Einleitung
Der Versuch einer Aussage zur politischen Geistesgeschichte des chinesischen Kommunismus auf relativ knappem Raum wirft für den Autor die Frage nach der Auswahl der zu behandelnden Probleme auf. In der hier vorliegenden Abhandlung wurde versucht, drei entscheidende Phasen der politischen Geistesgegeschichte des chinesischen Kommunismus zu skizzieren: die „Kulturelle Erneuerungsbewegung von 1919", die die Entstehung des chinesischen Kommunismus maßgeblich, wenn auch nur indirekt beeinflußt hat; den Beginn und die Kernpunkte der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Sunyatsenismus, die auf weltanschaulicher Ebene den Prolog zu dem bald vierzigjährigen Bürgerkrieg zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und der Kuomintang (Nationale Volkspartei, seit 1949 auf Formosa beschränkt) gebildet hat; die „Hundert Blumen-Affäre" und ihre Rückwirkungen auf die gegenwärtig im kommunistischen China propagierte „proletarische Kultur-revolution" zur Verteidigung der Lehren Mao Tse-tungs.
Für die Auswahl gerade dieser Phasen und ihrer Problematik waren drei Gesichtspunkte maßgeblich.
Erstens sollte an Stelle der häufig gewordenen Darstellungen von Konflikten des chinesischen Kommunismus mit auswärtigen Gegnern (USA, Indien, UdSSR) auf wichtige Phasen seiner Kontakte und Auseinandersetzungen mit innerchinesischen Bewegungen und Gruppen hingewiesen werden.
Zweitens bot die hundertste Wiederkehr des Geburtstages von Sun Yat-sen am 12. November 1966 einen gebührenden Anlaß dazu, sich auf die ideologischen Auseinandersetzungen des chinesischen Kommunismus mit seinem wichtigsten innerpolitischen Rivalen, das heißt mit der Kuomintang und insbesondere ihrer Ideologie, dem Sunyatsenismus, zu besinnen. Dieser Konflikt zwischen chinesischem Kommunismus und Sunyatsenismus bildet die weltanschauliche Komponente des im April 1927 ausgebrochenen und seither in den verschiedensten Phasen und Formen durchgeführten Bürgerkrieges zwischen der Kuomintang und den chinesischen Kommunisten, der in der Gegenwart (seit 1949/50) die Form der Auseinandersetzung zwischen dem kommunistischen Regime in Kontinentalchina und dem nationalchinesischen auf der chinesischen Insel Taiwan (Formosa) angenommen hat. In dieser neuen Konstellation ist der Sunyatsenismus zu einer der Ideologien des chinesischen Widerstandes gegen den maoistischen Kommunismus geworden. Paradox an dieser Situation ist die Tatsache, daß Sun-Yat-sen als profiliertester Führer der republikanischen Revolutionsbewegung, die 1911 die mandschurische Ch'ing-Dynastie stürzte, und als „Vater der Republik China" zu einer charismatisch so bedeutsamen Schlüsselfigur für die Geschichte des modernen China geworden ist, daß sich sowohl das kommunistische Regime Mao Tse-tungs wie auch das nationalchinesische Regime Chiang Kai-sheks auf Sun Yat-sen als ihren geistigen Vorläufer berufen und Millionen national gesinnter, aber parteilich ungebundener Auslandschinesen in Südostasien diese scheinbar über den Parteien stehende Persönlichkeit Sun Yat-sens zum Symbol ihrer Identifizierung mit der chinesischen Heimat und ihrer nationalen Erneuerung im 20. Jahrhundert gewählt haben.
Drittens jährt sich 1966/67 zum zehnten Mal die Erinnerung an jenes maoistisch-kommunistische Experiment mit der absolut freien Kritik des kommunistischen Regimes durch die chinesischen Intellektuellen, das unter dem Namen der „Hundert Blumen-Affäre" international bekannt geworden ist. Der gleichsam traumatische Schock, den die Art und Intensität der damals geäußerten Kritik auf die kommunistische Parteiführung in China ausübten, findet in der 1966 mit größter Radikalität durchgeführten und kulturpolitisch motivierten „Säuberungsbewegung" innerhalb und außerhalb der Kommunistischen Partei Chinas sein unüberhörbares Echo. Was aber die Ziele der Bewegung von 1966 mit der Hundert-Blumen-Bewegung von 1956/57 und diese wiederum mit der Kulturellen Erneuerungsbewegung von 1919 — ungeachtet ihrer inhaltlichen Verschiedenheit — verbindet, ist der in den Reihen chinesischer Intellektueller immer wieder zu findende Geist der Rebellion gegen alles, was — zu Recht oder zu Unrecht — als bedrückende Orthodoxie empfunden wird. Daß diese Mentalität in der chinesischen Geistesgeschichte nichts Neues ist, hat einer der führenden Denker der Kulturellen Erneuerungsbewegung von 1919 mit den Worten bestätigt:
„Sich jedem Problem mit dem Geist des Zwei-fels zuzuwenden, die Wahrheit und keine Kompromisse zu suchen, das ist der Geist jener chinesischen Denker gewesen, die die Fackel der geistigen Freiheit Jahrhunderte hindurch getragen haben. Dieser Geist hat es den chinesischen Denkern der Gegenwart ermöglicht, sich in dieser neuen Welt der Wissenschaft, Technik und Demokratie zu Hause zu fühlen."
I. Die „Neue Kulturbewegung" von 1919 als Wegbereiterin des Marxismus und Liberalismus in China
Wie Karl Marx vor etwa hundert Jahren vorausschauend bemerkte, sind die das altchinesische Reichs-und Kulturgefüge sprengenden Kräfte und Bewegungen innerchinesische Reaktionen auf die gewaltsame kommerzielle Öffnung sowie die politische und kulturelle Durchdringung Chinas durch die westlichen Kolonialmächte gewesen.
Die machtpolitische Überwältigung Chinas durch den Westen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sein jäher Anschluß an die Realitäten des Industriezeitalters und seine Konfrontation mit der technisch-zivilisatorischen Überlegenheit des Westens zerstörten das jahrtausendealte Selbstverständnis und Weltbild des konfuzianischen China. Dieses hatte das „Reich der Mitte" als Achse und Gipfelpunkt der Weltkultur und Weltgeschichte und seinen Kaiser als den vom Himmel berufenen „Zentralherrscher" betrachtet, dem die Regenten aller anderen Reiche — einschließlich der Staaten Europas — untertan sein sollten.
Seit dem Zerbrechen dieses sowohl universalistisch wie auch zugleich sinozentrischen Weltbildes des konfuzianischen Imperiums taucht in allen chinesischen Bewegungen zur Modernisierung Chinas ein Fragenkomplex auf, der, gleich einem Leitmotiv, in all den Phasen und Metamorphosen der seitherigen Geistesgeschichte Chinas immer wieder anklingt. Es sind dies die miteinander verbundenen Fragen nach den Ursachen der chinesischen Niederlagen, nach dem Weg zu einer Erneuerung und Wiedererstarkung Chinas sowie nach einem neuen, wirklichkeitsentsprechenden Weltbild und Selbstverständnis des chinesischen Volkes und seiner geistigen Eliten. Vor der republikanischen Revolution von 1911, die — sieben Jahre vor Beginn der russischen Oktoberrevolution — die Herrschaftsordnung des kaiserlichen China stürtzte, gab es vier innerchinesische Bewegungen, die in sehr verschiedener Weise eine Erneuerung Chinas anstrebten. Es waren dies:
3. Die sogenannte „Reformbewegung der Hundert Tage" von 1898, deren Träger, dem Beispiel Japans folgend, durch die Autorität des Kaiserhauses „Reformen von oben" erlassen und eine weitgehende Modernisierung Chinas evolutionär, ohne Anwendung massiver Gewalt, jedoch begleitet von einer modernisierenden Neuinterpretation des chinesischen Kulturerbes erwirken wollten. Doch scheiterte der idealistische Übereifer der Reformpolitiker am taktisch überlegenen Widerstand der konservativen Kräfte. 4. Die sektiererische Boxer-Bewegung, die 1900 mit untauglichen Mitteln blinder Gewalt und irrationaler Magie die „fremden Barbaren" mit Feuer und Schwert zu vertreiben suchte, jedoch statt dessen — nach der berühmten Belagerung des europäischen Botschaftsviertels in Peking — eine vereinte militärische Strafexpedition der Kolonialmächte gegen China bewirkte.
Das Scheitern der evolutionären Reformprogramme hatte 1905 die Gründung des „Chinesischen Revolutionsbundes' unter Führung Dr. Sun Yat-sens begünstigt. Sein Ziel bestand darin, die in China seit 1644 regierende mandschurische Ch'ing-Dynastie zu stürzen und an ihre Stelle eine demokratische Republik zu setzen, deren Regierung umfassende politische, soziale und kulturelle Reformen in die Wege leiten sollte.
Zwar gelang es 1911, das chinesische Kaisertum zu stürzen und die neue „Republik China" zu proklamieren. Doch wurden die revolutionären Idealisten wenige Monate nach diesem Sieg von der Macht in der neuen Republik verdrängt. Nach dem Tode des Diktators Yüan Shih-k’ai (1916) kam es zu nahezu pausenlosen Bürgerkriegen zwischen selbstherrlichen Militärgouverneuren der einzelnen Regionen und Provinzen Chinas. Im Bereiche der chinesischen Politik schien somit lediglich ein neues Übel an die Stelle eines alten getreten zu sein.
