Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Das individuelle Selbstverständnis des modernen Menschen als politisches Problem | APuZ 51-52/1966 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 51-52/1966 Die Frage nach dem Sinn der Geschichte Das individuelle Selbstverständnis des modernen Menschen als politisches Problem

Das individuelle Selbstverständnis des modernen Menschen als politisches Problem

Hugo Staudinger

Selbstverständnis und Selbstrealisierung des Menschen

Es ist durchaus nichts Selbstverständliches, daß der Mensch nach seinem Selbstverständnis fragt. Er unterscheidet sich hierdurch von allen anderen uns bekannten Wesen. Eine Frage nach dem eigenen Selbstverständnis setzt voraus, daß der Mensch sich seiner selbst bewußt ist, und sie wird ständig wach gehalten dadurch, daß dem Menschen als einem „sich selbst thematischen Wesen" „nicht von Natur schon mitgegeben" ist, „was er sein wird"

Aus diesen wenigen Sätzen ergibt sich bereits, daß die Frage nach seinem Selbstverständnis für den Menschen keine rein theoretische Frage ist, sondern daß die Frage nach der Selbstinterpretation in unlösbarem Zusammenhang steht mit der Frage der Selbst-realisierung. Das aber bedeutet, daß die Antwort auf die Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen sich auch auf das Handeln des Menschen unmittelbar auswirkt.

Der Zusammenhang zwischen Selbstinterpretation und Selbstrealisierung ist freilich nicht einseitig, sondern beide stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung: Einerseits ist der Mensch im allgemeinen bestrebt, so zu handeln, wie er nach seinem Selbstverständnis handeln müßte. So wird z. B. jemand, der im Menschen ein Kind Gottes sieht, anders handeln als jemand, der glaubt, daß er ein Kämpfer um Lebensraum und Lebensrecht sei, und dieser wiederum anders als jemand, der sich selbst als einen ins Nichts Geworfenen versteht, der sich eine Existenz gewinnen muß. Doch das alles ist nur die eine Seite. Denn andererseits ist der Mensch bestrebt, sein tatsächliches Verhalten vor sich und anderen zu rechtfertigen, indem er es durch eine entsprechende Selbstinterpretation erklärt. So wird also umgekehrt das Selbstverständnis des Menschen beeinflußt durch sein tatsächliches Verhalten. Diese Seite des Verhältnisses von Selbstinterpretation und Selbstrealisierung zeigt sich u. a. in Redewendungen wie: „Wir sind eben alle nur schwache Geschöpfe!" „Es muß jeder sehen, wie er sich durchschlägt!" oder „Jeder ist sich selbst der Nächste!"

Die gegenseitige Abhängigkeit von Selbst-interpretation und Selbstrealisierung legt dem Menschen einen Trugschluß nahe: Er nimmt das eigene Verhalten als Bestätigung für die Richtigkeit seiner Selbstinterpretation, obgleich dieses Verhalten mit dem gleichen Recht als Folge seiner Selbstinterpretation betrachtet werden kann.

Die politische Bedeutung des menschlichen Selbstverständnisses, um die es ja bei diesen Überlegungen geht, ist um so größer, da das menschliche Selbstverständnis stets mit einem entsprechenden Weltverständnis parallel geht.

Es handelt sich um den Vorabdrude einer Untersuchung, die in einem wissenschaftlichen Arbeitskreis des Deutschen Instituts für Bildung und Wissen zur Diskussion gestellt wurde und im Januar 1967 in der Schriftenreihe dieses Instituts erscheint. Eine materialistische, eine biologistische, eine idealistische oder auch christliche Weltanschauung steht notwendigerweise im Zusammenhang mit einem entsprechenden Selbstverständnis des Menschen. Auch hier liegen die Dinge freilich nicht so einfach, wie es zuweilen scheint, aber auch hier gilt vom Zusammenhang ein ähnliches wie für den eben-genannten zwischen Selbstinterpretation und Selbstrealisierung:

Daß ein Zusammenhang zwischen Selbst-und Weltverständnis besteht, ist unstreitig, und auch dieser Zusammenhang ist wechselseitig. Zusammenfassend kann also diese Vorüberlegung mit der Feststellung abgeschlossen werden, daß das Selbstverständnis, das Welt-verständnis und die im Handeln vollzogene Selbstrealisierung des Menschen in der Welt in einem wechselseitigen inneren Zusammenhang stehen.

Identität von Selbstverständnis der Staatsbürger und geistiger Struktur des Staates in der Geschichte

Damit kommen die Überlegungen zum eigentlichen Thema. Ein bestimmtes, nicht von vornherein eindeutig festgelegtes Selbstverständnis zu haben, ist nicht nur Eigenart des einzelnen Menschen, sondern auch die politischen Ordnungen setzen jeweils ein bestimmtes menschliches Selbstverständnis voraus und können geradezu als gemeinsame Realisierungen dieses Selbstverständnisses aufgefaßt werden. So entspricht z. B.dem alten Reich in Ägypten ein bestimmtes religiöses Selbstverständnis, dem Frankreich der Großen Revolution ein aufgeklärt-philosophisches Selbstverständnis, dem Dritten Reich ein biologistisches Selbstverständnis, den kommunistischen Staaten ein historisch-materialistisches Selbstverständnis des Menschen. Die Stabilität der jeweiligen politischen Ordnung beruht nicht zuletzt darauf, daß die Träger dieser politischen Ordnung in möglichst großer Geschlossenheit ein Selbstverständnis haben und realisieren, das mit dem des Staates identisch ist.

