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Das Generationsproblem in der Sowjetgesellschaft | APuZ 2/1967 | bpb.de

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APuZ 2/1967 Das Generationsproblem in der Sowjetgesellschaft

Das Generationsproblem in der Sowjetgesellschaft

Borys Lewytzkyj

Die junge Generation rückt nach

Der Zweite Weltkrieg brachte der Sowjetunion sehr große Menschenverluste. Da es naturgemäß vor allem die junge Generation war, die aut den Schlachtfeldernverblutete, trat als unmittelbare Folge ein rapider Abfall der Geburtenziffern wä'rend des Krieges und in den ersten Jahren danach ein. Das Land erholte sich relativ langsam davon. Hatte die Bevölkerungszahl kurz vor dem Kriege 191, 7 Millionen betragen, so ergab die Volkszählung von Januar 1959 208, 8 Millionen, also ein Zuwachs von 17, 1 Millionen. 1965 betrug sie nach offiziellen Schätzungen 229, 1 Millionen.

Diese jüngste demographische Entwicklung zieht die verschiedensten Folgen nach sich. Augenblicklich rückt das Aufgebot jener jungen Menschen in das gesellschaftliche Leben ein, dessen bewußte Existenz in das Todes-jahr des Despoten Stalin 1953 hineinragt.

Dazu müssen noch die Geburtsjahrgänge nach 1945 gezählt werden. Nimmt man an, daß die erste Gruppe 1953 bei Stalins Tod 13 bis 14 Jahre alt war, so sind dies heüte die 26-bis 27jährigen. Ihre berufliche Situation ist relativ schon gefestigt; ein Teil von ihnen hat ein Hochschulstudium abgeschlossen oder ein Technikum absolviert. Die meisten sind verheiratet und haben Kinder, manche davon schon im schulpflichtigen Alter. Die zweite Gruppe setzt sich aus den heute 18-bis 19-jährigen zusammen, die 1953 als Sechsjährige den Kindergarten verlassen haben.

Diese dynamische, quantitativ und qualitativ neue demographische Entwicklung ist nur einer der für unsere Analyse wichtigen Faktoren.

Die gegenwärtigen wissenschaftlichen und technischen Revolutionen haben in allen Industriestaaten beträchtliche Umwälzungen in der Produktion und in der gesamten Organisation der Gesellschaft hervorgerufen. Eine spezifische Folge dieser Entwicklung ist eine ständige Umbildung der Produktivkräfte. Das bezieht sich auf die ganze junge Generation in jeder Gesellschaft, weil nicht nur die junge Intelligenz, sondern ebenso Techniker, Meister und andere Facharbeiter Träger des technischen Fortschritts sind. Die revolutionäre Entwicklung in Wissenschaft und Technik fasziniert besonders die Jungen. Und gerade deswegen entstehen neue, nicht so leicht lösbare Probleme. Der Bildungsunterschied zwischen der an neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen interessierten Jugend und der älteren Generation wird zu einem sozialen Spannungsfeld. In der Sowjetunion, wo das Ziel der Politik der Führungsgremien im Aufbau eines modernen Wirtschaftssystems von größtmöglicher Tragfähigkeit liegt, bekommt dieses Problem ein besonderes Gewicht.

In jeder Gesellschaft weckt das Generationsproblem das Interesse der Wissenschaftler, vor allem der Pädagogen, Psychologen und Historiker. Das Problem gewinnt noch größere Tragweite in Fällen, in denen ein bestimmter historischer Zyklus abgeschlossen ist und — wie in der Sowjetunion und ähnlich auch in Deutschland — ein despotisches Herrschaftssystem von unermeßlicher Barbarei versinkt. Beide Fälle unterscheiden sich darin, daß in der Bundesrepublik die fortschrittlichen Kräfte bewußt mit der unheilvollen Vergangenheit gebrochen haben und eine Abrechnung mit ihr als ihre ständige Aufgabe bejahen, die Führung der heutigen Sowjetgesellschaft jedoch die Theorie von der „kontinuierlichen Entwicklung" über Lenin und Stalin bis in die Gegenwart verkündet. Schon deshalb ist eine konsequente Abrechnung mit dem Stalinismus nicht möglich. Außerdem bemüht sich die gesamte Partei-und Staatsmaschinerie darum, die Entwicklung der jungen Generation ihren Vorstellungen entsprechend zu lenken und unter Kontrolle zu halten.

Ziel unserer Analyse ist es also, die Frage zu beantworten, wie es sich mit dem Generations-B probiern der heutigen Sowjetgesellschaft wirklich verhält. Für eine sachliche Untersuchung dieses Problems steht eine Fülle von Material, das hier nur teilweise ausgewertet werden konnte, zur Verfügung. Unser Blick richtet sich besonders auf zwei Aspekte: Welche Qualitäten und welche spezifischen Eigentümlichkeiten bringt die junge Generation in den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich ein?

Wie reagiert die Parteiführung auf die Forderungen der jungen Generation?

Die sozialen Auswirkungen der demographischen Situation

Wie erwähnt, ging die Geburtenrate im Kriege schlagartig zurück. Laut offiziellen Angaben war die Tendenz von 1944 an wieder leicht steigend. Für eine tiefgreifende Verbesserung waren die Voraussetzungen aber noch Jahre nach dem Krieg nicht gegeben, fehlte es doch an heiratsfähigen Männern. Auch ging die Demobilmachung nach Kriegsende zögernd vor sich und zog sich über einen längeren Zeitraum hin. Die höchste Vorkriegsgeburtsrate (1938 37, 5 pro Tausend und 1939 36, 5 pro Tausend) wurde bis heute nicht wieder erreicht. Der größtmögliche Bevölkerungszuwachs nach dem Kriege wurde 1951 mit 27 pro

Tausend erlangt. Diese Zahlen sind Durchschnittswerte, das heißt, sie gelten für die gesamte Sowjetunion. Die Geburtenrate ist jeweils regional verschieden. In Turkmenien z. B. und in Aserbeidschan betrug 1962 sie 40 pro Tausend, in anderen Gebieten war sie um das Zweieinhalbfache niedriger. Sowjetische Demographen errechnet, daß, haben wenn der Stand der Jahre 1960/61 erhalten bleibt, und dafür spricht vieles, jede nachfolgende Generation um 26°/o stärker sein wird 1). Obwohl dieser Koeffizient viel niedriger liegt als der vor dem Kriege, ist er immer noch in weit höher als anderen europäischen Staaten. Man kann also von einer gewissen Stabilität der Geburtendynamik in der Sowjetunion sprechen.

Obwohl, wie wir sehen, die Überwindung der aus der Kriegszeit herrührenden Krise des Bevölkerungswachstums nicht zu einer bedrohlichen Bevölkerungsexpansion führte wie z. B. jetzt in der Volksrepublik Polen und in der Volksrepublik China, so bedeutete sie doch, daß die Zahl der Jugendlichen im arbeitsfähigen Alter vom Ende der fünfziger Jahre an stetig stieg. In der Russischen Föderation, der größten Sowjetrepublik, deren Bevölkerung etwas mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung der Sowjetunion ausmacht, liegen darüber die nachfolgenden Berechnungen vor. 1959 betrug der Anteil der Jugendlichen, die ins arbeitsfähige Alter eintraten, 1, 2 °/o der gesamten arbeitsfähigen Bevölkerung der RSFSR, 1962 3 %, 1965 3, 5 °/o, und man rechnet damit, daß es 1970 3, 7% sein werden. Wir haben es also mit einem Ansturm der Jugendlichen auf den „Arbeitsmarkt" zu tun.

Das führt automatisch zu einer Änderung der Altersstruktur der Arbeitskräfte. im Schon gegenwärtig Fünfjahrplan (1966 bis 1970) treten die Geburtsjahrgänge 1949— 1953 in allen Bereichen und der Volkswirtschaft Verwaltung in Erscheinung; gleichzeitig scheiden die relativ schwachen Kontingente der Kriegsteilnehmer, das heißt die Jahrgänge 1905— 1910, nach nach dem Arbeitsprozeß aus aus. Diese Entwicklung ist — abgesehen von ihrem sozialpolitischen Aspekt — das so deshalb von großer Bedeutung, weil -

wjetische Planwirtschaftssystem vor der Aufgabe steht, für Millionen Arbeitsuchender Arbeitsplätze zu beschaffen. Die durch das Ausscheiden der älteren Jahrgänge frei werdenden Arbeitsplätze reichen aber bei weitem nicht aus, den Bedarf zu decken. Volkswirtschaftler haben beispielsweise errechnet, daß im laufenden Fünfjahrplan die arbeitsfähige Bevölkerung, verglichen mit den vorangehenden sieben Jahren, um das Eineinhalbfache zunehmen wird 2).

So kommen wir schließlich zu einem der heikelsten Punkte des Generationsproblems der Sowjetgesellschaft, nämlich die Arbeitsplatz-beschaffung für Jugendliche. Dieses Problem gestaltet sich durch zwei Faktoren besonders kompliziert.

Zunächst: die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft wird weiterhin rückläufig sein. Laut offiziellen Angaben entwickelte sich das Verhältnis zwischen Beschäftigten in der Industrie und im Bauwesen einerseits und in der Landwirtschaft andererseits wie folgt:

(in Prozent) 1940 1958 1965 Industrie und Bauwesen 30, 0 42, 2 58, 4 Landwirtschaft 70, 0 57, 8 41, 7 Zwischen 1959 und 1965 sank die absolute Beschäftigtenziffer in der Landwirtschaft um 12%

Dabei war die Landflucht der Bevölkerung nicht etwa die Folge der Erhöhung der Arbeitsproduktivität oder einer besseren Organisation der landwirtschaftlichen Produktion, sondern vielmehr eine Folge der schwierigen Lebensbedingungen auf dem Lande. Werden die Pläne, zur Modernisierung der Landwirtschaft verwirklicht, so wird die absolute Beschäftigtenzahl in der Landwirtschaft noch mehr zurückgehen. Sind also die Möglichkeiten, Arbeitsplätze bereitzustellen, in der Landwirtschaft äußerst gering, dann fällt zwangsläufig die Aufgabe, neue Arbeitsplätze zu schaffen, der Industrie und dem Bauwesen sowie dem Dienstleistungsbereich zu. Auch hier verläuft die Entwicklung äußerst widerspruchsvoll: Ziel der Wirtschaftsreform vom Dezember 1964 war unter anderem die rationellere Organisation der Betriebe, der Über-gang zu modernen Produktionsmethoden, was automatisch die Freisetzung von Arbeitskräften und eine weitere Verknappung der Arbeitsplätze mit sich bringt. Dies ist der zweite wichtige Faktor.

Die sozialen Auswirkungen der neuen demographischen Entwicklung werden besonders während des laufenden Fünfjahrplans in Erscheinung treten. Der Volkswirtschaftler Aganbegjan errechnete, daß von 1966 bis 1970 10 Millionen junge Menschen neu in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden müssen. Gleichzeitig sagte er, was kein Geheimnis und aus sowjetischen Pressemeldungen längst bekannt ist, daß nämlich in den letzten zwei bis drei Jahren des Siebenjahrplanes (1963— 1965) die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen auffallend gestiegen sei. Während in größeren Städten etwa 8 % der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos ist, beträgt dieser Prozentsatz in den kleineren Städten 25— 30 %l Dazu haben nicht zuletzt die Experimente Chruschtschows beigetragen: Durch die stiefmütterliche Behandlung der örtlichen Industrie verringerten sich die Arbeitsplätze vor allem in den Rayons. Im Rahmen der Verwaltungsreform von 1963 wurden in den Republiken die Ministerien für die örtliche Industrie aufgelöst. Die Maßnahmen gegen die Industriegenossenschaften führten zu einer fast völligen Lahmlegung dieses Zweiges; in kleineren Städten mußte eine große Zahl von Betrieben schließen.

Nach Chruschtschows Sturz berichteten die sowjetische Tagespresse und Fachzeitschriften in aller Offenheit über die bislang verhehlten Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Arbeitsplätzen, vor allem für Jugendliche unter 18 Jahren. Spezielle Gesetze verpflichten heute die Betriebsdirektoren, 3 bis 5 % der jeweils verfügbaren Arbeitsplätze für Jung-arbeiter unter 18 Jahren zu reservieren. Dieser Prozentsatz ist differenziert und nach Industriezweigen sowie der Lage in dem betreffenden Gebiet verschieden. Bis zur Wirtschaftsreform von 1964 war die Beschäftigung von Jungarbeitern unter 18 Jahren für manche Direktoren deshalb von Vorteil, weil Arbeiter dieser Altersgruppe bei der statistischen Erfassung der durchschnittlichen Beschäftigten-zahl des jeweiligen Betriebes nicht angegeben werden mußten. Das ermöglichte es den Betriebsdirektoren, mit unkontrollierbaren extensiven Maßnahmen eine „Erhöhung der Arbeitsproduktivität“ vorzutäuschen. Dem scheint seit Beginn der Wirtschaftsreform ein Riegel vorgeschoben zu sein. Die Rationalisierungsmaßnahmen in der Volkswirtschaft decken nun ein Problem auf, das bisher durch bürokratische Taktiken und Winkelzüge verborgen geblieben war.

Zusammenfassend ist über die sozialen Auswirkungen der neuen demographischen Entwicklung folgendes zu sagen: Zunächst haben wir es mit einer beschleunigten Änderung der Altersstruktur der Arbeitskräfte zu tun. Dieser „Verjüngungsprozeß", das heißt das Nach-stößen der jungen Generation, erfolgt viel rascher, als die sowjetischen Planwirtschaftler vorausgesehen hatten. Infolge des rascheren Generationswechsels entsteht ein enormer Druck des zahlenmäßig starken Kontingents junger Arbeitskräfte, die auf eine möglichst rasche Ausschaltung der „Kriegsgeneration" aus dem Arbeitsprozeß drängen. Die Beschaffung von Arbeitsplätzen für die Jugendlichen hat schon eine Reihe sozialer Spannungen ausgelöst, die ihren Kulminationspunkt im Verlauf des Fünfjahrplanes erreichen werden. Von sozialen Folgen dieser Störungen am härtesten betroffen werden die Jungarbeiter von 15— 18 Jahren (nach sowjetischer Arbeitsgesetzgebung ist die Beschäftigung Jugendlicher unter 15 Jahren nur in Ausnahmefällen gestattet). In dieser Altersgruppe gibt es die meisten Arbeitslosen.