In dieser entscheidenden Situation des Versagens derer, die im neuen China zunächst über die politische Macht verfügten, ging die Initiative zur Erneuerung Chinas in die Hände der chinesischen Intellektuellen über, die sich seit Jahrtausenden als geistige Führungsschicht des chinesischen Volkes verstanden und als solche fungiert hatten. Sie waren die Initiatoren und Träger jener „Kulturellen Erneuerungsbewegung vom 4. Mai 1919", deren Bedeutung für die Geistesgeschichte Chinas im 20. Jahrhundert kaum überschätzt werden kann 1).
Die innere Kraft dieser Bewegung bildete das spontane Verlangen weiter Kreise der chinesischen Intelligenz, sich vorbehaltlos dem geistigen Leben und insbesondere den neuesten geistigen Strömungen Europas und Amerikas anschließen zu können. Von diesem Anschluß erhoffte man die Möglichkeit einer neuen, durch keinerlei Rücksicht auf Traditionen gehemmte Teilhabe am geistigen Fortschritt der Gegenwart. Im Gefühl der Unzulänglichkeit der eigenen Kulturtradition als Instrument zur geistigen Daseinsbewältigung strebten die Verfechter der Neuen Kulturbewegung danach, sich mit neuen, von der Philosophie und Wissenschaft des Westens geborgten geistigen Werkzeugen eine neue Welt und vor allem ein neues kulturelles Selbstverständnis zu zimmern. Zu den geistigen Führern und Initiatoren dieser Bewegung zählten viele der bedeutendsten Gelehrten und Schriftsteller des modernen China. Ihre Gefolgschaft waren die chinesischen Studenten, ihr Hochburgen die chinesischen Universitäten und insbesondere die Nationale Universität in Peking.
Zwei Hauptströmungen innerhalb dieser Bewegung verdienen im Hinblick auf ihre Haltung gegenüber der chinesischen Kulturtradition besondere Beachtung. In der radikaleren dieser beiden Bewegungen, deren treibende Kraft Ch’en Tu-hsiu
Ch'en Tu-hsius Aufforderung zum kompromißlosen Bruch mit der Vergangenheit und zu vollständiger „Verwestlichung" unter den fand Anhängern der Neuen Kulturbewegung ein weites Echo. Welche Motive aber veranlaßten den späteren Mitbegründer der Kommunistischen Partei Chinas zur Annahme dieser Haltung? Er selbst beantwortet diese Frage im Zuge seiner vergleichenden Betrachtungen über die Kulturen des Orients und des Okzidents. Er kontrastiert darin die vermeintliche Passivität und den Pazifismus der traditionellen chinesischen Lebenshaltung mit dem von ihm bewunderten Aktivismus, der Aggressivität und dem Unternehmungsgeist des Okzidents. Ch’en verurteilt die antiutilitaristischen Tendenzen des Konfuzianismus im Gegensatz zu dem fortschrittsfördernden -Utili tarismus, den er als positiven Grundzug der okzidentalen Lebenshaltung betrachtet. Er verwirft die konfuzianische Hochwertung der Familie, da das chinesische Familiensystem einerseits die Bewegungsfreiheit und Entfaltung der Einzelpersönlichkeit hemme und andererseits die Ausübung wirksamer Regierung (= Herrschaft) erschwere. Ch’en vermerkt zwar, daß der politische und wirtschaftliche Aktivismus der Europäer und Amerikaner den Orientalen oft „als Wahnsinn" erscheine, fügt jedoch ironisch hinzu: „. . . aber in welcher Lage befinden sich die Völker des Orients in der Gegenwart mit all ihrer Vorliebe für Frieden, Ruhe und Harmonie?"
Auf Ch’en wie auch auf Li Ta-chao, den zweiten bedeutenden Mitbegründer der Kommunistischen Partei Chinas, hatte vor ihrer Bekehrung zum Kommunismus der zwischen 1919 und 1921 in China lehrende amerikanische Philosoph John Dewey mit seiner Materialismus und Behaviorismus verbindenden Philosophie des Pragmatismus einen tiefen Eindruck ausgeübt
In der gleichen Schrift erklärt Mao Tse-tung, daß in China eine neue marxistisch geprägte Kultur einer alten konfuzianisch orientierten Kultur gegenüberstehe, wobei die letztere gelegentlich Verbindungen mit nichtmarxistischen Kulturelementen des Okzidents eingehe. Von dieser letztgenannten synkretistischen Kulturform sagt er: „Sie muß zerschlagen werden. Ohne sie zerschlagen zu haben, kann man keine Kultur aufbauen. . . . Der Kampf zwischen der neuen und der alten Kultur ist ein Kampf auf Leben und Tod."
Doch entwickelten sich innerhalb der Neuen Kulturbewegung und im Hinblick auf deren Bewertung der chinesischen Kulturtradition andere einflußreiche Strömungen, deren Kulturkritik nicht in den ikonoklastischen Extremismus eines Ch'en Tu-hsiu einmündete. Als bei weitem wirkungsmächtigster und einfallsreichster Denker der zweiten Hauptströmung der Neuen Kulturbewegung kann der chinesische Literaturhistoriker Hu Shih gelten. Seine Persönlichkeit symbolisiert jene Richtung innerhalb der Bewegung, die ohne vorgefaßte Zielsetzungen ein neues chinesisches Selbst-und Weltverständnis auf der Grundlage streng wissenschaftlicher Untersuchungen des chinesi-sehen Kulturerbes erarbeiten wollte. Das bedeutete im Hinblick auf die chinesische Kultur-geschichte beispielswiese eine quellenkritisch zu erringende Trennung zwischen Mythos und beweisbarer Faktizität. Im Bereich der Literatur waren es Hu Shih und seine Anhänger, hier auch unterstützt von Ch'en Tu-hsiu, die im Zuge einer „literarischen Revolution" die stilistisch überfeinerte und hochkomplizierte chinesische Literatursprache zugunsten der lebensnahen chinesischen Umgangssprache beiseite schieben wollten. Hu Shih sagte darüber: „Wenn wir aufrichtig China eine Literatur zu geben wünschen, die nicht nur ein Ausdruck des wirklichen Lebens und Denkens unserer eigenen Zeit ist, sondern auch eine wirksame Kraft bei intellektuellen und sozialen Reformen, dann müssen wir uns zunächst von den Fesseln einer toten Sprache befreien, die früher einmal das passende literarische Mittel für unsere Vorväter gewesen sein mag, die aber gewiß nicht angebracht ist für die Schaffung einer lebenden Literatur unserer eigenen Zeit."
Uber Ziel und Methodik eines auf wissenschaftlicher Basis neu zu erarbeitenden kulturellen Selbstverständnisses heißt es bei Hu Shih: „Wir haben hinsichtlich des altüberkommenen wissenschaftlichen Denkens nur eine positive Absicht — sie ist: Ordnet unser nationales Erbe neu! Warum soll man neu ordnen? Weil das wissenschaftliche Denken der alten Zeit bisher nicht folgerichtig, inkonsequent und unsystematisch war. Daher ist der erste Schritt die folgerichtige und systematische Neuordnung." Der nächste Schritt sollte nach Hu Shih darin bestehen, „... bei jedem wissenschaftlichen Gedanken herauszufinden, wie er entstanden ist und was für eine Wirkung er nach seinem Entstehen hatte." Ein dritter Schritt müsse darauf abzielen, „... mit wissenschaftlicher Methodik und auf Grund genauer Untersuchungen die Ansichten der Alten klarzustellen", während eine letzte zusammenfassende Untersuchung das Ziel haben sollte: den verschiedenen geistigen Richtungen (der chinesischen Kulturgeschichte) wieder ihre ursprüngliche wahre Form und ihren wahren Wert zu geben"
Ungehindert vom Frageverbot der gestürzten staatlichen Orthodoxie sollte so die Gesamtheit des chinesischen Kulturerbes in Frage ge-stellt werden, um im Schmelzofen moderner Kulturkritik historische Legenden von historischen Tatsachen und nur zeitbedingte Werte von bleibenden Werten zu trennen. Daneben sollten weite, von der konfuzianischen Orthodoxie bisher nur ungenügend beachtete Bereiche und Leistungen der chinesischen Volks-kultur neu erschlossen und dem ganzen Volk als Teil seines Kulturerbes bewußt und damit zu eigen werden.
