Wir veröffentlichen in dieser Ausgabe zwei Beiträge zu den jüngsten Vorgängen in China. Der erste stammt von Roderick MacFarquhar, dem Chefredakteur der Londoner Vierteljahreszeitschrift „The China Quarterly", einem vorzüglichen Kenner der chinesischen Verhältnisse. Wir verdanken die Nachdruckerlaubnis der New Yorker Zeitschrift „Foreign Affairs“, in deren Oktoberheft der Artikel zuerst erschienen ist. — Eine sehr eigenwillige Interpretation der „Kulturrevolution" unternimmt Herman Achminow. Sie erscheint uns interessant genug, abgedruckt zu werden — nicht zuletzt auch, weil der Autor sich eingehend mit der sowjetischen Reaktion auf diese Vorgänge befaßt —, obwohl auf der Hand liegt, daß angesichts unserer spärlichen Kenntnisse von der Situation in China jede derartige Deutung in hohem Maße spekulativ sein muß.
Maos Sorge um den Fortgang der Revolution
Für die Kommunistische Partei Chinas ist die „große proletarische Kulturrevolution" dieses Jahres die umfassendste Säuberung gewesen, seitdem Verteidigungsminister P'eng Tehhuai und zwei weitere Mitglieder des Politbüros während des „Großen Sprungs nach vorn" in Ungnade fielen. P’eng Chen, der im chinesischen Politbüro praktisch an sechster Stelle rangierte, ist aus seiner Schlüsselposition als erster Sekretär des Pekinger Partei-komitees entlassen worden; mit ihm mußten seine älteren Kollegen, mindestens ein weiteres Mitglied des Politbüros (der Propaganda-chef Lu Ting-yi) sowie viele Untergebene im ganzen Land gehen. Die seit langem vakante Stelle des Chef des Stabes der Volksbefreiungsarmee ist wieder besetzt worden und die Armee hat sich zum dritten Mal mit der Frage auseinandergesetzt, ob Berufssoldatentum oder politischer Kontrolle der Vorrang gebühre. Schließlich fand am 18. August eine Versammlung riesenhaften Ausmaßes in Peking statt, bei der es sich zeigte, daß das Staatsoberhaupt Liu Shao-ch'i, der seit zwanzig Jahren als Nadifolger Maos galt, in der nationalen Hierarchie um mehrere Stufen degradiert und als zweiter Mann im Staat durch Verteidigungsminister Lin Piao ersetzt worden war. So bietet Kommunistische Partei die Chinas, deren Führungsspitze unter dem Vorsitz Maos seit 31 fast immer von -Jahren bei spielhafter Solidarität gewesen ist, ein überraschend verworrenes Bild. Was ist geschehen, um in der Generation des „Langen Marsches" den Geist der Kameradschaft zu zerstören? Soll die chinesische Partei nun auch den regelmäßigen Säuberungen unterworfen werden, die seit dem Tode Lenins das Schicksal der KPdSU sind? Sind wir Zeugen eines Kampfes um die Nachfolge für Chinas alternde, aber immer noch aktive Vaterfigur? Oder verwandelt sich Mao selbst im Alter in einen Stalin?
Die Befürchtung, daß seine Form des Kommunismus in China nach seinem Tode zerfallen könnte, läßt Mao seit einigen Jahren nicht mehr los. Als der chinesisch-sowjetische Disput in außenpolitischen Fragen sich zuspitzte, beobachtete Mao die innenpolitische Entwicklung in der Sowjetunion mit wachsender Beunruhigung. Schließlich faßte er seine Sorgen in der letzten der neun großen Polemiken, die die chinesische Partei von September 1963 bis Juli 1964 gegen Moskau richtete, zusammen. Nachdem er nachdrücklich auf die Gefahr der „Wiederherstellung des Kapitalismus" in der Sowjetunion hingewiesen und eine Reihe langfristiger politischer Ver Maßnahmen zur -hinderung dieser Gefahr in anderen Ländern dringend empfohlen hatte, erklärte er: „Wir brauchen nicht nur eine korrekte Linie und eine korrekte Politik, wir müssen auch Millionen von Nachfolgern heranbilden und schulen, die die Sache der proletarischen Revolution weiterführen werden." Er fuhr fort:
„Bei der Heranbildung von Nachfolgern für die revolutionäre Sache des Proletariats geht es letztlich um die Frage, ob es Menschen geben wird, die in der Lage sind, die von der älteren Generation proletarischer Revolutionäre ins Leben gerufene marxistisch-leninistische revolutionäre Bewegung fortzuführen, ob die Führung unserer Partei und unseres Staates weiterhin in den Händen proletarischer Revolutionäre liegen wird, ob unsere Nachkommen auf dem vom Marxismus-Leninismus festgelegten Weg weitermarschieren werden, mit anderen Worten, ob es gelingen wird, die Entstehung eines Chruschtschowschen Revisionismus in China zu verhindern. Kurz gesagt, das ist eine außerordentlich wichtige Frage, eine Frage von Leben oder Tod für unsere Partei und unser Land."
