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Vorschläge zu einer Parlamentsreform | APuZ 1/1967 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 1/1967 Vorschläge zu einer Parlamentsreform

Vorschläge zu einer Parlamentsreform

Friedrich Schäfer

In der Beilage 40/66 stellten wir mit dem Beitrag von Arnd Morkel Vorschläge für eine Reform des Bundestages aus der Sicht eines Politischen Wissenschaftlers zur Diskussion. In dieser Ausgabe befaßt sich mit demselben Problem ein „insider", der Abgeordnete Dr. Friedrich Schäfer, der seit 1957 dem Deutschen Bundestag angehört und seit 1961 parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion ist. Der Beitrag ist Teil einer größeren Arbeit, die in Kürze unter dem Titel „Der Bundestag — Eine Darstellung seiner Aufgaben und seiner Arbeitsweise, verbunden mit Vorschlägen zur Parlamentsreform" im Westdeutschen Verlag, Köln und Opladen, erscheint. In einer der nächsten Ausgaben wird der Bundestagsabgeordnete Dr. Bernhard Vogel ebenfalls zur Parlamentsreform Stellung nehmen.

Sicherung einer qualifizierten Vertrauensgrundlage für die Regierung

Die parlamentarische Demokratie verlangt, daß die Regierung, getragen von einer ausreichenden Mehrheit, die politische Führung übernimmt. Dieser von der Regierung geführten Mehrheit soll eine Opposition gegenüberstehen, die stark genug ist, ein Gegengewicht darzustellen und dem Bürger als Alternative zur Wahl zu stehen. Ein Parlament ist in erster Linie so stark wie sein Wahlrecht. Nur ein Wahlsystem, das Mehrheiten erwarten lassen darf, die für ein starkes Parlament und damit für eine starke Regierung erforderlich sind, wird dem Gedanken der modernen parlamentarischen Demokratie gerecht. Das bisher in der Bundesrepublik geltende Wahlrecht tut das nicht, wie bereits die Tatsache zeigt, daß alle Bundesregierungen von Koalitionen gebildet wurden. Das Wahlrecht zum Bundestag muß daher weiterentwickelt werden. Die Wahl muß eine echte politische Entscheidung sein und klare Machtverhältnisse auf Zeit schaffen. Die Erteilung des Auftrages zur politischen Führung muß eindeutig politische Gestaltungsmöglichkeiten und damit die volle Verantwortung mit sich bringen.

Nur eine starke Regierung wird zu einem lebendigen und schöpferischen Parlament ihren Teil beitragen können. Parlament und Regierung bedingen sich in ihrer Leistungsfähigkeit und in ihrer Ausstrahlungskraft. Schwache Koalitionsregierungen sind schwankend und richtungslos. Sie haben weder die Kraft, die Lösung wichtiger Probleme anzupacken, noch haben sie den Mut, sich in der Sacherörterung im Parlament den Auseinandersetzungen und den ihr von der Oppositon bereiteten Prüfun3 gen zu stellen. Der moderne Massenstaat bedarf der sichtbaren Führung. Nur der ist dazu geeignet, nur der erwirbt Vertrauen und behält es, der sich in harter Auseinandersetzung im Parlament zu behaupten versteht, der zeigt, daß er weiß, was er will. Im Parlament kann nur diejenige Partei eine ausreichende Machtposition haben, die aus den Wahlen als Sieger hervorging. Das Wahlrecht muß daher so ausgestaltet werden, daß der Sieger nicht der Stärkste unter mehreren ist, sondern stärker als alle anderen zusammengenommen.

Das Grundgesetz geht folgerichtig davon aus, daß nur derjenige Bundeskanzler sein kann, der die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Erhält kein Kandidat diese Mehrheit, so kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen. Neuwahlen sollen tragfähige Mehrheiten erbringen; denn wenn der Bundestag schon zur Wahl eines Bundeskanzlers mit der erforderlichen Mehrheit zu schwach ist, ist zu befürchten, daß er auch nur eine schwache Regierung schaffen wird.

Folgerichtig sieht Art. 68 GG vor, daß, wenn ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhielt, der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten vorschlagen kann, den Bundestag aufzulösen. Diese Bestimmung bedarf der Ergänzung. Zunächst muß man sich vergegenwärtigen, daß ein Kanzler, dem solchermaßen die eigene Fraktion die Unterstützung versagte, nicht mehr als der politische Repräsentant seiner Partei auftreten kann. Entweder hat die eigene Partei ihn aufgegeben, dann wird sie Mittel und Wege finden, einen anderen an seinen Platz zu setzen, und sei es durch das konstruktive Mißtrauensvotum, oder die Partei hat sich gespalten, dann gibt es für den Kanzler den einfacheren Weg des Rücktritts, ohne sich der Gefahr der Niederlage durch Stellung der Vertrauensfrage auszusetzen. Wird die Auflösung des Bundestages angestrebt, dann kann dies ohne Prestigeverlust über die Wahl mit relativer Mehrheit nach Art. 63 GG erfolgen. Möglich ist aber auch die Siutation, daß der Kanzler nicht den Vertrauensantrag stellt, keine Fraktion das konstruktive Mißtrauensvotum einleitet, die Erkenntnis aber allgemein ist, daß nur auf dem Wege über Neuwahlen eine neue handlungsfähige Regierung geschaffen werden kann. Für diesen Fall sieht das Grundgesetz bisher keine Lösung vor. Deshalb muß man sich entweder dafür entscheiden, eine ähnliche Bestimmung wie die der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen zu übernehmen, daß nämlich der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder die Auflösung beschließen kann, oder man muß einer qualifizierten Minderheit des Bundestages das Recht geben, die Auflösung beim Bundespräsidenten zu beantragen.

Die Bestimmung des Landes Nordrhein-Westfalen schließt die Gefahr in sich, daß die Mehrheit einen ihr geeignet erscheinenden Zeitpunkt auswählt, um Neuwahlen durchzuführen, und dadurch in der Lage ist, das Wahlergebnis zu manipulieren. Besser erscheint deshalb, den Art. 68 GG dahin gehend zu ergänzen, daß ein Drittel der Mitglieder des Bundestages das Recht hat, beim Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages binnen 21 Tagen zu beantragen. Das Recht hierzu sollte erlöschen, wenn der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder dem amtierenden Kanzler das Vertrauen ausspricht oder mit gleicher Mehrheit einen neuen Kanzler wählt. Die Regierungsparteien könnten einen solchen Antrag stellen, wenn sich gezeigt hat, daß ihre politische Basis zu schmal ist, oder wenn sich gezeigt hat, daß die Koalition nicht tragfähig ist, oder daß ohne Abwahl des amtierenden Kanzlers eine Regierungsneubildung mit neuen Mehrheiten angestrebt wird. Die Opposition könnte den Antrag stellen und damit Erfolg haben, wenn die anderen Fraktionen einen solchen Antrag nicht zum Anlaß nehmen, dem amtierenden Kanzler ein Vertrauensvotum zu geben oder einen neuen Kanzler zu wählen. Das Nichthandeln der bisherigen Mehrheit wäre die ausreichende Legitimation zur Auflösung. Da auf diese Weise jede ausreichende Gruppierung das gleiche Recht zur Antragstellung hätte, dem die anderen durch eigene politische Entscheidung entgegenwirken könnten, wäre nicht nur die Chancengleichheit gewährleistet, sondern auch entweder der Antrieb zur Konzentration gegeben oder durch Unterlassung der politischen Entscheidungen die Begründetheit des gestellten Antrages dargetan. Weiterhin sollte Art. 68 GG dahin gehend ergänzt werden: „Wird der Antrag zur Auflösung des Bundestages von zwei Dritteln der Zahl der Mitglieder des Bundestages unterstützt, so muß der Bundespräsident den Bundestag auflösen." Eine solche Bestimmung würde insbesondere dann von Nutzen sein können, wenn einstimmige Auffassung über die Notwendigkeit von Neuwahlen besteht.

