Rapide Beschleunigung der Wachstumsrate
Kenntnisse der Bevölkerungszahlen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft befähigen den Menschen dazu, sich als einen Bestandteil der Erdbevölkerung zu betrachten. Sie ermöglichen einen perspektivischen Blick auf den einzelnen im Verhältnis zu seinen Mitmenschen, so wie uns die Astronomie die Erde als einen Bestandteil des Sonnensystems, der Milchstraße und des Universums erkennen läßt. Vier Zahlen aus der Geschichte der Erdbevölkerung können uns diesen perspektivischen Blick erleichtern.
Obwohl eine umfassende Zählung der Weltbevölkerung bisher noch nicht stattgefunden hat, kann man ihre Zahl im Neolithikum (Jungsteinzeitalter, 8000— 7000 v. Chr.) mit annähernder Genauigkeit rekonstruieren. Die Bevölkerung der Erde wird für diese Zeit auf etwa 10 Millionen Menschen geschätzt, vielleicht waren es aber auch nur 5 Millionen. Zu Beginn des christlichen Zeitalters gab es wahrscheinlich 200 bis 300 Millionen Menschen. Zu Beginn der Neuzeit (1650) waren es ungefähr 500 Millionen. 1962 belief sich die Bevölkerung der Erde auf 3 Milliarden Menschen. Eine relativ einfache Analyse dieser Zahlen zeigt, daß ein enormer Zuwachs der Weltbevölkerung stattgefunden hat, vor allem während der letzten drei Jahrhunderte.
Menschen oder nahe Verwandte des Menschen gibt es seit etwa 2 Millionen Jahren auf der Erde. Obwohl nicht genau bekannt ist, wann der homo sapiens zum erstenmal auftrat, kann doch nachgewiesen werden, daß er in Europa seit 25 000 bis 30 000 Jahren existiert.
Man schätzt die Wachstumsrate der Erdbevölkerung in den ungefähr 600 000 Jahren, ie das Paläolithikum (Altsteinzeitalter) umfaßte, auf jährlich etwa 0. 02 pro Tausend. In en drei Jahrhunderten der Neuzeit stieg sie von Die Beiträge dieser Ausgabe sind in der Reihe „Iniormationen zur Entwicklung der Weltbe vo erung der RIAS-Funkuniversität gesendet worden. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. ungefähr 4 pro Tausend auf 10 pro Tausend jährlich in Friedenszeiten. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Wachtumsrate weiter an und näherte sich 1963 der Zahl von 20 pro Tausend jährlich.
Seit der Mensch die Erde bewohnt, erhöhte sich seine Wachstumsrate von 2 Prozent in tausend Jahren auf 2 Prozent jährlich — eine tausendfache Zunahme.
Wenn man die Vorläufer des Menschen in der Zeit vor dem Paläolithikum nicht berücksichtigt, dann kann man schätzen, daß seit Beginn jenes Zeitalters bis heute 77 Milliarden Menschen geboren wurden. Nur 12 Milliarden oder weniger als 16 Prozent davon wurden während der etwa 8000 Jahre zwischen dem Neolithikum und der Mitte des 17. Jahrhunderts geboren. Etwa 23 Milliarden Geburten oder 30 Pro-
Nathan Keyfitz:
Zur Bevölkerungsbewegung in vorindustriellen Gesellschaften . . . . S. 10 Amos H. Hawley:
Voraussetzungen, Schwerpunkte und Zukunftsaspekte weltweiter Urbanisierung .............................................................. S. 17 zent fallen in die drei Jahrhunderte der Neuzeit (1650— 1950). Unseren Berechnungen zufolge leben gegenwärtig etwa 4 Prozent aller jemals geborenen Menschen.
Zugegeben, die Angaben über die Erdbevölkerung vor der Neuzeit sind theoretischer Natur, ebenso die aus ihnen gezogenen Rückschlüsse. Aber sie liefern eine brauchbare Vergleichs-grundlage und erlauben eine sehr exakte Schlußfolgerung, nämlich die, daß es — wie auch immer die genauen Zahlen lauten mögen — keinen Zweifel darüber geben kann, daß die Menschheit eine rapide Beschleunigung ihrer Wachstumsrate erfahren hat.