Als Mao nun Anfang der sechziger Jahre die ideologische Lage im eigenen Land betrachtete, nahmen seine Befürchtungen — offenbar nicht ohne Grund — zu. Nach der Krise, die von dem „Großen Sprung nach vorn", drei verheerend schlechten Ernten und dem Abzug sowjetischer Techniker ausgelöst worden war, fingen bisher bewährte und zuverlässige Anhänger an, seine Politik, ja vielleicht auch seine Führung in Frage zu stellen. Hinzu kam, daß das Regime bei der gewaltigen Aufgabe, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, auf die Mitarbeit aller verfügbaren Fachkräfte dringend angewiesen war. Deshalb wurde 1961 eine neue Kampagne „Laßt hundert Blumen blühen" in die Wege geleitet. Obwohl durch zahlreiche Einschränkungen gesichert, die eine Wiederholung der bedauerlichen Folgen der Episode von 1956/57 verhindern sollten, ermutigte der Feldzug Funktionäre, Journalisten und Gelehrte im ganzen Lande, offene Kritik an Partei und Parteipolitik zu üben.
Im Herbst 1962 entschloß sich Mao — vielleicht in Erwartung eines wirtschaftlichen Aufstiegs —, der Gärung ein Ende zu setzen. Bei der 10. Vollversammlung des Zentralkomitees im September ermahnte er die Partei: „Vergeßt niemals den Klassenkampf!" Im folgenden Jahr begann eine „Bewegung für sozialistische Erziehung", die den ersten größeren Versuch darstellte, Erben und Nachfolger gegen den Virus des Revisionismus zu immunisieren. Aber Mao war immer noch unzufrieden mit den sozialistischen Erziehern. Im Dezember 1963 sagte er den Intellektuellen, in allen Sparten der Kunst herrsche „ein Überfluß an Problemen": Die Kommunisten legten eine geradezu lächerliche Begeisterung für feudalistische und kapitalistische Kunst an den Tag, um die Förderung der sozialistischen Kunst hingegen bemühten sie sich überhaupt nicht. Sechs Monate später erklärte er dem Gesamtchinesischen Bund der Literatur-und Kunstkreise rund heraus, sie und fast alle ihre Veröffentlichungen hätten in den 15 Jahren seit der Gründung der Volksrepublik nichts zur Verwirklichung der Politik der Partei beigetragen. Sie seien bis an den Rand des Revisionismus geraten und würden, wenn nicht ernste Maßnahmen zu ihrer Umformung ergriffen würden, sich mit der Zeit zwangsläufig in einen Petöfi-Kreis verwandeln.
Säuberungsaktion in Peking
Es ist noch nicht klar, wann Mao schließlich zu der Überzeugung gelangte, daß die Umformung, die er von den Parteiintellektuellen forderte, mit dem bestehenden Agitprop-Apparat nicht durchzuführen sei und daß er umfangreiche Entlassungen vornehmen und mit neuen Männern neu anfangen müsse. Schon im Februar 1964 gab er seine Zustimmung zu einer nationalen Kampagne „Lernt aus den Erfahrungen der Volksbefreiungsarmee in der politischen und ideologischen Arbeit", die im Rückblick darauf hinzudeuten scheint, daß ihm die normalen Methoden der politischen Erziehung nicht rasch genug zum Erfolg führten. Auch die Ergebnisse seiner wiederholten An-4 feuerungsversuche bei den „Kultur-Bossen" der Partei werden ihm kaum Freude bereitet haben. „Bourgeois" -Literatur und -Theater-stücke beherrschten noch immer die Bühne, und obwohl eine Reihe älterer Parteiintellektueller noch im gleichen Jahr in Ungnade fallen sollten, stellten sie nur einen kleinen Teil derjenigen dar, die 1961/62 „eine Welle übler Angriffe auf die Generallinie ausgelöst" hatten. Klar scheint jedoch zu sein, daß Mao von Beginn der gegenwärtigen Säuberung an selbständig und ohne den normalen Parteiapparat gehandelt hat. Die Durchführung übertrug er seinem früheren Politischen Sekretär, dem Kandidaten im Politbüro Ch’en Po-ta, dem die Leitung eines ad hoc gebildeten Gremiums, der „Gruppe, die die Kulturrevolution leitet", anvertraut wurde
Die höchsten Propagandaleute müssen über Maos neuen Kreuzzug wenigstens teilweise Bescheid gewußt haben. Chou Yang, wahrscheinlich der wichtigste stellvertretende Leiter der Abteilung und mehr als zwei Jahrzehnte lang Maos literarischer „Papst", gebrauchte den Ausdruck „sozialistische Kultur-revolution" und erörterte im November 1965 in einer Rede vor Amateurschriftstellern die wichtigsten Propagandathemen der Kampagne. Sein Vorgesetzter, der Propagandadirektor Lu Ting-yi, bereiste, wie berichtet wurde, noch im April die Provinzen, um örtliche Partei-komitees über die Organisation des neuen Feldzugs zu instruieren. Wenn Mao aber beabsichtigt hätte, die Eliminierung von Lu und Chou zum Höhepunkt seiner Kampagne zu machen, hätte er, das liegt auf der Hand, diesen beiden kaum sein Vertrauen schenken können, auch wenn er sie eine Zeitlang hinhalten mußte. Auch konnte er sich nicht der normalen, ihrer Kontrolle unterstehenden Propagandakanäle bedienen, solange er noch nicht bereit war zuzugreifen. Das erklärt die ungewöhnliche Verworrenheit, die während des größten Teils der Kampagne in der chinesischen Presse herrschte. Bezeichnenderweise blieb die führende, von einem stellvertretenden Leiter der Propaganda-Abteilung herausgegebene Pekinger Volkszeitung fast bis zu dem Tag (3. Juni), an dem P eng Chens Entlassung bekannt wurde, in ihren Denunzierungen weit hinter Maos auserwählten Organen zurück. Die neuen Propagandaleute haben ihr Amt anscheinend kurz vor dem 1. Juni übernommen.