Es ist kein Zufall, daß in Zeiten von Regierungskrisen, insbesondere bei sichtbar schwachen Regierungen, das Verlangen nach einer Parlamentsreform bewußt oder unbewußt deutlich wird. Mit Recht schließt man von der Schwäche der Regierung auf die Schwäche des Parlaments. Während die Regierung aus der Kontinuität der Verwaltung noch institutionelles Vertrauen vom Bürger her erhält, werden die Schwächen des Parlaments aus der Art der kontroversen Arbeitsmethode des Parlaments schneller sichtbar, der Ruf nach der Parlamentsreform um so deutlicher; damit aber auch verbunden die Erwartung, daß Neuwahlen zu tragfähigen Mehrheiten für eine neue starke Regierung führen sollen.

Der Bundestag als Forum

Der Bundestag muß die Aufgaben, die ihm das Verfassungssystem stellt, sichtbarer wahrnehmen. Die Führung der politischen Aussprache im Parlament und außerhalb des Parlaments muß deutlicher vom Bundestag in die Hand genommen werden. Nur das darf letztlich poli-tische Bedeutung gewinnen, was durch die Parteien hindurch von den Fraktionen und damit im Bundestag vertreten wird. Die Gesamtkonzeption der Parteien, ihr Programm, das dadurch gekennzeichnet ist, daß es nicht für bestimmte Gruppen gilt, sondern die nach Auffassung der Anhänger dieser Partei bestmögliche gesamtpolitische Konzeption für das deutsche Volk darstellt, legitimiert die Parteien dazu.

Rechtzeitig die eigene Vorstellung sichtbar zu machen und spätestens dann, wenn eine Frage entscheidungsreif geworden ist, sie im Parlament zu diskutieren, ist daher erforderlich. Es sollte kein Gesetzentwurf von Bedeutung dem Bundestag zugeleitet werden, über dessen Grundzüge nicht bereits, veranlaßt durch einen Antrag, eine Große Anfrage oder eine Regierungserklärung, die verschiedenen Auffassungen dargelegt wurden. Der Bundestag muß also die Stätte der politischen Führung sein. Von hier müssen die Impulse ausgehen, die die Regierung zum Handeln anregen, von hier muß die Meinungsbildung in die gesamte Bevölkerung getragen werden, um in weiterer Auseinandersetzung von ihr wiederum beeinflußt zu werden.

Selbst wenn die Regierung im Bundestag noch keine Vorlage machen kann, sollte sie zunächst die Abgeordneten von der geplanten Regelung unterrichten. Die bisherige Regelung, daß Referentenentwürfe nur interessierten Sachverbänden zur Stellungnahme zugeleitet werden, ist unrichtig, ist falsch. Mit gleichem Recht können auch die Abgeordneten verlangen, daß sie insoweit über den Stand der Entwicklung unterrichtet werden. Dies gilt zumindest für diejenigen Abgeordneten, die den Ausschüssen angehören, zu deren Aufgabenbereich die Behandlung des späteren Gesetzentwurfs gehört. Ohne eine solche Unterrichtung können die Abgeordneten ihre Aufgabe als Mittler zwischen Wählerschaft, Parteien und Gesamtinteresse nicht erfüllen.

Der Bundestag darf seine Sitzung nicht in zwar öffentlicher Sitzung, praktisch aber unter „Ausschluß der Öffentlichkeit" durchführen. Rundfunk und Fernsehen müssen in vollem Umfang zugelassen sein. Im Bundestag muß man den Mut haben, auch zum Fenster hinaus, nämlich zum Bürger und Wähler zu reden, denn sie haben ein Recht darauf, unmittelbar zu erfahren, was die Abgeordneten sagen, unmittelbar zu erfahren, welche Fragen zur Diskussion stehen. Nur durch das Miterleben der öffentlichen Debatte im Bundestag hat der Bürger die Möglichkeit, die einzelnen Standpunkte kennenzulernen, sich damit auseinanderzusetzen und sein Wahlverhalten danach zu orientieren.

Das Europäische Parlament, das so wenig Zuständigkeiten hat, daß man nicht von einem echten Parlament sprechen kann, nimmt gerade diese Funktion besser wahr, als es der Bundestag tut. Es zeigt damit auch, in welcher Weise man auf die politische Entwicklung Einfluß nehmen kann. Vielleicht ist es gerade die Tatsache der mangelnden eigenen Zuständigkeit, die das Europäische Parlament dazu zwingt, auf die Entscheidungen der Hohen Kommission und des Ministerrates auf dem Wege der öffentlichen Debatte Einfluß zu nehmen. Im Bundestag läßt sich auf dem Gebiet der Bildungspolitik, die nur begrenzt zur Zuständigkeit des Bundes gehört, eine ähnliche Entwicklung beobachten. In regelmäßigen Abständen haben Aussprachen im Plenum stattgefunden. Die Bundesregierung erhielt ihre Direktiven, der Bundestag behielt die Behandlung der Fragen in der Hand und hat dadurch Einfluß genommen auf die Gesamtentwicklung der Bildungspolitik, auch soweit sie in die Zuständigkeit der Länder fiel. Dies sollte bewußt auch bei anderen Fragen so gehandhabt werden. Die Tatsache, daß dem Bundestag letztlich die verantwortliche Entscheidung zusteht, darf ihn nicht daran hindern, in eine vorherige ausführliche Aussprache einzutreten.

Die politische Führungsaufgabe des Bundestages

Der Bundestag darf seine Aufgaben nicht ausdehnen, er muß aber die ihm gestellten wahrnehmen. Das Bestreben, mitzuregieren und mitzuverwalten, hindert das Parlament daran, politisch zu führen. Es ist nicht dazu da, anstelle der Regierung zu handeln oder sich das Wissen der Ministerialbürokratie anzueignen. So wie derjenige Abgeordnete, der den Versuch macht, mit ungeheurem Fleiß anstelle der Beamten selbst die Sachauskunft geben zu können, in der Materie buchstäblich untergeht, verliert das Parlament seine Führungsfähigkeit, wenn es sich nicht auf seine eigene Aufgabe besinnt. Politisch führen heißt, die Richtung angeben, unter Abwägung aller Gesichtspunkte das angestrebte Ziel und die zu verwendenden Mittel sichtbar machen und darüber wachen, daß dementsprechend verfahren wird. Die richtigen Fragen zu stellen, Regierung und Verwaltung die richtigen Auf-5 träge zu geben, das ist Aufgabe des Bundestages. Die Gesetze zu verstehen als Endpunkte oder Zwischenstationen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung und sie demgemäß zu gestalten, das ist politische Führungskunst. Die Zuarbeit der Ministerialbürokratie und der Sachverständigen richtig zu bewerten, zu verwerten, sie politisch abzuschätzen und die Interessen gegeneinander abzuwägen, das gehört zur politischen Führung. Damit verbietet sich von selbst das arbeitsame, wichtigtuende Getriebe.