Daher sind, wie ein Blick in die Geschichte zeigt, Menschen und Gruppen mit einer vom offiziellen Selbst-und Weltverständnis des Staates abweichenden Auffassung grundsätzlich politisch minderberechtigt. Vom Angehörigen der politisch vollberechtigten Elite erwartet man und erzwingt man notfalls, daß er in seinem Selbstverständnis mit der offiziellen Auffassung des Staates übereinstimmt. Dabei gibt es Staaten, in denen es kaum abweichende Gruppen gibt, etwa das Alte Ägypten oder das mohammedanische Arabien oder das klassische katholische Spanien. Es gibt jedoch auch zahlreiche andere Staaten, in denen nur eine staatstragende Elite in ihrem Welt-und Selbstverständnis mit den geistigen Grundlagen der Struktur des Staates konform geht, während die übrigen politisch nicht vollberechtigten Gruppen abweichende Auffassungen haben dürfen. Dabei ist das Verhältnis der staatstragenden Elite zu den übrigen Gruppen durchaus nicht überall gleichartig. Man denke etwa nur an Sparta mit der kleinen Minderheit der staatstragenden Spartiaten, die allein das Staatswesen prägten, oder an die islamischen Staaten Nordafrikas, in denen nicht-mohammedanische Gruppen wie etwa die Christen zwar geduldet, aber wirtschaftlich und gesellschaftlich als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, oder an das klassische Preußen, in dem der protestantische Adel nahezu allein die höhere Beamtenschaft und das Offizierskorps stellte, oder an das heutige Rußland, in dem der politische Einfluß auf Mitglieder der kommunistischen Organisationen beschränkt ist. Man denke aber auch an jenes, oft als Vorbild für Toleranz und Demokratie genannte England, in dem Nonkonformisten bis in die neueste Zeit hinein von der aktiven Mitwirkung an der Politik weitgehend ausgeschlossen waren.

In allen bisher als Beispiele genannten Staaten besteht also eine gewisse Identität zwischem dem Welt-und Selbstverständnis aller Staatsbürger oder wenigstens dem der staats-tragenden und politisch allein vollberechtigten Elite und den geistigen Grundlagen der Rechts-und Verfassungsordnung des Staates, und durch diese Identität wird der Bestand der politischen Ordnung gesichert.

Pluralität der Selbstdeutungen in der pluralistischen Gesellschaft

Betrachten wir jetzt jedoch die Staaten unserer modernen freien Welt, wie etwa die Bundesrepublik Deutschland, so müssen wir feststellen, daß all die bisher gemachten Aussagen für sie nicht zutreffen: Die geistigen Grundlagen unserer Rechts-und Verfassungsordnung sind weder identisch mit dem Selbst-und Weltverständnis aller Bürger noch wenigstens identisch mit dem Selbst-und Weltverständnis einer bestimmten staatstragenden Elite von allein vollberechtigten Bürgern.

Zur weiteren Behandlung des Themas ist es notwendig, diese neue Situation näher zu kennzeichnen: Dabei liegt es nahe, zunächst vom einzelnen Menschen auszugehen. Der einzelne lebt in einer sogenannten pluralistischen Gesellschaft. Das bedeutet im Rahmen des Themas: Er lebt in einer Gesellschaft, in der verschiedene Gruppen von Menschen mit je einem anderen, ihnen eigenen Selbst-und Weltverständnis zusammen und durcheinander leben.

Damit ist jedoch gerade im Hinblick auf den einzelnen Menschen noch nicht alles gesagt. Es kommt vielmehr hinzu, daß die allgemeine Mobilität der Gesellschaft auch auf dem Gebiete des Selbst-und Weltverständnisses gilt. Es kann also jeder einzelne jederzeit sein Selbst-und Weltverständnis ändern, ohne dadurch seine politischen Rechte zu gefährden und in eine mindere gesellschaftliche Stellung zu geraten. Dabei kann sich die Neuorientierung entweder formal perfekt und offiziell vollziehen, indem jemand z. B. aus einer Religionsgemeinschaft austritt, um sich dann unter Umständen — aber nicht etwa notwendigerweise — einer anderen anzuschließen. Die Neuorientierung kann jedoch auch formlos und gewissermaßen inoffiziell erfolgen, indem jemand z. B. von einem sogenannten praktizierenden Katholiken zu einem nicht mehr praktizierenden wird und die Lehren seiner Kirche als fragwürdig und überholt betrachtet.

Nun sollte man sich — auch wenn man diese moderne Ordnung als eine Ordnung mündiger Menschen durchaus bejaht — nicht darüber hinwegtäuschen, daß für den einzelnen die ständige Konfrontierung mit anderen, den eigenen Auffassungen widersprechenden Selbst-und Weltdeutungen eine harte Belastung darstellt. Für einen Menschen, der in einer geschlossenen Gesellschaft lebt, sind bestimmte Auffassungen, Normen und Verhaltensweisen so selbstverständlich, daß er nicht auf den Gedanken kommt, daß sie überhaupt ernstlich in Frage gestellt werden könnten. Denn diese Auffassungen, Normen und Verhaltensweisen werden im privaten wie im öffentlichen Leben gleichermaßen von allen respektiert oder doch wenigstens als grundsätzlich verbindlich anerkannt. Der einzelne gewinnt dadurch eine gewisse Lebenssicherheit.

