnern; in Frankreich waren es 26 Prozent und in Deutschland, Österreich und Schweden lebten jeweils 15 Prozent der Bevölkerung in Städten, die 10 000 oder mehr Einwohner zählten. Ähnliche Erfahrungen machte man überall im nordwestlichen Europa, besonders in den Niederlanden. -Die Zahl der europäischen Städte, deren Einwohnerzahl 10 000 überstieg, war von 22 im Jahre 1800 auf 120 Städte im Jahre 1895 angewachsen; im gleichen Zeitraum erhöhte sich der prozentuale Anteil der Bewohner dieser Städte an der Gesamtbevölkerung von weniger als 3 Prozent auf 10 Prozent. Diese Zahlen repräsentieren natürlich weder den ganzen Umfang der Urbanisierung — viele Orte mit weniger als 10 000 Einwohner hätte man ebenfalls als Städte bezeichnen können — noch können sie das Ausmaß angeben, in dem die städtischen Einrichtungen das tägliche Leben der Landbevölkerung durchdrungen haben.

Soziale Anpassungsschwierigkeiten im Gefolge der Verstädterung

Die Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte blieb nicht ohne soziale Folgen. Obwohl die Bedeutung der Städte als der Zentren wirtschaftlicher Organisation immer größer wurde, ließ ihr Einfluß im Hinblick auf das gesellschaftliche Leben noch länger als ein halbes Jahrhundert auf sich warten. Die immer größer werdende Zahl der Neuankömmlinge lebte zusammengedrängt in unwürdigen Unterkünften, die in engen, kaum entwässerten Straßen lagen. Durch die Überbevölkerung wurden die an sich schon unzulänglichen sanitären Verhältnisse noch gefährlicher.

Das Übergewicht junger Männer im Flüchtlingsstrom vom Lande bildete einen weiteren Unruheherd in dem bereits chaotischen Zustand der Städte. Insofern sie ausgeschlossen aus der Familien-und Dorfgemeinschaft war, gezwungen, mit fremden Menschen im Schmutz dicht gedrängt zusammenzuleben und der Ungewißheit ausgesetzt, ob sich Arbeit finden ließe, stellte die neue städtische Bevölkerung einen Nährboden für Verbrechen und Gewalt dar. Die städtische Verwaltung war nicht auf diese Probleme vorbereitet. Es gab nur wenig öffentliche Dienstleistungen und wenig Kontrollmaßnahmen. Bestimmungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und der Sicherheit am Arbeitsplatz waren im wesentlichen unbekannt.

Die Situation wäre noch sehr viel ernster geworden, wenn man nicht die Möglichkeit gehabt hätte, einen Teil des Bevölkerungsüberschusses in die Siedlungen der Neuen Welt abzuleiten.

Es sollte eine lange Zeit vergehen, bis der westliche Mensch es lernte, in der Stadt zu leben; seine Lehrzeit ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Während seines langen Anpassungsprozesses an die neuen Lebensumstände machte der Mensch eine wichtige Erfahrung; er lernte, daß sich seine Wachstumsrate an die Erfordernisse des städtischen Lebens anpassen mußte. Nach einer Periode rapider Bevölkerungszunahme und ein Jahrhundert nach dem Beginn des Rückgangs der Sterblichkeit begannen nun auch die europäischen Geburtenraten langfristig zu sinken.

Ausbreitung der Urbanisierung über die ganze Welt

Im Verlauf der Geschichte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich das Schwergewicht der Urbanisierung nach Westen und nach Norden verlagert. Die Stadt selbst hatte sich ebenfalls verändert. Früher waren es weit verstreute Zentren von bescheidener Größe, die auf politische und militärische Vorherrschaft mehr Wert legten als auf den dürftigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontakt mit dem Hinterland. Dagegen wurde die Stadt nun zu einer unter vielen Städten, die miteinander in Verbindung standen und die wenigstens die Umrisse eines Systems zeigten, das bald alle Aspekte des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens der Bürger eines Nationalstaates in sich zusammenfassen sollte. Das neue Gesicht der Stadt war aufgebaut auf der Leistungsfähigkeit der Maschinen-Technik, auf der Spezialisierung, dem wirtschaftlichen Rationalismus und der Verbesserung des Konsumgütermarktes. Die Wirtschaft mußte sich notwendigerweise ausbreiten und ständig neue Hilfsquellen und größere Märkte erschließen. In welche Richtung die Wirtschaft sich auch immer ausdehnte, ihre industrielle und kommerzielle Entwicklung brachte den Gesellschaften, mit denen sie in Kontakt trat, grundlegende Veränderungen oder drohte sie ihnen zu bringen.