Der Bundestag wird in Zukunft, mehr als er dies bisher getan hat, sich wieder der ersten und historisch immer entscheidenden Frage der Wahrnehmung seines Budgetrechts widmen müssen. Er muß ihm einen neuen Inhalt geben. Für die großen Zusammenhänge, über die es hier zu entscheiden gilt, ist es nahezu uninteressant, wie hoch die allgemeinen Verwaltungskosten eines Ministeriums sind. Entscheidend ist, daß im Bundeshaushaltsplan alle Bereiche der Politik, auch die des gesetzes-freien Raumes, ihren Niederschlag finden. Von der Entscheidung des Bundestages hängt damit ab, welchen Bewegungsraum die Regierung erhält; denn nur wer über Geld verfügen kann, kann Politik machen. Wie noch nie sind die Aufgaben des Staates aus dem Haushaltsplan abzulesen, denn in ihm drückt sich mehr aus als nur die Zahlen für die Befriedigung der Bedürfnisse des Staates. Es ist die große gesellschaftspolitische Umverteilung, die hier sichtbar wird. Es ist die Verflochtenheit der privaten Wirtschaft mit der öffentlichen Hand auf allen Ebenen, es ist die Gestaltung der Sicherheitspolitik und der Sozialpolitik in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten. Die Beratung und Verabschiedung des Haushaltsplanes des Bundes ist daher eine der wichtigsten Handlungen des Bundestages. Dabei kommt es darauf an, in zusammenschauender Betrachtung die Wirtschafts-, Steuer-, Finanz-, Sozial-und Haushaltspolitik, im Bewußtsein, damit die gesamte Volkswirtschaft zu führen, zu prüfen und dementsprechend zu gestalten. Dieser entscheidend wichtigen Aufgabe ist der Bundestag bis heute nicht gerecht geworden. Das liegt ausschließlich daran, daß die Regierung das Parlament noch nie mit den erforderlichen Unterlagen versehen hat, daß noch nie außer einem bescheidenen „Finanzplan" eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung vorgelegt wurde, was das Parlament allzulange hingenommen hat. Erst durch die Verabschiedung eines Gesetzes über die Einsetzung eines Wirtschaftssachverständigenrates hat sich der Bundestag eine ihm zugängliche Quelle erschlossen, die wenigstens zu ihrem Teil die erforderlichen Unterlagen und Erkenntnisse liefert. Der Bundestag muß sich um dieses entscheidende Gesamtproblem in Zukunft seiner zentralen Bedeutung gemäß kümmern; dabei genügen nicht die üblichen Haushaltsberatungen, bei denen die Regierung jedes Jahr immer nur das eine Ziel hat, möglichst rasch ohne große Aussprachen zur Verabschiedung zu kommen. Notwendig ist, daß in Verantwortung gegenüber allen Gruppen und vor dem Ganzen die wirtschafts-und finanzpolitischen Linien aufgezeigt werden, damit sich nicht nur die Regierung danach richten kann, sondern damit der einzelne Bürger seine Entscheidungen zu treffen vermag. Denn das ist eine der entscheidensten Aufgaben des Parlaments: die zukünftigen Entwicklungen erkennbar zu machen, damit jeder sein persönliches und sein wirtschaftliches Verhalten danach einrichten kann. Der Bundestag wird daher danach streben müssen, daß vor der Vorlage des Haushaltsplanes eine ausführliche Debatte im Plenum des Bundestages geführt wird, um die wirtschaftspolitischen, steuerpolitischen, finanzpolitischen Gesichtspunkte deutlich zu machen, ihre Auswirkungen auf die Sozialpolitik und letztlich auf die Haushaltspolitik zu prüfen, um so ein Gesamtkonzept zu zeichnen, innerhalb dessen die Regierung dann ihren Plan vorlegen kann.

Die Notwendigkeit der Beschaffung eigener Entscheidungsgrundlagen

Soll das Parlament führen, dann darf es sich nicht selbst davon abhängig machen, welche Informationen ihm von der Regierung 1 zugehen. Jede Gesetzesvorlage wird eine Begründung haben. Die Begründung selbst ist aber schon eine politische Entscheidung, die auf das Ziel der Regierung ausgerichtet ist. Wichtige Gesichtspunkte, die der von der Regie-rung angestrebten Regelung hinderlich waren, sind darin vielleicht schon ausgelassen, Kompromisse mit interessierten Kreisen ausgehandelt. Der Bundestag sollte aber bei allen Gesetzen das Wohl der gesamten Bevölkerung im Auge haben. Dazu muß er selbst abwägen und prüfen können. Die Möglichkeit dazu hat er aber nur, wenn er alle Erkenntnisquellen nützt, ihm alle Gesichtspunkte bekannt sind.

Der Bundestag muß sich daher eigene Informationsmöglichkeiten schaffen. Diese können allgemeiner Art sein oder aus besonderem Interesse an der Erarbeitung einer Frage entstehen. Der eigene Hilfsdienst des Bundestages zeigt gute Ansätze. Viele wichtige Unterlagen werden aber nicht ausgewertet, da von ihrer Existenz den Abgeordneten nichts bekannt ist. Nur wenigen Abgeordneten, die sich mit einer speziellen Frage befassen und die deshalb in der Lage sind, nach dem Material zu fragen, wird dieses zur Verfügung gestellt. Der Wissenschaftliche Dienst muß sich deshalb dahin weiterentwickeln, daß er sein Wissen und seine Unterlagen von sich aus anbieten kann. Es wäre nützlich, wenn bei der Beratung wichtiger Gesetzesvorhaben in den Ausschüssen ein Vertreter des Wissenschaftlichen Dienstes anwesend wäre, um aus dem Gang der Beratungen zu schließen, welches Material nun verwendet werden müßte. Das Wissen und das Material des eigenen Hilfsdienstes müssen präsent gehalten werden, ja es wäre gut, wenn der Wissenschaftliche Dienst von sich aus ohne Aufforderung Ausschußmitgliedern Material zuleiten würde. Die selbständige Leistungsfähigkeit des Bundestages wird weitgehend davon abhängen, inwieweit es gelingt, den Wissenschaftlichen Hilfsdienst und den Ausschußdienst zu echten Mitarbeitern an der Parlamentsarbeit werden zu lassen.

Selbst bei gutem Ausbau des Wissenschaftlichen Dienstes werden viele Problemkreise bleiben, für die der Bundestag sich eigene Informationen beschaffen muß. Die Beauftragung von Sachverständigen mag hier oft helfen. Die wichtigsten politischen Fragenkomplexe können aber nur in gemischten Kommissionen erarbeitet werden, wenn Sachverständige und Abgeordnete gemeinsam eine Enquete durchführen. Denn es kommt während der Erarbeitung von Fragen durch Sachverständige immer wieder von neuem darauf an, die relevanten politischen Fragestellungen aufzuwerfen, um eine verwertbare Antwort darauf zu bekommen. Das hierzu am besten geeignete Institut, das parlamentarische Untersuchungsrecht mit seiner Möglichkeit, eigene parlamentarische Untersuchungsausschüsse einzusetzen, hat mit seiner einseitigen Entwicklung zu Mißstandsuntersuchungen eine Wendung genommen, die es für die politische Informationsbeschaffung ungeeignet macht. Diese Entwicklung rückgängig zu machen und dem Untersuchungsausschuß eine neue Aufgabe zu geben, erscheint verfehlt, auch wenig aussichtsreich. Man sollte es bei seiner Anwendung für Mißstandsuntersuchungen belassen, wo er im Rahmen des parlamentarischen Kontrollrechts durchaus noch seine Aufgabe hat. Wir brauchen eine Möglichkeit, die Erkenntnisse der Wissenschaft für die politischen Entscheidungen nutzbar zu machen. Die Geschäftsordnung muß die Möglichkeit der Einsetzung parlamentarisch-wissenschaftlicher Kommissionen vorsehen. Es wird am zweckmäßigsten sein, in einem Gesetz die Rechte solcher Ausschüsse zu regeln, denn sie müssen die Mitarbeit aller öffentlichen und privaten Stellen in Anspruch nehmen können. Solche Kommissionen werden dem Bundestag eigene Entscheidungsgrundlagen erarbeiten. Dies wird insbesondere notwendig sein auf den Gebieten, auf denen eine Eigeninitiative des Bundestages seiner Aufgabe angemessen ist, vor allem wenn die Ergänzung oder Änderung der Verfassung geprüft wird. Als Beispiel mögen die Fragen der Finanzreform und der Notstandsgesetzgebung genannt werden. Aber auch Fragenkomplexe wie die der Pressekonzentration können durch die Hereinnahme von geeigneten Persönlichkeiten in solche Kommissionen dazu dienen, neben der Sacherarbeitung gleichzeitig Vorschläge auszuarbeiten, die dem Parlament eine eigene Entscheidungsbasis liefern. Ziel jeder solchen Kommission muß es sein, dem Parlament die erforderliche Unabhängigkeit zu geben, damit es nicht allein auf die Informationen angewiesen ist, die die Regierung ihm zugänglich macht.

Zur eigenen Sachinformation muß in Zukunft gehören, daß der Bundestag sich laufend ein Bild davon macht, welche Auswirkungen die von ihm beschlossenen Gesetze haben. Dies wird zwar nicht bei jedem einzelnen Gesetz geschehen können, aber wenn z. B. ein Sparförderungsgesetz verabschiedet ist, muß der Abgeordnete verfolgen, ob die Erwartungen, die er damit verband, sich auch erfüllen; er muß wissen, wer von dem Gesetz Gebrauch macht, wie hoch die Kosten sind, welcher Erfolg damit erzielt wurde, welche Nebenwirkungen eintraten. Es wird für die Zukunft von großer Wichtigkeit sein, daß der Bundestag die Bundesregierung veranlaßt, solche konkreten Untersuchungen anzustellen und dem Bundestag darüber zu berichten. Zu überlegen wird aber auch sein, ob und inwieweit der Bundestag selbst solche Untersuchungen durchführen will.