Diese Schlußfolgerung wird bestätigt, wenn man die gegenwärtige Wachstumsrate der Erdbevölkerung betrachtet, die von den Vereinten Nationen auf ungefähr 2 Prozent pro Jahr geschätzt wird. Zwar stellen 2 Prozent Zinsen jährlich auf eine investierte Summe Geldes nur einen geringen Gewinn dar, doch diese 2 Prozent erweisen sich in bezug auf das Wachstum der Weltbevölkerung als erstaunlich hoher Prozentsatz. Machen wir es uns an einem Beispiel klar: Um den gegenwärtigen Stand der Erdbevölkerung zu erreichen — also ungefähr 3 Milliarden Menschen —, würden 12 Personen nur 976 Jahre brauchen, wenn sie sich mit der Wachstumsrate von 2 Prozent jährlich vermehren würden. Aber allein der homo sapiens lebt seit 25 000 bis 30 000 Jahren auf der Erde und seine Vorläufer vielleicht schon seit 2 Millionen Jahren. Nimmt man an, jene 12 Menschen hätten sich seit Beginn des christlichen Zeitalters um 2 Prozent jährlich vermehrt, dann hätten sie 1962 eine Nachkommenschaft gehabt, die das 300millionenfache der Erdbevölkerung von 1962 gezählt hätte.
50 Milliarden Menschen sind die äußerste Grenze
Eine weitere Bedeutung der Zuwachsrate von 2 Prozent jährlich erhellt sich aus der Betrachtung der Bevölkerungszahlen, die auf Grund dieser Zuwachsrate in Zukunft erreicht werden können. Wächst die gegenwärtige Erdbevölkerung von rund 3 Milliarden Menschen um jährlich 2 Prozent, so führt das innerhalb von 142 Jahren zu einem Bevölkerungsstand von 50 Milliarden Menschen.
Dies ist der höchste je von einem verantwortungsbewußten Forscher errechnete Schätzwert für die Bevölkerung, die unsere Erde zu fassen vermag. Diese Schätzung von Harrison Brown beruht auf zwei extremen Voraussetzungen: Erstens, daß die Gewinnung von Sonnenenergie oder nuklearer Energie bis zu einem Punkt entwickelt worden ist, an dem die Kosten so gering sind, daß sie sich Null nähern. Unter dieser Bedingung wäre es möglich, die Versorgungsmittel für eine Bevölkerung solchen Ausmaßes aus Felsen, Meer und Luft zu gewinnen. Zweitens, daß die Menschheit willens ist, nicht nur auf Fleisch zu verzichten, wie es die Hindus schon getan haben, sondern auch auf Gemüse; und daß sie bereit ist, sich von Produkten aus „Algenfarmen und Hefe-Fabriken" zu ernähren.
Wenn sich die gegenwärtige Erdbevölkerung von rund 3 Milliarden Menschen weiter mit einer Wachstumsrate von 2 Prozent jährlich vermehrt, so wird es in 237 Jahren so viele Menschen geben, daß sie — übereinander-gestellt — von der Erde bis zur Sonne reichen würden. In 650 Jahren würden 10 Menschen auf jedem Quadratmeter der Erdoberfläche leben, einschließlich der Gebirge, Wüsten und arktischen Oden. In 1566 Jahren würde die gesamte Bevölkerung soviel wiegen wie die Erde selbst. Diese Zeitabschnitte mögen lang erscheinen, wenn man sie mit der Lebensdauer eines einzelnen Menschen vergleicht; gemessen an der Zeitspanne, die die Evolution des Menschen umfaßt, stellen sie aber nur kleine Abschnitte dar.
Vorstellungen dieser Art dürfen natürlich nicht als Voraussagen interpretiert werden. Sie sollen lediglich die Bedeutung der gegenwärtigen Zuwachsrate demonstrieren. Und sie gestatten eine weitere sichere Schlußfolgerung; nämlich die, daß die gegenwärtige Wachstumsrate der Erdbevölkerung unmöglich noch sehr lange andauern kann. Unsere Erde hat ihre Grenzen, und abgesehen von der Möglichkeit der Besiedlung außerirdischer Räume muß der Bevölkerungszuwachs auf die Dauer das Fassungsvermögen der Erde übersteigen, so daß letztlich selbst der Weltraum nicht genügen wird. Auf die Dauer gesehen, wird der Mensch sich notwendigerweise der Aufgabe gegenübergestellt sehen, seine Wachstumsrate einzuschränken, um das Gleichgewicht zwischen der Bevölkerungszahl und den begrenzten Dimensionen dieses Planeten einigermaßen aufrechterhalten zu können.