In der Geschichte des vorkommunistischen China stellt die Neue Kulturbewegung unzweifelhaft einen Höhepunkt an bewußt geförderter geistiger Akkulturation dar. In ihr manifestiert sich das endgültige Zerbrechen des traditionalen Kulturgefüges in seiner bisherigen inneren Geschlossenheit. Der Charakter der Bewegung erscheint ambivalent in seinem Nebeneinander von Ikonoklasmus auf der einen Seite und der Neuerschließung vorhandener kultureller Potenzen und Leistungen auf der anderen. Das Streben nach maximaler unbeschönigender Wahrheit und Klarheit dem eigenen Kulturerbe gegenüber beeindruckt ebenso, wie Ausbrüche der totalen Verachtung der eigenen Kultur und unkritische Übernahme oft nur oberflächlich verstandenen fremden Kulturgutes abstoßen. Denn die Kulturkritik der Neuen Kulturbewegung war überwiegend einseitig gegen die chinesische Kulturtradition gerichtet, ohne sich gleichzeitig ebenso kritisch mit den vom Westen einströmenden Ideen auseinanderzusetzen. Im Zuge ihrer Verwerfung oder Distanzierung von der eigenen philosophischen Tradition hatten viele Anhänger dieser Bewegung zunächst jene kulturell bodenständigen Wertmaßstäbe, Perspektiven und Bezugspunkte aufgegeben, von denen her eine kritische Auseinandersetzung mit den Ideen des Okzidents möglich gewesen wäre. In solchen Fällen aber, wo kulturelle Selbstentfremdung und Entlassung aus der Geborgenheit eines in sich geschlossenen Kultur-systems von intellektuell weniger autonomen Persönlichkeiten erfahren wurde, entstand leicht die Versuchung zum unkritischen Anschluß an fremde ideologische und philosophische Systeme. Je mehr dieselben beanspruchen konnten, als „neuestes und folglich fortschrittlichstes" Ideengut der Gegenwart zu gelten, desto größer war ihr Attraktion für kulturell entwurzelte und fortschrittshungrige, jedoch in ihrer geistigen Daseinsbewältigung relativ unselbständige Intellektuelle.
Ein weiterer bedeutsamer Zug der „Bewegung vom 4. Mai 1919“ manifestiert sich in dem Aufflammen eines neuen Nationalgefühls bei den chinesischen Akademikern und anderen Bevölkerungskreisen. Zum Anlaß dazu wurden jene Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles, auf Grund deren, ungeachtet der Kriegsteilnahme Chinas auf Seiten der Alliierten, zahlreiche vormals deutsche Rechte auf chinesischem Boden nicht an China zurückfallen, sondern von Japan übernommen werden sollten
Charakteristisch für viele der traditionsgebundeneren Kritiker der Kulturellen Erneuerungsbewegung sind die nachstehend wiedergegebenen, teilweise ironischen Bemerkungen Chiang Kai-sheks: „Nach der kulturellen Erneuerungsbewegung vom 4. Mai 1919 verbreiteten sich in China unter den gebildeten Schichten die Lehren eines individualistischen Liberalismus und eines klassenkämpferisdien Kommunismus. Jene Chinesen, die diese Ideologien verbreiteten, verstanden jedoch nichts von dem zeitlos Wesenhaften der chinesischen Kultur, sondern suchten einfach nach irgend etwas Neuem. Dabei vermochten sie doch nur die oberflächlichen Erscheinungen der westlichen Zivilisation zu imitieren, ohne — zum Nutzen für das chinesische Volk — zur eigentlichen Substanz der westlichen Lehren vorzudringen. Die Folge war, daß die gebildeten Schichten und die Gelehrten ihre Selbst-achtung und damit auch ihr Selbstvertrauen verloren. Wo ihre Ansichten vorherrschten, wurde alles Ausländische für gut und alles Chinesische für schlecht hingenommen. Es wurde zur Gewohnheit, das eine oder andere Volk zu vergöttern. Dabei bildeten sich verschiedene Cliquen, weil es ja mehr als nur einen fremden Staat und mehr als nur eine fremde Theorie gibt. Jede dieser Cliquen versuchte, die Lebensformen einer bestimmten Nation zu kopieren, vergötzte eine bestimmte Theorie, bildete um diese ihre besondere Gruppe und erklärte, alle, die zu dieser Gruppe gehörten, seien auf dem rechten Wege, und alle, die ihr nicht angehören, gingen in die Irre.
Wie sich aber die aus den verschiedenen Völkern zu uns kommenden Lehren fortwährend wandelten, so mußten dementsprechend auch unsere Cliquen forgesetzt ihre Theorien ändern. Von einer objektiven Warte aus gesehen muß gesagt werden, daß ihre Ideen und Vorschläge dem Wesen und der Psyche unseres Volkes nicht entsprachen, und von subjektiven Standpunkt her entbehrten diese Ideen jeder festen Grundlage, da sie auf fremdländischen Theorien beruhten und somit einem unausgesetzten Wandel unterworfen waren. So haben denn alle diese geistigen Bewegungen bei uns nur eine kurze Dauer gefristet.“
10a)
In der weiteren Geschichte der Neuen Kultur-bewegung und ihrer Träger vertiefte und erweiterte sich jene Dichotomie des Ansatzes, welche die stärker politisch engagierten radikalen Ikonoklasten von den Anhängern einer primär wissenschaftlich orientierten Kulturkritik trennte. Aus den Reihen der Radikalen sind die späteren Begründer und andere prominente Führer der Kommunistischen Partei Chinas hervorgegangen
Wenn man mit Chow Tse-tung die Ansicht vertritt, daß im Anfangsstadium der Bewegung gewisse intellektuelle Exzesse erforderlich gewesen seien, um ihr zum Durchbruch zu verhelfen
Ebenso unrichtig erscheint aber auch die von extremistischen Nationalisten erhobene Behauptung, die Neue Kulturbewegung sei von Anfang an nichts anderes gewesen als eine Wegbereiterin des chinesischen Kommunismus. Der Irrtum dieser Ansicht ergibt sich nicht allein aus der späteren Spaltung unter den Anhängern der Bewegung
So ist, wie Wolfgang Franke hervorhob, die Neue Kulturbewegung von epochaler Bedeutung, nicht nur auf Grund ihres Bruches mit der in sich geschlossenen Form der bisherigen chinesischen Kulturtradition
II. Zum Ursprung des ideologischen Konflikts zwischen Sunyatsenismus und chinesischem Kommunismus
1. Sun Yat-sen und der Beginn der chinesisch-
sowjetischen Zusammenarbeit Am 12. November 1966 jährte sich zum hundertsten Male der Geburtstag Sun Yat-sens, der in die Geschichte als „Vater der chinesischen Revolution" und Gründer der Republik China eingegangen ist. Die Erinnerung an sein Leben und Werk ist sowohl von der Kommunistischen Partei Chinas in Kontinentalchina wie auch von der nationalchinesischen Regierung in Taiwan (Formosa) betont gepflegt worden. Mao Tse-tung wie auch Chiang Kai-shek betrachten sich — wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise — beide als politische Erben dieses großen Staatsmannes und Staatsdenkers des modernen Asien, der in vielen Aspekten seines Wirkens das Vorbild für zahlreiche nachfolgende Staatsmänner und Ideologen in den Entwicklungsländern Asiens und Afrikas geworden ist.
Betrachtet man die Haltung der chinesischen Kommunisten und der chinesischen Nationalen Volkspartei (Kuomintang) in ihrer Selbstdarstellung, so könnte man meinen, daß zumindest in der gemeinsamen Erinnerung und nach außen zur Schau getragenen Verehrung des Andenkens an Sun Yat-sen die tiefe Kluft überwölbt werde, die die beiden Parteien des nunmehr bald vierzigjährigen chinesischen Bürgerkrieges voneinander trennt. Symbolisch für die äußerliche Spaltung des politischen Erbes Sun Yat-sens ist die Tatsache, daß seine Witwe (Madame Soong Ching-ling) in Peking und sein Sohn (Dr. Sun Fo) in Formosa leben. Geht man jedoch einen Schritt weiter und analysiert die Selbstdarstellung, um nach dem wirklichen Selbstverständnis der chinesischen Parteien in ihrem Verhältnis zur Person und Ideologie Sun Yat-sens zu fragen, so ergibt sich ein stärker differenziertes Bild.
Für die Geschichte Chinas und insbesondere für den chinesischen Kommunismus hat der Sunyatsenismus eine zweifache Bedeutung: Er war erstens die einzige von realer politischer und militärischer Macht getragene chinesische Ideologie, die in Kontinentalchina ein Viertel-jahrhundert lang mit dem chinesischen Kom-minismus konkurrierte und diesen so lange von der Machtergreifung femhielt, bis der China von Japan aufgezwungene und acht Jahre lang auf chinesischem Boden geführte Krieg die Widerstandskraft des nationalchinesischen Regimes zermürbt hatte. Zweitens ist der Sunyatsenismus in der Gegenwart die Ideologie der nationalchinesischen Widerstandsregierung in Taiwan (Formosa), die sich sowohl vermöge ihrer eigenen inneren Umgestaltung wie auch wegen der Unterstützung durch die Vereinigten Staaten als sichtbare Form des „anderen China" auf der chinesischen Insel Taiwan erhalten und entwickeln konnte.
Auf den nachstehenden Seiten wird der Versuch unternommen, die Gegensätze zwischen dem Sunyatsenismus und dem chinesischen Kommunismus an Hand jener weltgeschichtlich bedeutsamen Kontroverse zu skizzieren, die auf ideologischer Ebene (neben zahlreichen anderen machtpolitischen Faktoren) den bis in die Gegenwart in veränderter Form anhaltenden Bürgerkrieg zwischen der National-chinesischen Volkspartei (Kuomintang) und der Kommunistischen Partei Chinas ausgelöst hat. Die Bedeutung dieser Kontroverse reicht bei weitem über den Rahmen der chinesischen Geschichte hinaus; denn seither hat sich in Entwicklungsländern immer wieder die damals in China gegebene politische Konstellation wiederholt, in der die Kräfte des ausländischen und inländischen Kommunismus, der nationalrevolutionären Bewegung im eigenen Land und der nichtkommunistischen, teilweise kolonialistischen Großmächte des Auslandes miteinander in Kontakt und Konflikt geraten.