Das erste Angriffsziel der „Kulturrevolution" war ein bekannnter Historiker, Wu Han, der zugleich stellvertretender Bürgermeister von Peking war. Obwohl er nicht Parteimitglied ist, hatte er sich den Aktionen bei gegen die Intellektuellen stets äußerst korrekt verhalten. Nun wurde er in dem Artikel vom 10. November 1965 in der Shanghaier Parteipresse angegriffen, weil er für die Pekinger Oper ein Stück über einen Beamten der Ming-Dynastie geschrieben hatte, das unter dem Titel „Hai Jui wird aus seinem Amt entlassen" im Jahre 1961 aufgeführt worden war. Darin kam ein ehrlicher Beamter vor, der sich dafür einsetzte, daß den Bauern Landstücke wiedergegeben und Mißstände abgestellt werden sollten. Diese Gestalt habe Wu, so hieß es in dem Angriff, historisch falsch gezeichnet, um damit die Angriffe des Jahres 1961 auf die Volkskommunen und die Forderungen nach der Rückgabe von Privatland an die Bauern zu unterstützen. Der unerwartete Angriff auf Wu rief in Peking Konsternierung und Verwirrung hervor. Einige Freunde Wus aus dem Pekinger Partei-komitee versuchten — aus nicht ganz uneigennützigen Gründen — ihn zu verteidigen oder wenigstens den Angriff von ihm abzulenken. Sie „griffen das Parteikomitee in Shanghai rücksichtslos an ... und benutzten die ihnen unterstehenden Propagandaorgane, um auf jede mögliche Weise gegen den Artikel anzugehen und ihn zu blockieren". Zwar hielt Wu es Ende Dezember offenbar für nötig, sich öffentlich zu entschuldigen, wenn sein Stück den falschen Leuten Auftrieb gegeben haben sollte, fühlte sich aber doch noch so sicher, daß er die Richtigkeit seiner historischen Darstellung und die Reinheit seiner Motive verteidigte. Anfang 1966, als weitere Schriftsteller und Historiker angegriffen wurden, sah es tatsächlich so aus, als habe Wu noch eine Chance, sich in der Menge zu verlieren. Heute steht jedoch fest, daß die Angriffe gegen Wu zu einer scharfen Auseinandersetzung hinter den Kulissen zwischen dem Bürgermeister von Peking, P'eng Chen, und Mao Tse-tung geführt hatten.
P'eng Chen hätte Wu Han wahrscheinlich fallengelassen, wenn er nicht mit zwei älteren Mitarbeitern P'engs im Pekinger Parteikomitee, Teng T'o und Liao M-sha, eng liiert gewesen wäre. Diese drei Männer hatten von 1961 bis 1964 gemeinsam eine regelmäßige Artikelserie „Notizen aus einem Drei-Familien-Dorf" geschrieben, die in der von Teng T'o herausgegebenen Pekinger theoretischen Parteizeitschrift Frontlinie erschien. Offizielle Kritiker behaupteten später, die „Notizen" sowie eine weitere Spalte „Nächtliche Plaudereien in Yenshan", die Teng T'o für die Pekinger Abendnachrichten schrieb, hätten unter dem Deckmantel von Fabeln und historischen Anekdoten gehässige Angriffe auf die Parteipolitik, besonders die des „Großen Sprungs", gebracht und auf eine erneute Über-prüfung der in Ungnade gefallenen „rechtsopportunistischen" Gegner des „Sprungs" wie P'eng Teh-huai gedrängt.
Beim Durchblättern früherer Nummern seiner Parteiveröffentlichungen mußte sich P'eng Chen der Gedanke aufdrängen, daß seine Untergebenen Angriffsflächen bieten könnten. Außerdem wird ihm auch ohne diese Lektüre Maos Ermahnung gegenwärtig gewesen sein: „Nachdem er Erster Sekretär geworden ist, sollte er die gesamte Verantwortung für alle Mängel und Fehler in der Arbeit des Partei-komitees auf sich nehmen." Nur wenige Monate später erhob die Rote Fahne tatsächlich Vorwürfe gegen ihn: Er habe die Stadt Peking als „ein unabhängiges, wasserdichtes und undurchdringliches Königreich" betrachtet, in das sich niemand einmischen und an dem niemand Kritik üben dürfe; gleich einem Tiger, dem man nicht in den Hintern zu treten wagte. P'eng glaubte offenbar, keine andere Wahl mehr zu haben, als sich „vor die finsteren antiparteilichen und antisozialistischen konterrevolutionären Gangster zu stellen", um sich selbst zu schützen.