Wir können die Übersicht über die bemerkenswerte Beschleunigung der Bevölkerungszunahme auf unserem Planeten kurz zusammenfassen. Der größte Teil der vieltausendjährigen Menschheitsgeschichte verging, bis ein Bevölkerungsstand von einer Milliarde gleichzeitig lebender Menschen erreicht war. Das geschah etwa im Jahre 1850. Es dauerte nur weitere 75 Jahre, bis 2 Milliarden Menschen gleichzeitig auf der Erde lebten — das war 1925. Nach weiteren 37 Jahren — im Jahre 1962 — gab es 3 Milliarden Menschen. Geht die Entwicklung so weiter, wird es in etwa 15 Jahren 4 Milliarden und in weiteren 10 Jahren 5 Milliarden Menschen auf der Erde geben.
Betrachtungen dieser Art haben manche Erforscher der Bevölkerungsbewegung — Demo-B graphen, Bevölkerungsstatistiker oder Populationsforscher — dazu verleitet, eine emotionale und unwissenschaftliche Sprache anzuwenden, wenn sie Bevölkerungsentwicklungen beschreiben. Ein Schlagwort wie das von der „Bevölkerungsexplosion" ist zugegebenermaßen nicht wissenschaftlich; aber es betont die sprunghafte Zunahme der menschlichen Bevölkerung und warnt vor deren mannigfaltigen Begleiterscheinungen.
Ursachen der sprunghaften Bevölkerungszunahme
Warum aber ist die Wachstumsrate der Erdbevölkerung so stark gestiegen? Eine Antwort könnte sowohl die Analyse der unterschiedlichen Zuwachsraten in verschiedenen Weltregionen erbringen als auch die anschließende Prüfung der Ursachen für diese unterschiedlichen Entwicklungen. Obwohl wir über keine fehlerfreien Angaben verfügen, kann die Bevölkerungszahl der einzelnen Kontinente für die 300 Jahre der Neuzeit mit hinreichender Genauigkeit rekonstruiert werden.
Die Bevölkerung der Erde hat sich in den 300 Jahren von 1050 bis 1950 verfünffacht, das heißt, sie ist von etwa 500 Millionen auf ungefähr 2, 5 Milliarden angewachsen. Die Bevölkerung von Europa (einschließlich des asiatischen Rußlands) wuchs jedoch um das Sechsfache. Die Bevölkerung von Nordamerika (nördlich des Rio Grande) stieg um das 168fache, nämlich von etwa einer Million auf 168 Millionen Menschen. Die Bevölkerung Lateinamerikas (südlich des Rio Grande) vermehrte sich um das 23fache, von etwa 7 Millionen auf 163 Millionen. Ozeanien wuchs um mehr als das Sechsfache von etwa 2 Millionen auf 13 Millionen Einwohner. Asien nahm um das Fünffache zu und hatte damit eine Wachstumsrate, die dem Weltdurchschnitt sehr nahe kam — allerdings ist Asien auch der größte Kontinent. Afrika wuchs am langsamsten, sein Bevölkerungsstand verdoppelte sich in diesen drei Jahrhunderten lediglich und vergrößerte sich damit von etwa 100 auf 200 Millionen.
Europa und die von Europäern besiedelten Gebiete wiesen in den 300 Jahren der Neuzeit die größte Zuwachsrate auf. Zusammen wuchsen sie um das Siebenfache; in den von Europäern besiedelten Gebieten nahm die Bevölkerung um das Acht-bis Neunfache zu.
Die Frage ist, warum das Bevölkerungs-
Wachstum in Europa und in den von Europäern besiedelten Gebieten besonders groß war. Die rapide Bevölkerungszunahme kann auf den Einfluß der mannigfaltigen Entwicklungen zu-
rückgeführt werden, die in den Schlagworten von der „landwirtschaftlichen", der „technischen", der „wirtschaftlichen" und der „industriellen" Revolution zusammengefaßt werden und die ihren Höhepunkt in der „wissenschaftlichen Revolution" fanden. Diese Entwicklungen verursachten grundlegende Veränderungen in der Lebensweise des Menschen und in seiner gesellschaftlichen Ordnung. Diese Veränderungen wiederum führten zur „Bevölkerungsexplosion". Genauer gesagt, das Zusammentreffen von Fortschritten auf den verschiedensten Gebieten führte zu sprunghafter Bevölkerungszunahme: es entstand also ein starker und unvorhergesehener Rückgang der Sterblichkeit und zugleich eine beträchtliche Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung.