Das intellektuelle Potential der Jugend

Um die Tragweite dieser Situation nicht zu unterschätzen, ist es notwendig, zu untersuchen, welche Qualitäten die junge Generation, verglichen mit der älteren, mitbringt.

Schon das Ergebnis der Volkszählung von 1959 bestätigte ein Bildungsgefälle zwischen den Generationen zugunsten der Jungen. So entfallen nach dem Stand von 1959 auf 1000 Personen von 16 bis 19 Jahren 714 Personen mit abgeschlossenem Hochschulstudium, höherer Schul-sowie nicht abgeschlossener Mittelschulbildung. Die gleiche Bildungskategorie in der Altersgruppe der 55— 59jährigen umfaßt nur 135. Auf Grund der Volkszählung von 1959 lassen sich folgende Daten errechnen: Von der gesamten Bevölkerung im Alter von 10 Jahren an aufwärts (168 464 288) hatten 1959 3 777 535 eine abgeschlossene Hochschulbildung. 62, 1 ’/o aller Sowjetbürger mit Hochschuldiplomen entfielen auf die Altersgruppe der 10-bis 39jährigen. (Es ist ein Kuriosum der sowjetischen Statistik, daß für die Aufschlüsselung der Hochschulbildung eine Altersgruppe der 10 bis 39jährigen eingeführt wurde, denn in der gesamten Sowjetunion gab es in der Altersgruppe von 10— 19 Jahren nur 52 Personen mit abgeschlossener Hochschulbildung, was leicht erklärlich ist, weil Zwanzigjährige nur in Ausnahmefällen ihre Hochschulbildung abgeschlossen haben.)

Von 1 737 839 Personen, die ihr Hochschulstudium nicht abgeschlossen hatten, entfielen 1959 auf die gleiche Altersgruppe (10— 19jährige) 93, 6 °/o. Der Anteil der 10— 29jährigen betrug 52 %. Nicht weniger eindrucksvoll ist der Anteil der jungen Sowjetbürger mit abgeschlossener mittlerer bzw. Fachschulbildung (hauptsächlich technischer Institute). Die Gesamtzahl betrug 1959 7 870 414. 74, 2 0/0 davon gehörten zur Altersgruppe der 10— 39jährigen, und der Anteil der 10— 29jährigen — 42, 2 °/o — ist hier wiederum auffallend hoch

Inzwischen sind weitere sieben Jahre vergangen, und die sowjetischen Behörden bereiten für 1969 eine neue Volkszählung vor. In diesen sieben Jahren hat sich das Bildungswesen stürmisch entwickelt und die schon eindrucksvollen Angaben von 1959 sind mittlerweile überholt. Welche Folgen hat das nun für ein System, das theoretisch keinen freien Arbeitsmarkt kennt, in dem aber in praxi auch in diesem Bereich vieles anders ist? Die Beantwortung dieser Frage ist für unsere Untersuchung von nicht zu unterschätzender Bedeutung. In dieser Gesellschaftsordnung maßen sich die führenden Kräfte, gestützt auf eine bürokratische, zentral verwaltete Wirtschaft, ganz offen die „Zuteilung von Lebenschancen“ an. Hier nun sind die Wurzeln für den Bewußtseinswandel der sowjetischen Jugend zu suchen. Die sowjetischen Volkswirtschaftler und Soziologen sind sich dessen wohl bewußt. Halb konstatierend, halb warnend sprechen sie es aus: „Ein höheres Bildungsniveau der jungen Kader stellt auch höhere Anforderungen an die, die Charakter und Niveau ihrer Verwendung zu bestimmen haben". Begnügen wir uns vorerst mit dieser Feststellung.

Die Jugend der Sowjetunion strebt weit stärker danach, sowohl ihre Allgemeinbildung als auch ihr Fachkönnen zu verbessern, als dies der sowjetischen Führung wünschenswert erscheint. Eine Menge von Erscheinungen aus dem Alltag und auch einige Analysen bestätigen das. So war zum Beispiel der teilweise Zusammenbruch der Chruschtschowschen Schulreform von 1958 weitgehend auf die Protesthaltung der Jugendlichen und ihrer Eltern zurückzuführen. Durch die Einführung des so-genannten Produktionsunterrichts, das heißt der obligatorischen Arbeit der Schüler in Betrieben, sah man die Chancen, eine abgerundete zeitgemäße Allgemeinbildung zu erwerben, gefährdet. Nicht uninteressant ist, daß die 16jährigen Jugendlichen, auf die unter Chruschtschow in erster Linie ein starker Druck ausgeübt wurde, sich im Produktionsbereich fortzubilden, besonders negativ auf diese Forderung der Partei reagierten. Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, auf die Hintergründe dieser Haltung näher einzugehen. Der Wissensdrang und die immer bestimmtere Formen annehmenden Vorstellungen von der persönlichen Zukunft waren dabei nur zwei von vielen Faktoren. Folgende Ziffern drükken diese Reaktion aus: Während sich 1959 55% der Schüler im Alter von 16 Jahren weiterbildeten, ohne in der Produktionsarbeit zu stehen, waren es 1964 schon 77% Das überrascht sogar einen Kenner des Problems, weil bis zum Sturz Chruschtschows vorgeschrieben wurde, daß die Mittelschüler und vor allem die 16— 18jährigen ihre Ausbildung ohne Unterbrechung der Arbeit im Betrieb fortzusetzen hätten. Auch die Zahl der Schüler, die sich mit dem Besuch einer achtklassigen Schule begnügten und anschließend ins Berufsleben übertraten, verringerte sich merklich. Im Schuljahr 1965/66 traten 50 % der Schüler, die die achtklassige Schule beendet hatten, in die neunte Klasse der Oberschule über, im laufenden Schuljahr dagegen waren es schon 72 %.

Das Bildungsstreben ist auch der entscheidende Grund für die Landflucht der jungen Menschen. In jüngster Zeit beschäftigten sich auch westliche Beobachter mit diesem Problem. Der Mangel an brauchbaren Analysen dieser Erscheinung ist darauf zurückzuführen, daß die meisten Sachkenner (und in besonderem Maße die Journalisten) dieses Problem zwar soziologisch zu deuten versuchen, bei ihren Untersuchungen aber auf das soziologische Instrumentarium verzichten und das Phänomen einseitig nur unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachten. Die Landflucht der Jugend (genau wie die Fluktuation der Arbeitskräfte in der Industrie) ist jedoch nicht unbedingt und allezeit negativ zu werten. Sie ist eine normale Erscheinung im Reifungsprozeß jeder Gesellschaft, verbunden mit vorübergehenden wirtschaftlichen Nachteilen, die in Kauf zu nehmen sind. Sowjetische Untersuchungen geben als Hauptmotiv für die Abwanderung der Landjugend in die Städte den Wunsch an, sich weiterzubilden. Aus den Angaben der Statistischen Zentralverwaltung der RSFSR geht zum Beispiel hervor, daß in den städtischen berufstechnischen Lehranstalten die Landjugend den Hauptanteil der Schüler ausmacht, und zwar mehr als die Hälfte Der Mangel an weiterbildenden Schulen auf dem Lande spielt hier eine wichtige Rolle. Andererseits darf aber auch nicht der Grund dafür übersehen werden, daß die Behörden an der Einrichtung solcher Schulen auf dem Lande kaum interessiert sind. Ihnen ist bekannt, daß die Landjugend große Opfer zu bringen bereit ist, um nicht dazu verurteilt zu sein, für immer in einem landwirtschaftlichen Beruf ausharren zu müssen, vor allem deshalb, weil die Landwirtschaft mit rückständigen Methoden arbeitet und von den technischen Errungenschaften auf ihrem Gebiet noch kaum Kenntnis genommen hat. Die jungen Leute aus den Kolchosen übersiedeln in die Stadt und wählen unter häufig erschwerten Lebensbedingungen einen Bildungsweg, der ihren Vorstellungen von einem künftigen gesellschaftlichen Aufstieg entspricht.

Vor diesem Hintergrund ist die augenblickliche Situation im sowjetischen Schulwesen zu betrachten. Auf dem XXIII. Parteitag der KPdSU erklärte am 5. April 1966 der Vorsitzende des Ministerrates der UdSSR, A. N. Kossygin: „Vor acht Jahren wurde in der UdSSR die allgemeine achtjährige Schulpflicht für alle Kinder eingeführt. Das ist eine hervorragende Errungenschaft des Sozialismus. Aber heute befriedigt das die breiten Massen der Werktätigen schon nicht mehr. Jetzt geht es darum, die Volksbildung auf eine neue, noch höhere Stufe zu stellen und den Übergang zur allgemeinen Oberschulbildung im wesentlichen abzuschließen.“

Die junge Generation, so läßt sich zusammenfassend sagen, ist den älteren Jahrgängen nicht nur hinsichtlich ihrer Allgemeinbildung und an Berufskenntnissen weit überlegen, sie strebt auch weit mehr als jene nach einer Erweiterung ihres Wissens. Sie liebt die soge-nannten „modernen Berufe". In ihren Vorstellungen, mögen sie falsch oder richtig sein, spielen die Prestigeberufe eine ungewöhnliche Rolle. Am Beispiel der Landwirtschaft war dies schon zu sehen. Die Arbeit auf dem Feld bringt nichts ein, und man ist und bleibt ein Tölpel — an dieser Auffassung ist zu einem nicht geringen Teil die bisherige Landwirtschaftspolitik der Partei schuld. Doch gibt es noch zahlreiche andere Berufszweige, die in den Augen der Jungen als „minderwertig“ gelten. Dazu zählen z. B. Tätigkeiten im Bereich der öffentlichen Dienste. Hier rächt sich zweifellos auch die langanhaltende Vernachlässigung dieses Bereiches. Wer arbeitet schon gern hinter der Ladentheke oder bei der Stadt, wenn er in einem Metallbetrieb soviel mehr verdienen kann. 1965 wurden diese Unterschiede zwar beseitigt, indem die Löhne der in diesen Bereichen Beschäftigten um mehr als 20 0h erhöht wurden. Nicht beseitigt wurden aber die psychologischen Vorbehalte der jungen Leute, wie sowjetische Wissenschaftler bestätigen

Nicht zufällig hat sich auf dem letzten Komsomolkongreß im Mai 1966 der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Breshnew, so pathetisch für die Aufwertung der Dienstleistungsberufe eingesetzt und an die Komsomolzen appelliert, sie sollten „in die Institutionen der kommunalen Dienstleistungen und Handelsorganisationen ihre bestqualifizierten Funktionäre .. . schicken, die die große gesellschaftliche Bedeutung dieser Sache erkennen, sie lieben und den Besuchern, Kunden und Bestellern mit Aufmerksamkeit und Herzenswärme entgegenkommen

Selbstverständlich sprechen wir hier von einem gewissen Trend, der uns für den aktivsten Teil der Sowjetjugend typisch erscheint, für jene Jugendlichen, die den „Geist der Zeit" zu erkennen glauben und sich enthusiasmiert der Kybernetik, der Kosmologie und der modernen Biologie zuwenden. Hat denn nicht eine hohe Parteiführung in den dreißiger Jahren und noch länger bestimmte Modellkarrieren in den Himmel gehoben, um die Berufswünsche der jungen Menschen in eine bestimmte, von der Partei gewünschte Richtung zu lenken? „Du kannst Professor werden, Flieger usw." — so stand es nicht nur in den Lehrbüchern, dies war das Leitmotiv einer gezielten Propaganda. Modellkarrieren, das ist aus dem Gesagten unschwer zu erkennen, spielen auch heute bei der Sowjetjugend wie überall in der Welt eine gewisse Rolle. Aber eben: der Mechanismus, der die Vorstellung von „meinem“ Beruf gebiert, hat sich gänzlich gewandelt;er ist nicht mehr durch eine Führungsgruppe oder eine Interessengemeinschaft manipulierbar. Dieser vielleicht nur vorübergehende Zustand kennzeichnet die augenblickliche Lage in der Sowjetunion. Daß für die heutige junge Generation der hochqualifizierte Fachmann, der Ingenieur, der mit Computern vertraute Techniker Leitbild geworden ist und Berufe wie Schweinezüchter, Traktorenbrigadier und selbst Parteifunktionär, auch auf höherer Ebene, keine „Prestigeberufe" mehr sind, wer mag es den jungen Menschen verdenken? Auch die Sowjetunion ist von einer tiefgreifenden Wandlung im Bewußtsein ihrer Jugend nicht verschont geblieben.