Der 1866 als Sohn armer chinesischer Bauern geborene Sun Yat-sen, der als einer der ersten politisch führenden Chinesen westliche Naturwissenschaften (Medizin) studierte, war nach dem Scheitern der evolutionär orientierten monarchistischen Reformbewegung mit voller Entschiedenheit zum Verfechter und Führer einer Revolutionsbewegung geworden, die Chinas Demütigungen als Folge seiner Rückschrittlichkeit und Chinas Rückschrittlichkeit als Folge seines dynastischen Herrschaftssystems betrachtete. Für ihn führte der Weg zu Chinas Modernisierung, die es zum gleichberechtigten Mitglied der Völkerfamilie machen würde, über den gewaltsamen Sturz jener konservativen Kräfte in China, die sich geweigert hatten, selbst in entscheidender Weise zu Trägern der Reform zu werden.
Wie oben bereits erwähnt, siegte die Revolution 1911. Doch fiel die Macht im Staat nicht Sun Yat-sen und den idealistisch gesinnten Revolutionären zu, sondern den Militärgouverneuren verschiedener Provinzen, deren Rivalitäten China in eine mehr als zehnjährige Periode chaotischer Bürgerkriege (1916— 1928) stürzten.
Sun Yat-sen und seine Bewegung konnten sich nur in einer der Provinzen Chinas, in Kwangtung, in stets nur gefährdeter Weise halten und von dort aus ihre Pläne zur Erneuerung und Wiedervereinigung des von Bürgerkriegen und Generalsfehden zerrissenen China schmieden, überzeugt von der Notwendigkeit ausländischer Hilfe, hatte sich Sun Yat-sen an die Vereinigten Staaten, an Japan, Großbritannien, an Deutschland und an den Völkerbund gewandt. Als erster Staatsmann eines Entwicklungslandes entwarf er einen gewaltigen Plan zur industriellen Entwicklung Chinas durch die gemeinsame Entwicklungshilfe der Industriestaaten, die zur Verhinderung politischen Mißbrauchs von Instanzen des Völkerbundes neutral verwaltet werden sollte.
Jedoch nur ein Land zeigte sich bereit, Sun-Yat-sen zu unterstützen. Es war das bolschewistische Rußland, dessen Führer sich in der Hoffnung getäuscht sahen, daß sich die russische Oktoberrevolution als zündender Funke für revolutionäre Erhebungen des Proletariats in allen Industrieländern der Erde und somit als Initialzündung der Weltrevolution erweisen würde. Das Ausbleiben dieser vorausgesagten und erhofften Entwicklung erforderte ein Erklärung für die Anhänger der kommunistischen Weltbewegung. Und noch zu Lenins Lebzeiten formulierte der Zweite Weltkongreß der Kommunistischen Internationale im Sommer 1920 Antworten, die für die gesamte weitere Geschichte des Verhältnisses des Weltkommunismus zur Problematik der Entwicklungsländer bis zur Gegenwart in richtunggebender Weise bedeutsam werden sollten. Es hieß damals, das Proletariat der kapitalistischen Industriestaaten habe sich nicht erhoben, weil es diesen Staatem möglich sei, durch die Ausbeutung kolonialer und halb-kolonialer Gebiete den Lebensstandard ihrer Bevölkerung künstlich hoch zu halten. Daher werde die Weltrevolution nur dann eintreten, wenn die kommunistische Bewegung des Industrieproletariats in den entwickelten Ländern ergänzt würde durch antikoloniale nationalrevolutionäre Bewegungen in Entwicklungsländern. Von dieser Sicht des Problems der Weltrevolution her beschloß die Kommunistische Internationale, nichtmarxistische, jedoch nationalrevolutionäre Bewegungen in Entwicklungsländern zu unterstützen, sofern dieselben bereit seien, an ihrer Seite audi kommunistische Parteien zu dulden oder doch zumindest mit Moskau im Kampf gegen den gemeinsamen Feind des kolonialen Imperialismus gemeinsame Sache zu machen.
Das in China besondere Beachtung findende Verhältnis Sowjetrußlands zur türkischen nationalrevolutionären Bewegung Kemal Atatürks, das nicht einmal durch dessen Unterdrückung der türkischen Kommunisten wesentlich getrübt wurde, da sich die gemeinsamen außenpolitischen Interessen als wichtiger erwiesen, wurde zum Modell (dem soge-nannten „kemalistischen Modell"), das Sun Yat-sen und anderen nationalchinesischen Revolutionären bei der Gestaltung ihres Bündnisverhältnisses mit Sowjetrußland vor Augen schwebte.
Mit Hilfe sowjetrussischer Berater und russischen Geldes wollte Sun Yat-sen seine nur einen Teil Südchinas kontrollierende Partei, die Kuomintang, politisch und militärisch so reorganisieren, daß sie in der Lage sein würde, die militaristischen Provinzregimes in allen Teilen Chinas zu vernichten und die Wiedervereinigung Chinas unter dem Banner der Kuomintang zu vollziehen.
Nach Zusicherungen der Vertreter Moskaus, man hege dort keine Absicht, den Kommunismus nach China zu exportieren, wo er objektiv fehl am Platze wäre, und nachdem Moskau — sich dem ausdrücklichen Wunsch Sun Yat-sens beugend — die damals noch sehr kleine Kommunistische Partei Chinas gezwungen hatte, sich als Mitläuferorganisation der Kuomintang Sun Yat-sens anzuschließen und — formal zumindest — sich ihr zu unterstellen, wurde im Januar 1924 das Bündnis zwischen Sowjetrußland und der nationalchinesischen Revolutionsbewegung unter Sun Yat-sen formalisiert.
Nachdem Sun Yat-sen im März 1925 gestorben war und die Kuomintang damit die bisherige Eindeutigkeit ihrer Führungsstruktur verloren hatte, gelang es den chinesischen Kommunisten auf Grund ihrer wesentlich wirksameren Organisationsund Propaganda-technik, immer größeren Einfluß im Lager der vereinigten revolutionären Kräfte in Südchina zu gewinnen. Es bestand der Plan, die revolutionäre Basis im Süden unter kommunistische Kontrolle zu bringen, bevor der von Sun Yat-sen erhoffte „große Nordfeldzug" von Kanton nach Peking beginnen sollte. Ein erster Staatsstreich Chiang Kai-sheks am 20. März 1926 stellte temporär die Führungsposition der Kuomintang wieder her, und im Sommer des gleichen Jahres begann unter seiner Führung der Feldzug der Revolutionsarmee mit dem Ziel Peking. Innerhalb eines halben Jahres befanden sich die wichtigsten Provinzen Süd-, Südost-und Mittelchinas in dem Besitz der Revolutionsarmeen. Diese rasche räumliche Ausbreitung der Revolutionsgewalt über weite Gebiete brachte für die Kommunisten die Chance zu einer präzedenzlosen Machtentfaltung, so daß in Moskau die 1927 in Schanghai bestehende sogenannte „Schanghaier Kommune" als realer Ausgangspunkt einer Bewegung zur kommunistischen Machtergreifung in China betrachtet wurde.
Auch auf die Kolonialmächte hatte das Anwachsen des Kommunismus in China entscheidende Wirkungen. Führende auswärtige Mächte erklärten sich nun plötzlich bereit, China jene Stellung der Gleichberechtigung zu gewähren, deren Erkämpfung für Sun Yat-sen der Hauptzweck des Bündnisses mit Sowjetrußland gewesen war. Diese beiden Entwicklungstendenzen, das Ansteigen der damals noch von Stalin gelenkten kommunistischen Bewegung in China und die plötzliche Kompromißbereitschaft führender Kolonialmächte, veranlaßten Chiang Kai-shek am 12. April 1927 zur Durchführung seines zweiten Staatsstreiches. Durch ihn wurde die Schanghaier Kommune zerschlagen und in Nanking eine neue nationalrevolutionäre Regierung ohne Beteiligung der chinesischen Kommunisten gegründet.
Von diesem Tage an datiert der seither ununterbrochen, zumeist offen und während des Zweiten Weltkrieges primär latent geführte Bürgerkrieg zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und der Kuomintang. In der Gegenwart nimmt dieser Konflikt die Form des Gegensatzes zwischen dem kommunistischen Regime in Kontinentalchina und dem nationalchinesischen Regime in Taiwan (Formosa) an. Dieser Konflikt ist vielschichtig. Was aber die Problemschicht des Weltanschaulichen betrifft, handelt es sich um eine Auseinandersetzung zwischen dem Sunyatsenismus und dem chinesischen Kommunismus. Der Ursprung dieser ideologischen Kontroverse soll auf den folgenden Seiten dargestellt werden.
Im Sinne der Beschlüsse des zweiten und vierten Weltkongresses der Kommunistischen Internationale
Diese Ausgangsposition der chinesischen Kommunisten macht es erforderlich, die Frage nach dem geistigen und geschichtlichen Selbstverständnis der mit ihnen verbündeten Kuomintang zu stellen; denn die Konfrontation des Selbstverständnisses beider zunächst miteinander verbündeter Parteien bildet eine wesentliche Voraussetzung zum Verständnis des sich zwischen ihnen entwickelnden und letzten Endes zum Bürgerkrieg führenden Spannungsverhältnisses.