Rückgang der Sterblichkeit in Europa seit 1900
Wir verfügen wiederum nicht über gnaue Zahlen, aber aller Wahrscheinlichkeit nach betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in Ägypten, Griechenland oder Rom zu Beginn des christlichen Zeitalters nicht mehr a s 30 Jahre. In den ersten 50 Jahren der Neuzeit, 1650 bis 1700, belief sich die durchschnittliche Lebenserwartung in Westeuropa und More amerika auf etwa 33 Jahre, und wahrschein ch hat sie sich in den folgenden drei Jahr un er ten nicht wesentlich verändert. Erst um 1900 sank die Sterblichkeit so weit, daß die durchschnittliche Lebenserwartung um 15 bis 20 Jahre anstieg und somit in Westeuropa und Nordamerika bei 45 oder 50 Jahren lag. Etwa 1960 waren weitere 20 Jahre gewonnen; die durchschnittliche Lebenserwartung ist damit in diesen Ländern auf rund 70 Jahre gestiegen. Obwohl auch Veränderungen der Geburtenrate eine Rolle gespielt haben, ist doch klar, daß die wichtigste Ursache für die explosive Bevölkerungszunahme, die zuerst in Europa und in den von Europäern besiedelten Gebieten in Erscheinung trat, der Rückgang der Sterblichkeit war. Drei Faktoren führten im wesentlichen zu diesem Rückgang. Der erste war ganz allgemein der bessere Lebensstandard und dieser wiederum war eine Folge des technischen Fortschrittes und der wachsenden Produktivität sowie relativ langer Perioden des Friedens und der Ruhe infolge relativ mächtiger und dauerhafter Zentralregierungen. Der zweite Grund für den Rückgang der Sterblichkeit war die Einführung öffentlicher sanitärer Anlagen und verbesserter individueller Hygiene. Im 19. Jahrhundert wurden große Fortschritte in der Nahrungsmittel-und Trinkwasser-hygiene sowie hinsichtlich der körperlichen Sauberkeit erzielt, was wesentlich zur Ausrottung parasitärer und infektiöser Seuchen führte. Als dritter Faktor muß natürlich der große und wachsende Beitrag der modernen Medizin betrachtet werden, vor allem seit den Erfolgen in der Chemotherapie und bei der Entwicklung von Insektenvertilgungsmitteln.
Diese Fortschritte in der Neuzeit zerstörten das Gleichgewicht zwischen Geburten-und Sterberate, das den größten Teil der mehr-tausendjährigen Geschichte des Menschen charakterisiert hatte. Im 19. Jahrhundert starben z. B. in Frankreich von tausend Neugeborenen 233 vor Vollendung des ersten Lebensjahres; 498 starben, bevor sie das zwanzigste, und 786, bevor sie das 60. Lebensjahr erreicht hatten. Demgegenüber sterben heute in Frankreich nur 40 von tausend Säuglingen im ersten Lebensjahr; 60 von tausend Menschen sterben, ehe sie 20 und nur 246, ehe sie 60 Jahre alt sind. In Frankreich erreichen also gegenwärtig 754 von tausend Menschen das 60. Lebensjahr. Als Folge dieses Sterblichkeitsrückganges aber hatten die 100 Millionen Europäer von 1650 dreihundert Jahre später etwa 940 Millionen Nachkommen.
Die Akzeleration der Bevölkerungszuwachs-rate war eine Folge des starken Rückganges der Sterblichkeit, während die Geburtenhäufigkeit relativ hoch blieb.
Rapider Bevölkerungszuwachs in den Entwicklungsländern seit dem Zweiten Weltkrieg
Vor dem Zweiten Weltkrieg galt der auffallende Rückgang der Sterblichkeit — innerhalb der Industrienationen — allerdings für den größten Teil der Erde noch nicht. Abgesehen von Europa und den von Europäern besiedelten Gebieten hatte nur Japan eine nennenswerte Steigerung der Lebenserwartung erzielt. In den Entwicklungsländern konnte zwar eine Verminderung der Sterblichkeit erzielt werden, weithin natürlich durch den Kontakt mit Industrienationen; aber für fast alle Länder der Welt galt vor dem Zweiten Weltkrieg eine Lebenserwartung, die nicht höher war als die in Westeuropa im Mittelalter.