Die Ursachen der „kritischen Welle" der Jugend

Schon der Versuch, den wirtschaftlichen und bildungsmäßigen Hintergrund des Generationsproblems zu beleuchten, deutet auf den wichtigsten Faktor hin, der die heutige sowjetische Jugend zu einer „kritischen Generation" macht. Unter den Jugendlichen hat sich ein Gefühl der Enttäuschung ausgebreitet, weil keine ausreichenden Fortbildungsmöglichkeiten für sie bestehen. Dieses Problem wird in der einschlägigen Literatur ausgiebig erörtert. Der von Jahr zu Jahr mit jedem Aufstieg in eine höhere Klasse der Mittelschule steigende Wissensdrang wird durch die zunehmende Ungewißheitgedämpft, ob es einem gelingen wird, in einem Institut oder einer anderen weiterführenden Schule unterzukommen. Der Kor-respondent einer Tageszeitung berichtete über die Stimmung bei den Schülern der 10. und 11. Klasse einer Mittelschule in Irkutsk, als das Schuljahr zu Ende ging. Nach seinen Beobachtungen wünschten die meisten Schüler an einer Universität zu studieren, selbst jene, die die Mittelschule nur mit Durchschnittsnoten absolvierten. Im vorliegenden Fall handelt es sich um 130 Absolventen der 10. und 11. Klasse und 180 der 8. Klasse. „Ich weiß schon, daß höchstens 20 von einem Institut ausgenommen werden." Diese Beispiele ließen sich endlos fortsetzen. Schüler und Eltern sind gleichermaßen enttäuscht und verbittert. Als im vorigen Jahr einige Jugendliche von Pädagogen und Soziologen gefragt wurden, warum sie die Schule ohne Abschluß verlassen und sich so früh fürs Berufsleben entschieden hätten, war meist die gleiche resignierte Antwort zu hören: „Wozu weiter die Schule besuchen? Ich werde sowieso nicht von einem Institut ausgenommen."

Aber auch die Glücklichen, die technische Institute und Hochschulen besuchen, können absolut nicht sicher sein, daß sie nach Ablegung ihrer Examen eine Stellung finden werden, die ihren fachlichen Kenntnissen entspricht. Dies ist einer der entscheidenden Gründe dafür, warum die Jugend der Gesellschaft gegenüber zunehmend kritischer eingestellt ist.

In letzter Zeit erschienen eine Reihe gründlicher Untersuchungen über das Verhalten von Jugendlichen. Die Führung von Partei und Staat kommt nicht darum herum, sich mit diesem Phänomen, das nun so offen zutage tritt, auseinanderzusetzen. Die Zeitungen, vor allem die des kommunistischen Jugendverbandes, werden mit Zuschriften überschüttet. Auch in Versammlungen diskutiert man heute diese systembedingten gesellschaftlichen Mißstände. Die meisten Artikel, die sich mit diesen Dingen beschäftigen, erscheinen in der „Komsomolskaja Prawda". Hier kommt zum Beispiel Frau I. Polonskaja zu folgendem Schluß: Zwischen den idealen Vorstellungen der jungen Menschen und der Sowjetwirklichkeit klafft ein Widerspruch. „Wir wollen offen reden. Es hat sich ein Mißverhältnis herausgebildet zwischen den persönlichen Bestrebungen der Jugendlichen und den Möglichkeiten, sie zu verwirklichen, zwischen Bildung und ihrer Anwendbarkeit. Die heutige Jugend hat mehr Kenntnisse und ist auch bereit, mehr zu geben, und gerade dabei stößt sie auf Hindernisse, und sie gerät in Anpassungsschwierigkeiten dem Leben gegenüber." Das klingt fast wie eine Polemik gegen die Äußerungen des Generalsekretärs der KPdSU, Breshnew, auf dem XXIII. Parteitag, als er — die Jugend kritisierend — sagte: „Einige junge Leute möchten am sprudelnden Leben vorbeigehen, sie sind unselbständig und fordern immer vom Staat, vergessen jedoch ihre Pflichten gegenüber der Gesellschaft und dem Volk." Wenn wir diese Äußerungen hier wörtlich zitieren, so nur, um die verschiedenen Ansichten der Generationen in der Sowjetunion heute zu veranschaulichen.

Diese Enttäuschung der Jugendlichen, erwachsen aus der Konfrontation der Vorstellungen von der persönlichen Zukunft mit der Realität, macht sie besonders empfindlich gegenüber allen Anzeichen sozialer Ungerechtigkeit.

Auch diskutieren die jungen Leute in Ruß-land ihre „brennenden Probleme" nicht nur in den Großstädten, sondern überall, in der entlegensten Provinz und draußen auf dem Land, in ihren Schlafbaracken, auf den Baustellen in den östlichen Rayons, in den Klubs, in den Dorfwirtshäusern. In der „Komsomolskaja Prawda" war häufig zu lesen, welche Fragen die Jugendlichen bewegen: „Warum wurde Viktor ins Institut ausgenommen und Lena nicht? ... Er hat keine Ahnung von Chemie ..., ja, aber sein Papa!" — „Weshalb sind aus dem Ausland eingeführte Anzüge besser als unsere?", und weiter „Sind die Löhne gerecht?" — „Hat sich unser Komsomolführer den Behörden gegenüber richtig verhalten oder haben sie ihm dort den Schneid abgekauft?" Die „Komsomolskaja Prawda"

klagt darüber, daß diese kritische Einstellung oft falsch gedeutet werde. Auch öffne sie den Demagogen, die alles mies machen und zur Widersetzlichkeit anstacheln, Tür und Tor.

Hat da doch einer behauptet: „In diesem Leben gibt’s keine Wahrheit. Wenn alle stehlen, mußt du auch mitmachen."

Väter und Söhne

Das leitet unmittelbar zu einem anderen Komplex über: Wie steht es mit der Einstellung der sowjetischen Jugend zur Politik? Man stelle sich einen Augenblick vor, wie lebhaft in der amerikanischen Jugend, um das für den Westen klassische Beispiel zu nennen, oder unter jungen Polen über Ideologien und politische Konzeptionen diskutiert wird. Wer nun etwa glaubt, daß das auch für die Sowjetjugend zutreffe, der irrt. Nie war ihr politisches Desinteresse so erschreckend groß, wie das heute in der postdespotischen Sowjetge Seilschaft der Fall ist. Diese Feststellung wird von allen aufmerksamen westlichen Besuchern, die in letzter Zeit die Sowjetunion bereisten, bestätigt. Man kann dies sogar als ein Hauptcharakteristikum des gegenwärtigen Zustandes der Sowjetgesellschaft überhaupt bezeichen. Für die Masse der Jugend trifft es auf alle Fälle zu. Nur eine ganz dünne Schicht der jungen sowjetischen Intelligenz bildet hier eine Ausnahme, aber wie wenig haben doch ihre politischen Reaktionen mit der berühmten russischen Tradition leidenschaftlicher politischer Diskussion zu tun, die erst von den Terrormaßnahmen der Stalin-sehen Despotie jäh abgeschnitten wurde. Was da heute als politische Äußerung hie und da an die Oberfläche kommt, das ist weniger vom Intellekt gesteuert als von Emotionen eingegeben. Meist läuft es darauf hinaus, daß auf die „Alten" geschimpft wird, die an allem schuld und auch für die Verbrechen des Stalinismus mitverantwortlich sind. (In diesem Punkt sind die jungen Sowjetmenschen in einer ähnlichen Lage wie die jungen Deutschen: Hier wir dort wollen es die Väter nicht gewesen sein.) Wie dem auch sei, sicher ist auch dies ein Zeichen für das erwachte, auch im Politischen kritisch gewordene Denken, das sich hier aber erst im Frühstadium befindet. Keinesfalls ist es zu vergleichen mit dem, was etwa die polnische Jugend für die Abrechnung mit dem Stalinismus in ihrem Lande geleistet hat und auch jetzt noch leistet.

Vor einigen Jahren sah es in dieser Hinsicht noch anders aus. Der Konflikt zwischen Söhnen und Vätern entzündete sich leidenschaftlich um die Zeit des XXII. Parteitages (1961), als die Öffentlichkeit vom Ausmaß der Verbrechen Stalins erfuhr. Besonders die jungen Schriftsteller taten sich dabei hervor. Auch ein Teil der älteren Generation der sowjetischen Intelligentsia unterstützte diese Auseinandersetzung aus — wie wir heute wissen — ganz ehrlichen Motiven, nämlich im Gedanken an eine bessere Zukunft der Gesellschaft. Alles stand unter dem Leitmotiv: „Dies darf sich nie mehr wiederholen." Es sei hier nur an das Schauspiel von W. Satonow erinnert: „Schützt die lebenden Söhne." („Der Junge fuhr in der wattierten Jacke an die Front, gleichzeitig transportierten sie seinen Vater in entgegengesetzter Richtung.") Oder an ein anderes literarisches Werk, das Drehbuch zu dem Film „Einstimmig angenommen". Es beschreibt das Schicksal der Studentin Sina und ihres kleinen Sohnes Andruscha, die in die Terrormaschinerie der Jeshowschtschina (1937) gerieten. Nach Stalins Tod wußte der nun reifgewordene Andruscha ganz genau, wer das Schicksal seiner Mutter, die im Konzentrationslager — verlassen und vergessen — gestorben war, zu verantworten hatte: sein Vater. Dieser Film war kein Einzelfall. Unvergeßlich ist die Welle des Protestes der Jugend, die wider ihre Väter aufstand und sie, die nicht nur alles gewußt, sondern auch alles mitgemacht hatten, verdammten.

Zwei Fragen quälten die Jungen: Wer war für das Geschehene verantwortlich und was tun, damit diese verbrecherischen Praktiken sich nie mehr wiederholen? Das tiefe Mißtrauen wider die „Väter" ging Hand in Hand mit dem Verlangen, die Wahrheit über die Vergangenheit zu erfahren. Das kleine Gedicht eines jungen Lyrikers aus dem Industriezentrum des Donezbeckens drückte das so aus: „Kann ich die Vergangenheit je vergessen? In der Zeit des Stalinterrors war die Wahrheit nicht ausgemerzt, sie wurde nur auf die Straße gejagt und irrte dort von Menschen unbemerkt, einher.

Ich, die Wahrheit, sprach, flehte, wandte mich an die Menschen;

laßt mich nachts in die Wärme!

aber die Menschen schämten sich, wandten ihr Gesicht ab, verdeckten die Augen vor der Wahrheit."

Der Dichter geht noch weiter, er fragt, wie es um die Belasteten heute stehe, ob sie ihre Mitschuld erkannt und ob sie sich gewandelt haben. Seine Antwort ist die Tausender junger Sowjetmenschen: „Ich glaube ihnen nicht. . . , die Unwahrheit wohnt noch in ihrem Herzen, und ich weiß, sie beten nächtelang vor ihrem Idol: der Gipsbüste Stalins."

Protest der Künstler

Die damalige Haltung der bekannten jungen Dichter Jewtuschenko, Wosnessenskij u. a. ist noch allgemein in Erinnerung. Sie standen nicht allein. Nicht nur aus Moskau, Leningrad und Kiew, auch aus Alma Ata und Taschkent erscholl dieser Ruf nach Wahrheit. Das hat gar nichts mit „Modernismus" oder „Formalismus in der Kunst" zu tun, wie man den jungen Dichtern damals vorwarf. Für Chruschtschow und seinen ideologischen Vorreiter Iljitschew war das nur ein Vorwand. Tatsächlich warf Chruschtschow im Dezember 1962 und noch stärker im März 1963 seine ganze Autorität in die Waagschale, um diesen in Wahrheit politischen Konflikt der jungen Generation mit den verantwortlichen Spitzengremien aus der Welt zu schaffen. In seiner Rede auf einem Treffen führender Persönlichkeiten von Partei und Regierung mit Literatur-und Kunstschaffenden behauptete er kühn, ein Generationskonflikt bestehe in der Sowjetunion überhaupt nicht. „Dieses Problem haben die Regisseure dieses Films erdacht und, nicht in bester Absicht, künstlich aufgebauscht." (Gemeint war der Film „Der Vorposten Iljitschs".) Schließlich in die Defensive gedrängt, redete sich Chruschtschow mit unwahren Behauptungen heraus: „Man fragt, ob die Leiter der Parteikader damals von den Verhaftungen wußten. Ja, sie wußten davon. Aber wußten sie auch, daß völlig unschuldige Menschen verhaftet wurden? Nein, das wußten sie nicht. Sie glaubten Stalin und dachten nicht, daß ehrliche, unserer Sache ergebene Menschen verfolgt würden." Das sagte der gleiche Chruschtschow, dessen Parteigänger, um seiner angeschlagenen Autorität wieder etwas aufzuhelfen, noch kurz zuvor verbreitet hatten, mehrere „unschuldige" Menschen verdankten es Chruschtschow, wenn sie den Terror Stalins überlebt hätten....

Als Chruschtschow und Iljitschew im Frühjahr 1963 neuen Verleumdungsfeldzug einen in die Wege leiteten, um den jungen Dichtern, Malern und Filmleuten ihre Anhänger abspenstig zu machen, wurde — um mit den Worten des Dichters zu sprechen — die Wahr-heit wiederum „verjagt". Doch die Zeiten haben sich geändert. Ein Rückfall in die Terror-methoden Stalins ist nicht mehr möglich. Von der offiziellen Oberfläche ist die Diskussion über die Verbrechen der Stalin-Ära aus verschiedenen Gründen dann verschwunden, für die Jugend aber ist und bleibt die „unbewältigte politische Vergangenheit" ein Problem.