Die Urbanisierung breitete sich vom Nordwesten Europas in alle Richtungen aus, weil nach und nach immer mehr angrenzende Territorien unter den sich ausbreitenden europäischen Einfluß gerieten. In England und in den Niederlanden erreichte das Wachstum der Städte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt. Mitteleuropa, Südeuropa und Nordamerika folgten dieser Entwicklung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nach. In Afrika, Asien und Lateinamerika scheint das sprunghafte Wachsen der Städte ein Phänomen des 20. Jahrhunderts zu sein. Obwohl viele Länder in diesen Gebieten eine alte städtische Tradition besaßen, gerieten sie doch unter den Einfluß der europäischen Verstädterung, denn der westliche Imperialismus förderte die Entstehung riesiger „Speicher" -Städte in den überseeischen Besitzungen der Alten Welt.

Aber diese monolithischen Städte — etwa Bombay, Kalkutta, Singapur, Manila, Djakarta, Hongkong und viele kleinere — waren von ihrer Umgebung isoliert und hatten nur wenig Einfluß auf sie. Dennoch gliederten sich diese Kolonialmetropolen in den weltweiten Urbanisierungsprozeß ein, wie wir noch heute feststellen können. Zum Beispiel entstanden die großen Städte an Küstenstreifen und an den Ufern befahrbarer Flüsse, so daß die offensichtlichen Vorteile einer billigen Transport-möglichkeit für große Frachten ausgenutzt werden konnten. Auch die relative Unabhängigkeit der Kolonialstädte vom Hinterland stellte keine einmalige Ausnahme im Urbanisierungsprozeß der Welt dar. Im allgemeinen hatten alle Städte bis vor kurzem untereinander mehr Kontakt als mit ihrer näheren Umgebung. Deshalb glichen sie einander auch mehr als ihrem jeweiligen kulturellen Hintergrund. Erst die Ausbreitung der städtischen Organisation auf die ganze Gesellschaft lenkte die Aufmerksamkeit der großen Städte sozusagen nach innen, das heißt, es wurden enge und mannigfaltige Verbindungen zum Landesinneren geschaffen.

In der Alten Welt und in Lateinamerika, die zusammen den größten Teil der Entwicklungsländer aufweisen, schreitet das Wachstum der Städte äußerst schnell voran. Leider sind die statistischen Angaben über den Wachstums-trend weder umfassend noch genau. Außerdem weicht die Definition dessen, was unter Stadt verstanden wird, in den verschiedenen Ländern stark voneinander ab. übereinstimmend wird aber berichtet, daß die Städte von mehr als 100 000 Einwohnern gewachsen sind. Von dieser Maßeinheit ausgehend können wir sagen, daß die großen Städte sich in den letzten zehn Jahren um etwa 5 Prozent jährlich vergrößert haben; das entspricht dem Doppelten der durchschnittlichen Wachstumsrate des jeweiligen Landes. Die durchschnittliche Wachstumsrate großer Städte liegt bei 7 Prozent jährlich; in Kenia sind es sogar 12 Prozent. Im Kongo, in Kolumbien, Ekuador und Algerien ist die Zuwachsrate der Stadtbevölkerung etwa vier-bis sechsmal so hoch wie die Wachstumsrate der Landbevölkerung.

Städte als Aufnahmereservoir für die überschüssige Landbevölkerung

Die Beobachtung, daß in einer überwiegenden Zahl von Entwicklungsländern der Prozeß der Urbanisierung lange vor einem beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung einsetzte, beruht nicht nur auf Vermutungen. Tatsächlich sind viele Entwicklungsländer noch heute nicht genügend integriert, um eine lebensfähige nationale Wirtschaft zu unterhalten. Während es durchaus möglich ist, daß bereits geringe wirtschaftliche Fortschritte in der Anfangsphase weitreichender wirtschaftlicher und sozialer Reorganisation einen relativ großen Einfluß auf die Zuwachsrate der Stadtbevölkerung ausüben, ist es doch mehr als wahrscheinlich, daß auch andere Faktoren die feststellbaren Entwicklungstrends beeinflußt haben. Einer davon ist in vielen Entwicklungsländern der Austausch des ausländischen Regierungsund Verwaltungspersonals gegen einheimisches Personal und damit verbunden eine große Erweiterung der Regierungsaufgaben. Ein anderer, vielleicht noch bedeutenderer Faktor ist das schnelle Absinken der Sterberate, eine Erfahrung, die auch Europa gemacht hatte; die in den Entwicklungsländern aber vor allem durch die systematische Verbreitung westlicher sanitärer und medizinischer Einrichtungen bewirkt wird.