Den Kerngehalt der sunyatsenistischen Weltanschauung der Kuomintang bilden Sun Yat-sens „Drei Grundlehren vom Volk" (San-min chu-i). Sie wurden 1905 erstmalig in Form eines revolutionären Parteiprogramms niedergelegt
Wie aus dieser Skizze hervorgeht, verbinden sich so im geistigen Profil Sun Yat-sens die Wesenszüge des politischen nationalen Revolutionärs mit denen eines sozialen Reformators, und es ist gerade diese Dichotomie, die der sunyatsenistischen Ideologie der Kuomintang ihre besondere, bis in die Gegenwart erhaltene Prägung verleiht. In seiner Stellungnahme zur sozialpolitischen Zielsetzung Sun Yat-sens hatte Lenin bereits ein Jahrzehnt vor Sun Yat-sens ersten Kontakten mit sowjetrussischen Politikern geschrieben: „Diese Theorie ist, vom Standpunkt der (marxistischen) Doktrin betrachtet, die Theorie eines kleinbürgerlichen . Sozialisten'und Reaktionärs. Denn es ist vollkommen reaktionär, davon zu träumen, dem Kapitalismus , zuvorzukommen‘, daß in China infolge seiner Rückständigkeit die , soziale Revolution'leichter sei usw."
Bei ihrer ideologisch-progagandistischen Aktivität im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit der Kuomintang war es der Kommunistischen Partei Chinas aus zwei Gründen nicht möglich, zu einem unverhüllten ideologischen Frontalangriff auf den Sunyatsenismus anzusetzen. Einmal hinderte sie daran die Weisung, die Einheitsfront mit der Kuomintang bis auf weiteres forzusetzen, und zum andern war es das große und nach seinem Tode bis zu seiner Apotheose führende Prestige, das Sun Yat-sen in fortschrittszugewandten Kreisen der chinesischen Bevölkerung genoß. In dem Nach-ruf eines vormaligen Gegners und Zeitgenossen heißt es: „Dr. Sun Yat-sen wird das Verdienst zugesprochen werden, die Revolution zu einer wirksamen Kraft geformt und die öffentliche Meinung auf Seiten der demokratischen Bewegung gesammelt zu haben. Dieser Faktor hat alle Fehler und Reaktionen der vergangenen dreizehn Jahre überlebt. ... Als große Tatsache seines Lebens wird sein Kampf gegen die Despotie, gegen die Korruption und für das Recht der Regierten verbleiben, bei der Regierung mitzubestimmen. Indem seine Ideen den Geist der Bevölkerung in ganz China erfassen, werden sie zum Ausdruck und Aufschrei leidender Millionen. ... ein Geist, der sich im In-und Ausland fühlbar machen und letzthin Peking bis in seine Grundfesten erschüttern wird."
Auf Grund der vorgenannten taktischen Hindernisse suchten und fanden die chinesischen Kommunisten eine Methode, die es ihnen erlaubte, den ideologischen Führungsanspruch sowie die kemalistischen und reformistischen Tendenzen des Sunyatsenismus anzugreifen oder zu entkräften, ohne den „Vater der chinesischen Revolution" dabei direkt kritisieren zu müssen. Diese bis zur Gegenwart verwendete Methode der chinesischen Kommunisten bestand in einer Neuauslegung des Sunyatsenismus — in einem Sinne, der zu einer weitgehenden Kongruenz desselben mit den Zielsetzungen des chinesischen Kommunismus führte. Diese auch von Mao Tse-tung übernommene und erweiterte Neuauslegung beruht vornehmlich auf zwei Thesen: Erstens wird erklärt, Sun Yat-sen selbst habe zu Anfang seines Bündnisses mit den russischen und chinesischen Kommunisten — und zwar von diesen beeinflußt —• seine „Drei Grundlehren vom Volk" in einer solchen Weise neugestaltet, daß sie seither mit dem Minimalprogramm der chinesischen Kommunisten in der geschichtlichen Periode der chinesischen Revolution bis zur Begründung eines sozialistischen Gesellschaftssystems vollauf übereinstimmten
In diesem Zusammenhang wird vor allem auf die „Grundsatzerklärung des Ersten Nationalkongresses der Kuomintang" vom Januar 1924 hingewiesen, weil Sun Yat-sens Neuorientierung in diesem Dokument am deutlichsten in Erscheinung trete
Diese Deutung des ideologischen Vermächtnisses Sun Yat-sens deckt sich weitgehend mit jenen bereits erwähnten Direktiven der Kommunistischen Internationale, die sich auf die Beziehungen zwischen kommunistischen Parteien und nationalrevolutionären Bewegungen in kolonialen und halbkolonialen Ländern beziehen. So hieß es dort beispielsweise in den „Leitsätzen zur Orientfrage": „Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben (der Kommunisten innerhalb) der anti-imperialistischen Einheitsfront, den breiten werktätigen Massen die Notwendigkeit eines Bündnisses mit dem internationalen Proletariat und mit den Sowjetrepubliken klarzumachen. . .. Die Forderung eines engen Bündnisses mit der proletarischen Sowjetrepublik ist das Wahrzeichen der antiimperialistischen Einheitsfront."
Die von der Kuomintang an dieser kommunistischen Neuauslegung der Weltanschauung Sun Yat-sens geübte Kritik konzentrierte sich vornehmlich auf folgende Punkte: In quellenkri-tischer Hinsicht wird zunächst festgestellt, daß sich der von den Kommunisten gebrauchte (und angeblich auch erfundene) Sammelbegriff der „Drei Großen Maßnahmen" (San-ta cheng-ts’e) in keiner der Schriften Sun Yat-sens finde und von diesem selbst nie verwendet worden sei. Der kommunistischen These, daß die „Grundsatzerklärung des Ersten Nationalkongresses der Kuomintang" Sun Yat-sens eigene, dem Kommunismus entgezenkommende ideologische Neuorientierung zum Ausdruck bringe, wird die Tatsache entgegengehalten, daß die Abfassung dieses Dokuments vom Januar 1924 zeitlich vor Sun Yat-sens zwischen Januar und August 1924 gehaltenen Grundsatzreden über die „Drei Grundlehren vom Volk" liege und daß Sun Yat-sens hier im August 1924 niedergelegte Letztformulierung der „Grundlehre vom Volkswohl" zugleich auch seine schärfste Kritik am Marxismus enthält. Somit könne die Kuomintang-Erklärung vom Januar 1924 kaum als „Weiterentwicklung" der zwischen Januar und August des gleichen Jahres in letzter Form niedergelegten „Drei Grundlehren vom Volk" betrachtet werden.
Korrekt sei hingegen, daß in der Grundsatzerklärung der Kuomintang vom Januar 1924 zwei neue Aspekte im Parteiprogramm der Kuomintang zu erkennen seien. Sun Yat-sen habe hier erstmalig nicht nur — wie bisher — von einer Politik für die werktätigen Massen des chinesischen Volkes in Stadt und Land gesprochen, sondern nunmehr auch zum national-revolutionären Freiheitskampf, vereint mit ihnen, aufgerufen. Doch habe diese Heranziehung und neue Beachtung der Bauern und Arbeiter nichts an Sun Yat-sens Entschlossenheit geändert, den innerchinesischen Klassenkampf zu verhindern und Chinas soziale Probleme auf dem Wege gewaltloser sozialer Reformen zu lösen. Einige der konkreten Maßnahmen dazu seien in der Grundsatzerklärung der Kuomintang ausdrücklich erwähnt. Die Grundsatzerklärung enthalte zwar die auch von den Kommunisten erhobene Forderung nach Zusammenarbeit der verschiedenen Klassen der Bevölkerung. Im Unterschied zum kommunistischen Programm kenne die Kuomintang-Ideologie jedoch keinen Führungsanspruch einer bestimmten Klasse und keine kastenmäßige Verbindung zwischen dem „Klassen-Status“ von Personen und Gruppen mit ihrer sozialen Wertung, sondern in der Sicht des Sunyatsenismus sei es allein die Gesinnung der Einzelpersönlichkeit, die darüber entscheide, ob jemand als Anhänger oder Gegner der nationalen Revolution zu betrachten sei
Ferner sei es richtig, daß die Grundsatzerklärung Sun Yat-sens die von den chinesischen Kommunisten gern zitierte Kritik der Mißbräuche der parlamentarischen Demokratie beinhalte
Die wichtigsten und folgenschwersten ideologischen und praktisch-politischen Kontroversen, die sidi im Verlaufe des nationalchine-sisch-sowjetrussischen Bündnisses ergaben und dessen Zerfall wie auch den Ausbruch des Bürgerkrieges herbeiführten, bezogen sich auf drei grundsätzliche Problembereiche: Erstens auf die von den Kommunisten in Wort und Tat befürwortete und von den Sunyatsenisten abgelehnte Politik des Klassenkampfes; zweitens auf die Frage, welcher Partei die Hegemonie innerhalb der revolutionären Bewegung zufallen solle; drittens auf die Frage, ob das Bündnis der Kuomintang mit Sowjetrußland als zweckbedingtes Mittel oder unabdingbares Dogma der sunyatsenistischen Politik zu verstehen sei. 2. Die Kontroverse um den Klassenkampf in China Zur Frage des Klassenkampfes heißt es bereits 1925 in einem Beschluß des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas: „. . . Bei der Frage der Theorie und Praxis des Klassenkampfes dürfen wir der Koumintang nicht einen Zoll breit nachgeben."