Die Eigeninformation des Abgeordneten in seinem Wahlkreis ist zwar eine wichtige Erkenntnisquelle, sie gibt aber meist nur Anlaß zu weiterer Prüfung und ergibt noch kein Bild der generellen Auswirkungen der Gesetze. Trotzdem gibt auch dieser eng umrissene Bereich bereits wichtige Anregungen dafür, ob der Bundestag in den politisch beachtlichen Raum hinein handelt, vor allem aber, ob er seine Bildungsfunktion erfüllt. Die Möglichkeiten, die der Abgeordnete hier wahrnehmen kann, sind von außerordentlicher Bedeutung. Die Mittel, die ihm dafür zur Verfügung stehen, reichen bislang aber nicht aus. Er muß in die Lage versetzt werden, ein „politisches Haus" zu führen, um möglichst viele unmittelbare Informationen aus allen Kreisen der Bevölkerung zu erlangen. Dabei wird er sowohl auf seine Gesprächspartner aufklärend einwirken können als auch wichtige Unterlagen für seine politische Arbeit erhalten.

Der Bundestag muß sich institutionell die erforderlichen Sachinformationen erarbeiten und erarbeiten lassen. Er muß durch jeden einzelnen Abgeordneten die politisch-psychologische Situation in allen Bevölkerungsschichten kennenlernen. Jeder einzelne Abgeordnete ist verpflichtet, seine Erkenntnisse in den Aussprachen der Fraktionen und in den Aussprachen im Plenum des Bundestages vorzutragen, damit der Bundestag als Gesamtheit im Bewußtsein der Auswirkungen jeder Maßnahme handeln kann.

Politische und sachliche Auseinandersetzung im Bundestag

Das Plenum des Bundestages ist der Ort der Debatten und des Handelns der Gesamtkörperschaft. Hier muß die Regierung Rede und Antwort stehen, hier kann sie ihre Vorstellungen vor dem ganzen Volke vertreten, und hier hat die Opposition ihren Platz, um die Regierung zur Stellungnahme zu zwingen und ihrerseits ihre politischen Ziele und alternativen Vorstellungen darzulegen. Um der Plenarsitzung des Bundestages den Rang zu geben, den sie einnehmen muß, will der Bundestag seiner Aufgabe gerecht werden, muß die Plenarsitzung von der Behandlung von Fragen, die hier nicht ihren richtigen Platz haben, entlastet werden; alle politischen Aussprachen müssen in das Plenum gebracht werden. Die Aussprachen im Plenum haben und werden auch in Zukunft verschiedenen Charakter haben. Während die Regierungserklärung und die Erwiderung der Opposition hierzu eine generelle Aufzeichnung des politischen Wollens wiedergibt, wird der Bundestag bei der Erörterung einer Gesetzesvorlage in der ersten Beratung seine Grundsätze sichtbar machen, bei der Verabschiedung in der dritten Lesung aber Wert darauf legen müssen, vor der Öffentlichkeit klarzulegen und deutlich zu machen, daß diejenigen, die dem Gesetz zustimmen, die damit zusammenhängenden Fragen zu Ende gedacht haben, daß jeder Einwand, jede Gegenvorstellung ihre Antwort erhält, und daß die letztlich entscheidende Gruppe, die Mehrheit, weiß, warum sie so handelt. Die Opposition wird dabei zeigen, daß sie begründeten Anlaß hat, einem Gesetz nicht zuzustimmen, oder — soweit sie dem Gesetz zustimmt — daß in diesem Punkt die politischen Auffassungen übereinstimmen.

Es gibt Aussprachen, bei welchen Regierung und Regierungsmehrheit in gleicher Weise wie die Opposition deutlich machen, daß sie einen Fragenkomplex zu Ende gedacht haben, daß sie mit einer Regierungserklärung oder mit einer Großen Anfrage die Gegenseite mit ihrer eigenen Vorstellung konfrontieren, sie dazu zwingen, die Meinung öffentlich hierzu auszusprechen. Die zu Ende gedachte, die vorgeformte Debatte ist ein wesentlicher Teil, um die Zuverlässigkeit der Führung deutlich zu machen. Dabei steht die Führung sowohl der Mehrheit als auch der Minderheit zu, denn die Minderheit kann in gleichem Maße aufzeigen, daß sie einen bestimmten Fragenkomplex entscheidungsreif geprüft hat und daß sie daraufhin klare politische Entscheidungen zu treffen vermag.

Von ranggleicher Bedeutung ist die nicht zu Ende geführte Debatte, die eine Zwischenstation in der Meinungsbildung darstellen kann und muß; nicht zu Ende geführt deshalb, weil sichtbar ist, daß Gründe und Gegengründe noch der Prüfung und Abwägung bedürfen; nicht zu Ende geführt, um dem Partner die Möglichkeit zu geben, seinen eigenen Standpunkt zu überprüfen; vielleicht auch nicht zu Ende geführt, weil noch Ereignisse oder Umstände eintreten können, auf die der Bundestag selbst keinen Einfluß zu nehmen vermag. Die Verschiedenartigkeit der Debatten muß deutlich zum Ausdruck kommen. Jede hat ihre eigene Funktion auf dem Gebiete der politiB sehen Führungs-und Meinungsbildung. Jede dieser Debatten muß deutlich machen, daß die Fraktionen des Bundestages und die Regierung keine Scheu haben, vor der Bevölkerung offen ihre Gegensätze darzulegen und ihre Meinungsverschiedenheiten auszutragen, daß sie ehrlich darum ringen, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen.

Es ist nicht gut, wenn die meisten Gesetz-entwürfe ohne Wortmeldungen in der ersten Beratung an die Ausschüsse überwiesen werden. Sicherlich enthält nicht jeder Gesetz-entwurf politisch wichtige Entscheidungen. Aber bei allen, und das sind doch wohl die meisten, in denen politische Fragen entschieden werden sollen, darf das Plenum nicht darauf verzichten, dem Ausschuß die politische Linie vorzuzeichnen, nach welcher sich die Sacherörterung richten soll. Es würde schon genügen, die Möglichkeit zu schaffen, daß jeder Abgeordnete, aber auch jede Fraktion, mindestens fünf Tage vor der ersten Beratung ihre politische Bewertung des Entwurfes beim Präsidenten einreichen könnte. Wenn alle Abgeordneten diese Stellungnahmen drei Tage vor der ersten Beratung in Händen haben, wird es in vielen Fällen eine Debatte geben müssen, will man sich nicht vorwerfen lassen, man habe zu dem Vorbringen eines anderen geschwiegen.

Die zweite Beratung eines Gesetzentwurfs muß geändert werden. Die Sacherörterung mit dem Antragsrecht jedes einzelnen Abgeordneten ist notwendig; ihrem Wesen nach muß die zweite Beratung eine Ausschußberatung sein, an welcher sich alle Mitglieder des Hauses beteiligen können, aber nicht müssen.

Die dritte Beratung muß dagegen einen betont politischen Rang erhalten. Hier können nur Anträge politischen Gehalts gestellt werden, daher müssen sie von 15 Abgeordneten unterstützt werden. Hier muß noch einmal deutlich gemacht werden, warum man dafür, warum man dagegen ist. Während die erste Beratung echte Debatte ohne Abschluß sein muß, muß die dritte Beratung das Plenum zum Ort der Begründung machen.