Junge Wissenschaftler, in erster Linie Historiker, aber auch Naturwissenschaftler, halten die Erinnerung an sie ständig wach. Sie drängen darauf, daß die Rehabilitierung von Opfern des Terrors nicht im Sande verläuft, sondern weitergeführt wird, und wollen die ganze Wahrheit über die Vergangenheit wissen. Als Chruschtschow 1964 gestürzt wurde, kam es zu neuen Auseinandersetzungen mit dem Stalinismus — diesmal auf dem Gebiet der Wissenschaften. Der Fall des „Parteibiologen" Lysenko war ein Schulbeispiel dafür, welchen Schaden das Diktat der Partei der Wissenschaft zugefügt hatte. Die jungen Biologen setzten sich nicht nur für die Befreiung der Naturwissenschaft aus den Fesseln der Partei-dogmen ein, sie forderten zudem, die Erfahrungen der Vergangenheit nicht zu vergessen. „Ohne Rücksicht darauf“, so heißt es in dem Artikel eines jungen Wissenschaftlers, „wie klar und strahlend die Zukunft unserer biologischen Wissenschaft sein wird, die sich von den verrosteten Dogmen der vergangenen Epoche befreit hat, sollten wir die Vergangenheit niemals vergessen. Wie wahr sind die Worte von George Santayana: , Wer die Vergangenheit vergißt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen'.“

Ein weiteres Merkmal des politischen Gesichts der jungen Intelligentsia ist ihr echter Internationalismus. Ganz offensichtlich findet der Bund, den die Alten mit den Chauvinisten geschlossen haben und der unter Stalin seinen Ausdruck in einem latenten Antisemitismus und großrussischen Chauvinismus gefunden hatte, bei der jungen Generation keinen An-klang mehr. Ihre Forderung, daß mit diesem unheilvollen Erbe gebrochen werde, fand in Jewtuschenkos „Babij jar" beredten Ausdruck. Russische wie anderen Völkern der Sowjetunion angehörende Schriftsteller sind sich darin einig. Als Chruschtschow im März 1963 Jewtuschenko und Wosnessenskij heftig attakkierte, verteidigte sie der kasachische Schrift-steller O. Sulejmenow auf einer Massenversammlung Jugendlicher in der Hauptstadt Kasachstans, Alma Ata Die jungen sowjet-ukrainischen Schriftsteller beschlossen, die Werke ihrer Kollegen ins Ukrainische zu übersetzen und einen Sammelband herauszugeben. Chruschtschows Einspruch vereitelte das

Die neue Konsumgesellschaft

Ein weiterer, das Bewußtsein der Jugend mitbestimmender Faktor ist der Durchbruch der Konsumgesellschaltsmentalität. Das mag manchem zweitrangig erscheinen, in Wahrheit aber kommt dieser Erscheinung, wie in allen anderen modernen oder sich modernisierenden Gesellschaften auch, für die Bildung der Mentalität der Sowjetjugend eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Der steigende Lebensstandard prägt auch das Denken der Menschen und übt eine besondere Faszination auf die Jugend aus. Ihre Ansprüche wachsen zusehends und sie begreifen, zumindest in der Sowjetunion, daß das Streben nach Wohlstand nicht unbedingt ein Zeichen spießbürgerlicher Gesinnung ist, sondern natürlicher Bestandteil des modernen Lebens. Diese Haltung drückt sich in erster Linie in veränderten Konsumgewohnheiten aus. Die jungen Männer kaufen nicht mehr nur irgendeine Hose, sie muß modisch sein (unsere Blumenmuster gibt es allerdings noch nicht im Mostorg zu kaufen). Dafür ernten die Jugendlichen in den sowjetischen Zeitungen Lob, unterstützt dieses Verhalten der jungen Käufer doch die Bestrebungen von Partei und Regierung um Qualitätsverbesserung. Ab und zu kann man in sowjetischen Zeitungen darüber manches recht Amüsante lesen. So mußte eine Bekleidungsfirma eine ganze Sendung von weiten Hosen als Ladenhüter an den Hersteller zurückgehen lassen, weil die Jungen Röhrenhosen verlangten. Davon profitiert ein Beruf, der nicht gerade zu den „Prestigeberufen“ zählt, nämlich „Genosse Schneider". In Heimarbeit, Tag und Nacht und auch an den Feiertagen bemüht er sich, den Wünschen seiner anspruchsvollen und mit dem offiziellen Angebot in den Läden unzufrieden gewordenen jungen Kundschaft gerecht zu werden. Kein Wunder, daß in einer Analyse der sozialen Herkunft der Käufer von „Tschajka" -Personenwagen die Schneider obenan stehen.

Auf dem diesjährigen Komsomolkongreß gehörten diese steigenden Ansprüche der jungen Generation zu den Themen des Tages. Wer die Tagung über den Rundfunk verfolgte, konnte hören, wie eine Komsomolzin fast stärkeren Beifall erntete als Breshnew, als sie ihre Altersgenossen mit folgender Rede überraschte: „Schauen Sie doch mal an, wie bei uns die jungen Menschen angezogen sind: die Kleidung ist zu teuer und statt uns netter zu machen, verunstalten uns die Fähnchen, die man uns anbietet. Jedes Mädchen kann ein Lied davon singen, wie schwierig es ist, sich wirklich hübsch und modisch anzuziehen.... Unsere Modelle haben auf internationalen Ausstellungen großen Erfolg, bloß wir sowjetischen Kundinnen kriegen nichts davon zu sehen, wenn wir in einen Laden kommen... Höchste Zeit, von Versprechungen zu Taten überzugehen!"

Die Auswirkungen des Durchbruchs dieser Konsumgesellschaftsmentalität auf das öffentliche Leben können hier nicht im einzelnen erörtert werden. Aber unschwer ist zu erkennen, daß diese Mentalität in Widerspruch steht zu verschiedenen Herrschaftspraktiken der Parteibürokratie, die noch immer mit ihrem Appell an den Patriotismus, der Berufung auf die rosige Zukunft des Kommunismus und ähnlichen „pädagogisch-erzieherischen" Manipulationen den Idealismus der jungen Generation vor ihren Karren zu spannen versucht.

Die Parteibürokraten sprechen deshalb von der Gefahr einer „Rubelmentalität", andererseits aber fördern gerade die materiellen Anreize, wie sie im Rahmen der Wirtschaftsreform von der Partei empfohlen werden, das Streben nach einem besseren Leben.

Gammler und schwere Jungen

Niemand möchte behaupten, die Jugendkriminalität oder auch nur die harmlosen wirklichen oder pseudo-asozialen Erscheinungen seien für die gesamte sowjetische Jugend typisch. Es ist lediglich eine rasch ansteigende Kurve dieser Erscheinungen festzustellen, und wenn eine Behandlung dieses Problems hier angebracht ist, so deshalb, weil die Partei diesen Erscheinungen energisch den Kampf angesagt hat.

Daß sie weitgehend nicht typisch „sowjetisch" und nicht an nationale Grenzen, bestimmte gesellschaftliche Systeme und Ideologien gebunden, sondern allgemein verbreitet und denen in den westlichen Ländern sehr ähnlich sind, bestätigen in Moskauer Zeitungen geschilderte Szenen. Die „Komsomolskaja Prawda" vom 17. April 1966 schilderte die Hauptstraße von Kujbyschew in den Abend-stunden wie folgt: „Brod’ nennen die professionellen Nichtstuer der Stadt den Ort ihrer allabendlichen Zusammenkünfte, die Hauptstraße von Kujbyschew. Sobald die ersten Lichter aufflammen, tauchen an den Straßenecken Halbstarke und Taugenichtse auf. Schlurfenden Schrittes ziehen sie einzeln oder in Gruppen durch die Straßen, grinsen einander an, mustern zynisch die vorbeigehenden Frauen, schließen Straßenbekanntschaften und machen Geschäfte. Sie verständigen sich in einem eigenen Jargon, einem schauerlichen Gemisch von Gaunersprache und verdrehten russischen Wörtern."

Das Gewerkschaftsorgan „Trud" vom 25. Juni 1966 schilderte einen Platz in Moskau:

„Auf dem Platz vor dem Kiewer Bahnhof in Moskau herrscht lebhaftes Treiben. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht eine Gruppe junger Moskowiter mit Gitarren im Arm. Die Mädchen sehen den Jungen zum Verwechseln ähnlich, die Jungens den Mädchen: langes, auf weibliche Art herunterhängendes Haar, leicht geschminkte Lippen. Sie singen irgend etwas Englisches und tanzen Shake, wohlgemerkt Shake, nicht den längst überholten Twist! , Was ist hier los?'— fragte ein älterer Mann, der vorbeiging. . Alles völlig normal'— antwortet ein . Gitarrenmädchen'. — . Die Grenze zwischen Beatles und ihren Verehrern wird hier abgebaut'. — . Väterchen, was strahlst Du uns denn so an mit deinen Scheinwerferchen?'sagt im tiefen Baß ein anderer. — . Willst du dich der Welt-zivilisation anschließen? Aber dafür brauchst du ein paar Haare auf dem Schädel, sonst schleich dich! Bier gibt’s rechts um die Ecke, Bye, bye’."

Dies sind nur zwei Kostproben aus Berichten, wie sie in den sowjetischen Tageszeitungen keine Seltenheit mehr sind. Der Leser fühlt sich sogleich in die Atmosphäre von Schwabing oder rund um die Gedächtniskirche, in die Keller von Liverpool oder nach Greenwich Village versetzt. Die sowjetische Propaganda versucht die Gammler (die russische Sprache ist sehr saftig und hat eine Reihe von Ausdrücken, um die verschiedenen Kategorien voneinander abzugrenzen: es gibt „stilagi", „lobotriasi", „besdelniki" usw. usw.) mit den „Hooligans“ über einen Kamm zu scheren. In Wirklichkeit aber sind wohl nur einige, ganz extreme Vertreter den „Hooligans" zuzurechnen, das heißt jenen Jugendlichen, die mehr oder minder bedeutende Verstöße gegen das Gesetz zu ihrem Lebensprinzip gemacht haben. Die erste Kategorie, mag sie auch hie und da mit dem Gesetz in Konflikt geraten, hat immerhin noch einen gewissen Stil. Ihre Taten ärgern die Leute nicht, ganz im Gegenteil, sie sorgen für etwas Abwechslung in dem ziemlich grauen sowjetischen Alltag. Kürzlich hat sich die Elite der Dorfjugend einer Kolchose in Aserbeidschan nach einer kleinen Sauferei ein hübsches Stück geleistet. Die Burschen holten einen Esel aus dem Stall und brachten ihn zuerst auf ihre Konsomolzenversammlung (alle Akteure dieses Stücks waren Komsomolzen). Freund Langohr wurde die Treppe hinaufgequält bis zum 3. Stock. Darauf kam den Jugendlichen eine noch viel bessere Idee. Endlich sollte man auch einmal einem Esel einen sowjetischen Film zeigen. Und so brachten sie ihn kurzerhand — zum großen Gaudium aller Kinobesucher — in den Dorf-klub, wo gerade ein Film lief. Als es später zu einer Schlägerei kam, bei der es einen Verwundeten gab, wunderten sich die Behörden, daß die ganze Kolchose samt Partei-und Komsomolelite für die Jugendlichen Partei ergriff (Happening auf sowjetisch, wie man sieht.)

Ebenfalls zu dieser Gruppe der „stilagi" gehören die am meisten bewunderten, technisch begabten und in der offiziellen sowjetischen Presse als „Äthergangster" bezeichneten Jugendlichen. Sie bauen illegale Sendestationen, um auf diesem Wege ihren Freunden eine Freude zu bereiten und dem eigenem Über-mut freien Lauf zu lassen. Wie verbreitet dieser Spaß ist, davon kann sich ein Außen-stehender kaum eine Vorstellung machen. In der nur mittelgroßen sowjetukrainischen Stadt Belaja Zerkwa entdeckten die Behörden 1964 200 (!) illegale Sendestationen! Die „Hooligans des Äthers" sendeten regelmäßig Programme mit Jazzmusik und eigenen Gedichten, sangen Lieder und betätigten sich als Tierstimmenimitatoren. Und das klappte — zur Belustigung aller Bürger. Zum Krach kam es, als ein Sender sich auf die Welle der Fernsehstation einschaltete und eine Ballettaufführung kommentierte („guckt, die hübschen Beine", war das Harmloseste!). Was die Behörden zum Eingreifen bewog, ob sie getragen waren vom Gedanken der „moralischen Aufrüstung" oder ob sie befürchteten, nicht nur das Ballett, sondern zum Beispiel auch eine politische Rede könnte von einem „Äthergangster" kommentiert werden, bleibe dahingestellt

Das Mittelasien nicht vom Fortschritt ausgeschlossen ist und technisch mithalten kann, bestätigt ein Vorfall, der sich im Sommer des Jahres 1965 zutrug. In der usbekischen Stadt Samarkand hatten die Behörden nach langem Hin und Her einen lokalen „Hooligansender" geortet. Der Sender hatte sich „Radio Taugenichts" (Radio Tenejadez) genannt. Das Programm bestand aus Sologesängen der Funkamateure, mehr laut als schön. Wie es um den künstlerischen Wert bestellt war, erhellt aus dem verzweifelten Kommentar des usbekischen Parteiorgans, der „Prawda Wostoka“: „Die Sterne am Himmel von Samarkand müssen erröten vor Scham über diese Kakophonie der Geräusche, diese Anekdoten und Lieder." Es gab auch „ernste Programme", zum Beispiel wurden die neuesten Filme besprochen. Zum Abschluß der Sendung ertönte ein Pfeif-, Schrei-und Wieherkonzert. Presseberichten ist zu entnehmen, daß es verhältnismäßig lange dauerte, bis die Behörden schließlich eingriffen. Die Radioamateure hatten auf der Welle der „Nothilfe" gesendet und dadurch eine Rettungsaktion gestört. Der Einsatz eines Hubschraubers zur Rettung eines Menschenlebens wurde dadurch verhindert.

Die Sonntagszeitung „Nedela" berichtete kürzlich, daß ein gewisser Malzew (18) sich folgendes „Ätherstückchen" geleistet hat. Durch seine eigene „Rundfunkstation" kündigte er „im Namen aller sowjetischen Rundfunkstationen" an, daß sich amerikanische Raketen mit atomaren Sprengköpfen der sowjetischen Grenze nähern. Obwohl die Zeitung nichts darüber berichtete, kann man sich lebhaft vorstellen, wie das auf die nichtsahnende Bevölkerung gewirkt hat.