Dadurch ist die Landbevölkerung, die oft gerade an der Grenze des Existenzminimums lebte, in kürzester Zeit sehr stark angewachsen. Die großen geschäftigen Städte schienen den Menschen aus den übervölkerten ländlichen Regionen zweifellos eine Zuflucht zu bieten. Die Städte wurden von Flüchtlings-strömen überschwemmt, die der Armut auf dem Lande und in gewissem Sinne auch den Anfangsschwierigkeiten, die der Modernisierungsprozeß mit sich brachte, entgehen wollten. Diese Wanderung in die Stadt aber ist übereilt. Nur einer sehr kleinen Zuwanderungsgruppe gelingt es, im städtischen System Fuß zu fassen. Der übrige Teil lebt, von Hoffnung und Verzweiflung getrieben, in den Außenbezirken der Städte, schlägt sich mehr oder weniger ehrlich durchs Leben und ist abhängig von der Barmherzigkeit der wenigen Gefährten, die eine Beschäftigung finden konnten. Diese unsichere Situation wird durch den weiteren Bevölkerungszuwachs noch kritischer. Denn die Zuwachsrate der Bevölkerung steigt in den meisten jungen Nationen weiter an, da sie nicht durch einen Rückgang der Geburtenrate aufgehalten wird.

Obwohl die große Menschenmenge, die in bzw.

in der Umgebung großer Städte lebt, beachtliche medizinische und administrative Probleme stellt, bietet sie doch auch ein unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften. Sobald eine Stadt über Kapital verfügt, könnte sich dieses Arbeitslosenheer als eine reiche Quelle erweisen, aus der der Arbeitskräftebedarf einer sich entwickelnden Industrie gespeist werden kann. Die meisten dieser Arbeitskräfte bringen jedoch keine Voraussetzungen mit, sie sind weder technisch vorgebildet noch verfügen sie über die notwendige Disziplin für ein rationales Wirtschaftssystem und eine städtische Lebensweise. Unter Umständen muß mehr als eine Generation vergehen, bevor die ehemaligen Landbewohner zu produktiven Teilnehmern einer modernen Wirtschaft werden.

Hektischer Wandlungsprozeß

In der modernen Welt muß jede Nation ihre Bevölkerungsprobleme innerhalb der eigenen Grenzen und auf ihre eigene Art lösen. Um nun mit möglichst geringem Kostenaufwand eine umfassende Umverteilung der Bevölkerung bewerkstelligen zu können, müssen vor allem zwei Probleme fast gleichzeitig gelöst werden. Auf der einen Seite wird eine tief-gehende Umwandlung der Landwirtschaft erforderlich, damit der Ertrag gesteigert und die Produzenten landwirtschaftlicher Güter am Verbraucher-Markt beteiligt werden können. Auf der anderen Seite muß aber gleichzeitig die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze in den Städten stark erhöht werden. Ob dies ohne zentral geleitete Wirtschaft und ohne straffe Bevölkerungspolitik erreicht werden kann, bleibt abzuwarten.

Ein weiterer Unterschied wird durch die Geschwindigkeit und den Charakter des Urbanisierungsprozesses bedingt. Wandlungen, die in der Entwicklung Europas mehr als zwei Jahrhunderte erforderten, verlaufen in den jungen Nationen innerhalb weniger Jahrzehnte. Der europäische Übergang zur industriellen Wirtschaftsform war — obwohl er zu seiner Zeit hektisch genug verlief — genügend abgestuft, um die Errichtung einer festen Grundlage bestimmter Verhaltensformen der Menschen zu gestatten, und zwar sowohl in bezug auf die Errichtung von Transportsystemen, Wohnstätten und anderen notwendigen sozialen Einrichtungen als auch in bezug auf die Akkumulation des Kapitals und die industrielle Investitionspolitik. Die Schritte nach vorn folgten einander mehr oder weniger geordnet, so wie sie durch die Entwicklung der Technik verursacht wurden. Die jungen Nationen scheinen darauf versessen zu sein, all das in einem möglichst kurzen Zeitabschnitt zu erringen. Es erhebt sich die Frage, welche Folgen das überspringen einzelner Stadien, wie etwa des Stadiums der Heimindustrie, mit sich bringen wird. Welche Folgen wird die Möglichkeit haben, daß große Entfernungen und geschichtliche Unterschiede mit dem Flugzeug überbrückt werden können, bevor man gelernt hat, im eigenen Lande zu reisen und seine Kenntnisse schrittweise zu vergrößern? Und was wird sich aus der Übernahme fremder Organisationsformen ergeben, wenn man nicht über Erfahrungen hinsichtlich ihrer Ursprungs-formen im Evolutionsprozeß verfügt? Ein Erfolg in diesem kühnen Unternehmen wird mit ziemlicher Sicherheit neue und unerwartete gesellschaftliche Wandlungen sichtbar werden lassen.