Das Plenum zur politischen Bühne zu machen verlangt, daß alle anderen Fragen bereits in den Ausschüssen behandelt werden müssen, so daß die politische Führung beim Plenum liegen kann. Die Ausgestaltung der Ausschußsitzungen muß dieser Forderung entsprechen. Es kann nicht weiterhin hingenommen werden, daß ein vom Plenum an einen Ausschuß überwiesener Gesetzentwurf nie wieder in das Plenum kommt und daß das Plenum mit der Überweisung sich seiner eigenen Rechte begibt. Eine Gruppe in Fraktionsstärke muß die Möglichkeit haben, sechs Monate nach der Überweisung im Plenum einen Bericht des Ausschußvorsitzenden oder der Berichterstatter über die Behandlung des Entwurfs zu verlangen, dem nach jeweils weiteren drei Monaten auf Antrag erneut ein Bericht folgen muß. Es ist unerträglich, daß durch Nichtbehandeln von Vorlagen eine zufällige oder eine bestimmte Mehrheit eines Ausschusses oder der ganze Ausschuß praktisch eine politische Entscheidung treffen kann, die einer Aushöhlung des Initiativrechts und der politischen Entscheidungsbefugnis gleichkommt. Es ist auch nicht richtig, wenn bei der Überweisung von Denkschriften, z. B.des Berichts des Wehrbeauftragten, es dem Ausschuß überlassen bleibt, ob er dem Plenum Bericht erstatten will. Das Plenum muß in Zukunft seinen Willen klar ausdrücken, ob es einen Bericht erwartet oder nicht. Das stille Untergehenlassen von wichtigen Dokumenten, die Anlaß zu politischer Erörterung sein müssen, darf nicht weiterhin geduldet werden.

Die politische Aussprache im Plenum verlangt die Vorbereitung durch die Ausschüsse

Das Plenum darf nicht der Platz der Sacherkundung sein, soweit es über die Fragestunde hinausgeht. Dazu sind die Ausschüsse da. Die Bestimmung des § 60 Abs. 3 GO, daß sich die Ausschüsse nur mit den ihnen überwiesenen Gegenständen befassen dürfen, darf deshalb nicht weiterhin dahin ausgelegt werden, daß nur die ausdrücklich ihnen überwiesenen Gesetzentwürfe behandelt werden dürfen. Die Ausschüsse wurden so gebildet, daß jedem Ministerium ein Ausschuß gegenübersteht. Wenn das Plenum das Kontrollrecht für sich allein von vornherein in Anspruch nimmt, dann erfolgt lteine Kontrolle, denn das Plenum kann nicht in offener Sitzung die Erarbeitung eines Sachgebietes durchführen. Das können nur die Ausschüsse tun. Sie müssen das Recht haben, in sinngemäßer Anwendung des Art. 43 GG im Ausschuß von den Ministern oder deren Beauftragten Rede und Antwort zu verlangen. Ein Viertel der Mitglieder eines Ausschusses muß die Möglichkeit haben, im Ausschuß jeden Punkt des Ressorts auf die Tagesordnung setzen zu lassen, zu erörtern und zu klären.

Jeder Ausschuß muß die Pflicht haben, dem Plenum alle sechs Monate einen schriftlichen Bericht über die durchgeführten Kontrollsitzungen vorzulegen. Abgeordnete in Fraktionsstärke müssen das Recht besitzen, über jeden im Bericht aufgeführten Punkt eine Aussprache zu verlangen. Nur auf diese Weise können die Kontrollrechte des Bundestages überhaupt im Plenum wirksam werden.

Eine solche Durchführung der Beratungen eines Gesetzentwurfs verlangt eine grundsätzliche Umstellung der Ausschußberatungen bei allen wichtigen Gesetzen. Wird bei der ersten Beratung die politische Grundlage für die Ausschußbehandlung gegeben, so muß darauf die öffentliche Sachinformation der Ausschüsse folgen. Dazu gehört die Anhörung von Sachverständigen und Interessenten. Nach ausreichender eigener Information stellt sich dem Ausschuß die Aufgabe, einen Interessenausgleich zu finden. Dies muß in der Empfehlung an das Plenum als Vorlage zum Ausdruck kommen. Nur die Vorlage des Ausschusses ist die Grundlage der zweiten Beratung, in der alle Abgeordneten und durch sie hindurch auch alle beteiligten Kreise die Fragen erneut anschneiden und Abänderungsanträge stellen können. Die Sacherörterung in der Öffentlichkeit wird damit fortgesetzt und zu Ende geführt.

Chancengleichheit als oberstes parlamentarisches Prinzip

Die politische Debatte im Plenum muß nach dem Grundsatz der Chancengleichheit geleitet werden. Die Zweiteilung im Parlament muß ihren Ausdruck in der Aussprache finden. Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen einerseits und die Opposition andererseits sind die Partner. Was nützt es, wenn ein Minister nach dem anderen spricht, wenn daran anschließend die Abgeordneten der Regierungsfraktionen, nicht aber die der Opposition das Wort erhalten. Demokratie ist die stete Aufgabe, den anderen zu überzeugen oder den anderen Argumenten die eigenen mit guter Begründung gegenüberzustellen. Aussprachen im Bundestag, die Monologen gleichkommen, sind falsch. Sie dienen nicht der Demokratie, denn sie haben keine Überzeugungskraft, ja sie erwecken viel eher den Eindruck der Hilflosigkeit. Nichts aber ist schlimmer, als wenn die Mehrheit einen Beschluß fassen will und dabei ihre eigene Unsicherheit deutlich wird; das wirkt sich in der Bevölkerung als Führungslosigkeit aus.

Das ganze innerparlamentarische Geschehen des Bundestages, alle Sacherörterungen'müssen unter den Grundsatz der Chancengleichheit gestellt werden. Dazu gehört auch die Möglichkeit, die Aussprache über jeden Punkt durchsetzen zu können. Mit Recht sieht die Geschäftsordnung vor, daß die Aussprache über eine Große Anfrage erzwungen werden kann. Es muß die Möglichkeit gegeben sein, über die Sache zu sprechen, niemand darf es verhindern können. Ist aber eine Sachfrage schon weitergediehen, ist sie bereits schon so entscheidungsreif geworden, daß ein Gesetz-entwurf vorgelegt werden konnte, so kann die Mehrheit nach derzeit bestehendem Recht gleichwohl die Aussetzung auf die Tagesordnung verhindern. Zwar kann eine einmal auf die Tagesordnung gesetzte Beratung nur mit Zustimmung der Antragsteller auf länger als vier Wochen vertagt werden, aber die Aussetzung selbst kann die Mehrheit jederzeit verhindern. Die Chancengleichheit verlangt, daß einem Antrag auf Aussetzung eines Punktes auf die Tagesordnung, wenn es von Abgeordneten in Fraktionsstärke beantragt wird, spätestens innerhalb einer Woche entsprochen werden muß.

Wenn das Grundgesetz einem Drittel der Abgeordneten das Recht gibt, die Einberufung einer Sondersitzung zu verlangen, so kann dies nicht heißen, daß damit lediglich die körperliche Anwesenheit verlangt werden kann, denn der Begriff Sitzung kann nur dahin verstanden werden, daß der Bundestag zu einer Beratung zusammentritt. Dieses Drittel muß daher auch das Recht haben, zu verlangen, daß ein bestimmter Punkt auf die Tagesordnung gesetzt wird. Wenn ein Viertel der Mitglieder des Bundestages die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verlangen kann, und die Geschäftsordnung folgerichtig dazu bestimmt, daß der Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses das Untersuchungsthema bezeichnen müsse, so ist zwingend, daß dem Verlangen eines Drittels auf Einberufung einer Sondersitzung das Recht immanent ist, zu bestimmen, mit welchem Thema sich die Sondersitzung zu befassen hat.

Der einzelne Abgeordnete als belebendes Instrument der freien Aussprache

Das Sich-Gegenseitig-Uberzeugen-Wollen ist im Bundestag zu einem Unter-allen-Umständen Recht-Haben-Wollen geworden. Sicher ist es notwendig, bei Gesetzesbeschlüssen mit überzeugender Begründung zu einer Entscheidung zu kommen. Es ist auch notwendig, bei der Entscheidung von Fragen, wo es um das Entweder-Oder geht, klare Entscheidungen zu treffen. Bei der vorgeformten Debatte wird manches Argument, dessen Überzeugungskraft evident ist, beiseite geschoben, da derzeit nur vorbereitete Debatten geführt werden mit dem Ziel, den schon schriftlich vorliegenden Entschließungsantrag zu rechtfertigen. Es fehlt im Bundestag die nicht zu Ende geführte Debatte, die allen Abgeordneten die Möglichkeit eröffnen würde, hernach in Ruhe für sich allein oder im Kreise der Freunde den eigenen und den Sachvortrag der anderen nochmals zu prüfen. Die Einführung der aktuellen Stunde ist eine nicht unbedeutende Verbesserung der Möglichkeiten hierzu; sie reicht aber nicht aus. Die Aussprachen im Bundestag sind zu staatspolitisch, jede Fraktion will und muß bisher eine zu Ende gedachte Konzeption vorlegen. Ist das nicht möglich oder noch nicht möglich, und bei vielen Fragen ist dies jahrelang so, dann unterbleibt bislang die Aussprache. Unsicherheiten in der Bevölkerung sind die Folge.