Diese Situation hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges rapide verändert. Durch eine Reihe von Umständen, u. a. die Gründung der Vereinten Nationen und bestimmter Organisationen mit Programmen zur wirtschaftlichen Entwicklung und zur Verbreitung der Chemotherapie und der Insektenvertilgungsmittel, gelang es, im größten Teil der Welt die Sterberate herabzusetzen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich der Rückgang der Sterblichkeit in den Entwicklungsländern weitaus schneller vollzogen als jemals in den Industrienationen. Auch die Lebenserwartung ist sehr viel schneller gestiegen als in den europäischen oder in den von Europäern besiedelten Gebieten, weil heute die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Sterblichkeit sehr viel größer sind. Die Sterberate der islamischen Bevölkerung in Algerien z. B. war 1946/1947 noch sehr viel größer als die des schwedischen Volkes in den Jahren von 1771 bis 1780, also vor mehr als 150 Jahren. Aber acht Jahre später, im Jahre 1955, war der Rückgang der Sterblichkeit in Algerien größer als der, den man in Schweden während eines ganzen Jahrhunderts, von 1775 bis 1875, erzielt hatte. Von 1940 bis 1960 konnten Mexiko, Costa Rica, Venezuela, Malaya, Singapur und andere Länder die Sterberate um mehr als 50 Prozent senken. Ceylon verringerte seine Sterberate sogar in 10 Jahren um mehr als 50 Prozent.
Die bedeutendste Bevölkerungsbewegung im 20. Jahrhundert ist zweifellos der enorme Rückgang der Sterblichkeit in den Entwick-B lungsländern. Die Folge ist, daß die Wachstumsrate in diesen Ländern — die zwei Drittel der Erdbevölkerung ausmachen — heute größer ist als die von Europa. Während der natürliche Bevölkerungszuwachs in den Industrienationen 1 Prozent jährlich kaum jemals überschritten hat, wachsen die Entwicklungsländer Asiens, Lateinamerikas und Afrikas um 2 bis 3 Prozent pro Jahr.
Genaue Angaben der Geburten-und Sterbe-raten der Entwicklungsländer liegen nicht vor. Die Vereinten Nationen, die seit ihrem Bestehen derBevölkerungsbewegung beträchtliche Aufmerksamkeit widmen, haben jedoch ziemlich genaue Schätzwerte erarbeitet. Die Geburtenrate in Entwicklungsländern liegt bei 40 oder mehr pro Tausend jährlich, eine Rate, die nur wenig, wenn überhaupt, niedriger ist, als sie es schon vor Jahrhunderten war. Im Gegensatz dazu beläuft sich die Geburtenhäufigkeit in den Industriegesellschaften nur auf 15 bis 25 pro Tausend jährlich.
Dieser rapide Bevölkerungszuwachs in den Entwicklungsländern erklärt sich aus der Beibehaltung von hohen Geburtenraten bei sprunghafter Verminderung der Sterberaten. Die Sterblichkeit in vorindustriellen Gesellschaften, die zwar noch höher ist als die in den Industrienationen, ist auf weniger als 10 bis 20 pro Tausend jährlich gesunken. Durch diesen Unterschied zwischen Geburten-und Sterberate entsteht ein natürlicher Bevölkerungszuwachs von 20 bis 30 pro Tausend also eine Wachstumsrate von 2 bis 3 Prozent jährlich.
Gegenwärtig wächst ein Teil der Industrie-
gesellschaften, besonders die europäischen Nationen und Japan, relativ langsam mit einer Wachstumsrate, die zur Verdoppelung der Bevölkerung in 50 bis 100 Jahren führen wird.
Andere Industrienationen, etwa die USA, die Sowjetunion, Australien, Neuseeland, Kanada und Argentinien wachsen etwas schneller mit einer Rate, die ungefähr in 30 bis 40 Jahren zur Bevölkerungsverdoppelung führen wird.
Die wirtschaftlich und technisch weniger entwickelten Länder haben die höchste Zuwachsrate. Ihre Bevölkerung wird sich voraussichtlich in 20 bis 40 Jahren verdoppelt haben.