Jugendkriminalität

Die meisten Vergehen der „Hooligans" gegen das Gesetz werden in nichtalkoholisiertem Zustand verübt. Es ist Ausdruck ihres Über-muts, sie wollen sich austoben, wenn sie der Miliz Streiche spielen, Passanten belästigen oder junge Mädchen auf der Straße erschrekken. Ursache der steigenden Kurve der Jugendkriminalität aber ist der Alkoholismus. Laut Statistik wird die Mehrzahl — 90 °/o — aller Verbrechen Jugendlicher im Zustand der Trunkenheit begangen. Daß man dem Alkoholismus energisch den Kampf angesagt hat, hat gute Gründe. Die Erfahrung hat gezeigt, daß unter Alkoholeinfluß ein zunächst harmloser Hooligan zu einem ausgesprochenen Kriminellen werden kann, und tatsächlich hat die Zahl der im Zustand der Trunkenheit begangenen Gewaltverbrechen wie Mord, Ver-gewaltigung und ähnliches in letzter Zeit beängstigend zugenommen Die sowjetische Statistik kennt keine so detaillierte Registrierung der Kriminalität, wie sie in den meisten volksdemokratischen Ländern gehandhabt wird, besonders in Jugoslawien, und wie das in den westlichen Ländern der Fall ist. Bestimmte Schlüsse lassen sich nur auf Grund von Presseberichten über einzelne Prozesse ziehen, die aber meist große Lücken aufweisen. Demnach wurde eine ganze Reihe Jugendlicher zwischen 18 und 20 Jahren zum Tode verurteilt. Einige Berichte lassen deutlich erkennen, daß sogenannte Kapitalverbrechen ohne Motiv immer häufiger werden. Zwei zum Tode verurteilte jugendliche Mörder in einer estnischen Stadt erklärten im Verlauf des polizeilichen Verhörs und vor Gericht, daß sie ihre Opfer nicht gekannt und ihnen gegenüber auch keine Haßgefühle gehegt hätten. Sie hätten ihre Tat nur begangen, „um ihrem Herzen Luft zu machen Zwei andere Jugendliche wurden nach einem Bericht der Gewerkschaftszeitung „Trud" zum Tode verurteilt, weil der eine von ihnen seine Eltern festhielt, um sie von seinem Freund erstechen zu lassen. In dem Prozeß sagte er aus, er habe seine Eltern loswerden wollen, weil sie „zu nichts getaugt hätten". Er habe befürchtet, daß er enterbt werde.

Völlig ratlos stehen die sowjetischen Behörden und auch die Psychologen und Soziologen den Sexualverbrechen gegenüber. Die Art dieser Verbrechen hat sich inzwischen grundlegend verändert. Früher wurden Verbrechen der Notzucht meist in abgelegenen Gegenden und unter Gewaltanwendung begangen. Heute sind es, dem höheren Lebensstandard der Bevölkerung entsprechend, Wohlstandsverbrechen, und sie werden oft mit Einverständnis der halbwüchsigen Mädchen auf „Wetscherinkas", den russischen Parties, begangen. Wie auch bei uns häufig der Fall, stellen die Eltern dabei ihren Kindern die Wohnung zur Verfügung und schlafen woanders, um die „Stimmung" nicht zu stören Die sowjetische Rechtspflege steht dieser Situation hilflos gegenüber. Es fehlt an psychologisch geschultem Personal. Man kennt das Problem. Die physiologische Reife tritt immer früher ein, und die Kluft zwischen ihr und der sozialen und geistigen Reife wird immer tiefer. So kommt es zu einer Fehleinschätzung der Reaktion mancher Jugendlichen unter bestimmten Umständen und der daraus resultierenden Verbrechen. Die sowjetische Presse begnügt sich mit einer simplifizierenden Darstellung, ohne psychologisches Einfühlungsvermögen für die jungen Menschen zu zeigen. Der Staat aber läßt in allen Mordfällen Todesurteile fällen, obwohl die ständige Zunahme solcher Verbrechen beweist, daß sie keinerlei abschreckende Wirkung haben, sondern nur Racheakte des Staates sind.

Nicht als ob wir die Kriminalität in Psychologie auflösen wollten, es kam uns nur darauf an darzustellen, daß die sowjetische Kriminalistik dieses Problem überhaupt noch nicht ins Auge gefaßt hat. Sicherlich gibt es in der Sowjetunion auch „schwere Jungens", die sich vor ihren Kollegen aus Chikago oder anderen westlichen Großstädten durchaus sehen lassen können. Zum Unterschied von früher, wo diese Dinge einfach totgeschwiegen wurden, berichtet die sowjetische Presse heute laufend über Verbrechen. Bank-und Sparkasseneinbrüche sind an der Tagesordnung, und kürzlich haben in Georgien Gangster sogar versucht, ein Flugzeug unter ihre Kontrolle zu bringen Die Bevölkerung steht der Jugendkriminalität völlig passiv gegenüber. Die Versuche Chruschtschows, die Öffentlichkeit dafür zu gewinnen, an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung mitzuwirken, versagten — einer nach dem anderen. Als völliger Fehlschlag erwies sich die Gründung der sogenannten Volksmiliz, und auch von den „gesellschaftlichen Schiedsgerichten" will kein Mensch etwas wissen. Die Parteipresse beklagt sich bitter darüber, daß die Öffentlichkeit sich, selbst gegenüber schweren Fällen, unverantwortlich gleichgültig verhalte; in leichteren Fällen ergreife sie häufig offen Partei für die Schuldigen, versuche, durch ihre Aussagen deren Taten zu bagatellisieren und die Schuldigen somit zu begünstigen. Diese Haltung war, das gesteht nun selbst die sowjetische Parteiführung, die eigentliche Ursache für das Versagen der „Kameraden-Schiedsgerichte".

Diese „gesellschaftliche Justiz", eine Schöpfung Chruschtschows und seiner Anhänger, operierte mit einer Reihe von prophylaktischen und erzieherischen Elementen. Besondere Betonung lag dabei auf den Bewährungs-möglichkeiten. Auf Antrag des Kollektivs, dem der Sünder angehörte, wurde die Strafe zur Bewährung ausgesetzt, wenn sich das Kollektiv für seine Besserung „verbürgte“. Das Experiment erwies sich als großer Reinfall. Noch zu Amtszeiten Chruschtschows berichtete die Parteipresse ziemlich entsetzt, daß die Zahl solcher „Bürgen" (na poruki) gewaltig zunehme. Sogar Rückfallverbrecher fänden unter anständigen Bürgern in Betrieben und Institutionen noch Beschützer. Darüber zu philosophieren ist zwecklos, offensichtlich hat man es hier mit einer typisch post-despotischen Erscheinung zu tun. Rechtssicherheit und Rechtsempfinden waren in Rußland und seiner Nachfolgerin, der Sowjetunion, nie sonderlich entwickelt. Unter Chruschtschow — das betonen auch westdeutsche Juristen mit Recht — wurde versucht, hier Abhilfe zu schaffen, vor allem durch die neuen Strafgesetze von 1957 Aber die Rückfälle in den Terror als Regulativ, wie sie sich in den Prozessen gegen den jungen Leningrader Schriftsteller Jossif Brodsky und gegen Sinjawskij und Daniel in Moskau zeigten, haben bestimmt nicht dazu beigetragen, die Bürger besonders gesetzesfreudig zu machen.

Die Mythologisierung des Staates und der bürokratischen Apparate mit ihren ständigen Direktiven „von oben" und die „festgelegte" Parteilinie bedingen die Passivität und die Allergie der Bevölkerung, die auf dem Gebiet der Rechtspflege genauso in Erscheinung tritt wie in der Landwirtschaft oder anderen Bereichen. Die dargelegten Gründe für diese Haltung der Bevölkerung sind — unter einem anderen Aspekt gesehen — eine wichtige Ursache der wachsenden Aggressivität der Jugendlichen, die unter bestimmten Bedingungen in Kriminalität umschlägt.

Bis in die jüngste Zeit zumindest wurde in der Sowjetunion deutlich zwischen politischen und nichtpolitischen Vergehen unterschieden. So galt beispielsweise der illegale Betrieb einer Punkstation mehr oder weniger als eine Art „Kavaliersdelikt". Der Besitzer einer solchen Station war ein „Äthergangster" und kam mit einer verhältnismäßig milden Strafe davon — seine Funkanlage wurde von der Miliz beschlagnahmt. Wurde die Funkstation für politisch-propagandistische Zwecke genutzt, schaltete sich das Komitee für die Staatssicherheit (KGB) ein — der Delinquent war ein „gefährlicher Staatsverbrecher". Es drohten ihm Verbannung und hohe Freiheitsstrafen. Tatsächlich wurden — obgleich nur vereinzelt — Vergehen Jugendlicher aus rein politischen Motiven bekannt. „Komsomolskaja Prawda" vom 10. Juni 1962 schilderte einen Fall, wo drei armenische Jugendliche versuchten, während eines Fluges den Flugzeugführer mit Gewalt dazu zu zwingen, den Kurs zu ändern und im Ausland zu landen. Aus den spärlichen Prozeßberichten geht hervor, daß mindestens zwei der Jugendlichen überzeugte Gegner des Sowjetstaates waren. Sie wolltem im Ausland Bücher über die Sowjetunion schreiben, Pressekonferenzen organisieren, und einer von ihnen, Tunjaman, wollte in die Bundesrepublik, um sich dort angeblich dem armenischen Emigrantenführer Dro anzuschließen. Die letzte Verhaftungswelle in der Sowjetukraine (Sommer 1966) erfaßte ebenfalls fast ausschließlich Jugendliche. Man warf ihnen die Verbreitung „illegaler Literatur“ und „feindliche Propaganda" vor. Der italienische Kommunist Giuseppe Boffa schrieb in seinem letzten Buch „Dopo Krusciov", daß die Unzufriedenheit eines Teils der sowjetischen Jugendlichen der Nährboden für extreme „Aggressionen" sei, die gegebenenfalls in eine offene „Konterrevolution" ausarten könnten.

Der soziale Stellenwert der Jugend

Durch die Schilderung asozialer Phänomene unter den Jugendlichen sollte nicht der Eindruck entstehen, dies oder so sei die sowjetische Jugend schlechthin. So wenig der Playboy oder der Taximörder, von denen jeder in der Zeitung liest, das Bild der deutschen Jugend bestimmen, so wenig ist der Betrunkene in der Gosse, der Messerheld oder eine andere Karrikatur ein typischer Vertreter der Sowjet-jugend, die in Schulen und Universitäten studiert, in Büro und Betrieb oder auf der Kolchose arbeitet.

Wenden wir uns wieder der Tatsache zu, daß die Jugend Hauptträger des technischen Fortschritts in der Sowjetunion ist. Ihr Bildungsniveau ist höher als das der älteren Generation. Das ist besonders heute wichtig, wo die wissenschaftliche und technische Revolution Probleme mit sich bringt, die gelöst werden müssen. Von den Fähigkeiten und Kräften der jungen Generation und von nichts und niemandem sonst wird es abhängen, ob und wie sie gelöst werden.

Exakte Aussagen über die Beteiligung der Jugend an verschiedenen, die Zukunft der Gesellschaft entscheidenden Bereichen sind kaum möglich. Die Volkszählung von 1959 gibt zwar sehr genaue Daten, aber die jüngste bevölkerungspolitische Entwicklung ist darin noch nicht berücksichtigt. Die schwachen Geburtenjahrgänge der Kriegs-und Nachkriegsjahre wurden ohne Störungen in die Gesellschaft integriert. Eine bis zu einem gewissen Grade explosive Situation hat sich erst nach 1959 herausgebildet. Eben jetzt hat der Ansturm der starken Geburtenjahrgänge der Nachkriegsjahre auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eingesetzt, wie von offizieller Seite bestätigt wird. Das heißt, die Altersstruktur in den einzelnen Berufen, wie wir sie hier auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung von 1959 anführen werden, kann nur als allgemeine Information gelten und ist mit Vorbehalt aufzunehmen. Schon 1959 konnte von einer harmonischen Verteilung der einzelnen Altersgruppen auf die verschiedenen Berufszweige keine Rede sein. So betrug bei den Betriebsingenieuren der Anteil der 20— 39jährigen 63, 4%, bei den Betriebsdirektoren dagegen überwog mit 58, 3 % die Altersgruppe der über 40jährigen. Bei den Behörden war dieser Trend noch sichtbarer. Während auf den unteren Rayonsebenen der Anteil der Personen bis zu 39 Jahren 55, 3 % ausmachte, ging er, je höher die Verwaltungsstufe wurde, von Gebietsebene an aufwärts, auf % zurück. Dieser Bereich war die Domäne der älteren Generation, das heißt der 40 und mehr Jahre alten; ihr Anteil betrug 74 %, davon waren fast die Hälfte 50 und mehr Jahre alt. Die technischen Kader mittlerer Qualifikation rekrutierten sich 1959 hingegen schon überwiegend aus Personen bis zu 39 Jahren. Ihr Anteil betrug 83, 8 %; ähnlich ist die Situation bei den Agronomen, wo er (1959) 74, 1 % ausmachte 26).

Auch in den geistigen Berufen war die junge Generation schon 1959 im Vormarsch. In der Gruppe, die die sowjetische Statistik unter „Wissenschaft und Schule" zusammenfaßt (dazu zählen Wissenschaftler und pädagogische Kader), betrug 1959 der Anteil der unter 40 Jahre alten 71, 9 °/o, davon allein 62, 1 % Wissenschaftler, und bei Schriftstellern und Journalisten 64, 7 % Diese Beispiele mögen genügen. Das Ausmaß der bereits damals im Gange befindlichen und weiter fortschreitenden Wandlung wird die für 1969 geplante Volkszählung genau ermitteln.

Neue Wege in der Kunst

Natürlich läßt sich über den Stellenwert der jungen Generation im Produktionsbereich heute — auf Grund halboffizieller Unterlagen — mehr sagen als über den in den intellektuellen Berufen. Hinzu kommt, daß die Massenmedien, Zeitungen und Zeitschriften, Film, Funk und Fernsehen, ganz in der Hand des Regimes liegen, für das es ein leichtes ist, alle Äußerungen von Intellektuellen und Künstlern nach eigenem Ermessen zu steuern und Unbequemes unter den Tisch fallen zu lassen.