Es müssen im Bundestag Abgeordnete, die großes politisches Ansehen haben, in den Fraktionen keine Ämter bekleiden und daher für ihre Person sprechen können, ohne daß ihre Fraktion zwangsläufig mit ihren Ausführungen identifiziert wird, eine eigene Aufgabe übernehmen. Sie müssen Fragen, die der Aussprache bedürfen, bei denen ein echter meinungsbildender Gedankenaustausch notwendig ist, von sich aus aufgreifen. Dadurch wird eine freie Aussprache erreicht werden können. Die Fraktionen und die Bundesregierung müssen ein Interesse daran haben, daß solche Aussprachen durchgeführt werden; nur durch sie werden die starren Fronten aufgelöst. Der Bundestag verfügt über eine genügend große Zahl von Abgeordneten, die das Format und das Ansehen haben, solche Debatten zu führen; es gibt sie in allen Fraktionen. Das Ansehen dieser Abgeordneten und damit auch das Ansehen und die Bedeutung des Bundestages wird dadurch gehoben werden. Es werden nicht allein die parteiintegrierten Standpunkte deutlich, sondern die Vielfalt weiterer Auffassungen. Die Durchführung solcher Debatten verlangt von den einzelnen Rednern ein Höchstmaß an politisch-konzentrierter Darstellung, soll es nicht zu einem wertlosen Gespräch werden. Solche Aufgabe in anderer Form erwächst aber auch neuen Abgeordneten, die in fortgeschrittenem Lebensalter ins Parlament kommen und die auf Grund ihrer bisherigen Laufbahn und Stellung ausreichende Autorität mitbringen, um im Plenum Fragen stellen zu können, zum Beispiel nach der Begründung eines Antrages darum zu bitten, noch weiteres vorgetragen zu erhalten, da sie weder von der Notwendigkeit noch vom Gegenteil überzeugt wurden. Bisher wird im Bundestag nicht versucht, zu begründen und zu überzeugen; dadurch erhalten die Aussprachen den Charakter von Pflichtübungen, deshalb können sie nicht überzeugend für die Öffentlichkeit wirken. Sie sind aus sich selbst nur noch den Experten verständlich. Gerade davon muß sich das Plenum aber lösen, seine Sprache muß allgemeinverständlich, die Sacherörterung in ihm vollständig werden. Dies muß von Abgeordneten, die sich um die richtige Bewertung bemühen, erzwungen werden.

Möglichkeiten für die Verwirklichung der Pflicht zur parlamentarischen Kontrolle

Von besonderer Wichtigkeit ist, daß der Bundestag neue Formen entwickelt, um die ihm obliegende Kontrolle der Regierung und der Verwaltung wirkungsvoll durchführen zu können. Ort der Aussprache über Kontrollen ist das Plenum; die Entscheidung über die zu treffenden Maßnahmen liegt letztlich bei der Mehrheit des Bundestages. Die Einleitung von Kontrollmaßnahmen, insbesondere ihre Erzwingung, muß aber von einer Minderheit erreicht werden können; dies wird in der Regel die Opposition sein, da die Regierungsfraktionen nicht das Bedürfnis haben, in aller Öffentlichkeit Fehler „ihrer" Regierung darzulegen. Das Wort des Abgeordneten Hoogen, der als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses im Plenum erklärte: „Wir schießen doch kein Eigentor!", charakterisiert das verschieden gelagerte Aufklärungsbedürfnis bei Mehrheit und Opposition. Die Aufklärung kann nicht im Plenum erfolgen, auch Ausschüsse erweisen sich in vielen Fällen als ungeeignet. Erforderlich ist der Ausbau und die Neuschaffung von Einrichtungen, die auf Weisung des Bundestages oder aus eigenem Recht konkrete Einzelprüfungen durchzuführen vermögen, die darüber dem Bundestag berichten und auf diese Weise die Grundlagen für die politische Entscheidung erarbeiten. 1. Die Kontrollmaßnahmen, deren sich das Parlament auch weiterhin ohne Hilfen bedienen kann, sind die Fragestunde, die aktuelle Stunde, die Kleinen und die Großen Anfragen. In der Fragestunde wird die ganze Vielfalt der politischen Verantwortung deutlich. Der einzelne Abgeordnete kann von sich aus initiativ werden. Man sollte aber einen Weg finden, die rein regionalen Fragen, die ohne Auswirkungen auf die Politik sind und die auch nicht als charakteristisch für das Verhalten von Regierung und Verwaltung angesehen werden können, auf den Weg der schriftlichen Beantwortung zu verweisen. Das gleiche sollte für Fragen gelten, die lange Antworten der Minister erfordern. Die Fragestunde muß zu einem präzisen Frage-und Antwortspiel mit politischer Pointe weiterentwickelt werden. Die Minister müssen grundsätzlich selbst anwesend sein, die gestellten Fragen müssen ihnen spätestens Anlaß sein, sich mit einem Fragenkomplex zu befassen, die Zusatzfragen müssen hart und bedrängend sein. Der Be-B obachter muß nach einer Fragestunde den Eindruck mitnehmen, daß die Abgeordneten die Minister kontrollieren, und der Beobachter muß sich ein Werturteil über „Prüfer" und „Geprüften" bilden können. Präzise Fragen, knappe Antworten sind anzustreben. Die Möglichkeiten der aktuellen Stunde sind bislang nur andeutungsweise genutzt worden. Gerade wenn aus der Fragestunde heraus sich die Notwendigkeit für den Abgeordneten ergibt, aus dem Stand des Fragens herauszutreten, selbst seine Meinung zu sagen und damit unmittelbar in die Sacherörterung einzutreten, kann sich der für den Fortgang der Willensbildung besonders wichtige Meinungsaustausch vollziehen. Die Kürze der zugebilligten 5-Minuten-Redezeit zwingt einerseits zur Konzentration, zeigt aber auch zugleich die Grenzen dieser Aussprachen.

Die Regierung stärkt ihre Stellung, wenn sie wichtige Fragen in Form von Regierungserklärungen zur Debatte stellt. Die Opposition zwingt die Regierung zu solcher Stellungnahme, wenn sie eine Große Anfrage einbringt. Sowohl Regierung als auch Opposition wie auch die Regierungsfraktionen haben aus früheren Erkenntnissen Folgerungen gezogen und sich im ersten Jahr der 5. Wahlperiode dieser Möglichkeiten besser bedient. 2. Zur Sicherung der staatsbürgerlichen Position der Soldaten, die einem besonderen Gewaltverhältnis unterworfen sind, wurde das Hilfsorgan Wehrbeauftragter geschaffen. Der Bundestag hat noch kein richtiges Verhältnis dazu gefunden; er kann sich dieses Hilfsorgans noch nicht sinnvoll bedienen. Zunächst muß man verlangen, daß der Verteidigungsausschuß seiner Verpflichtung nachkommt, allgemeine Richtlinien für die Arbeit des Wehrbeauftragten zu erlassen oder dem Bundestag zum Erlaß vorzuschlagen. Es ist ausreichend Erfahrung gesammelt worden, um eine solche Arbeitsgrundlage zu schaffen. Sodann muß der Verteidigungsausschuß, oder auf seinen Antrag der Bundestag, von der Möglichkeit, den Wehrbeauftragten mit der Prüfung bestimmter Vorgänge zu beauftragen, auch Gebrauch machen. Wenn z. B. ein Schießunglück geschieht, sollte der Wehrbeauftragte als unabhängiges, an keine Weisung gebundenes Hilfsorgan des Bundestages dem Bundestag oder dem Verteidigungsausschuß möglichst rasch einen Untersuchungsbericht vorlegen können, der nicht nur das wiederholt, was auch das Ministerium berichten wird, der vielmehr in die Untersuchungen und in den Bericht mit einbeziehen muß, ob die von zuständiger Stelle erlassenen Anordnungen und Vorschriften richtig und zweckmäßig sind, denn es muß dem Bundestag darauf ankommen, nicht nur Schuldige festzustellen, sondern darauf hinzuwirken, zukünftige Fehler zu vermeiden. Der Bundestag wird sich in Zukunft seines Hilfsorgans bewußter bedienen müssen. 3. Die Nützlichkeit des Hilfsorgans Wehr-beauftragter zeigt sich, wenn man sich die Hilflosigkeit und Abhängigkeit des Bundestages auf den Gebieten der zivilen Verwaltung vergegenwärtigt. Er hat kein Instrument, um die Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaufbaus nachzuprüfen; die Organisationsgewalt der Bundesregierung wird nahezu ohne Kontrolle hingenommen, mag es sich um die Bildung neuer Ministerien, um die Schaffung von Bundesoberbehörden oder von Außenstellen handeln. Weder kann der Bundestag von sich aus ermessen, wie stark die Gesetze die Verwaltung belasten, noch hat er einen Überblick, was sie kosten. Aber auch auf dem einem Parlament notwendigerweise besonders wichtigen Gebiete der Behandlung der einzelnen Bürger hat das Parlament nahezu keine Einwirkungsmöglichkeiten.