Der Blitz muß etwa Ende März eingeschlagen haben, zwischen dem 29., an dem P'eng Chen zum letzten Mal in der Öffentlichkeit erschien, und dem 3. April, an dem nach einem Monat fast vollkommenen Schweigens die Zeitungsangriffe auf Wu wiederaufgenommen wurden. Mit ihnen setzte eine Verschärfung der Kampagne ein, denn jetzt wurde Wu zum ersten-mal vorgeworfen, er habe 1959 die P’eng Tehhuai-Gruppe unterstützt. P'eng Chen war wahrscheinlich schon in Ungnade gefallen, weil er Mao getrotzt hatte, der persönlich interveniert hatte, um an dem Pekinger Komitee Kritik zu üben. Die Zügel der Macht waren P’eng aber anscheinend noch nicht aus der Hand genommen worden; jedenfalls war er immer noch in der Lage, die Verbindung mit seinen „getreuen Lakaien" aufrechtzuerhalten. Die Rote Fahne schrieb später: „Selbst nachdem Genosse Mao Tse-tung das frühere Parteikomitee der Stadt Peking kritisiert hatte, setzten sie ihren organisierten und geplanten Widerstand fort in dem Versuch, , die Königin zu retten, indem sie die Bauern opferten’.“ Am 16. April veröffentlichte die Pekinger Parteipresse eine Selbstkritik, weil sie nicht nur Wu Hans Artikel, sondern auch die von Teng T'o und Liao Mo-sha, die noch nicht angegriffen worden waren, veröffentlicht hatte.
Dieses Manöver hat Mao vielleicht veranlaßt, den Schlag gegen P'eng noch einmal zu bedenken, denn diese Selbstkritik wurde erst am 8. Mai von der Zeitung der Armee als Schwindel entlarvt. Eine Woche später fragte die Rote Fahne: „Wer hat euch angewiesen, solche Tricks mit geheuchelter Kritik zu spielen?" Danach ging es wohl nur noch darum, den richtigen Zeitpunkt für die Bekanntgabe der Entlassung P'eng Chens zu finden. Am Nachmittag des 3. Juni wurden die Namen des neuen Ersten und des neuen Zweiten Sekretärs des Pekinger Parteikomitees bekanntgegeben. P eng Chen ist weder damals noch seitdem erwähnt worden, denn es scheint zum normalen Protokoll der chinesischen Kommunisten zu gehören, Mitglieder des Politbüros niemals namentlich in der Öffentlichkeit anzugreifen.
Schlag gegen die Universitäten
P'eng Chen ist bei weitem der mächtigste unter den Männern, die der jetzigen Säuberung zum Opfer gefallen sind. Als Zweiter Sekretär des Parteisekretariats unter Teng Hsiao-ping, im Politbüro praktisch an sechster Stelle rangierend, und als Chef des Pekinger Bezirks, dem die Garnison der Hauptstadt weitgehend unterstand
Hauptziel blieben die Intellektuellen und Propagandisten der Partei; allerdings mußte P'eng Chens Opposition erst niedergeschlagen werden, ehe die „Kulturrevolution" wirklich in Gang kommen konnte. Am 14. April sprach der stellvertretende Kulturminister Shih Hsimin vor dem Ständigen Ausschuß des Nationalen Volkskongresses davon, wie wichtig es sei, „die sozialistische Kulturrevolution energisch zu Ende zu führen". (Diese Rede veranlaßte den bekanntesten Intellektuellen Chinas, Kuo Mo-jo, Präsident der Akademie der Wissenschaften, zu dem Ausruf, alle seine Veröffentlichungen taugten nur dazu, verbrannt zu werden.) Vier Tage später verkündete die Zeitung der Volksbefreiungsarmee: „Eine neue Aufwallung der großen sozialistischen Kulturrevolution weitet sich jetzt zu einer Massenbewegung aus."