Die Siedlungsform auf der Erde hat sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts merkbar verändert. Wohnten damals etwa zweieinhalb Prozent der Weltbevölkerung in Städten von mehr als 20 000 Einwohnern, so waren es im Jahre 1960 bereits 25 Prozent. In keiner größeren kontinentalen Region leben heute weniger als 13 Prozent der Bevölkerung in Städten dieser Größe. Mehr als 1440 Städte mit Einwohnerzahlen über 100 000 Menschen beherbergen heute 16 Prozent der Weltbevölkerung gegenüber kaum zwei Prozent im Jahre 1800. Dabei schwankt dieser Anteil zwischen 11 Prozent in Asien und über 50 Prozent in Australien und Neuseeland.

Urbanisierung wird in verschiedenen Formen weitergehen

Daß der Prozeß der Urbanisierung sich in den Entwicklungsländern fortsetzen wird, ist kaum zu bezweifeln. Sie sind zu stark in die Gemeinschaft der Nationen eingegliedert worden, als daß sie nun in einer Zwischenstellung zwischen traditioneller und moderner gesellschaftlicher Ordnung verharren könnten. Auch ist es ihnen unmöglich, zu früheren Verhältnissen zurückzukehren, sie sind in einem unaufhaltsamen und unerbittlichen Wandlungsprozeß gefangen. In welchem Ausmaß der Urbanisierungsprozeß sie erreichen wird, kann nur vermutet werden. Natürlich wird es bestimmte, durch die verschiedenen Wirtschaftsformen bedingte Unterschiede geben. Auch scheint es unwahrscheinlich, daß irgendeine Nation zukünftig mehr als 25 bis 30 Prozent ihrer Bevölkerung zur Herstellung der Grundprodukte benötigen wird. Sollte dieser Anteil aber tatsächlich so hoch sein, so steht er doch im Gegensatz zu den 50 bis 75 Prozent, die manche Nationen heute dafür aufwenden. Aber der Prozeß der Urbanisierung beschränkt sich nicht nur auf die Städte. Urbanität ist eine Lebensform, die die gesamte Bevölkerung ungeachtet des Wohnortes oder der Beschäftigungsart umgreift. Während sich die Tendenz zur Zusammenballung in Städten auf der ganzen Welt ausbreitet, hat der Prozeß in Europa und Nordamerika seinen Charakter gewandelt. Die vorwiegend zentrumsbezogene Form, die bis in die Gegenwart vorherrscht, ist im 20. Jahrhundert einer Tendenz zur Ausbreitung der städtischen Region über ständig größer werdende Flächen gewichen. Schnelle und äußerst bewegliche Verkehrs-und Kommunikationsmittel, wie sie das Auto, billige elektrische Energie, Telefon, Radio und Fernsehen darstellen, haben die Notwendigkeit räumlicher Zusammenballung so verringert, daß zusammengeballte Stadtgebiete nicht länger notwendig sind. Demzufolge wird die Stadt durch ein sich ausbreitendes städtisches Siedlungsgebiet ersetzt. Dieses wird die kennzeichnende urbane Einheit der westlichen Welt sein. Eine Wiederholung dieser Umorientierung in anderen Teilen der Welt wird so lange hinausgeschoben werden, bis ein steigender Lebensstandard allen Bevölkerungsgruppen vergleichbare Bewegungsmöglichkeiten bietet.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Amos H. Hawley, Professor für Soziologie an der Universität von Michigan, geb. 5. Dezember 1910 in St. Louis. Veröffentlichungen u. a.: Human Ecology. A Theory of Community Structure, 1950; Principles of Sociology, 1952; Population Redistribution with Metropolitan Areas 1900 to 1950, 1955.