Die Bundesrepublik ist ein bis ins Kleinste durchgeformter Rechtsstaat; die öffentliche Gewalt darf den Bürger in seiner Rechtssphäre nur insoweit berühren, als es ein Gesetz ausdrücklich vorschreibt. Gegen jede solche Maßnahme ist die Anrufung der Gerichte gegeben. Diese Seite des Rechts unterliegt nicht der Nachprüfung des Bundestages, das ist Angelegenheit der Rechtsprechung und muß es bleiben. Es geht um die Art und Weise des Umganges der Behörden mit den Bürgern bei der Anwendung der Gesetze, es geht um die Würde des Menschen. Die Verflochtenheit des persönlichen Lebens jedes einzelnen mit den Maßnahmen des modernen Vorsorgestaates bringt ihn in Abhängigkeit von den Behörden, er steht, wenn auch nicht in gleichem Maße wie ein Soldat, in einem ständigen Gewaltverhältnis zum Staat, das sich bei den einzelnen Staatsbürgern auf die verschiedensten Gebiete erstreckt. Darüber zu wachen, daß der Bürger menschenwürdig leben kann, daß das Gewaltverhältnis nicht zur unerträglichen Qual wird, daß es insbesondere nicht mißbraucht wird, das ist eine vorrangige, politisch höchst bedeutungsvolle Aufgabe des Bundestages. Er vermag derzeit dieser Aufgabe nicht gerecht zu werden. Er beschränkt sich darauf, Petitionen der Bürger entgegenzunehmen und ihnen im Rahmen seiner ungenügenden Möglichkeiten nachzugehen. Dadurch wird das Vertrauen des Bürgers in das Parlament unterhöhlt, und die Verwaltung wird weder geschützt noch erzogen. Denn es gehört auch zu dieser Aufgabe, dem Bürger erforderlichenfalls sagen zu müssen, daß die Verwaltung richtig und angemessen gehandelt hat; das trifft in 90 °/o der Fälle erfahrungsgemäß zu. Aber auch in diesen Fällen, sicherlich in den verbleibenden 10%, muß sich das Parlament die Möglichkeit eröffnen, den Einzelfall nachzuprüfen. Dazu bedarf es der Einrichtung eines Parlamentsbeauftragten, dessen Zuständigkeit auf alle zivilen Bereiche mit Ausnahme der Justiz auszudehnen wäre, und der im Einzelfall auf Antrag eines Bürgers oder nach eigener Kenntnis tätig würde. Der Petitionsausschuß muß das Recht haben, auf Verlangen eines Viertels seiner Mitglieder dem Beauftragten eine anhängige Petition zur Klärung des Sachverhalts zu überweisen. Der Beauftragte wird keine Entscheidungsbefugnisse erhalten dürfen. Er wird jährlich dem Bundestag einen Bericht vorzulegen haben. Einzelaufträge und besonders wichtig erscheinende Fälle werden Anlaß zu sofortigem Bericht geben, der im Bundestag zu einer Aussprache führen muß. Ein Minister, der solchermaßen in der Öffentlichkeit für Fehler in seiner Verwaltung einstehen muß, wird das Menschenmögliche tun, um für die Zukunft ähnliches zu vermeiden. Erreicht er dieses Ziel nicht, so wird damit seine Ungeeignetheit dargetan. Der mündige Bürger darf nicht nur als Wähler, der eine politische Entscheidung trifft, damit regierungsfähige Mehrheiten im Parlament entstehen, aktiv werden; er muß auch den Staat in allen seinen Erscheinungsformen laufend mitüberwachen und mitgestalten, was nur durch sein Parlament möglich ist. Der Bundestag muß sich daher in die Lage versetzen, dieser für das Staatsbewußtsein so wichtigen Frage gerecht zu werden. Die Tatsache, daß im parlamentarischen System eine Partei oder eine Gruppe durch ihre Mehrheit im Parlament dessen Machtposition und dazu die Regierung in Händen hat, führt bei vielen Bürgern zu dem Verdacht, daß Parteilichkeit herrsche und sich auf ihn auswirke. Daß Parteilichkeit in solchem Sinne Korruption ist und als menschliches Versagen, nicht aber als Wesensmerk13 mal eines Systems betrachtet werden kann, muß durch die stete Wachsamkeit des Bundestages jedem Bürger sichtbar werden. 4. Die Wahrnehmung des Budgetsrechts verlangt, wie schon oben dargestellt, die Beratung durch den Bundestag in der Erkenntnis, daß der staatliche Haushalt in seiner Verflochtenheit mit der gesamten Volkswirtschaft der besonderen Einwirkungsmöglichkeit des Parlaments zugänglich ist. Die Kontrolle, ob der Haushalt auch entsprechend dem politischen Wollen vollzogen wurde, kann daher nicht eine Frage der Rechnungsprüfung sein, die erfahrungsgemäß erst mehrere Jahre später den Bundestag beschäftigen kann. Es ist anzuerkennen, daß der Bundesfinanzminister sich darum bemüht, möglichst schnell nach Ablauf eines Rechnungsjahres dem Haushaltsausschuß einen politischen Bericht über das abgelaufene Jahr zu geben. Der Haushaltsausschuß muß auch richtigerweise diesen Bericht entgegennehmen und ihn prüfen und erörtern. Er muß aber in der Lage sein, dem Plenum einen Bericht darüber vorzulegen, und er muß dadurch veranlassen können, daß darüber im Plenum eine ausschließlich politische Aussprache stattfindet, die nicht mit einer Fülle von Rechnungsprüfungsbemerkungen belastet ist. Der Abschlußbericht kann schon in den Monaten Februar oder März gegeben werden, in den vergangenen Jahren also noch vor Abschluß der Haushaltsberatungen für das laufende Kalenderjahr. Notwendig ist die politische Auswertung des Jahresabschlusses und die unmittelbare Diskussion über die daraus zu ziehenden Folgerungen.