Zuerst bestand die Aktion hauptsächlich in der erneuten Hetze gegen Wu Han. Nach dem 8. Mai richtete sich jedoch der Angriff gegen die oben bereits genannten Veröffentlichungen unter dem Titel „Drei-Familien-Dorf" und besonders gegen Teng T’o. Am 2. Juni setzte eine weitere Phase der Kampagne mit der Veröffentlichung eines in der Universität angebrachten Plakates ein, das sich gegen den Präsidenten der Universität und Ersten Parteisekretär Lu P’ing und dessen Zweiten Sekretär wandte. Kurz nach Mitternacht am 4. Juni, nur wenige Stunden nach der Bekanntgabe der Umorganisation des Pekinger Komitees, traf Pekings neuer Zweiter Sekretär unter dramatischen Umständen in der Universität ein, um Lu P’ing und seinen Stellvertreter aus ihren Ämtern zu entlassen. Lu P'ing wurde vorgeworfen, er habe, den Anweisungen der notorischen Pekinger Partei folgend, versucht, die Kulturrevolution in eine revisionistische Richtung abzudrängen. Als jedoch nach wenigen Tagen die Universitäten im ganzen Lande angegriffen wurden — auch in Gebieten, in denen die örtlichen kommunistischen Parteien einwandfrei waren —, zeigte es sich, daß die Ereignisse an der Universität Peking als Teil einer Aktion gegen die führenden Männer des Hochschulwesens und nicht nur als Nebenwirkung von P'eng Chens Sturz angesehen werden mußten. Die Angriffstechnik scheint in den Universitäten und Schulen von Peking bis nach Yünnan etwa die gleiche gewesen zu sein: Zunächst denunzierten — wahrscheinlich veranlaßt durch Agenten von Ch'en Po-tas kulturrevolutionärer Gruppe — „revolutionäre Linke" aus den Reihen der Studenten und Lehrer einen oder mehrere der höchsten Beamten der Universität. Diese, nicht ahnend welch hohe Unterstützung ihre Kritiker genossen, sammelten ihre Anhänger zu einer Gegenoffensive. Zwei oder drei Wochen lang verwandelte sich die Universität in einen Hexenkessel, in dem Massendenunziationen, Plakatkriege, manchmal auch Gewalttaten an der Tagesordnung waren. Während dieser Zeit schien niemand außer den wenigen unterrichteten Agenten zu wissen, wer als Sieger aus dem ganzen Durcheinander hervorzugehen bestimmt war. Dann traf eine Delegation des Orts-oder Bezirks-komitees der Partei ein, sonderte die „Braven" von den konterrevolutionären „Monstern" und setzte eine Arbeitsgruppe ein, die die Neuorganisierung der Parteigruppe an der Universität sowie die Verwaltung selbst leiten sollte.
Mitte August hatten bereits über ein Dutzend Universitätspräsidenten und noch viel mehr Vizepräsidenten und Parteisekretäre an den Universitäten ihre Stellung verloren. Das ganze Ausmaß der Säuberung ist noch nicht zu übersehen. Einen Anhaltspunkt bietet vielleicht die Tatsache, daß während der letzten Säuberung im Erziehungswesen nach den „Hundert Blumen" im Jahre 1957 — viele der Gehetzten von heute waren damals die Hetzer — an den Universitäten und Oberschulen tausend Parteifunktionäre eingesetzt wurden, davon oder Vizepräsidenten. als Präsidenten
Aber die Säuberung der Professoren und Lehrer ist nur ein Aspekt eines Frontalangriffs auf alle, die Geist und Denken in China zu gestalten haben: Journalisten, Schriftsteller, Verleger und — am allerwichtigsten — Parteifunktionäre für Propaganda von der Orts-und Bezirksebene bis hinauf zu Lu Ting-yi und Chou Yang. Chou Yang wurde zum erstenmal am 1. Juli und danach mit wachsender Gehässigkeit und Schärfe angegriffen. Lu Ting-yi wurde als Kandidat im Politbüro, ebenso wie P eng Chen, nicht namentlich genannt. Daß er seinen Propagandaposten verloren hatte, wurde erst deutlich, als der Erste Sekretär des Parteibüros für Zentral-und Südchina, T ao Chu, am 10. Juli bei einem Empfang für afroasiatische Schriftsteller Lus Titel führte
Allen Opfern der Säuberung ist ein ganzes Sündensyndrom vorgeworfen worden, das im wesentlichen darauf hinausläuft, daß sie das „Experte-sein" dem „rot-sein" vorgezogen oder es versäumt hatten, „der Politik den Vorrang einzuräumen". So soll zum Beispiel der Leiter des Konservatoriums in Shanghai „traurige Symphonien" aufgeführt haben, die Niedergeschlagenheit bei den Massen auslösten. Der Vorsitzende der volkswirtschaftlichen Abteilung der Akademie der Wissenschaften wollte angeblich „liberman'scher" als Liberman sein. Örtliche Zeitungen im ganzen Lande sollen in den dunklen Tagen von 1961/62 Abschriften des Pekinger „Drei-FamilienDorfs" veröffentlicht haben, in denen die Parteipolitik kritisiert wurde. Ob das zutrifft oder nicht, wird sich niemals ganz klären lassen, da Wahrheit und Unwahrheit der Beschuldigungen in vielen Fällen davon abhängen, ob historische Essays allegorisch gemeint waren oder nicht. Immerhin scheinen mindestens einige der von der Partei erhobenen Vorwürfe gut begündet zu sein.
Das Unbestechliche wie Lu Ting-yi und Chou Yang sich an einer Flüsterkampagne gegen Mao tatsächlich beteiligt haben, ist nicht sehr wahrscheinlich. Aber es ist denkbar, daß Lu, Chou und ihre ebenso orthodoxen Untergebenen sich zu einer Zeit, als das Prestige der Führung erheblich gelitten hatte, verpflichtet fühlten, die Zügel der doktrinären Überwachung lockerer zu lassen.