Der Divergenz sunyatsenistischer und kommunistischer Stellungnahmen zum Problem des Klassenkampfes lag jedoch mehr zugrunde als nur der Widerspruch zweier Ideologien, von denen sich die eine den friedlichen Interessenausgleich der verschiedenen Klassen der chinesischen Gesellschaft und die andere die Errichtung einer kommunistisch geführten Diktatur mehrerer revolutionärer Klassen zum Ziel gesetzt hatte; denn gleichzeitig waren bei beiden Parteien im Hinblick auf das Klassen-problem auch durchaus unterschiedliche taktische Erwägungen gegeben. Sie entsprachen der jeweiligen ideologischen Grundhaltung insofern, als die Sunyatsenisten nach größt-möglicher Einheit des revolutionären Lagers und der Vermeidung jedes unnötigen innerchinesischen Konfliktes strebten, während die chinesischen Kommunisten hingegen den Klassenkampf als Primärfaktor kommunistischer Machtbildung betrachteten. Nach Meinung der Kommunisten konnte die revolutionäre Stoßkraft vorhandener oder zu bildender Massen-bewegungen maßgeblich erhöht werden, wenn der Appell an nationale Gefühle zugleich mit dem Appell an soziale Interessen verbunden wurde
Der historische Zufall einer gigantischen sechzehnmonatigen Streik-und Boykottbewegung, die durch britische Massaker unter chinesischen Demonstranten im Mai und Juni 1925 in ganz China ausgelöst wurde, bot den chinesischen Kommunisten eine Chance, die sie in meisterhafter Weise zur Expansion kommunistischer Machtpositionen auszunützen verstanden. Von 100 000 zum Teil bewaffneten Streikposten, die sich in Kanton versammelten, wurde die Hälfte zur Verbreitung revolutionärer Propaganda in ländliche Bezirke entsandt, während die verbleibenden 50 000 für die Aufrechterhaltung des Streiks sorgten und daneben von kommunistischen Kadern in „Politgramota", das heißt in politischer Theorie und revolutionärer Taktik geschult wurden
Ebenso eindeutig erwies sich die kommunistische Führungsposition innerhalb der chinesischen Arbeiterbewegung dieser Jahre. Auf dem Zweiten Kongreß des Gesamtchinesischen Gewerkschaftsbundes, der in Kanton tagte und bei dem 281 Abgeordnete 166 Gewerkschaften mit insgesamt 540 000 Mitglieder vertraten, wurden prominente Kommunisten, unter ihnen Liu Shao-ch’i, in Schlüsselstellungen gewählt. Die Anfang 1927 entstandene Schanghaier Kommune, die über eine Gefolgschaft von 500 000— 800 000 Mitglieder und starke, gut bewaffnete Streikpostenverbände ver-verfügte
Somit hatte es die Kommunistische Partei Chinas in der Zeit ihres Bündnisses mit der Kuomintang und vor Chiang Kai-sheks zweitem Staatsstreich, von russischen Beratern unterstützt, in meisterhafter Weise verstanden, die Theorie und Praxis des Klassenkampfes als ideologisches und praktisch-politisches Mittel der kommunistischen Machtbildung zu handhaben. Doch geriet die Partei hierbei in einen zweifachen Gegensatz zur Kuomintang; denn ihre Klassenkampfpolitik widersprach einerseits ganz grundsätzlich den politischen Leitideen des Sunyatsenismus, andererseits war es einer Reihe von Kuomintangführern, insbesondere aber Chiang Kai-shek, bewußt geworden, daß die von den Kommunisten geführten und beeinflußten Massenbewegungen früher oder später zu einem Machtinstrument der Kommunistischen Partei Chinas im Kampf mit der Kuomintang um die Vormachtstellung innerhalb der revolutionären Bewegung werden konnte.
In seinen Erklärungen zur Ausstoßung der chinesischen Kommunisten aus der Kuomintang faßte Chiang Kai-shek deren Stellungnahme mit den Worten zusammen: „Während wir für den großen Zusammenschluß der Bauern, Arbeiter, Kaufleute, Studenten und Soldaten oder — mit anderen Worten gesagt — für die Zusammenarbeit aller Klassen der Bevölkerung eintreten, agitieren die Kommunisten für die Diktatur des Proletariats. ... Wir müssen diesen Unterschied sehr klar erkennen. Wir wissen um die Not der arbeitenden Bevölkerung und unser Ziel, ihre Lebensbedingungen zu erleichtern. Dr. Sun Yat-sen hat uns gelehrt, daß revolutionäre Methoden in China nur zur Lösung der politischen, nicht aber zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme angewendet werden können. Nachdem in Sowjetrußland Hunderttausende von Menschen getötet worden waren (gemeint ist die sogenannte Periode des „Kriegskommunismus"), mußte man dort dennoch zu der Neuen Ökonomischen Politik übergehen. Chinas Bevölkerung übersteigt die Rußlands zahlenmäßig um ein Mehrfaches, und wir können es nicht dulden, daß die Kommunisten China zu einem Experimentierfeld des Kommunismus machen und dabei Millionen unserer Brüder sinnlos sterben lassen."
Wie aus den Verhandlungsprotokollen hervorgeht, berichtete T’an P'ing-shan, als der Vertreter der Kommunistischen Partei Chinas auf dieser Konferenz, über die ungeheuren Fortschritte seiner Partei bei der organisatorischen und propagandistischen Erfassung der Gewerkschaftsund Bauernbewegung in den unter Kuomintang-Kontrolle befindlichen Gebieten. „Diese Tatsachen", so sagte er, „beweisen, daß das chinesische Proletariat (das heißt die K. P. Chinas) wirklich eine Chance besitzt, die Hegemonie innerhalb der revolutionären Bewegung an sich zu reißen"
engeren beider Parteien Maßnahmen zur Zusammenarbeit der chinesischen Revolution mit der Kommunistischen Internationale beraten sollte, und die Ernennung des chinesischen Komintern-Delegierten Agrarminister zum sowie des kommunistischen Vorsitzenden des Gesamtchinesischen Gewerkschaftsbundes zum Arbeitsminister der nationalrevolutionären Regierung waren Maßnahmen, die vollinhaltlich detaillierten Weisungen der Komintern-Thesen entsprachen
Auf seifen der Kuomintang richtete Chiang Kai-shek im Rahmen einer Rede vom 21. Februar 1927 eine unverhüllte Warnung an die chinesischen Kommunisten. Er sagte darin, er habe die Kommunistische Partei als solche nie unterstützt, sondern lediglich zu Anfang des Bündnisses mit Rußland ihre Mitarbeit als die einer „kleineren revolutionären Organisation" befürwortet. Man habe sie zulassen müssen, solange ihre Ziele mit denen der Kuomintang vereinbar gewesen seien. Doch habe er im März 1926 als Bedingung weiterer Zusammenarbeit mit den Kommunisten der Kuomintang das Recht vorbehalten, die kommunistische Bewegung zu unterdrücken, falls sie die Grenzen ihrer Stellung als Mitläufer-organisation der Kuomintang überschreiten und die Sache der chinesischen Nationalrevolution oder die Interessen der Kuomintang gefährden sollte. Jetzt, wo diese Kommunisten der Kuomintang gegenüber eine aggressive Haltung an den Tag legten, falle ihm in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Nationalrevolutionären Armee die Aufgabe zu, die kommunistische Bewegung einzudämmen. Diese Haltung betreffe nicht nur die chinesischen Kommunisten, sondern auch den linken Flügel der Kuomintang, gegen den er sich ebenfalls wenden werde, falls er die Sache des Sunyatsenismus verraten sollte
Die bereits genannte Antwort der Kommunisten und des von ihnen beeinflußten linken Flügels der Kuomintang bestand in jenen Beschlüssen des Zentralen Exekutivkomitees der Kuomintang vom 10. bis 17. März 1927, die Chiang Kai-shek aller politisch einflußreichen Posten — des Oberbefehlshabers der Streitkräfte ausgenommen — enthoben. Zwei Wochen nach Erlaß dieser Beschlüsse kehrte Wang der Ching-wei, prominenteste Führer des linken Flügels der Kuomintag, nach China zurück, wo sowohl Chiang Kai-shek wie auch der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Ch’en Tu-hsiu, sich bemühten, ihn auf die Seite ihrer jeweils vertretenen Gruppe zu bringen. Chiang Kai-shek schlug Wang Ching-wei vor, die chinesischen Kommunisten auf Grund eines Beschlusses des Zentralen Kontrollkomitees der Kuomintang aus der Partei auszuschließen und den sowjetrussischen Chefberater Borodin aus China auszuweisen, jedoch gleichzeitig (bewußt oder unbewußt dem kemalistischen Präzedenzfall folgend) das Bündnis der Kuomintang mit Sowjetrußland auch weiterhin
Somit lehnte Wang die Vorschläge Chiang Kai-sheks und seiner Anhänger ab und erließ vier Tage darauf mit dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas eine gemeinsame Erklärung, in der die Notwendigkeit weiterer Zusammenarbeit zwischen der Kuomintang und den chinesischen Kommunisten stark betont, jedoch gleichzeitig auch gesagt wurde, daß die Kommunistische Partei Chinas „dem Willen Sun Yat-sens entsprechend die , Drei Grundlehren vom Volk'und die Kuomintang offen und ehrlich als die führenden Kräfte der nationalen Bewegung in China anerkennt"
In seiner grundsätzlichen Erklärung über dieses Ereignis sagte er zu der Frage der Hegemonie im Lager der chinesischen Revolution, daß man habe handeln müssen, weil es den chinesischen Kommunisten im Zentralen Exe-kutiv-Komitee der Kuomintang, von Sowjetrußland finanziell wie auch taktisch durch dessen Berater unterstützt, gelungen sei, die Kuomintang überall zurückzudrängen und zu entmachten. Die Kommunisten versuchten nun, vormalige reaktionäre Provinzgenerale gegen ihn auszuspielen, weil sie, wie in Deutschland und Frankreich, die reaktionären Rechtsextremisten viel weniger fürchteten als das reformistische Zentrum. „Es ist richtig", so sagte er, „daß Dr. Sun Yat-sen Kommunisten in die Kuomintang ausgenommen hat, jedoch nur als Einzelmitglieder und nicht als geschlossene Partei. Daher bedeutet es eine falsche Auslegung der Tatsachen, wenn die Kommunisten nun von einer . Koalition der beiden Parteien'sprechen. Dr. Sun Yat-sen verfolgte mit seiner Maßnahme zwei Ziele: Erstens die Kommunisten (durch Unterwerfung unter die ideologische und disziplinäre Hegemonie der Kuomintang) an der Verwirklichung kommunistischer Ideen in China zu hindern, sie zum Glauben an die , Drei Grundlehren vom Volk'zu bekehren und zweitens ihnen eine Gelegenheit zur Teilnahme an der nationalen Revolution zu gewähren. Jedoch hat er all das nicht getan, damit die Kommunisten die Macht in der Partei an sich reißen, die Politik der Partei diktieren und seine . Drei Grundlehren vom Volk'mißachten."