Unabhängig davon muß das Parlament die Durchführung des Haushaltsplanes bis ins einzelne nachprüfen; der Beschluß, der Bundesregierung Entlastung zu erteilen, hat die politische Schlußfolgerung dieser Prüfung zu sein. Zur Durchführung dieser Aufgabe im einzelnen bedarf der Bundestag der Arbeit des Rechnungshofes. Dieser ist eine in 250 Jahren bewährte Einrichtung, die zur Erhaltung der Sauberkeit in der Staatsverwaltung viel beigetragen hat. Durch den Rechnungshof werden die Maßnahmen der Regierung und der Verwaltung in bezug auf die entstandenen Kosten nach Rechtmäßigkeit und Angemessenheit überprüft. Der Rechnungshof hat daher richterliche Unabhängigkeit; das ist gut so und soll auch so bleiben. Gleichwohl erscheint es systemwidrig, wenn der Präsident des Rechnungshofes von der Regierung ernannt wird, und wenn der Rechnungshof dem Bundestag seine Berichte über den Finanzminister zuleiten muß. Der Rechnungshof als materieller Hilfsdienst des Bundestages zur Durchführung seiner Kontrollaufgaben muß nicht nur unabhängig sein, er muß darüber hinaus etwas von der Machtposition des Parlaments erhalten, um damit ausgestattet Regierung und Verwaltung überprüfen zu können. Dies würde am einfachsten erreicht durch die Wahl des Präsidenten des Bundesrechnungshofes durch den Bundestag und durch das Recht des Bundestages, unmittelbar den Rechnungshof mit der Durchführung von Prüfungen beauftragen zu können, zu welchen das Recht und die Pflicht des Rechnungshofes zur unmittelbaren Berichterstattung an den Bundestag treten würde. Auch soweit der Präsident als Bundesbeauftragter der Bundesregierung für die Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung tätig ist, muß das Parlament sein Sachwissen unmittelbar in Anspruch nehmen können. Im jährlichen Haushaltsgesetz gibt sich der Bundestag bislang das Recht, den Rechnungshof mit der Erstattung von Gutachten zu beauftragen. In der Praxis ist daraus wenig Nutzen gezogen worden, da es eines Mehrheitsbeschlusses des Haushaltsausschusses bedarf. Charakteristisch für das Verhalten einer Mehrheit ist der Fall, daß im Haushaltsausschuß die Mehrheit einen Antrag ablehnte, den Rechnungshof zu beauftragen, unverzüglich einen Vorgang zu prüfen, der jahrelang die Öffentlichkeit wegen Verdachts der Bestechung bei der Beschaffung von Rüstungsgütern beschäftigte. Das ist erklärlich, denn wie bereits ausgeführt, deckt sich das Aufklärungsbedürfnis der Mehrheit nicht mit dem der Opposition und dem der Öffentlichkeit. Es muß daher ein Viertel der Mitglieder des Bundestages oder ein Viertel der Mitglieder des Haushaltsausschusses genügen, dem Rechnungshof einen entsprechenden Auftrag zu geben. Dabei empfiehlt es sich, daß das Parlament auch die Durchführung des Auftrages überwacht, denn die Erfahrung zeigt, daß die erforderlichen Auskünfte der Ministerien auch dem Rechnungshof gegenüber oft sehr verzögert und daß sie oft nur unvollständig abgegeben werden. 5. Es bleibt dann dem Bundestag nur der Weg übrig, durch die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses die Sachaufklärung durchzuführen. Die Mißstandsuntersuchungen werden auch für die Zukunft ihre Berechtigung haben. Da aber die Mehrheit „kein Eigentor schießen“ will, sind die Ausschüsse, wenn sie nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen zusammengesetzt sind, nicht in der Lage, echte Sachaufklärung herbeizuführen. Solange darüber hinaus der „betroffene" Ressortminister die Aussagegenehmigung verweigern kann, laufen die Ausschüsse Gefahr, zur Farce zu werden. Die Untersuchungsausschüsse müssen daher gleich dem Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit haben, einen Beamten selbst von der Schweigepflicht zu entbinden. Außerdem muß die Zusammensetzung der Ausschüsse unter Wahrung des Stärkeverhältnisses der Fraktionen so erfolgen, daß die Erforschung der Wahrheit nach Möglichkeit gesichert ist. Dazu ist erforderlich, die Zahl der Mitglieder zu ergänzen. Am Anfang einer Wahlperiode sollte deshalb die Zahl der Mitglieder der evenutell zu bildenden Untersuchungsausschüsse bereits von vornherein festgelegt werden. Dies wären in der 5. Wahlperiode voraussichtlich — wie bisher immer — sieben Mitglieder; davon würde die CDU/CSU vier und die SPD drei stellen. Die Zahl sieben muß nun durch die Flinzunahme von Bundesrichtern so erhöht werden, daß unter Hinzu-rechnung ihrer Zahl jede Gruppe zur Mehrheit werden kann. Dies wäre bei drei Bundesrichtern der Fall. Der Untersuchungsausschuß bestünde dann aus 10 Mitgliedern, nämlich vier CDU/CSU-Abgeordneten, drei SPD-Abgeordneten und drei Bundesrichtern. Um allen Manipulationen vorzubeugen, müßte der Bundestag am Anfang seiner Wahlperiode für deren Dauer drei Bundesrichter und drei Stellvertreter aus der von den Präsidialräten der oberen Bundesgerichte vorzuschlagenden doppelten Zahl wählen. Den Vorsitz im Untersuchungsausschuß muß ein Bundesrichter führen. Die Untersuchungsausschüsse dürfen sich nur mit der Sachaufklärung des ihnen überwiesenen Beweisthemas beschäftigen. Berichterstatter und Mitberichterstatter können nur Abgeordnete sein. Es ist Angelegenheit des Plenums, aus dem vorgelegten Bericht die erforderlichen Folgerungen zu ziehen. Sachanträge können wie immer von einer Zahl von Abgeordneten in Fraktionsstärke gestellt werden. Da — wie oben dargestellt — parlamentarisch-wissenschaftliche Kommissionen geschaffen werden müssen, um im Rahmen des Erforderlichen dem Bundestag die notwendigen Eigeninformationen zu geben, kann die Tätigkeit der Untersuchungsausschüsse auf die Untersuchung von Mißständen beschränkt bleiben. Diese Aufgabe durchzuführen müssen sie aber auch in ihrer personellen Zusammensetzung geeignet sein, da sonst das stärkste Mittel, das das Parlament hat, um die Regierung und die Verwaltung zu kontrollieren, sich auch weiterhin zum Schaden der parlamentarischen Demokratie als ungeeignet zeigen wird.

Parlamentsreform als ständige Aufgabe

Diese Vorschläge zu einer Parlamentsreform sollen helfen dazu beizutragen, daß der Bundestag die ihm obliegenden Aufgaben zeitgerecht erfüllen kann. Dabei muß man sich darüber im klaren sein, daß es keine letztlich befriedigende Ausgestaltung des Parlamentes geben kann. Die Verhältnisse ändern sich und damit die Anforderungen, neue Möglichkeiten erwachsen, und neue Methoden und Formen der Parlamentsarbeit werden entwickelt. Soll das Parlament der Ort der öffentlichen Diskussion sein, soll von hier aus politisch geführt werden, sichtbar für das ganze Volk und verbindlich für die Regierung, so muß das Parlament immer von neuem sich darum bemühen, zur Bewältigung seiner Aufgaben in der Lage zu sein. Es kann keine starren Vorschriften geben, die diese Fragen endgültig und befriedigend regeln. Auf dem Gebiete der politischen Führung müssen neue Erkenntnisse zu neuen Arbeitsmethoden führen. Der politische Raum ist ein Kampffeld, in welchem die Kräfte sich je nach Zeitströmung und personeller Repräsentanz verschieben. Diese Verschiebungen zu ermöglichen, aber zugleich die erforderlichen Grenzen zu setzen, wird sich stets danach zu orientieren haben, daß die demokratische Form der Staatsführung im Parlament ihren sichtbarsten und lebendigsten Ausdruck findet. Sie zu erhalten, weiterzuentwickeln, zu festigen und zugleich modern auszubauen, ist die ständige Aufgabe, die uns gestellt ist.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Friedrich Schäfer, Dr. jur., MdB, Oberregierungsdirektor a. D., geboren 6. April 1915 in Sindelfingen. Bis 1945 Rechtsanwalt, seit 1946 in öffentlichen Positionen in Südwest-deutschland tätig, zuletzt 1953 Leiter der Landespolizeidirektion Südbaden und der Landespolizeischule Baden-Württemberg in Freiburg, 1962 Lehrauftrag an der Universität Tübingen, 1963 an der Universität Köln, seit 1957 Mitglied des Deutschen Bundestages, seit 1961 parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, erster Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. Veröffentlichung u. a.: Die Notstandsgesetze — Vorsorge für den Menschen und den demokratischen Rechtsstaat, Schriftenreihe Demokratische Existenz heute, Bd. 15, Köln und Opladen 1966.