Auf literarischem Feld ist es nicht mehr ganz so. Hier konnten sich, gestützt auf die öffentliche Meinung, die Schriftsteller gewisse Sprachrohre schaffen, um auch nichtgenormte Äußerungen zu Gehör zu bringen. Ähnlich, wenn auch aus anderen Gründen, liegt der Fall für die Wissenschaft. Die durch die Partei gebotene Optik läßt den wirklichen qualitativen Einsatz der jungen Generation nicht immer richtig erkennen. Heute führen Literatur, Kunst und Musik außerhalb des offiziellen Rahmens ein reges und reiches Eigenleben. Was aber mehr ist, diese Literatur und Kunst sitzt nicht in einem elfenbeinernen Turm. Sie ist der breiten Masse der Bevölkerung vertraut, die ihrerseits ihre Lieblingsdichter, -maler und -musiker unterstützt. Tatsächlich gibt es drüben Künstler, die hierzulande ganz unbekannt sind und von deren Existenz wir nicht einmal etwas wissen, die aber in interessierten Kreisen der Sowjetunion täglich im Gespräch sind.

Wir greifen aus dem Musikleben ein Beispiel heraus, das schlaglichtartig die Situation beleuchtet. Die Einstellung der Partei zum Musik-leben ist symptomatisch auch für ihre Politik gegenüber den anderen Zweigen des Kultur-und Geisteslebens. Maßstab künstlerischen Schaffens ist der von der Partei gepredigte „sozialistische Realismus". Die Organisationen der Komponisten und Musiker sind gehalten, diese Richtlinien der Partei zu befolgen, das heißt, sie sind in Wirklichkeit nur der verlängerte Arm der bürokratischen Apparate. Die Komponisten sind insofern der „Gunst" der Apparate stärker ausgeliefert als etwa die Dichter oder Bildhauer, als sie davon abhängig sind, daß man ihnen Konzertsäle zur Verfügung stellt, Wettbewerbe ausschreibt usw., damit sie ihre Kompositionen einem Publikum zu Gehör bringen können.

Vor wenigen Monaten kam es nun zu einem für kommunistische Verhältnisse ungewöhnlichen und beachtenswerten Zwischenfall. Der sowjetische Komponist Edison Denisow veröffentlichte in der italienischen kommunistischen Monatszeitschrift „II Contemporaneo", in einem ausländischen Blatt also, einen Artikel. Darin schilderte er nicht nur genau die wirklichen Zustände im heutigen sowjetischen Musikleben, sondern übte darüber hinaus auch Kritik an der Politik in diesem Bereich Aus dem Artikel ist zu erfahren, daß sich die meisten sowjetischen Komponisten und fast der gesamte künstlerische Nachwuchs inzwischen längst „aus dem Bann der als sozialistisch real" propagierten tonalen Musik gelöst haben, und zwar, wie Denisow sagt, „nicht unter dem Einfluß des Westens", sondern deshalb, weil jeder begabte Komponist nach Erweiterung der musikalischen Ausdrucksmittel strebt und an der klassischen tonalen Musik schon lange kein Genügen mehr findet. Während die Partei die sowjetischen Musiker noch immer vor „Formalismus“ und „Kakophonie" warnt, erklärt Denisow, die größte Gefahr, die der sowjetischen Musik gedroht habe, sei eine gewisse Sterilität gewesen, die Folge bestimmter Dogmen oder — wie er sagt — ihre „Akademisierung". Diese Gefahr sei nun gebannt. Das Musikleben habe sich nach eigenen Gesetzen und nicht nach den Direktiven der Partei entwickelt. Der Westen kenne nur Prokofjew, Schostakowitsch oder Chatschaturjan und andere, die von den zuständigen Behörden als würdige Vertreter auserwählt wurden. In Wirklichkeit gebe es eine Generation moderner junger Komponisten von hohem künstlerischen Rang, hinter denen ein begeistertes Publikum stehe. Denisow nennt dann einige dieser Komponisten. Brennpunkte des modernen Musiklebens seien Moskau, Leningrad, Tallin und Kiew. Die Komponisten und die ausübenden Künstler, die deren Musik zu Gehör bringen, werden von zahlreichen Klubs zu Konzerten eingeladen. Vorträge und Diskussionen schlössen sich an. Leider hätten die Musiker nur selten Gelegenheit, in großen Konzertsälen aufzutreten. Gelinge es einmal, dann reiße sich das Publikum buchstäblich um die Eintrittskarten. Denisow erzählt, wie er selbst im Institut für Atomforschung in Dubna nicht nur ein begeistertes, sondern auch erstaunlich qualifiziertes Publikum angetroffen habe. Die modernen Komponisten in der Sowjetunion, so schließt Denisow seinen Artikel, haben keine Schwierigkeiten mit dem Publikum in ihrem Lande, ganz im Gegenteil: wenn ihnen jemand Schwierigkeiten bereitet, ist außer „einigen älteren Kollegen" die „musikalische Bürokratie" ihr größter Feind.

Dieses Beispiel hat in anderen Kunstzweigen seine Entsprechung. Gelegentlich gelangt in der Sowjetunion weitverbreitete, aber nicht gedruckte Literatur junger Schriftsteller in den Westen. Doch das ist nur jeweils ein Bruchteil dessen, was geschrieben und unter die Leute gebracht wird. Wie sich die jungen Menschen zu all diesen Erscheinungen verhalten, ist vorläufig nicht auszumachen. Nur Andeutungen und Teilberichte lassen vermuten, daß mit dem Vormarsch der jungen Generation sich alle Bereiche des geistigen Lebens qualitativ ändern werden. Es ist dies ein nicht aufzuhaltender Prozeß. Der „sozialistische Realismus", so stellte der italienische kommunistische Theoretiker Vittorio Strada fest, ist zu einem Erpressungsmittel herabgesunken, dazu bestimmt, das Betätigungsfeld der sowjetischen geistigen Elite einzuengen. Er ist überholt, hat er sich doch als Hemmschuh für jegliche Entwicklung im geistigen Bereich erwiesen. Vittorio Strada, einer der besten Kenner der sowjetischen Literatur und Kunst im Westen, gibt folgendes Bild der gegenwärtigen Atmosphäre im geistigen Leben der Sowjetunion:

„Die Gesellschaftswissenschaften erleben in der Sowjetunion eine Wiedergeburt und Erneuerung. Sobald sich jedoch irgendeine Arbeit mit konkreten Problemen der sowjetischen Wirklichkeit oder mit der Parteiideologie befaßt, wird der Spielraum für die Autoren eingeengt. Man darf heute schon ziemlich frei über die Linguistik schreiben. Aber unzulässig ist eine kritische Wertung Gorkis oder des Sozrealismus. Es ist statthaft, die russiB sehen vormarxistischen revolutionären Bewegungen objektiv zu untersuchen, doch nicht, die politischen Kämpfe unter den Bolschewiken in den zwanziger Jahren; Methoden und Probleme der Kybernetik freimütig zu diskutieren ist erlaubt, doch verboten ist das Studium der Werke von Bogdanow, eine der interessantesten Gestalten unter den russischen marxistischen Theoretikern und großen Vorläufer der Kybernetik. . . . Die Partei zwängt, um Mißverständnissen vorzubeugen, die Untersuchungen von Historikern, Soziologen und sogar Philosophen in einen begrenzten Horizont. Dieser Horizont ist nicht der Marxismus selbst, sondern eben nur seine äußerst enge Auslegung: Die Wissenschaften sollten aber das Recht auf freie Forschung haben, nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des Marxismus." 28a)

Jugend und Führungsgremien

Wir kommen jetzt zu einer entscheidenden Frage: Welche Position nimmt die heutige junge Generation in den Führungsgremien ein? Auf dem XXIII. Parteitag der KPdSU (1966) erklärte Breshnew pathetisch: „Die qualitative Zusammensetzung der Partei ist sehr aufschlußreich für das Zusammenwirken der alten und der jungen Parteimitglieder. Mehr als die Hälfte der Mitglieder und Kandidaten der KPdSU ist noch nicht 40 Jahre alt. Wladimir Iljitsch Lenin war immer stolz darauf, daß die Jugend in unsere Partei kommt, er sah darin einen Ausdruck der engen Verbundenheit der Generationen sowie der Kontinuität des revolutionären Geistes der Partei und ihrer kämpferischen Traditionen."

Nach dem Stand vom 1. Januar 1966 setzt sich die Partei altersmäßig wie folgt zusammen: bis 25 Jahre 6, 2 0/o 26— 40 Jahre 46, 8 0/o 41— 50 Jahre 24, 9% über 50 Jahre 22, 1 % Für unser Problem sind die Angaben über die Dauer der Parteizugehörigkeit von Wichtigkeit. Das Bild hiervon übermittelt folgende Daten:

bis 10 Jahre 47, 1 % 10— 30 Jahre 47, 3 % über 30 Jahre 5, 6 % Diese Zahlen bestätigen eindeutig, daß die KPdSU tatsächlich eine „junge" Partei ist und fast die Hälfte der Parteizugehörigen erst nach Stalins Tod der Partei beigetreten sind. Doch in welchem Ausmaß sind diese jungen Parteimitglieder in der Führungsspitze vertreten? Natürlich ist jede Überspitzung hier fehl am Platze, weil die Erfahrung lehrt, daß die führenden Kreise in jeder politischen Partei sich vor allem aus den älteren, erfahrene-282) ren und langgedienten Mitgliedern zusammensetzen. Eine genaue Untersuchung der sowjetischen Führungsgremien unter dem Blickwinkel ihrer Altersstruktur aber führt zu überraschenden Ergebnissen. Unter den insgesamt 195 neugewählten ZK-Mitgliedern ist die Hälfte der Parteimitglieder, also die Altersgruppe von 40 und weniger Jahren durch einen verschwindend kleinen Prozentsatz vertreten. Das gleiche gilt für das Politbüro des ZK der KPdSU, für die Politbüros der ZKs der 14 Parteien der Unionsrepubliken und für alle Ersten Gebiets-und Landessekretäre der KPdSU in der gesamten Sowjetunion. Aus einer Untersuchung der Altersstruktur der 200 Mitglieder und Kandidaten des Politbüros des ZK der KPdSU und der Politbüros der 14 ZKs der Parteien der Unionsrepubliken (die 15. Republik, die RSFSR, hat kein eigenes ZK und damit auch kein Politbüro) ergibt sich, daß mindestens 146 älter als 45 Jahre sind, und aus einer ähnlichen Analyse von rund 139 Ersten Gebiets-und Landessekretären geht hervor, daß mindestens 118 gleichfalls älter als 45 Jahre sind. In beiden Gruppen spielt die Revolutionsgeneration keine Rolle mehr, das Hauptkontingent stellen die Apparatschiks im Alter zwischen 44 und 55 Jahren. Der Anteil der über 45jährigen beträgt bei den Mitgliedern und Kandidaten der Politbüros bereits knapp drei Viertel und ist bei den Ersten Gebiets-und Landessekretären noch höher. die Revolutionsgeneration keine Rolle mehr, das Hauptkontingent stellen die Apparatschiks im Alter zwischen 44 und 55 Jahren.

Der Anteil der über 45jährigen beträgt bei den Mitgliedern und Kandidaten der Politbüros bereits knapp drei Viertel und ist bei den Ersten Gebiets-und Landessekretären noch höher.

Für das Verständnis der gegenwärtigen Situation in den politischen Führungsgremien der Sowjetunion ist noch folgender Hinweis von besonderer Bedeutung. Seit dem Tod Stalins haben sich diese Führungsgremien personell beträchtlich erneuert. Von den erwähnten 200 Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros waren nur elf vor 1953 bereits in den Führungsgremien, während die restlichen entwe der nach Stalins Tod oder nach dem Sturz Chruschtschows (47) in diese Körperschaften nachgerückt sind. Das bedeutet, daß das Auswechseln der Parteiführer nichts mit einer Verjüngung der Führungskräfte der Partei zu tun hatte, sondern im Rahmen ein und derselben Generation erfolgte, nämlich der „KriegsgeneraHon“.

Dieser Trend ist, wie bereits gesagt, bei 195 Mitgliedern des auf dem XXIII. Parteitag gewählten ZK der KPdSU deutlich abzulesen. Dort dominieren eindeutig bestimmte Altersgruppen. Es überrascht doch sehr, daß die junge Generation (bis zu 45 Jahren) nur mit sieben Mitgliedern im neuen ZK vertreten ist. Zwar sind uns die Geburtsdaten von 13 Mitgliedern unbekannt, doch mit Sicherheit sind sechs von ihnen noch vor 1921 geboren. Das bedeutet also, daß mehr als die Hälfte der Parteimitglieder bestenfalls von 14 jüngeren Vertretern repräsentiert wird. Die über 46jährigen beherrschen das ZK fast vollständig. Auch die Untersuchung der Dauer der Parteizugehörigkeit bekräftigt diese Tatsache. Unter den neuen ZK-Mitgliedern sind nur vier, die der Partei seit weniger als zwölf Jahren angehören, und unter den 195 ZK-Mitgliedern befinden sich nur 18, deren Dauer der Parteizugehörigkeit nicht feststellbar ist, von denen aber bestenfalls noch vier weniger als zwölf Jahre der Partei angehören können.

Wenn man sich vorstellt, daß von 195 ZK-Mitgliedern 102 der Altersgruppe von 56 Jahren und mehr (15 davon sind sogar vor 1900 geboren) angehören, so hat man ein Bild von der Überalterung der Führungsgremien. Die Repräsentanten dieser Generation, die an den Machthebeln sitzen, sind der Generalsekretär des ZK, Breshnew (geboren 1906), und der Vorsitzende des Ministerrates der UdSSR, Kossygin (geboren 1904). Beide haben nicht nur Kinder, sondern schon Enkel, die zu der Altersgruppe gehören, die immer heftiger an die Tore der Partei klopft. Und wenn wir hier das Generationsproblem in der Sowjetunion im politischen Bereich nicht als Konflikt zwischen Väter und Söhnen, sondern als Konflikt zwischen Großvätern und Enkeln schildern, so geschieht das nur, um das Generationsproblem der sowjetischen Gesellschaft plastisch darzustellen. Diese große Kluft zwischen den Generationen erschwert die Kommunikationsprozesse. Die Generation, deren Mentalität durch die Kriegsereignisse, von der stalinistischen politischen Schule ganz zu schweigen, geprägt wurde, kann nur schwer mit der Generation korrespondieren, deren Mentalität durch den Sturz Stalins und durch die Eroberung des Kosmos geprägt wurde.