Mittel oder Dogma?
Neben dem Problem der ideologischen und taktischen Zulässigkeit des Klassenkampfes und der Frage, welcher Partei die Führungsstellung im Lager der Revolutionäre zukommen solle, verbleibt als dritte der darzustellenden grundsätzlichen Kontroversen zwischen der Kuomintang und ihren kommunistischen Bündnispartnern die nationalchinesisch-kommunistische Auseinandersetzung über das Prinzip der gleichberechtigten Bündnispartnerschaft zwischen der Kuomintang und Sowjet-rußland. Diese Kontroverse kreiste um die zentrale Frage, ob Sun Yat-sens Politik eines Bündnisses der Kuomintang mit Sowjetrußland — so wie zahlreiche Kuomintang-Führer behaupteten — als zweckbedingtes Mittel zu sunyatsenistischen Endzielen der nationalchinesischen Revolution zu betrachten sei oder ob — so wie die Kommunisten entgegneten — Sun Yat-sens Taktik eines Bündnisses mit Sowjetrußland und der Zulassung einzelner Kommunisten zu seiner Partei das Gewicht eines permanenten und somit unabänderlichen sunyatsenistischen Parteidogmas der Kuomintang beigemessen werden müßte.
Die Ausgangslage der kommunistischen Haltung zu dieser Frage war eindeutig in den von der Kommunistischen Internationale erlassenen „Leitsätzen über die Nationalitäten-und Kolonialfrage''niedergelegt. So heißt es in Punkt 5 der Leitsätze: „. alle Ereignisse der Weltpolitik konzentrieren sich unvermeidlich um einen einzigen Mittelpunkt, und zwar um den Kampf der Weltbourgeoisie gegen die russische Sowjetrepublik, die einerseits die Sowjetbewegungen ... aller Länder und andererseits alle nationalen Freiheitsbewegungen der Kolonien und unterdrückten Völkerschaften um sich schart, die sich durch bittere Erfahrung überzeugt haben, daß es für sie keine Rettung gibt außer ihrer Verbindung mit dem revolutionären Proletariat und dem Sieg der Sowjetmacht über den Weltimperialismus."
Im folgenden Punkt werden die kommunistischen Parteien dazu aufgefordert, „eine Politik der Verwirklichung des engsten Bündnisses aller nationalen und kolonialen Freiheitsbewegungen mit Sowjetrußland" zu betreiben
Mitglied Sowjetrußland gegenüber verhielt, zum entscheidenden Kriterium dafür wurde, ob dieses Mitglied zum rechten Flügel, zum Zentrum oder zum linken Flügel der Kuomintang zu rechnen und dementsprechend zu behandeln sei
Das von Sun Yat-sen angebahnte Bündnis mit Moskau galt den chinesischen Kommunisten nicht als Bündnis der Kuomintang mit Sowjetrußland, sondern als Bündnis der chinesischen Revolution mit der von Sowjetrußland gelenkten und primär von seiner Existenz und Macht abhängigen Weltrevolution. In diesem Zusammenhang wurde die chinesische Revolution als ein dynamischer Entwicklungsprozeß verstanden, der nach mehrfachen Metarmorphosen zunächst zur Hegemonie der Kommunistischen Partei Chinas und weiterhin zur Errichtung eines sozialistischen Gesellschaftssystems in China führen werde. Die Kuomintang und ihre leitende Stellung innerhalb der nationalrevolutionären Bewegung wurden als Ausdruck einer bestimmten vorübergehenden Phase dieses geschichtsnotwendigen Entwicklungsprozesses betrachtet, der durch die Unterstützung Sowjetrußlands und eine taktisch richtige Politik der chinesischen Kommunisten in seinem Ablauf entweder beschleunigt oder aber durch Einschlagung einer falschen Politik gehemmt werden konnte. Somit wurde auch hier, in kommunistischer Sicht, die formale Absprache zwischen der Kuomintang und Sowjetrußland überwölbt von geschichtsmächtigen Entwicklungstendenzen, die, ungeachtet der subjektiven Haltung der Kuomintang, als die objektiven Träger dieses sowjetrussisch-nationalchinesischen Bündnisses galten. Um aber die „subjektive" Haltung ihrer nationalchinesischen Bundesgenossen mit diesen „objektiven" Erfordernissen der geschichtlichen Situation besser in Einklang bringen zu können, versuchten die chinesischen Kommunisten, die Kuomintang davon zu überzeugen, daß Sun Yat-sens russische Bündnispolitik nicht als zweckbedingtes Mittel der nationalchinesischen Politik, sondern als unabänderliches Dogma des Sunyatsenismus zu verstehen sei
Völlig anders erschien das Bild dieses Bündnisses in der Perspektive der Kuomintang. In seinen Vorverhandlungen zum Bündnis mit Moskau mit dem Komintern-Delegierten G. Maring hatte Sun Yat-sen bezüglich der ihm vor Augen schwebenden inneren Bündnisstruktur geäußert: „Wenn die Kommunistische Partei Chinas der Kuomintang beitritt, muß sie sich ihrer Disziplin unterwerfen und öffentliche Kritik der Kuomintang unterlassen. Falls die Kommunisten nicht gehorchen, werde ich sie (aus der Partei) ausschließen; und falls Sowjetrußland sie dann insgeheim unterstützen sollte, würde ich mich gegen Sowjetrußland wenden.“
In seinen handschriftlichen Randglossen zu der Erhebung einer zweifachen Anklage gegen die Kommunistische Partei Chinas seitens des Zentralen Kontrollkomitees der Kuomintang sagte Sun Yat-sen über die chinesischen Kommunisten: „Der Grund, warum sie unsere Partei angriffen und kritisierten, lag in ihrem Wunsch, die russische Freundschaft allein mit Beschlag zu belegen und Rußland davon abzuhalten, mit unserer Partei (Kuomintang) zu verhandeln. So hofften sie, Rußlands Hilfe zu monopolisieren und sich als selbständige Einheit mit unserer Partei messen zu können." Sun Yat-sen fügte dann hinzu, daß die erfahrenen russischen Revolutionäre sich durch „solch junge Leute" (gemeint sind die chinesischen Kommunisten) nicht hätten täuschen lassen, sondern ihnen unter der Androhung des Ausschlusses (von der Komintern?) befohlen hätten, der Kuomintang beizutreten und gemeinsam mit ihr vorzugehen. Die russischen Kommunisten hätten ihren chinesischen Genossen erklärt, Sun Yat-sens „Drei Grundlehren vom Volk" seien „ein zeitgemäßes Heilmittel" für Chinas politische Problematik „und nicht ein überlebtes Erbstück der Vergangenheit." Die Behauptung gewisser chinesischer Kommunisten, daß der Sunyatsenismus überlebt sei, entstamme „dem blinden Glauben und der übertriebenen Verehrung der jungen chinesischen Studenten für die russische Revolution". Der in dem hier besprochenen Zusammenhang bedeutsamste Satz der Randglossen Sun Yat-sens lautet: „Wenn Rußland mit China zusammengehen will, muß es das mit unserer Partei (Kuomintang) tun und nicht mit Ch'en Tu-hsiu (dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas). Wenn Ch'en unserer Partei nicht gehorcht, wird er von ihr ausgeschlossen.“
Anschließend wiederholte Sun Yat-sen die Tatsache, daß Rußland als einziger Staat des Auslandes bereit sei, die nationalchinesische Revolutionsbewegung zu unterstützen, und daß man in die Falle der chinesischen Kommunisten gehe, wenn man diesen erlaube, das chinesische Bündnis mit Rußland zu monopolisieren se). Ferner wies Sun Yat-sen während des Ersten Nationalkongresses der Kuomintang, der ihr Bündnis mit
Auch Sun Yat-sens kaum drei Monate vor seinem Tod in Japan gemachte Äußerungen galten der Kuomintang als Hinweis darauf, daß sich Sun Yat-sen nicht „bedingungslos" und ausschließlich an Rußland gebunden fühlte. So wiederholte er in einem Presseinterview an Bord der „Schanghai Maru" in Kobe am 24. November 1924, daß Japan die Freundschaft des chinesischen Volkes gewinnen könne, wenn es in Verfolg einer weitblickenden Politik China bei der Abschaffung der „ungleichen Verträge" unterstütze. Auf der Basis souveräner Gleichberechtigung könnten China und Japan dann „gegenseitige Unterstützungsverträge zur Herstellung eines gemeinsamen Wirtschaftsblocks und eines gemeinsamen Verteidigungspaktes abschließen."