Die Entwicklungsländer machen gegenwärtig jene Bevölkerungsentwicklung durch, die die Industrienationen schon hinter sich gebracht haben; nur erleben sie diese Vorgänge in einem viel kürzeren Zeitraum. Die Folgen der gegenwärtigen Geburten-und Sterberate für die künftige Bevölkerung sind von großer Bedeutung, besonders im Hinblick auf die nationalen Bestrebungen der Entwicklungsländer zur Verbesserung ihres Lebensstandards. Ein höherer Lebensstandard aber setzt ein größeres Pro-Kopf-Einkommen voraus. Planungsstrategen müssen deshalb die Erfordernisse der künftigen Bevölkerung kennen, sie müssen in der Lage sein, die notwendigen wirtschaftlichen Ziele festzustellen und Pläne zu ihrer Erreichung auszuarbeiten.
Vorausberechnungen der Bevölkerungszunahme
Die Vereinten Nationen haben Bevölkerungsprognosen für die ganze Erde, für einzelne Völker sowie für bestimmte Gebiete ausgearbeitet. Diese Vorausberechnungen aus dem Jahre 1960 sind jedoch schon veraltet, das heißt, die Wachstumsrate in den Entwicklungsländern war so hoch, daß die Prognosen aus en späten fünfziger Jahren schon überholt sind. Die Vorausberechnungen für eine raschere Bevo kerungszunahme zeigen jedoch, wohin die gegenwärtige Entwicklung bis zum Ende es Jahrhunderts führen wird.
Die Weltbevölkerung von 3 Milliarden Menschen im Jahre 1960 wird sich die gegen wärtige Zuwachsrate vorausgesetzt bis zum Jahre 2000 auf rund 7 Milliarden vermehren.
In den letzten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts wird sich die Bevölkerung der Erde also mehr als verdoppeln. Die Auswirkungen des Sterblichkeitsrückganges in den Entwicklungsländern kann ein Vergleich zwischen dem für die zweite Jahrhunderthälfte vorausgesagten Bevölkerungszuwachs und dem Wachstum in der ersten Jahrhunderthälfte verdeutlichen. Von 1900 bis 1950 wuchs die Bevölkerung der Erde um knapp eine Milliarde Menschen. Die gegenwärtige Entwicklung deutet auf ein Anwachsen um 4, 4 Milliarden in der Zeit von 1950 bis zum Jahre 2000 hin, das heißt, der absolute Bevölkerungszuwachs wird in der zweiten Jahrhunderthälfte 41/2 mal so groß sein wie in der ersten Hälfte. In den zweiten 50 Jahren unseres Jahrhunderts wird die Erd-bevölkerung ein größeres Wachstum erfahren als in der gesamten vorangegangenen vieltausendjährigen Geschichte ihres Bestehens.
Von 1960 bis zum Jahrhundertende wird Lateinamerika den größten Bevölkerungsanstieg erleben, es wird sich mehr als verdreifachen und damit von 200 Millionen auf 650 Millionen Einwohner anwachsen. Asien und Afrika werden um das zweieinhalbfache anwachsen. Die Bevölkerung Afrikas wird von 250 Millionen im Jahre 1960 auf 660 Millionen im Jahre 2000 steigen; und Asien wird am Ende des Jahrhunderts 4, 3 Milliarden Menschen gegenüber 1, 7 Milliarden im Jahre 1960 haben. Die niedrigste Wachstumsrate bis zum Jahre 2000 werden die Industrienationen aufweisen. Nordamerika und Europa werden ihren Bevölkerungsstand um etwa 50 Prozent erhöhen, Ozeanien sogar um weniger als 50 Prozent. Die Bevölkerung von Europa wird im Jahre 2000 eine Milliarde Menschen zählen gegenüber 640 Millionen im Jahre 1960; Nordamerika wird 330 Millionen gegenüber 200 Millionen im Jahre 1960 haben. Ozeanien kann im Jahre 2000 mit einer Bevölkerung von etwa 30 Millionen gegenüber 17 Millionen im Jahre 1960 rechnen.
Diese Ausführungen, das muß noch einmal betont werden, sind Vorausberechnungen, die davon ausgehen, daß die heute beobachteten Trends in der Bevölkerungsbewegung für die nächsten 50 Jahre gültig bleiben.