Skeptische Gleichgültigkeit und geistige Vereinsamung

Im Gegensatz zu einer in diesem Sinne abgerundeten und heilen Welt findet sich der moderne Mensch von Kindheit an in einer Welt, in der die Auffassungen, die er zunächst von Eltern oder nächsten Angehörigen übernommen hat, von anderen keineswegs geteilt werden. Eine kritische Haltung ist die notwendige Folge. Diese Haltung kann durchaus ein Gewinn und ein Positivum sein; denn sie kann bzw. sollte zu einem um so bewußterem, gefestigterem und geläuterterem Selbst-und Weltverständnis führen oder doch wenigstens zu einem ständigen ernsten und bewußten Suchen und Ringen.

Eine nüchterne Betrachtung der Gegenwart zeigt jedoch, daß allzuoft weder geläuterte Auffassungen noch ein ernstes Ringen um Wahrheit die Folgen des Pluralismus und der Mobilität sind, sondern eine selbstzufriedene und zugleich skeptische Gleichgültigkeit oder eine Vereinsamung in einer geradezu absoluten Fragwürdigkeit.

Es gibt also in dieser modernen pluralistischen und mobilen Gesellschaft nicht nur profilierte Menschen verschiedener Auffassungen vom Sinn des Menschen und der Welt sowie Menschen, die gewissermaßen zwischen diesen pro-filierten Gruppen hart um Wahrheit ringen, sondern es gibt auch in einer nicht geringen Zahl Menschen, die in skeptischer Gleichgültigkeit gegenüber allen sogenannten letzten Fragen dahinleben, und schließlich solche, die in geistiger Vereinsamung resignieren.

Brechen wir die vom einzelnen ausgehende Betrachtung hier zunächst ab; denn es erhebt sich nunmehr in aller Dringlichkeit eine für unser Thema besonders wichtige Frage: Wie wirkt sich diese eben gekennzeichnete Situation für den Staat, für seine Grundlagen und Ordnungen aus?

Selbstverständlich muß auch unser Staat eine bestimmte Rechts-und Verfassungsordnung haben, der zwangsläufig bestimmte anthropologische Vorstellungen zugrunde liegen. Aber diese Grundüberzeugungen werden nicht von allen Bürgern geteilt, ja, es gibt überhaupt kaum eine Gruppe, die für alle Grundüberzeugungen unserer staatlichen Ordnung voll eintritt. Statt dessen gibt es eine Pluralität von Gruppen, die in ihrer Gesamtheit die Funktion einer staatstragenden Gruppe erfüllen. über diese besondere Struktur unseres pluralistischen Staates ist bei anderer Gelegenheit bereits ausführlich gesprochen worden

Aufgabe des Staates ist das reibungslose Funktionieren

Heute gilt es, diese bereits mehrfach herausgestellte Eigenart unseres modernen Staates unter einem weiteren Gesichtspunkt zu betrachten: Ein moderner pluralistischer Staat muß bestrebt sein, seine Rechts-und Verfassungsordnung so zu gestalten, daß sie für die verschiedenen Menschen und Gruppen annehmbar ist. Das bedeutet unter anderem, daß sie nicht in unaufhebbarem Widerspruch zu Gewissensentscheidungen bestimmter Gruppen und Menschen stehen soll. In dieser Lage neigt der Staat weithin dazu, sich zumindest faktisch in erster Linie nicht als Träger bestimmter sittlicher Ideen zu verstehen und sich als Staat nicht auf ein bestimmtes Selbst-und Weltverständnis des Menschen festzulegen Statt dessen beschränkt er sich in seinen weltanschaulichen Konzeptionen auf ein Minimum und sucht vor allem und zunächst, einfach funktionsfähig zu bleiben. Denn in unserer, in allen Bereichen vom Staat durchdrungenen Welt droht bei einer Funktionsunfähigkeit des Staates eine allgemeine Katastrophe. Der Staat muß funktionieren, damit das Leben der Gesellschaft und des einzelnen einigermaßen reibungslos ablaufen kann.

Im Bewußtsein der meisten funktioniert der moderne Staat dann gut, wenn er für das sorgt, was man unter dem Stichwort „Sicherheit und Wohlstand für alle" zusammenfassen kann. Dabei sind Sicherheit und Wohlstand rational voll faßbare, kalkulierbare und manipulierbare Größen. Es handelt sich nach außen um einen Status sogenannter friedlicher Koexistenz der Staaten aller weltanschaulichen Systeme. Rational nicht kalkulierbare Bewegungen, wie der Nationalismus der farbigen Völker oder auch ideologischer Fanatismus — man denke dabei nur an das Problem Rotchinas —, werden von den führenden Mächten der beiden großen Weltblöcke notfalls gemeinsam eingedämmt und unter Kontrolle gehalten. Hierauf kann im Rahmen des Themas nicht näher eingegangen werden.

Für unser Thema wichtiger ist die Bedeutung der Maxime „Sicherheit und Wohlstand für alle" im Inneren: Hier ist die Parole Sicherheit und Wohlstand gleichbedeutend mit der Forderung nach gesichertem Wohlstand, wobei dieser wiederum in den Berichten der statistischen Ämter in präzise Zahlen gefaßt werden kann. Der gesicherte Wohlstand ist vielleicht das einzige Ziel, in dem sich alle Gruppen unserer Gesellschaft einig sind. Daher ist auch der große und harte Streik, etwa in Form eines unbefristeten Generalstreiks, heute — ähnlich der Atombombe im internationalen Bereich — kein Mittel des Arbeitskampfes mehr, sondern er steht allenfalls als letzte Abschreckungswaffe drohend im Hintergrund. Denn jeder noch so zornige Interessenvertreter weiß, daß ein wirklicher Einsatz dieses Kampfmittels das gemeinsame Ziel des gesicherten Wohlstandes tödlich treffen würde. Audi bei Differenzen und selbst bei relativ harten Auseinandersetzungen darf das Funktionieren des politisch-wirtschaftlichen Gesamtapparates letztlich nicht gefährdet werden.