Der einflußreiche indische Komintern-Delegierte M. N. Roy kommentierte hierzu nicht ohne Ironie: „Er (Sun Yat-sen) hatte mit dem Gedanken eines Bündnisses mit Sowjetrußland geliebäugelt, aber niemals die Hoffnung aufgegeben, einen angenehmeren Verbündeten zu finden. Selbst auf dem Totenbette hatte er seinen Anhängern noch , die Zusammenarbeit mit jenen Nationen, die uns auf der Grundlage der Gleichberechtigung behandeln', empfohlen. Offenbar war er nicht überzeugt, daß unter den gegebenen Bedingungen nur von der Sowjetrepublik eine solche Haltung erwartet werden konnte."
Wie sehr sich Sun Yat-sen als gleichberechtigter Partner seiner russischen Bundesgenossen empfand, geht auch aus seinem Schreiben an den sowjetrussischen Außenminister Tschitscherin hervor, in dem er seine Rolle in China mit derjenigen Lenins in Rußland verglich
Sun Yat-sen habe die Kuomintang beauftragt, von den taktischen und organisatorischen Erfahrungen der russischen Revolution zu lernen, um das Gelernte zum Nutzen der Kuomintang in Anwendung zu bringen. Die russische Revolution lehre, daß eine Revolution nur einen geistigen Führer, eine Weltanschauung und eine führende Partei haben könne. Im Falle Chinas sei Sun Yat-sen dieser Führer, der Sunyatsenismus diese Weltanschauung und die Kuomintang diese Partei
Um die Jahreswende 1926/27 war es jedoch den chinesischen Kommunisten, gestützt von der Kuomintang-Linken, gelungen, wieder beträchtlich an Boden zu gewinnen. Der während des Umzugs der Regierung von Kanton nach Wuhan provisorisch als oberstes Vollzugs-organ der Partei und Regierung gebildete so-genannte „Gemeinsame Rat" stand unter dem Einfluß einer Gruppe, die sich aus zwei chinesischen Kommunisten, dem sowjetrussischen Chefberater der Kuomintang, Borodin, und vier Vertretern der Kuomintang-Linken zusammensetzte und Hsü Ch'ien, einen bekannten Gegner Chiang Kai-sheks, zu seinem Vorsitzenden wählte
Im März 1927, wenige Wochen nur vor Ausbruch des Bürgerkrieges zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei Chinas, erließen Chiang Kai-shek auf der einen Seite und Ch'en Tu-hsiu, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas auf der anderen, Erklärungen, die den Widerspruch zwischen der „kemalistischen" und der kommunistischen Deutung der russischen Bündnispolitik Sun Yat-sens klar erkennen lassen. Ch'en Tu-hsius Äußerungen knüpften dabei an eine Rede Chiang Kai-sheks vom 7. März 1927 an, in der dieser seine Haltung zum Bündnis der Kuomintang mit Sowjetrußland mit den folgenden Worten gekennzeichnet hatte: „Unser Präsident (Sun Yat-sen) erstrebte (Chinas) Freiheit und Gleichberechtigung. Da Sowjetrußland bereit war, uns als gleichberechtigt zu behandeln, versteht es sich von selbst, daß wir uns mit ihm verbündeten. Solange Ruß-land diese Haltung einnimmt, werden wir unsere prosowjetische Politik nicht aufgeben." Von den Kolonialmächten sprechend, fuhr Chiang Kai-shek fort: ..... sollten diese Staaten uns gleichberechtigt behandeln, so würden wir uns ihnen gegenüber ebenso (freundschaftlich) verhalten, wie wir es jetzt Sowjetrußland gegenüber tun. Umgekehrt würden wir das letztere als imperialistische Macht behandeln, falls es seine Politik uns gegenüber ändern sollte."
Das Gegenargument Chiang Kai-sheks und anderer „kemalistisch" denkender Kuomintang-Führer kann dahingehend zusammengefaßt werden, daß sich die Kuomintang mit Sowjetrußland verbündet habe, weil dieses China als gleichberechtigt behandle und folglich das Bündnis mit Moskau nur aufrechterhalten könne, solange dieses fortfahre, seinen chinesischen Bündnispartner in Wort und Tat als gleichberechtigt anzuerkennen. Was aber galt der „kemalistisch" orientierten Kuomintang als Kriterium dafür, daß Sowjetrußland die Kuomintang als „gleichberechtigten" Bündnis-partner anerkenne? Die Schlüsselfrage war hier, ob Moskau die ideologische und politische Selbstbestimmung der chinesischen Nationalrevolution und die Führungsstellung der Kuomintang innerhalb derselben respektiere oder nicht. Nicht das Bündnis mit Sowjetrußland, sondern die Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der vom Geist des Sun-
yatsenismus gelenkten chinesischen National-revolution sei der von Sun Yat-sen geforderte Grundwert. Er sei der letztlich geltende Maßstab, an dem alle konkreten politischen Maßnahmen, darunter auch das Bündnis mit Sowjetrußland, zu messen seien. Moskau aber habe das so verstandene Prinzip der gleichberechtigten Bündnispartnerschaft in mehrfacher Weise verletzt: es habe versucht, der von ihm gelenkten Kommunistischen Partei Chinas die Führungsstellung innerhalb der chinesischen Revolution zuzuspielen; es habe die chinesischen Kommunisten und die sowjetischen Militärberater dazu benützt, um die militärische und auswärtige Politik der Kuomintang im Sinne sowjetrussischer und chinesisch-kommunistischer Zielsetzungen zu steuern; es habe den ideologischen Führungsanspruch des Sun-yatsenismus durch Ermutigung chinesisch-kommunistischer Kritik an demselben wie auch durch die bewußte Entfachung des von Sun Yat-sen kategorisch abgelehnten innerchinesischen Klassenkampfes untergraben.
Im Sinne dieser Kritik heißt es in Chiang Kai-sheks Grundsatzerklärung zum Abbruch der Zusammenarbeit mit den russischen und chinesischen Kommunisten: „Dr. Sun Yat-sens Politik einer Zusammenarbeit mit Sowjetrußland war nur denkbar, weil uns Sowjetrußland , die Behandlung unseres Volkes auf der Basis der Gleichberechtigung'versprach. Wir haben den Genossen Borodin nicht dazu eingeladen, um den revolutionären Fortschritt unserer Partei zu behindern. Das entscheidende Kriterium dafür, ob unsere Politik einer Zusammenarbeit mit Sowjetrußland fortgesetzt werden kann oder nicht, ist die Frage, ob Sowjetrußland die Kuomintang als gleichberechtigten (das heißt politisch und ideologisch autonomen) Bündnis-partner betrachten kann. Die Entscheidung hierüber liegt nicht bei China. Hätte Sowjetrußland seine Haltung nicht geändert, so hätten wir auch weiterhin mit ihm zusammenarbeiten können"
Wenige Tatsachen sprechen so deutlich für Chiang-Kai-sheks „kemalistische" Auffassung des nationalchinesisch-sowjetrussischen Bündnisverhältnisses wie seine in den ersten Monaten nach Ausbruch des Bürgerkrieges mit den chinesischen Kommunisten immer wiederkehrende Forderung, das Bündnis mit Sowjetrußland unter Ausschaltung der chinesischen Kommunisten und der Einschränkung der Funktion der sowjetischen Berater wiederherzustellen
Verzweifelte Versuche der Kommunisten, durch hastig improvisierte Aufstände das Blatt noch in letzter Minute zu wenden, schlugen fehl und erhöhten die Aggressivität ihrer Gegner. Aufstand um Aufstand wurde in Blut erstickt. Nach Ansicht Mao Tse-tungs brachte das Jahr 1927 die schwerste Niederlage in der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas. Am 15. Dezember 1927, unmittelbar nach der Niederschlagung des von Moskau inspirierten Kommune-Aufstandes in Kanton, veranlaßte die chinesische Nationalregierung den Abbruch der diplomatischen Beziehungen Chinas zu Rußland. Trotzkis Frage: „Sunyatse-nismus oder Marxismus" war somit von Chiang Kai-shek für die chinesische Geschichte der folgenden 22 Jahre zugunsten des Syn-yatsenismus entschieden worden. wird fortgesetzt!