Aber freilich handelt es sich nicht um die Mentalität allein. Die Untersuchung der Bildungsstruktur der führenden Schichten bestätigt eindeutig das niedrigere Niveau der älteren Generation gegenüber dem der jungen. Unter der jungen Generation, die jetzt in die Partei eintritt, ist die Zahl der akademisch Gebildeten sehr hoch. Breshnew teilte auf dem XXIII. Parteitag mit, daß von den zwischen dem XXII. und dem XXIII. Parteitag eingetretenen Angestellten „zwei Drittel Angehörige der technischen Intelligenz und Fachleute in den verschiedensten Zweigen der Volkswirtschaft sind. Jedes zweite Parteimitglied hat Oberschulbildung, nicht abgeschlossene Hochschulbildung oder Hochschulbildung" 18, 2% aller Parteimitglieder haben eine abgeschlossene oder nicht abgeschlossene Hochschulbildung und 30, 9 % eine Oberschulbildung. Dagegen haben alle 11 Mitglieder des Politbüros des ZK der KPdSU ihre Hoch-bzw. technische Ausbildung vor 1939 abgeschlossen und nur einer von ihnen hat ein Universitätsstudium zu Ende gebracht. Ähnlich ist die Lage bei den Kandidaten des Politbüros. Natürlich ist das Niveau eines Studiums in den dreißiger Jahren mit dem heutigen überhaupt nicht zu vergleichen. Mit anderen Worten, die verantwortlichen Posten im politischen Leben sind in Händen von Funktionären, die in bezug auf Alter und Bildungsstruktur den verkörperten Gegensatz zu den jüngeren Kadern darstellen. Daß unter diesen Bedingungen zwei verschiedene Strukturen aufeinanderprallen und dies der Grund zu permanenten Reibungen und Spannungen ist, leuchtet ein.

Chruschtschows Versuch einer Verjüngung der Parteikader

Die Parteibürokratie hat in ihrem Jugendprogramm den unmittelbar politischen Bereich streng von anderen getrennt. Alles zeigt an, daß die Politik in diesem Bereich entscheidend von den Machtverhältnissen bestimmt wird.

Was hier in den letzten Jahren geschehen ist, kommt einer Revolte der Kriegsgeneration gleich. Ein kurzer Überblick soll das erklären. Chruschtschow hat, daß muß man ihm gerechterweise zugestehen, zumindest versucht, eine Erneuerung des Parteilebens einzuleiten. Auf seine persönliche Initiative hin wurden verschiedene Maßnahmen zur Verjüngung des Parteiapparates getroffen. Ihren Ausdruck fanden sie in den vom XXL Parteitag (1961) beschlossenen Statuten und dem dort verankerten Prinzip der obligatorischen turnusmäßigen Erneuerung der Parteikader. Nikita Chruschtschow, der vieles dilletantisch und mit der linken Hand machte, wird von den Historikern zu den „Übergangspersönlichkeiten" gezählt. Vieles hat er in Bewegung gebracht, Tabus erschüttert, und es ist nicht allein seine Schuld, daß sein Werk größtenteils Stückwerk blieb. Zunächst hatte er versucht, den Parteiapparat von dem größten Ballast, wie er sich vor allem auf Rayonsebene, das heißt in den Rayonsparteikomitees, angesammelt hatte, zu befreien. Das geschah mit der Parteireform vom November 1962. Die Rayonsparteikomitees wurden aufgelöst und durch neue, nach dem Produktionsprinzip organisierte Parteiorgane ersetzt. Die Statuten von 1961 leiteten eine Erneuerung großen Stils ein. Schon 1962/63 waren die Parteikader auf der unteren Ebene zu 50 °/o erneuert worden. Viele westliche Beobachter haben die Tragweite dieses Beschlusses überhaupt nicht erkannt. Für den Aufstieg in der Parteibürokratie wurden neue Normen gesetzt. Was unter Chruschtschow auf diesem Gebiet geschehen ist, kann man als einen „Kampf um die Aufstiegsnormen“ bezeichnen. Dieser Kampf endete aber schon damals mit einem Sieg der alten Apparatschiks Stalinscher Schule. Während in den Grundparteiorganisationen die Erneuerung der Kader allem Anschein nach ernst genommen und tatsächlich praktiziert wurde, wußten die Apparatschiks auf den höheren Ebenen die einschlägigen Vorschriften mit allerhand Kniffen zu umgehen. Obwohl das Parteistatut unmißverständlich von einer Erneuerung der Partei-kader sprach und Funktionäre, die längere Zeit in der Parteileitung tätig waren, durch andere abgelöst werden sollten, schuf sich — so wurde nach Chruschtschows Sturz bekannt — der Parteiapparat eine Art „fliegendes Kommando" von Apparatschiks. Drohte einem alten Apparatschik in der Stadt X den Statuten gemäß der Verlust seines Postens, so wurde er kurzerhand in die Stad Y versetzt und dort als „neuer" Funktionär gewählt Chruschtschow selbst war durchaus kein Gegner eines bürokratischen Herrschaftssystems, aber als Parteifunktionär wünschte er sich möglichst junge Leute, die etwas von den neuen Aufgaben, vor allem in der Wirtschaft, verstanden. Diese Bestrebungen konnten sich trotz der „Gesetzestafeln des Parteilebens" — der Statuten — nicht durchsetzen. Der Machtanspruch der Kriegsgeneration, das heißt der 50-bis 60jährigen war stärker.

Reaktion nach Chruschtschows Sturz

Nach Chruschtschows Fall, überstürzten sich die Ereignisse. Schon bei den Wahl-und Rechenschaftsversammlungen der Grundparteiorganisationen setzte man sich faktisch über das Prinzip der turnusmäßigen Erneuerung der Kader hinweg. Ein typischer Vertreter der Kriegsgeneration, der georgische Parteiführer W. P. Mshawanadse, gab den Anstoß zu einer Kampagne gegen die Jung-kommunisten. Auf einem Plenum des ZK der KP Georgiens im Juni 1965 erklärte er: „Stalin hat seinerzeit, vom Leninschen Prinzip des Aufbaus unserer Partei ausgehend, ein treffendes Wort geprägt: . Unsere Partei ist eine Festung, deren Tore nur dem Geprüften geöffnet werden'." Er erklärte, daß eine Reihe von Posten im Parteiapparat zwar mit Jungkommunisten besetzt worden sei, doch in vielen Fällen „haben wir uns zu sehr zu einer Erneuerung in der Zusammensetzung der Parteisekretäre hinreißen lassen und ungerechter-und unklugerweise die alten und erfahrenen Funktionäre aus der Führung entfernt". Damit war das Signal gegeben. Mitte 1965 startete der Parteiapparat ein Kampagne gegen die bisherige „liberale" Haltung gegenüber den Jungkommunisten. Man forderte ein strengeres Ausleseprinzip. Die Jung-kommunisten — hieß es — seien nicht würdig, so schnell führende Parteiposten zu bekleiden. Man sprach vom „politisch reiferen Funktionär", von der „Persönlichkeit mit Autorität". Dies sollte der Maßstab bei den Wahlen sein — nicht mehr die „mechanische“ Erneuerung, obwohl die Spatzen von den Dä-ehern pfiffen, daß es sich um einen statuten-widrigen Willkürakt handelte. Auf dem XXIII. Parteitag (1966) wurde der Absatz über die turnusmäßige Erneuerung der Parteikader aus den Statuten gestrichen. Die Parteifunktionäre können nun praktisch wieder auf Lebenszeit auf ihren Posten bleiben.

Auf dem XXIII. Parteitag wurde noch ein weiterer Schritt gegen die Jungkommunisten beschlossen. Kandidaten für die Parteimitgliedschaft unter 23 Jahren dürfen nur nach einer Mitgliedschaft im Komsomol ausgenommen werden. Nach den bisherigen Statuten hatte das nur für Personen unter 20 Jahren gegolten. Naiv wäre die Vermutung, die Jung-kommunisten sollten auf diese Weise quasi eine Quarantänezeit im Komsomol absolvie-ren. Das ist in einer Massenorganisation wie dem Komsomol überhaupt nicht möglich. In Wirklichkeit verfolgt man damit ein ganz anderes Ziel, nämlich das, fürs erste drei Jahrgängen den Eintritt in die Partei zu verwehren. Eine Maßnahme, die eindeutig den Zustrom von Jugendlichen in die Partei bremsen soll.

Unter dieser Voraussetzung bieten sich der Parteibürokratie günstige Bedingungen für eine Stabilisierung der Machtverhältnisse innerhalb der Spitzengremien der Partei. Man hat etwas Zeit gewonnen. Alle diese Maßnahmen der Führungsspitze interessieren natürlich vor allem jene jungen Menschen, die sich anschicken, ihren Anspruch auf ein Mitspracherecht im politischen Leben geltend zu machen.

Verlängerung der Schulausbildung

Die anderen Maßnahmen der Partei berühren die Fragen, die sich nicht unmittelbar auf das politische Leben beziehen. Hierher gehört der im Februar dieses Jahres veröffentlichte gemeinsame Beschluß des ZK der KPdSU und des Ministerrates der UdSSR „Uber Maßnahmen zur Erweiterung der Fortbildung und Beschäftigung in der Volkswirtschaft für jene Jugendlichen, die 1966 die allgemeinbildenden Schulen abschließen" Er ist die Frucht ernsthafter Untersuchungen der gegenwärtigen Situation und soll dazu beitragen, die aus den schon erwähnten bevölkerungspolitischen Störungen entstandenen sozialen Spannungen zu mildern. Auch sollen damit die negativen Auswirkungen des Chruschtschow-sehen Schulgesetzes beseitigt werden. Man bemüht sich heute, die Jugend möglichst lange in den Schulen zu halten. Die Eltern werden aufgefordert, ihre Kinder, die die achtklassige Schule beendet haben, dazu zu bewegen, auch die 9. und 10. Klasse noch zu besuchen. Gemäß einem Beschluß sollen 1966 die Plätze in der 9. Klasse, verglichen mit dem Vorjahr, um 631 000 erhöht werden. Die Gründe sind einleuchtend; man denke nur an die schon geschilderten Schwierigkeiten bei der Beschaf-fung von Arbeitsplätzen für Jungarbeiter. Ferner wurde beschlossen, in den technischen Fachschulen 1966 124 000 weitere Studienplätze bereitzustellen. Anders als zu Chruschtschows Zeiten werden jetzt nicht mehr Fern-und Abendkurse, sondern Tageskurse bevorzugt. Gleiches gilt von den technischen Lehranstalten, wo 131 000 neue freie Plätze für Tageskurse zur Verfügung gestellt werden. In den Hochschulen, die für die Ausbildung in ingenieurtechnischen Berufen bestimmt sind, wurden gleichfalls 34 000 neue Plätze für die Fortbildung in Tageskursen eingerichtet. Der erwähnte Beschluß des ZK wirkt natürlich keine Wunder.. Er löst nicht automatisch das Problem, um das es eigentlich geht. Aber er ist symptomatisch für die neuen Bestrebungen, von dem „Produktionsunterricht“ in den Betrieben, von dem man sich einmal so viel versprochen hatte, loszukommen, und die Jungen und Mädchen länger auf der Schulbank zu halten. Die Arbeitsplatzbeschaffung für Jugendliche wird dadurch auf etwas größere Zeiträume verteilt, das Problem bleibt aber weiterhin doch ungelöst. Gerade in letzter Zeit beschäftigen sich Planer, Wirtschaftler und Soziologen ernsthaft mit dieser Frage.

Administrative Maßnahmen und patriotische Welle

Versucht man, dies alles auf einen Nenner zu bringen, so wird die Komplexität und der heikle Charakter der Situation erst recht deutlich. Wenn die Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen weiter so zunimmt wie bisher, wenn diese Jugendlichen andererseits den Verlockungen des besseren Lebens ausgesetzt sind und ihren Anteil daran beanspruchen, wenn sie herumlungern statt zu arbeiten, dann gibt das einen günstigen Nährboden für allerlei asoziale Erscheinungen. Angesichts dieser nicht eben er-freulichen Situation hat die sowjetische Führung zu drastischen administrativen Maßnahmen ihre Zuflucht genommen. Auf der August-Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR von 1966 wurde ein unionsrepublikanisches „Ministerium zum Schutz der öffentlichen Ordnung" ins Leben gerufen. Es handelt sich dabei nicht um einen neuen Apparat. Das Innenministerium wurde am 16. Januar 1960 als Unionsministerium aufgelöst. Seither gab es nur noch die Innenministerien der einzelnen Republiken, die aber ihrerseits inzwischen in „Ministerien zum Schutz der öffentlichen Ordnung" umgewandelt wurden. Wir haben es hier also nur mit einer Reorganisation zu tun, bei der die Befugnisse der Zentrale gestrafft werden. Bis zu einem gewissen Grade handelt es sich um einen Verzweiflungsakt der sowjetischen Führung, nachdem die „gesellschaftlichen Maßnahmen" zur Behebung der Jugendkriminalität, des Hooligantums und aller Spielarten des sowjetischen Gammlertums hoffnungslos versagten. In ihren Köpfen leben noch die alten Vorstellungen, daß Befehlen und Verordnungen und Gesetzen bedingungslos und sklavisch gehorcht wird, und da tauchen nun plötzlich Burschen auf, denen diese Befehle vollkommen gleichgültig sind. Ihnen sagt die Parteiführung jetzt den Kampf an. Sie will, wenn nötig, mit Gewalt für die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung" sorgen.