Vom 1. Juli ab — die Kulturrevolution war nun in vollem Gange — begann Mao, das Dunkel, das die Säuberung umgab, allmählich zu lüften. An diesem Tage unterzog sich die Volkszeitung in einem Leitartikel zum 45. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei einer merkwürdigen Fleißarbeit, indem sie zunächst erklärte, „die Einstellung zu Mao Tse-tungs Denken ist der Maßstab, der den echten Revolutionär vom unechten und vom Konterrevolutionär, den Marxisten-Leninisten vom Revisionisten unterscheidet", um anschließend in pointierter Form positive Äußerungen über Maos Denken von Liu Shao-ch'i, Chou En-lai, Lin Piao und Teng Hsiao-p'ing zu zitieren. Daß diesen vier engsten Waffenbrüdern Maos die ideologische Gesundheit öffentlich attestiert werden mußte, ist ein erschrekkender Beweis dafür, wie weit sich Gerüchte und Verdächtigungen schon ausgebreitet haben müssen
Mitte Juli erschien Mao selbst wieder, um die Rückkehr zum Normalzustand — oder zu dem, was die Chinesen darunter verstehen — anzuzeigen, und stürzte sich sogleich in den Jangtse, um seine Rüstigkeit und Gesundheit unter Beweis zu stellen. Am 8. August wurden auf Grund eines Beschlusses des Zentralkomitees die künftigen Richtlinien für die Kultur-revolution festgelegt — offensichtlich in dem Bemühen, die allgemeine Verwirrung zu mindern. Danach gab das Zentralkomitee nach seiner ersten Plenarsitzung seit vier Jahren ein Kommunique heraus, in dem alle Maßnahmen zur Vorbereitung der Kulturrevolution nachträglich gebilligt und eindeutig Mao zugeschrieben wurden.
Politisierung und Entprofessionalisierung von Wissenschaft und Kunst
Die Säuberung ist zwar der dramatischste Teil der „großen proletarischen Kulturrevolution"
gewesen, aber doch nur die negative erste Phase. Jetzt sind nicht nur neue Männer, sondern auch neue Maßnahmen nötig. Die drastischsten Veränderungen, die erwogen werden, sollen offenbar das Erziehungswesen treffen. Am 17. Juli gaben Partei und Regierung bekannt, daß die Zulassung zur höheren und Hochschulen in diesem Jahr um sechs Monate verschoben werde. Damit soll einerseits den Oberschulen und Universitäten Gelegenheit gegeben werden, die Kulturrevolution zu Ende zu führen; andererseits soll — und das ist noch wichtiger — damit Zeit für eine gründliche Reform des jetzigen Zulassungssystems gewonnen werden. Man ist zu der Überzeugung gekommen, daß bei den Aufnahmeprüfungen den akademischen Fähigkeiten zu viel, der politischen Zuverlässigkeit aber zu wenig Gewicht beigemessen wird; dadurch werde die massenweise Zulassung revolutionärer Bauern, Arbeiter und Soldaten verhindert. Einige Oberschülerinnen haben in einem vermutlich veranlaßten Brief, der in der Presse veröffentlicht wurde, vorgeschlagen, daß alle Kinder nach der Schulentlassung zunächst in den produktiven Arbeitsprozeß eingespannt werden sollten; die Zulassung zur Universität sollte dann auf Grund „ideologischer Diplome" erfolgen, die sie während ihrer Tätigkeit unter Bauern und Arbeitern gewinnen könnten.
Nach dem Beschluß des Zentralkomitees vom 8. August wird ein weiterer wichtiger Schritt darin bestehen, den Studiengang zu vereinfachen. „Der Unterrichtsstoff sollte gründlich überholt und zum Teil vereinfacht werden." In einem zweiten Studentenbrief, der auf eine mögliche Neuerung hinweisen mag, wird geklagt, die Ausbildung in Schule und Hochschule dauere zu lange: „Siebzehn Jahre harter akademischer Arbeit ist eine Verschwendung der Jugenkraft und führt die junge Generation auf Irrwege."
Der noch stärkeren Politisierung des akademischen Lebens steht in Literatur und Kunst eine Entprofessionalisierung gegenüber. Schon vor seiner „Säuberung“ hatte Chou Yang das höchste Ziel verkündet: „Wenn die kommunistische Gesellschaftsordnung verwirklicht worden ist, werden wahrscheinlich alle Schriftsteller Amateure sein." Mao scheint der Ansicht zu sein, daß „hauptamtliche" Intellektuelle, schon weil ihre Arbeit privater Na-B tur ist, niemals wirklich umgeformt werden können. Dafür genüge nicht einmal der häufige Kontakt mit Arbeitern, Bauern und Soldaten. Wenn die Intellektuellen der Revolution nicht gefährlich werden sollen, müssen sie auch Arbeiter, Bauern oder Soldaten sein. Und da die Intellektuellen sich gegen diese Aussicht sträuben, mag es auf die Dauer gesehen wirksamer sein, am anderen Ende anzufangen. Maos Ziel ist tatsächlich die totale „Amateurisierung" aller Tätigkeiten, die Heranbildung von 700 Millionen Universalmenschen. „Mit dem Hammer in der Hand werden sie in der Lage sein, Fabrikarbeit zu leisten, mit Hacke und Pflug das Land zu bestellen, mit dem Gewehr in der Hand werden sie kämpfen und mit der Feder ihre Gedanken schriftlich zum Ausdruck bringen", erklärte die Volks-zeitung am 1. August. Bei der Schilderung der praktischen Verwirklichung der „Amateurisierung" gebrauchte die Zeitung allerdings den Ausdruck „wo die Verhältnisse es gestatten"; damit wurde angedeutet, daß man zunächst vorsichtig vorgehen werde.