So kann das reibungslose Funktionieren geradezu als das anerkannteste und umfassendste Ideal unserer Gesellschaft bezeichnet werden. Es ist in fast allen Bereichen unseres Lebens geradezu das absolute Kriterium für Güte geworden. Notwendigerweise kommt dabei der einzelne als Person immer weniger mit ins Spiel. Daraus entspringt trotz aller Anerkennung des Fortschritts bei vielen ein schwer definierbares Unbehagen.

Funktionsfähigkeit des einzelnen in der Arbeitswelt

Man sollte aber über aller Kritik, die sich so leicht einfindet, zunächst nicht übersehen, daß diese Funktionalisierung und Entpersönlichung gerade angesichts der Pluralität des Selbst-und Weltverständnisses des modernen Menschen auch ihre sehr positive Bedeutung hat. Stellen wir also die Frage: Wie steht der einzelne in dieser funktionalisierten Weltgesellschaft?

Vor einer direkten Beantwortung ist es gut, sich an die Stellung des einzelnen zu erinnern, wie sie einst in der mittelalterlichen, aber weithin auch noch in der neuzeitlichen Welt gegeben war: Selbstverständlich müssen auch hierbei beispielhafte Andeutungen genügen. Der Handwerker etwa gehörte zu einer Zunft. Ohne diese Zugehörigkeit konnte er überhaupt nicht Handwerker sein. Er hatte seine Arbeiten den Vorschriften der Zunft gemäß durchzuführen, er hatte sich an den gesellschaftlichen Veranstaltungen seiner Zunft zu beteiligen, er wurde auch politisch in der Zunft aktiv, er mußte an den Gottesdiensten der Zunft teilnehmen und auch sonst ein frommes Leben führen. Die Zunft gewährte ihm und seiner Familie eine gewisse soziale Sicherung. Selbst wenn Feinde über den Staat bzw. über die Stadt hereinbrachen, stand er innerhalb der Wehrverfassung nicht irgendwo, sondern neben seinen Zunftgenossen zur Verteidigung der Stadt bereit. Er stand also in einer geschlossenen Ordnung, die sein ganzes Leben, seine ganze Person trug und beanspruchte. Vergleichbares gilt von dem Bauern im Rahmen der Gutsherrschaft; ähnliches vom Knecht und der Magd im Rahmen von Gesindeordnungen usw. Nur in diesen festgefügten Ordnungen begegneten dem einzelnen der Staat und die Gesellschaft und nur in diesen Ordnungen hatte der einzelne sein Leben. Selbst scheinbar so persönliche Dinge wie Eheschließung wurden in diesem Rahmen beschlossen und waren nicht in das Belieben des einzelnen gestellt. Wer an irgendeiner Stelle mit den Prinzipien dieser Ordnungen nicht konform ging, war gesellschaftlich unmöglich und persönlich ruiniert.

Unsere heutige Welt aber kennt — wenn wir von wenigen Ausnahmen wie den klösterlichen Gemeinschaften absehen — keine solchen geschlossenen, den ganzen Menschen fordernden Gemeinschaften. Der Mensch wird vielmehr an der jeweiligen „Einsatzstelle" jeweils nur in einer bestimmten Funktion gefragt und gefordert. Dem Chef kann es gleichgültig sein, ob sich seine Angestellten in ihrer arbeitsfreien Zeit bei einer Party vergnügen oder zur Kirche gehen, eine Nachtbar aufsuchen oder in ihrer Familie zusammen-sitzen, im Dienste der Inneren Mission stehen oder den Abend mit Kegeln verbringen, wenn nur die Qualität der Arbeit nicht unter der betreffenden Freizeitgestaltung leidet. Oder mit anderen Worten, es kommt nur darauf an, daß die Funktionsfähigkeit des Menschen voll erhalten bleibt. Wollte der Chef den sonntäglichen Gottesdienstbesuch, die Teilnahme an Kegel-und Skatabenden sowie die Mitgliedschaft bei Verbänden zur Pflicht für seine Ar-B beitnehmer machen, so würde er eine allgemeine Empörung auslösen. Wie somit bestätigt wird, ist tatsächlich eine Beschränkung auf die Forderung nach Funktionsfähigkeiten in unserer pluralistischen Gesellschaft geradezu eine Notwendigkeit. Denn nur so ist es möglich, daß Menschen verschiedenen Selbst-verständnisses in den gleichen Betrieben arbeiten und in den gleichen Gemeinden wohnen. Ohne diese Möglichkeit der Kooperation von Menschen mit völlig verschiedenen Lebensauffassungen aber könnte unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft kaum bestehen.