Kurz vor diesem Beschluß des Obersten Sowjets der UdSSR wurde eine Reihe von Gesetzen angekündigt, die schärfere Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendkriminalität vorsehen. Nicht nur unter Stalin, auch anno 1966 stellt sich wieder einmal heraus, was Lenin für ein „Utopist" war, als er 1919 lapidar erklärte: „Es gibt keine kriminellen Kinder." Verschiedene Milderungsvorschriften in der Gesetzgebung, die Jugendkriminalität betreffend, wurden abgeschafft. Die Eltern werden für die Taten ihrer Kinder mehr als bisher verantwortlich gemacht. Alkoholismus gilt nicht mehr als strafmildernd, sondern als strafverschärfend. „Keine Hooligantat soll ungesühnt bleiben", lautet jetzt die Losung der ausführenden Organe des Ministeriums zum Schutz der öffentlichen Ordnung: der Miliz, der Gerichte und der Staatsanwaltschaft.

Darüber hinaus leitet die Partei eine massive ideologisch-erzieherische Aktion ein. Es kam zu einem Rückfall in die „patriotische Welle“. .. Zeigt Euch der Tugenden Eurer Altvordern würdig" und „Ihr seid die Träger der von den Eltern überkommenen Tradition", so war es auf den Transparenten auf dem Roten Platz zu lesen, wo im September 1966 vor dem Lenin-Mausoleum eine Massenversammlung der Jugend abgehalten wurde. Die „Prawda" schrieb: „Moskau erinnert sich an zahlreiche festliche Veranstaltungen. Aber eine solche war noch nie da!" Auf dieser Versammlung wurde den Jugendlichen ein Gelöbnis abgenommen. Die Tageszeitungen druckten die Formel im Wortlaut ab. Ein unbefangener Leser wird kaum zu unterscheiden vermögen, ob es sich um ein Dokument des sowjetischen Komsomol aus dem Jahre 1966 oder der chinesischen „Roten Garde“ aus dem gleichen Jahre handelt „Zeigt Euch des Ruhms Eurer Väter würdig", unter diesem Titel berichtete das Organ des Verteidigungsministeriums, die „Krasnaja Swesda", von patriotischen Aktionen Jugendlicher, wobei Kriegsschauplätze besucht, Waffen gesammelt und „Armeemuseen" eingerichtet wurden. Diese „patriotischen Aktionen" sollen im kommenden Jahr noch verstärkt werden. Man rechnet damit, daß sich zehn Millionen Jugendlicher an den Märschen zu historischen Orten beteiligen werden. 800 junge Weiß-russen haben in diesem Jahr bereits einen Marsch „auf den Spuren der Partisanen" unternommen. Ein Teil der in diesem Rahmen gestellten Aufgaben ist an sich durchaus als positiv zu werten, etwa die Kriegsgräberfürsorge und der Besuch historischer Stätten. Aber alles wird im Überschwang des sogenannten Patriotismus verzerrt, und leider vermißt man in den zahlreichen Ankündigungen von geplanten Märschen der Sowjetjugend eine Notiz, daß auch Plätze besucht werden wie etwa Babij jar, die Totenstätte der Sowjetbürger jüdischer Abstammung, die hier zu Tausenden Opfer des Nationalsozialismus wurden. Eine patriotische Aktion, die nur den Spuren militärischer Heldentaten folgt, verspricht wenig Gutes.

Auch die ideologisch-erzieherische Arbeit unter den Jugendlichen soll verstärkt werden: „Aufgabe der Parteiorganisationen sowie aller Kommunisten ist es, in der Jugend Klassenbewußtsein, ideelle Standfestigkeit und Kompromißlosigkeit zu fördern“ — dieser Gedanke kehrt leicht abgewandelt in allen Artikeln über ideologische Fragen wieder. Wie man sieht, bewegen sich auch die erzieherischen Bemühungen der Parteibürokratie in ausgefahrenen Bahnen. Sachliche Information über die Probleme der heutigen Welt, lebendige politische Diskussion — daran ist der Parteiführung offenbar wenig gelegen. Wieder und wieder versucht sie, bestimmte „kollektive Mechanismen" in Gang zu bringen und einer gesunden, inzwischen erstarkten öffentlichen Meinung eine von Schlagwörtern durchsetzte Massenmeinung entgegenzustellen, ein Programm, das der Partei vielleicht durch die heikle Situation aufgedrängt wurde, doch gleichwohl einer sich modernisierenden Gesellschaft schlecht ansteht.

Die Sowjetunion befindet sich in einem Stadium des gesellschaftlichen Umbruchs. Eben dadurch werden widerspruchsvolle Tendenzen ausgelöst, und zwar in einer solch scharfen Form wie noch nie in ihrer Geschichte. Die Führung ist unfähig, die durch den Generationswechsel entstandene Situation wissenschaftlich oder „marxistisch" zu erklären. Zwischen Patreiideologen und Wissenschaftlern bildete sich ein Konflikt heraus, der sich mit jedem Tag verschärft. Alle negativen Erscheinungen in der jungen Generation, so lautet der offizielle Standpunkt, sind ein Produkt der „imperialistischen Propaganda", die jede Gelegenheit nutzt, um „in unserem Lande gewisse zentrifugale Strömungen zu erzeugen und einen Keil zwischen die Sowjetunion und die ihr befreundeten Völker zu treiben, ... die Unzufriedenen ausfindig und sie zu Verkäufern ihrer faulen Ware zu machen. Die menschlichen Schwächen nützend, versucht sie, die Jugend mit den Verlockungen eines leichten Lebens und zweifelhafter Vergnügungen zu betören." So der erste Sekretär des ZK des Komsomol, Pawlow, auf dem letzten Komsomolkongreß. Drastischer noch sind Erklärungen ähnlicher Art und von anderen Parteiideologen, wie zum Beispiel dem jetzigen Leiter der ZK-Abteilung für Propaganda und Agitation, Stepakow, und anderen. Demgegenüber bemühen sich sowjetische Wissenschaitler die Probleme der Jugend wertfrei und undogmatisch zu untersuchen. In letzter Zeit wurden Konferenzen einberufen, auf denen sich Wissenschaftler mit diesen Problemen eingehend befaßten. Welche Kräfte schließlich siegen werden, wird die Zeit erweisen. Doch vieles spricht dafür, daß das unwürdige propagandistische Gerede von den „Auswirkungen imperialistischer Propaganda" bald nur noch als Rudiment von Denkkategorien aus jener Epoche der Sowjetunion gelten wird, die, nicht nur dem Wunsch des überwiegenden Teils der Jugend, sondern dem der gesamten Sowjetbevölkerung entsprechend, sich nie mehr wiederholen darf.

Nüchterne Analyse auch in Zukunft

Ein Pessimist wird nun bemerken: soweit gut und schön, aber die Herrschenden haben doch immer die Möglichkeit, die Jugend, besonders die schon gereifteren jungen Männer und Mädchen zu korrumpieren und für ihre Ideen und Vorstellungen zu gewinnen. Der Optimist hingegen wird sich zu einem voreiligen Schluß verleiten lassen. Der Umstand, daß die sowjetische Jugend nicht mehr in einer isolierten Welt lebt — so wird er meinen —, daß sie nicht mehr Objekt dogmatischer Manipulationen sein kann, daß sie intellektuell — und vielleicht sogar „weltanschaulich“ — auf höherem Niveau steht als frühere Generationen, dies alles verspricht eine erfreuliche Entwicklung. Doch sollten Meditationen dieser Art füglich den Astrologen überlassen werden. Statt dessen sollte man diese Entwicklung möglichst genau im Auge behalten, sie nüchtern analysieren und vielleicht auch nicht vergessen, daß vieles, was hier bei uns geschieht, über die Grenze hinauswirkt: positiv wie negativ.

Wenn diese Untersuchung mit dem Zitat eines italienischen kommunistischen Theoretikers schließt, so nur, weil dem Verfasser der vorliegenden Arbeit daran liegt, mit seiner Kritik an der sowjetischen Realität nicht fälschlich den Eindruck zu erwecken, es handle sich nur um eine Polemik im Stil des Kalten Krieges. Nach seiner Rückkehr vom XXIII. Parteitag also erklärte der italienische kommunistische Theoretiker Mario Alicata in seinem Bericht über den Parteitag in „L'Unita" sowie in seiner Rede auf dem April-Plenum des ZK der KPI u. a.: „ Die italienischen Kommunisten sind davon überzeugt, daß eines der größten Probleme, das in den nächsten Jahren in der Sowjetunion gelöst werden muß, die Befriedigung der Wünsche der jungen Generation bildet, nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet, sondern in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine ausführliche Analyse dieser Entwicklung findet sich in dem Artikel B. C. Urlanis, Dynamik und Faktoren der Geburtenzunahme in der UdSSR, in: Sowjetskoje sdrawoochranenije Nr. 7/1966, S. 8 ff.

  2. Woprosy ekonomiki Nr. 8/1966, S. 31.

  3. Ebda, S. 32.

  4. Eigene Berechnung aufgrund „Itogi wsesojusnoj perepisi naselenija 1959, goda, SSSR“ (Ergebnisse der Unionszählung der Bevölkerung von 1959, UdSSR.), Moskau 1962, S. 74 f.

  5. Planowoje chosjajstwo Nr. 8, August 1966, S. 25.

  6. Ebda.

  7. Bezieht sich auf die RSFSR, gilt aber mit Sicherheit auch für andere Republiken. Sowjetskaja pedagogika Nr. 9/1966, S. 3.

  8. Prawda vom 6. 4. 1966.

  9. Woprosy ekonomiki Nr. 8/1966, S. 38.

  10. Komsomolskaja Prawda vom 18. 5. 1966

  11. Sowjetskaja Rossija vom 10. 6. 1966.

  12. Komsomolskaja Prawda vom 19. 5. 1966.

  13. Komsomolskaja Prawda vom 10. 3. 1964. Noch bessere Beispiele, die die „kritische Welle" unter den sowjetischen Jugendlichen veranschaulichen, sind in einigen literarischen Werken zu finden.

  14. Prapor Nr. 1/1963, ein Gedicht von Ewhen Letjuk.

  15. Zitiert nach: Die Kunst gehört dem Volke. Reden zur Kulturpolitik, Berlin [Ost] 1963.

  16. Ju. Schtscherbak, Tschistyje ruki utschenogo (Reine Hände der Wissenschaftler), in: Junostj Nr. 6/1966, S. 99.

  17. Kasachstanskaja Prawda vom 27. 3. 1963.

  18. Radjanska Ukraina vom 10. 4. 1963. Das offizielle literarische Organ in Kiew, Literaturna Ukraina, äußerte sich damals dazu: „Wer braucht eine solche Anthologie? Ist es überhaupt notwendig, die Jungen von dem gesamten literarischen Prozeß abzusondern?“

  19. Komsomolskaja Prawda vom 20. 5. 1966.

  20. Bakinskij rabotschij vom 4. 8. 1966.

  21. Literaturnaja gaseta vom 24. 9. 1964.

  22. Sowjetskaja Estonija vom 31. 5. 1966.

  23. Eine gute Analyse der Wandlung der Sexual-verbrechen Jugendlicher wurde in der juristischen Zeitschrift „Radjanske prawo" Nr. 7/1966, S. 80 ff., veröffentlicht.

  24. Iswestija vom 10. 8. 1966.

  25. Siehe z. B. die ausgezeichnete Analyse von Klaus Westen, Recht und Rechtssprechung in der Sowjetunion heute, in: Osteuropa Nr. 7/8, August 1965.

  26. Eigene Berechnungen nach „Itogi wsesojusnoj perepisi naselenija 1959, goda, SSSR" (Ergebnisse der Unionszählung der Bevölkerung von 1959, UdSSR), Moskau 1962, S. 138 f.

  27. Ebda.

  28. Edison Denisow, Le techniche nuove non sono una moda, in: II Contemporaneo, 12. August 1966.

  29. Prawda vom 27. 3. 1966.

  30. Ebda.

  31. Ungeschminkt erklärte auf dem Märzplenum des ZK der KPdSU 1965 der erste Gebietssekretär von Rostow, M. S. Solomenzew: „Für uns ist es äußerst schwierig, einen Sekretär der Grundparteiorganisation zu finden, denn er muß nach zwei Jahren von einem Betrieb zum anderen, von einem Rayon in einen anderen umsiedeln“. Zitiert nach: Plenum Zentralnogo Komiteta Kommunistitscheskoj Partii Sowjetskogo Sojusa 24. — 26. marta 1965, stenografitscheskij ottschet, Moskau 1965, S. 120.

  32. Sarja Wostoka vom 29. 6. 1965.

  33. Prawda vom 6. 2. 1966.

  34. Zitiert nach N. Subow, F. E. Dsershinskij, S. 276,

  35. Prawda vom 12. 9. 1966.

  36. L'Unita vom 17. 4. 1966. Siehe auch ähnliche Ausführungen von Giuseppe Boffa in: Rinascita vom 9. und 16. 4. 1966.

Weitere Inhalte

Borys Lewytzkyj, geb. 1915 in Wien; Magister der Philosophie der Universität Lemberg; Autor verschiedener Artikel in Fachzeitschriften, ferner der Bücher: Vom Roten Terror zur sozialistischen Gesetzlichkeit, München 1961 (vergriffen, 2., grundlegend umgearbeitete Ausgabe erscheint im Frühjahr 1967 unter dem Titel „Die Rote Inquisition" in Frankfurt); Die Sowjetukraine 1944— 1963, Köln 1964; Sowjetische Kurzbiographien (zusammen mit Kurt Müller), Hannover 1964; Sowjetische Nationalitätenpolitik nach Stalins Tod (im Druck; die Ausgabe in polnischer Sprache erschien im Sommer 1966 in Paris); KPdSU — Porträt einer Partei (in Vorbereitung).