Das alles erinnert stark an den „Großen Sprung nach vorn", und auch im Kommunique der 11. Plenarsitzung des Zentralkomitees wird davon gesprochen, daß sich ein „neuer umfassender Sprung nach vorn" anbahne. Aber die Formulierung an dieser sowie an anderer Stelle läßt vermuten, daß die Partei eher die nationale Moral heben als die apokalyptische Atmosphäre des Jahres 1958 wieder heraufbeschwören will. Schon im April erklärte Premierminister Chou — aber eher beschreibend als fordernd —, die Industrieproduktion habe „einen neuen Sprung nach vorn" getan. Chou, Außenminister Ch'en Yi und jetzt auch das Zentralkomitee haben alle auf die Verbesserung der Qualität Gewicht gelegt, während im Jahre 1958 das Schlagwort „Quantität" hieß und die Qualität ganz unbeachtet blieb. Bezeichnend ist auch, daß das Zentralkomitee bei seinen Beschlüssen über die Kulturrevolution sich besondere Mühe gegeben hat, Wissenschaftler und technisches Personal zu beruhigen — also die Leute, bei denen die Aussicht auf einen weiteren „Sprung nach vorn“ am ehesten Unruhe auslösen könnte.
Wenn die berauschende Wirkung eines „Sprungs nach vorn" nun vermieden werden soll, werden vermutlich die neue Propaganda-abteilung und die Volksbefreiungsarmee, die ursprüngliche „Schule der Revolution", den revolutionären Eifer pflegen müssen. Aber merkwürdigerweise hat auch die Armee, obwohl sie noch immer als das unumstrittene politische Vorbild hingestellt wird, eine große, wenn auch unauffällig durchgeführte Umwälzung durchgemacht. Am 1. August, am Tage der Armee, gab ein „stellvertretender Chef des Stabes" den alljährlichen Empfang — ein Zeichen dafür, daß auch Lo Jui-ch'ing, der seit November nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen worden war, wie seine beiden Vorgänger in Ungnade gefallen ist. Während der letzten acht Jahre sind nunmehr mindestens sieben höchste Offiziere entlassen worden, wenn auch einer davon inzwischen wieder aufgetaucht ist. Ebenfalls am 1. August war in der Zeitung der Volksbefreiungsarmee zu lesen, daß die Armee „vor nicht sehr langer Zeit" zum dritten Mal einen scharfen Kampf über die Frage Berufssoldatentum oder politische Kontrolle durchgemacht habe. Sogar der frühere Chef der Geheimpolizei, Lo Juich'ing, der Lin Piao bei der Politisierung der Armee nach der Entlassung von P'eng Tehhuai und seinem Stabschef im Jahre 1959 anscheinend wirkungsvoll unterstützte, scheint sich schließlich doch zu dem verpönten „rein militärischen Standpunkt" bekehrt zu haben.
Zwischen den Zeilen brachte das offizielle Organ der Volksbefreiungsarmee Lo (der bis jetzt noch nicht namentlich angegriffen worden ist) mit P'eng und den Propagandachefs in Verbindung und schilderte ihn und seine in Ungnade gefallenen Kollegen als „wichtige Mitglieder der gegenrevolutionären antiparteilichen und antisozialistischen Clique, die vor kurzem von unserer Partei entlarvt worden ist". Mao mag es zwar vom Standpunkt der Doktrin aus gut zustatten kommen, diese Männer alle über einen Kamm zu scheren, aber der Zeitpunkt von Lo Jui-ch'ings Verschwinden deutet darauf hin, daß er zwar die damals erst geplante Kulturrevolution vielleicht auch mißbilligte, aber wohl kaum Gelegenheit gehabt haben dürfte, sich P'engs späterem Widerstand dagegen anzuschließen. Interessant ist, daß der Treuebruch Los und seiner Kollegen erst jetzt bekannt geworden ist; vielleicht sollte die Kulturrevolution erst richtig in Gang kommen, ehe das ganze Land erfuhr, daß das von Mao zur Nachahmung aufgestellte Vorbild auf tönernden Füßen stand. Es ist bezeichnend, daß die Armee zwar die ganze Sache in ihrer Presse selbst aufgebracht, sie aber seitdem anscheinend wieder fallengelassen hat, als fürchte sie, das Volk könne auf die Idee kommen, Soldaten seien auch nicht revolutionärer als andere •Leute. Noch bedeutsamer ist vielleicht, daß der Angriff auf die Armeeführer nur in der Zeitung der Armee erscheinen durfte. Diese Tatsache zusammen mit der knappen Erklärung, die Volksbefreiungsarmee werde ihre kultur-revolutionären Aufgaben nach den Anweisungen des Militärkomitees beim Zentralkomitee erfüllen, deutet darauf hin, daß der zentrale Parteiapparat bei der Armee nur wenig zu sagen hat.
Vorrang der Armee
Mao hat sich nichts Geringeres zum Ziel gesetzt als die totale Umwandlung des chinesischen Menschen. In der Volkszeitung heißt es: „Es ist das Ziel der proletarischen Kulturrevolution, nicht nur die alte Ideologie und die alte Kultur, alle die alten Sitten und Gebräuche, die, von den Ausbeuterklassen gefördert, das Denken des Volkes seit Jahrtausenden vergiften, zu zerstören, sondern auch eine völlig neue Ideologie, eine neue Kultur, völlig neue Sitten und Gebräuche — nämlich die des Proletariats — bei den Massen zu schaffen und zu pflegen. .. . Diese gewaltige Aufgabe der Umwandlung aller Sitten und Gebräuche ist ohne Beispiel in der Geschichte der Menschheit."