Funktionalisierung der Freizeit

Eine ähnliche Tendenz zu einer Art Funktionalisierung wie in der Arbeitswelt zeigt sich auch bei der Freizeitgestaltung. Ebenso wie der einzelne sich Wohnung und Arbeitsplatz frei wählen kann, aber dann auf diesem Arbeitsplatz funktionsfähig sein muß, kann er sich auch den Ort seiner Freizeitgestaltung frei wählen. Aber auch hier wird dann von ihm erwartet, daß er kein Spielverderber ist, sondern sich entsprechend funktionstüchtig verhält und mitmacht. Das gilt für das Mitglied eines Künstlerklubs wie für den Besucher eines Schützenfestes, von dem Freunde klassischer Musik ebenso wie für den Teilnehmer an einer intimen Tanzvergnügung. Wer A gesagt hat, muß auch B sagen, wenn er nicht der Verächtlichmachung oder gar handfesten Tätlichkeiten ausgesetzt sein will. Bezeichnend ist jedoch, daß man sich auch hier im allgemeinen in seinen Forderungen auf Funktionieren innerhalb der entsprechenden Veranstaltung beschränkt. Was der Teilnehmer sonst noch macht, interessiert kaum oder allenfalls am Rande. Und außerdem wird in der Regel niemand gegen seinen Willen gezwungen, überhaupt mitzumachen. Nur wer einmal mitmacht, ist an die übernommene Rolle auch bis ans Ende gebunden.

Wie stark die allgemeine Tendenz ist, vom einzelnen nur jeweils das Funktionieren innerhalb eines bestimmten Funktionskreises zu fordern und zu erwarten und sich um das, was er sonst tut, gar nicht oder doch nur wenig zu kümmern, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß sie in einem erstaunlichen Ausmaße auch bereits auf die Familie übergegriffen hat. Wie soziologische Untersuchungen zeigen, erschöpft sich die Gemeinsamkeit mancher Familien im wesentlichen darin, Wohn-und Schlafraum für ihre Mitglieder bereitzustellen, sofern diese von dem damit gekennzeichneten Angebot Gebrauch machen wollen. Solche Extremfälle verdienen gerade angesichts der allgemeinen Entwicklung besondere Beachtung. Die Trennung der Wirtschaftsund Arbeitswelt von der Familie und die damit verbundene Trennung der berufstätigen Frau vom berufstätigen Mann, die Entlastung von den Kindern durch Kindergärten, Schulen und andere Bildungseinrichtungen sowie die Errichtung von Kantinen und Werkküchen an der Arbeitsstelle und schließlich auch das nicht alle Familienmitglieder in gleicher Weise ansprechende Angebot der Freizeitindustrie begünstigen ganz allgemein die Beschränkung auch der Familie auf wenige bestimmte Funktionen. Und wenn man nüchtern ist, kann man die Augen davor nicht verschließen, daß für manche Familien eine solche Beschränkung die einzige Möglichkeit darstellt, um überhaupt weiterzubestehen. So darf man also auch diese Entwicklung nicht nur negativ betrachten.

Versucht man eine neue Zusammenfassung der bisherigen Überlegungen, so ergeben sich vor allem folgende beiden Feststellungen: 1. Dem pluralistischen Staat der westlichen Welt kommt es vornehmlich darauf an, im Sinne gesicherten Wohlstandes reibungslos und gut zu funktionieren. 2. Die verschiedenen Einrichtungen der Wirtschaft und Gesellschaft fordern vom einzelnen allgemein nichts anderes als ein Funktionieren an seiner Stelle.

Modell des Regelkreises in der westlichen Gesellschaft

Angesichts dieser Tatsachen erhebt sich die Frage: Würde bzw. müßte diese moderne Gesellschaft nicht dann zu einer letzten Selbst-vollendung kommen, wenn das Selbstverständnis des einzelnen sich diesem allgemeinen System voll angliche, d. h., wenn auch der einzelne sich nur noch als Funktionsträger im jeweiligen Funktionskreis verstünde? Müßte dann nicht das gesellschaftliche Leben noch besser funktionieren und obendrein noch jeder einzelne glücklich und zufrieden sein?

Sollte also der moderne Mensch nicht ganz bewußt danach streben, sich selbst nur noch als Funktionsträger zu verstehen und zu verhalten?

Dieser Gedanke ist für den ersten Augenblick höchst verlockend. Er wird mächtig gefördert durch das wissenschaftlich-technische Denken. Bezeichnenderweise haben Ost und West für das menschliche Zusammenleben ihre eigenen soziologischen Denkmodelle gefunden, die beide technisch-wissenschaftliche Modelle sind: Der Osten das Modell des Steuerungssystem, der Westen das Modell des Regelkreises. Auf das östliche Modell braucht nicht weiter eingegangen zu werden. Für das westliche Modell ist im Rahmen unseres Themas wichtig, daß es sich um ein System handelt, das selbstregulierende Eigenschaften hat und sich sogar auch gegenüber Störungen funktionsfähig zu halten sucht

Wendet man das Modell des Regelkreises auf die Gesellschaft an, so sollte man freilich auch die folgenden Überlegungen mitbedenken: In der Natur, etwa im Organismus, stehen die Regelkreise als Ganzes wieder in einem bestimmten Dienste, indem sie das Leben des Organismus gewährleisten. In wessen Dienst aber steht die in Art eines Regelkreises funktionierende Gesellschaft? Diese Frage stellt sich zwingend. Denn soweit sich aus dem bisherigen Verhalten der Menschen ergibt, vermögen sie sich im allgemeinen nur dann auf reines Funktionieren auszurichten, damit zufriedenzugeben und damit glücklich zu leben, wenn dieses Funktionieren einen Sinn hat, der jenseits des Funktionierens selbst liegt.