Es ist nicht leicht, die Bedeutung des voraussichtlichen Bevölkerungszuwachses in den letzten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts zu begreifen. Vielleicht erleichtert der geschichtliche Vergleich das Verständnis dessen, was uns bevorsteht. Der absolute Bevölkerungszuwachs von Lateinamerika während der zwei-ten Jahrhunderthälfte wird so groß sein wie das Wachstum der Erdbevölkerung in seiner viel-tausendjährigen Geschichte bis zum Jahre 1650. Das voraussichtliche Wachstum von Asien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Zahl der Erdbevölkerung iin Jahre 1958 erreichen.
Ungleichmäßige Verteilung der Erdbevölkerung
Die Gesamtbevölkerung der Erde ist ungleichmäßig über den Planeten verteilt. Etwa zwei Drittel der Menschen leben auf ungefähr 7 Prozent der Erdoberfläche. Es gibt vier besonders stark besiedelte Gebiete: Ostasien, den Süden Zentralasiens, Europa und den Nordosten der Vereinigten Staaten. Diese Verteilung ist natürlich die Folge der Anpassung des Menschen an die Reichtümer der Erde, die sich im Laute der Jahrtausende vollzogen hat.
Die unterschiedlichen Zuwachsraten — in der Vergangenheit ebenso wie in der Zukunft — verändern natürlich den prozentualen Anteil der einzelnen Länder an der Erdbevölkerung. 1650 lebten in Asien 61 Prozent der Erdbevölkerung; in Afrika und Europa je 18 Prozent und in den restlichen Ländern — in Nord-und Südamerika sowie in Ozeanien zusammen __ 3 Prozent. 1m Jahre 1950 waren die Folgen der Bevölkerungsentwicklung in Europa und in den von Europäern besiedelten Gebieten deutlich sichtbar. Asiens Anteil an der Erdbevölkerung war auf 54 Prozent gesunken und Afrikas Anteil auf nur 8 Prozent. Der Anteil Europas war auf 23 Prozent gestiegen, und die von Europäern besiedelten Gebiete konnten ihren Anteil an der Weltbevölkerung auf 14 Prozent erhöhen.
Die Bevölkerungsbewegung in den Entwicklungsländern wird das jetzige Bild der Verteilung der Weltbevölkerung in den letzten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts noch einmal verändern. Die wirtschaftlich weniger entwik-kelten Kontinente — Asien, Afrika und Südamerika — werden ihren Anteil an der Weltbevölkerung auf Kosten Nordamerikas und Europas vergrößern. Asiens Anteil an der Bevölkerung der Erde wird voraussichtlich auf 62 Prozent steigen, der Anteil Lateinamerikas auf 9 Prozent und der Anteil Afrikas auf rund 10 Prozent. Demgegenüber wird der Anteil der europäischen Bevölkerung auf weniger als 15 Prozent und der Anteil der nordamerikanischen Bevölkerung sogar auf weniger als 5 Prozent der Erdbevölkerung sinken.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts betrug der Anteil der Industrienationen an der Erdbevölkerung 30 Prozent. Der Bevölkerungsanteil der Entwicklungsländer wird von knapp zwei Drittel im Jahre 1900 auf etwa vier Fünftel im Jahre 2000 steigen. Demgegenüber fällt der prozentuale Anteil der Industrienationen von 36 Prozent im Jahre 1900 auf 21 Prozent im Jahre 2000.
Das Wachstum der Erdbevölkerung ist noch nicht abgeschlossen. Aber es ist deutlich, daß selbst die gegenwärtig erreichte Wachstumsrate nicht mehr lange andauern kann. Auf Grund der zunehmenden Beachtung von Bevölkerungstrends und deren Begleiterscheinungen stellen sich heute die Vereinten Nationen, ihre Spezialabteilungen und eine ständig wachsende Zahl von Einzelnationen bewußt dem Problem des Bevölkerungswachstums. Eine Reihe von Staaten — unter ihnen Indien, Pakistan, Ägypten, Tunesien, Korea und Japan — haben bevölkerungspolitische Maßnahmen ausgearbeitet. Sie entwickeln Programme, um die von Malthus vorausgesagten Begleiterscheinungen des Bevölkerungszuwachses, nämlich Laster, Elend, Hunger und Krieg, nicht als Konsequenzen ihres Bevölkerungswachstums erleben zu müssen.