Wenn man sich die Dimensionen dieser ehrgeizigen Pläne Maos klar macht, ist es nicht schwer zu verstehen, warum er den unglaublichen Kult, der mit seinem Denken (dem „Kompaß" der Revolution) und seiner Person (ihrem „Steuermann") getrieben wird, zuläßt und sich nicht scheut, eine gigantische Gasse in die Reihen der Partei zu hauen — wenn er auch, anders als Stalin, nicht tötet. Der Verlust von ein paar hundert oder auch tausend alter Genossen ist wahrscheinlich für ihn nur ein geringer Preis, den er für hunderte von Millionen revolutionärer Erben und Nachfolger zahlt.
Mao wird wahrscheinlich die Zerstörung der Kameradschaft von Yenan überstehen können, obwohl auch er Gegenangriffen ausgesetzt sein könnte, wenn der „Sprung nach vom" im Erziehungswesen — denn dahin scheint die Entwicklung zu gehen — mit einer Kata-B Strophe enden sollte. Aber wie steht es mit seinem Nachfolger? Bei der großen kultur-revolutionären Versammlung vom 18. August zeigte es sich deutlich, daß der 59jährige Lin Piao Maos Nachfolge antreten wird. Die Kulturrevolution ist zwar nicht das Ergebnis eines Kampfes um die Nachfolge, aber Mao ergriff die Gelegenheit, sie zu regeln. Er hat sich für Lin entschlossen, weil er offenbar in dem jüngeren Mann die Eigenschaften findet, die bei einem künftigen Führer, der den militanten Maoismus fortführen soll, unerläßlich sind.
Man kann sich nur schwer vorstellen, wie ein Mann, der wegen seines körperlichen Zustandes so gut wie nie in der Öffentlichkeit auftritt, dennoch gesund genug sein kann, das Land zu regieren. Aber selbst wenn er es ist, wird Lin vor schweren Problemen stehen, wenn er nach Maos Abgang versuchen muß, sich die Treue vieler seiner wichtigsten Kollegen zu erhalten. Chou En-lai wird bei ihm bleiben, wahrscheinlich als Gegenleistung für das Versprechen, keinen neuen „Sprung nach vorn" in die Wege zu leiten. Aber die Begleitumstände von Lins Aufstieg müssen bei vielen Leuten in der Führungsspitze Empörung ausgelöst haben, und er wird vielleicht versuchen, seine persönliche Stellung dadurch zu untermauern, daß er Zentralkomitee und Politbüro mit loyalen Armeekadern besetzt. Er wird es nötig haben, die Bedeutung der hauptamtlichen Parteifunktionäre in diesen zentralen Organen herabzusetzen, denn der Parteiapparat kann leicht zu einem mächtigen Stützpunkt werden, von dem aus seine Führung angegriffen werden könnte.
Der Ausgang von Manövern dieser Art wäre von weit größerer Bedeutung als Aufstieg und Sturz einzelner Personen, da damit die gesamte Rolle der Armee in der chinesischen Gesellschaftsordnung unweigerlich berührt werden würde. Schon jetzt unter Mao ist die Armee die Erzieherin der Nation. Ihre Kader werden auf die Bauernhöfe und in die Fabriken hinausgeschickt, um die maoistische Lebensform in das Volk zu tragen. Der Name der neuen revolutionären Jugendorganisation — Rote Garde — sowie ihre olivgrünen Uniformen deuten darauf hin, daß die Armee bei ihrer Gründung mitgewirkt hat. Sogar der neue stellvertretende Kulturminister war bis vor kurzem Soldat. Bei der Versammlung am 18. August erhielten jüngere Offiziere den Vorrang vor den stellvertretenden Vorsitzenden des Nationalen Volkskongresses, und Mao selbst erschien in Uniform, um die überragende Bedeutung der Armee im Leben der Nation symbolisch darzutun.
Was hier vor sich zu gehen scheint, ist keine bonapartistische Machtübernahme im üblichen Sinne — schließlich sind Lin Piao und seine Offiziere angeblich die „rötesten" aller Parteimitglieder. Aber das Land wird immer mehr von Militärs beherrscht, und auf die Dauer gesehen ist eine Armee in Friedenszeiten kein geeignetes Vehikel zur Führung der Revolution. Politische Führung kann nicht ihre einzige große Aufgabe sein; außerdem sind auch die rötesten Armeekader dem konservativen Einfluß ihrer mehr auf Fachleistungen bedachten Kollegen ausgesetzt, die, so stark sie auch kritisiert werden mögen, doch eine Wirkung haben. Das Eindringen der Armeekader in die höchsten Parteiorgane würde die Parteiführung letztlich zersetzen. Vielleicht hat Mao, indem er den Stab an Lin weitergab, gerade die Organisation untergraben, die er für die Grundlage der proletarischen Diktatur hält.