Wie sich aus den Überlegungen am Anfang ergab, ist jedoch die pluralistische Gesellschaft als Ganzes nicht in der Lage, einen für den einzelnen verpflichtenden Sinn des gesamten Funktionierens anzugeben, da sie kein für alle gemeinsames Selbst-und Weltverständnis besitzt. Die moderne Gesellschaft kann also dem einzelnen — zumindest im Idealfall — zwar ein Leben in gesichertem Wohlstand gewährleisten, sofern der einzelne seinerseits dazu beiträgt, die Gesellschaft funktionsfähig zu halten; sie kann dem einzelnen jedoch nicht angeben, welchen Sinn dieses ganze Funktionieren und Leben hat.

Diese Feststellungen kennzeichnen ein Dilemma. Denn wie Hollenbach in seinem Buch Der Mensch der Zukunit zutreffend feststellt, ist für den Menschen nur „sinnvoll leben" identisch mit „glücklich sein" Das aber bedeutet, daß die moderne Gesellschaft dem Menschen trotz beachtlicher Höhe des Lebensstandards grundsätzlich kein glückliches Leben zu verschaffen vermag. Es gibt sogar Beobachter, die der freilich schwer überprüfbaren Überzeugung sind, daß es nirgendwo so viele unglückliche Menschen gäbe wie in der modernen Gesellschaft. Ob diese Auffassung schlechthin richtig ist, läßt sich schwer ermitteln. Jedenfalls aber zeigen die Selbstmordziffern und andere nachweisbare Symptome, daß es bei uns mehr Unglückliche gibt, als man angesichts des relativ guten Funktionierens der Gesellschaft und angesichts des relativ großen Wohlstandes vermuten sollte

Wenn aber glücklich leben mit sinnvoll leben zu tun hat und wenn glücklich leben davon abhängt, daß man sinnvoll lebt, dann kommt dafür dem jeweiligen Selbstverständnis des Menschen eine entscheidende Bedeutung zu. Ohne ein Selbstverständnis, das dem Menschen sein Leben als ein sinnvolles Leben begreifen läßt, kann er letztlich nicht glücklich sein.

Förderung der weltanschaulich profilierten Gruppen

Wie sich jedoch bereits zeigte, ist in einer pluralistischen Gesellschaft der Staat nicht in der Lage, ein für alle gemeinsames derartiges Selbstverständnis aufzuweisen. Wenn er nicht nur den Lebensstandard, sondern auch das Glück seiner Bürger sichern will, ist er daher angewiesen auf die Lebens-und Überzeugungskraft der einzelnen, untereinander verschiedenen Gruppen der Gesellschaft Es liegt im tiefsten Grund in seinem eigenen Interesse, diese verschiedenen Gruppen zu fördern. Denn das Minimum, was er in seiner Verfassungsund Rechtsordnung selbst an Grundüberzeugungen hat, reicht zwar aus, um eine gemeinsame funktionierende gesellschaftliche Ordnung zu sichern, es reicht jedoch nicht aus, um den einzelnen davon zu überzeugen, daß sein persönliches Leben und das politische Leben in dieser Ordnung sinnvoll sei.

Somit ist der Staat gegenüber früheren Zeiten in eine merkwürdige Lage geraten: Er selbst muß sich mehr oder weniger darauf beschränken, die gesellschaftliche Ordnung funktionsfähig zu halten. Diese Beschränkung ist für ihn eine Notwendigkeit, wenn er nicht zu einem dirigistischen Zwangsstaat werden will, der den Angehörigen der einzelnen religiös-weltanschaulichverschieden denkenden Gruppen Gewalt antut. Dieser primär auf bloßes Funktionieren ausgerichtete Staat muß jedoch zugleich, um des Glückes seiner Bürger willen, alle Gruppen ermuntern und fördern, die dem Menschen aufweisen, daß der Sinn seines Lebens sich nicht im bloßen Funktionieren erschöpft.

Diese Situation ist um so paradoxer, weil es für den ersten oberflächlichen Blick so scheinen muß, als seien profilierte Menschen mit einem festen Selbst-und Weltverständnis die weniger wünschenswerten Staatsbürger, weil sie öfter als die Masse der religiös-weltanschaulich Gleichgültigen durch ihre Forderungen und ihr Verhalten unbequem werden und den reibungslosen Gang des auf Funktionieren ausgerichteten Staates gefährden. Und doch hat uns die geschichtliche Erfahrung gelehrt, daß eine freiheitliche moderne Ordnung gerade dieser geistig Profilierten bedarf. Denn sie sind es, die in normalen Zeiten dafür sorgen, daß das Funktionieren nicht zu einem zwar imponierend reibungslosen, aber auch völlig sinnlosen Leerlauf wird, und sie sind zugleich diejenigen, die sich nicht jedem beliebigen politischen System anpassungswillig und gefügig zur Verfügung stellen.

Chancen und Gefahren der Freiheit

Fragt man zum Schluß, welches besondere Interesse der einzelne am pluralistischen Staat haben kann, obgleich er doch nur ein funktionierender Staat ist, so kommt man zu folgenden Überlegungen: Wie bereits dargelegt wurde, muß zwar auch im freien Teil der modernen Welt der einzelne je an seiner Stelle funktionieren, wenn er nicht unter die Räder kommen will, aber — hierin liegt ein wesentlicher Unterschied gegenüber totalitären Systemen— der einzelne wählt die Stellen selbst, an denen er stehen will. Das gilt für alle Bereiche des Lebens. Man denke nur an die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantierten Rechte wie etwa freie Wahl des Berufs-und des Arbeitsplatzes, freie Wahl des Aufenthaltsortes, freie Wahl der Religionsgemeinschaft, freie Zugehörigkeit zu Gewerkschaften, Vereinen und Gesellschaften und anderes mehr. Nun ist es kein Zufall, daß man diese Freiheiten, wie es auch eben geschehen ist, in Art einer Addition aufzählen muß. Zur Verdeutlichung der damit garantierten Gesellschaftsordnung erinnere man sich noch einmal kurz an den im ersten Teil genannten Handwerker des Mittelalters. Bei ihm waren durch eine einzige — zudem an die Schranken der ständischen Ordnung gebundene — Entscheidung mit einem Schlage Beruf, Wohnort und Straße, kirchliche Verpflichtung, Zunftzugehörigkeit, Art der sozialen Versorgungen und Verpflichtungen, städtische Wehrorganisation, gesellschaftliche Verpflichtungen usw. festgelegt. Heute liegen die Dinge nicht nur darin anders, daß die Gebundenheit an die Struktur einer traditionsbestimmten und ständischen Ordnung weggefallen ist, sondern für die Stellung des modernen Menschen in der Gesellschaft ist ebenso wichtig die Möglichkeit des einzelnen, völlig oder doch wenigstens weitgehend unabhängig voneinander über Beruf, Wohnort, Berufsverband, Religionszugehörigkeit, Vereinszugehörigkeit, Art des Wehrdienstes, Beteiligung bei gesellschaftlichen Veranstaltungen, Freizeitgestaltung usw, entscheiden zu können. Dafür nur ein konkretes Beispiel: Auch wenn jemand in einer katholischen Schule in A-Dorf tätig ist, kann er weder gezwungen werden, in A-Dorf zu wohnen, noch die katholische Kirche in A-Dorf zu besuchen, noch dem katholischen Lehrerverein beizutreten, noch am A-Dorfer Schützenfest teilzunehmen, noch die Kasse des 1. FC A-Dorf zu verwalten usw. Selbstverständlich kann es sein, daß manche oder auch viele dieses oder jenes von ihm erwarten aber ob der Betreffende es tut oder nicht tut, kann er selbst entscheiden, und dieses Recht seiner Entscheidung ist ausdrücklich in der Rechts-und Verfassungsordnung sichergestellt. Hierin zeigt sich wiederum die große Freiheit, die die moderne Gesellschaft dem einzelnen gibt.

Zugleich wird allerdings auch spürbar, daß diese Freiheit nicht nur Chance, sondern auch Gefährdung sein kann. Es besteht die Gefahr, daß der einzelne die verschiedenen Bereiche bzw. Funktionskreise, in denen er steht, nicht mehr durch die Kraft seiner Person zu einer Einheit seines eigenen Lebens integrieren kann. Eine solche für die Intaktheit der Person notwendige Integration kann nur dann gelingen, wenn der einzelne bei seinen jeweiligen Entscheidungen von vornherein darauf bedacht ist, keine miteinander unvereinbaren und keine seine Fähigkeiten übersteigenden Funktionen zu übernehmen. Die Verlockung dazu kann freilich groß sein, besonders, wenn dem einzelnen ein umfassendes menschliches Selbstverständnis fehlt.

Je mehr sich der einzelne in seinem Selbstverständnis nur als Träger von Funktionen versteht, desto unfähiger wird er, diese verschiedenen Funktionen in ein inneres Verhältnis zueinander zu setzen. So wie ein Tier unvermittelt von einem Reaktionskreis in den anderen überspringt, so ist auch dieser Mensch in den verschiedenen Funktionskreisen ein völlig anderer. Allgemein bekannt dafür sind die erschütternden Zeugnisse aus dem Dritten Reich, aus denen eindeutig hervorgeht, daß die gleichen SS-Offiziere, die mit Kälte und Brutalität ohnegleichen die Vernichtungsaktionen des Dritten Reiches leiteten, zugleich liebende, zärtliche und treusorgende Familienväter waren Aber man braucht gar nicht nur an diese Extremfälle zu denken. Wahrscheinlich kennt jeder heutige Mensch jenen Typ, der im wahrsten Sinne jeweils ein völlig anderer ist, wenn er in einem anderen Lebens-bzw. Funktionskreis steht.

Auf dem Wege zur unerreichbaren idealen Ordnung

Wahrscheinlich genügt freilich die gekennzeichnete Integration noch nicht, um den Menschen von heute als Menschen bestehen zu lassen, sondern ebenso wichtig ist eine jenseits der funktionalen Welt liegende personale Begegnung mit anderen Menschen, in der Regel mit anderen Menschen mit einem ähnlichen Welt-und Selbstverständnis, unter Umständen aber auch eine Begegnung zwischen Menschen, die von verschiedenen Ausgangspunkten her um ein tieferes Verständnis von Mensch und Welt ringen. Dabei können diese personalen Bindungen sich decken mit Institutionen der Gesellschaft, die dadurch einen alles Funktionale transzendierenden Charakter bekommen Sie können aber auch unabhängig von institutionellen Vorgegebenheiten bestehen. Im einzelnen braucht hierüber nicht gesprochen zu werden. Dagegen ist es wahrscheinlich wichtig, im Zusammenhang und in Ergänzung mit dem bereits Dargelegten noch auf folgendes Wechselverhältnis hinzuweisen: Im Gegensatz zum reinen Funktionsmenschen, der sich überall einsetzen läßt, bedarf der profilierte Mensch mit einem ausgeprägten Selbst-und Weltverständnis eines Staates, in dem er die Möglichkeit hat, nur solche Funktionen zu übernehmen, die mit seinem Selbstverständnis vereinbar sind und in dem er ungehindert Begegnungen mit den Menschen suchen kann, die er als personale Partner nötig hat. In einer Welt, in der Menschen verschiedenen Selbstverständnisses zusammen leben müssen, können diese Bedingungen nur von einem freiheitlichen Staat erfüllt werden, der sich auf den ersten Blick darauf zu beschränken scheint, für die bloße Funktionsfähigkeit der Gesellschaft zu bürgen. Da dieser Staat in seiner Selbstbeschränkung jedoch zugleich den Raum für eine dem jeweiligen Selbstverständnis gemäße Selbstrealisierung der einzelnen Menschen und Gruppen sichert, ist er, sofern er entsprechend gestaltet und begriffen wird, von hohem Wert.

Gewiß ist ein solcher Staat niemals das letzte politische Ziel und Ideal. Denn das letzte politische Ziel muß ein Staat sein, der sich in freier Übereinstimmung mit allen Bürgern die dem „richtigen" Menschen-und Weltverständnis entsprechende politische Ordnung gegeben hat. Diesen Staat kann es jedoch in der Realität der irdischen Welt niemals geben. Aber der gekennzeichnete freiheitliche Staat kann aufgefaßt werden als eine politische Ordnung, die sich ständig auf dem Wege zu jener nie erreichbaren idealen Ordnung befindet. Denn indem er den Menschen der verschiedenen Gruppen die Möglichkeit zu einer ihnen gemäßen Selbstrealisierung gibt, schafft er zugleich den Raum, in dem in Wort und Handeln um tiefere Wahrheitserkenntnis gerungen werden kann. In diesem Sinne kann dieser Staat betrachtet werden als eine politische Gemeinschaft, die den Weg zur Wahrheit der Erkenntnis und zur Wahrheit des Handelns offenhält und freigibt. Wenn diese Feststellung aber zu Recht besteht, dann müßten gerade diejenigen, die um ein der Wahrheit entsprechendes Selbst-und Weltverständnis ringen, diesen in solchen Fragen so zurückhaltenden und geradezu minimalistischen Staat um dieser seiner Zurückhaltung willen bejahen und fördern. Und umgekehrt muß diesem selbst so minimalistischen freiheitlichen Staat daran liegen, daß möglichst viele seiner Bürger zu einem klaren und verantwortbaren Selbst-und Weltverständnis und zu einem rückhaltlosen Streben nach Wahrheit kommen. Denn nur solche Menschen werden nicht in dem Funktionalismus der modernen Welt untergehen und sie werden sich nicht beliebig in jedem System verwenden lassen, sondern sie werden ganze Menschen bleiben und im Ernstfall jenen entgegentreten, die unsere freie politische Ordnung bedrohen, jene Ordnung, die zwar nicht dem Selbstverständnis einer bestimmten Gruppe entspricht, die jedoch allen Gruppen die Möglichkeit gibt, im Wort und im Handeln sich selbst zu bezeugen und sich selbst zu verwirklichen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956, S. 394.

  2. Wolfhart Pannenberg, Was ist der Mensch? Göttingen 1962, S. 97. Vergl. zu diesem gesamten Fragenkomplex auch: Hugo Staudinger, Geschichte als Wissenschaft vom Menschen, in: Deutsches Institut für Bildung und Wissen: Mensch und Zukunft, Frankfurt 1964, S. 72 ff.

  3. Deutsches Institut für Bildung und Wissen.: Schule und pluralistische Gesellschaft, Frankfurt 1961, ders., Gesamtplan zur Neuordnung des deutschen Bildungswesens, Frankfurt 1964, S. 9 ff. Ferner: Hugo Staudinger, Politische Bildung in einem pluralistischen Staat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 47/63 vom 20. November 1963, S. 3 ff.

  4. Daß trotzdem gewisse Festlegungen einfach notwendig sind, sei auch hier nochmals ausdrücklich gesagt. Vgl. dazu die in Anm. 3) angegebene Literatur.

  5. Vgl. dazu: Eberhard Lang, Staat und Kybernetik, Prolegomena zu einer Lehre vorn Staat als Regelkreis, Salzburg 1966.

  6. J, M. Hollenbach, Der Mensch der Zukunft, Frankfurt 1959, S. 150.

  7. Man wird m. E. sagen dürfen, daß ein schlechtes Funktionieren des Staates Menschen in ihrem Glück beeinträchtigt. Aber man wird nicht in gleicher Weise sagen können, daß ein gutes Funktionieren zum Glück führt.

  8. Vgl. dazu auch: Deutsches Institut für Bildung und Wissen: Gesamtplan zur Neuordnung des deutschen Bildungswesens, Frankfurt 1964, S. 9 ff.

  9. Vgl. dazu: Ralf Dahrendorf, Homo söziologicus, Köln 19644.

  10. Aus zahlreichen Prozeßaussagen geht hervor, daß diese Männer zum Teil subjektiv das Gefühl hatten, „nur ihre Pflicht" getan zu haben, da sie das einwandfreie Funktionieren unkritisch mit Pflichterfüllung gleichsetzten.

  11. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Familie in der Gesellschaft der Zukunft erneut eine kaum überschätzbare Bedeutung gewinnen.

Weitere Inhalte

Hugo Staudinger, Dr. phil., o. Professor für politische Bildung und Didaktik der Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe, Abt. Paderborn, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Instituts für Bildung und Wissen, Frankfurt, geboren am 5. Juli 1921 in Dresden.