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Ungarn von 1945-1965 | APuZ 43/1966 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 43/1966 Ungarn von 1945-1965 Die ideologische Diskussion der ungarischen Revolution 1956 Die Sowjetarmee in Ungarn 1956

Ungarn von 1945-1965

Vilmos von Zsolnay

Das Ende des Krieges in Ungarn

Georg Stadtmüller: Die ideologische Diskussion der ungarischen Revolution 1956 ............ Peter Gosztony: Die Sowjetarmee in Ungarn 1956 ... S. 19 S. 37

Bereits Ende 1944 hatte die Rote Armee die größere Hälfte Ungarns erobert. Am 13. 2. 1945 fiel Budapest nach erbitterten Straßen-kämpfen und mehrmaligem Besitzerwechsel in sowjetische Hand.

Die Regierung Szälasi flüchtete im März 1945 nach Österreich. Am 4. April wurde das Land endgültig von den deutschen Truppen geräumt, und die Sowjets besetzten Ungarn.

Die sowjetische Armeekommandantur berief zum 20. Dezember 1944 ein Parlament nach Debrecen ein, damit dieses den Krieg gegen Hitler-Deutschland erklären und eine provisorische Regierung wählen konnte. Die Koalitionsparteien delegierten ihre Abgeordneten.

Die erste Sitzung wurde am 21. Dezember 1944 abgehalten, und am 22. Dezember wurde die provisorische Regierung unter Leitung von General Bela Mikios von Dälnok gebildet. Ihre Zusammensetzung erfolgte auf der Grundlage des Mehrparteiensystems. So erhielten die Kleinlandwirte 2, die Sozialdemo-kraten 2, die Bauern-Partei 1 und die Kommunisten 3 Ministerien. Die Kommunisten verlangten die drei wichtigsten Ministerien: Innen-, Außen-und Landwirtschaftsministerium.

Von 1945 bis zur Machtergreifung der KPU

Die provisorische Regierung erklärte am 28. Dezember 1944 Deutschland den Krieg. Gleichzeitig sandte sie eine Delegation nach Moskau, um den Waffenstillstand mit den Alliierten vorzubereiten. Am 20. Januar 1945 wurde das Abkommen unterzeichnet. Ungarn verpflichtete sich, der Sowjetunion, Jugoslawien und der Tschechoslowakei Wiedergutmachung in Form von Warenlieferungen im Werte von 300 Millionen US-Dollar zu leisten, die innerhalb von sechs Jahren aufzubringen waren. Von den 300 Millionen US-Dollar beanspruchte die Sowjetunion 200 Millionen für sich. Die Grenzen Ungarns wurden nach dem Stand vom 31. 12. 1937 wiederhergestellt. Die Sowjetunion erhielt das Recht, Ungarn zu der Erfüllung der Waffenstillstandsvereinbarungen, wenn nötig, mit Gewalt zu zwingen. Es wurde ihr also unbeschränkte Kontrolle über Ungarn eingeräumt. Dieser Zustand sollte bis zum Abschluß eines Friedensvertrages gelten. Marschall Woroschilow, der Vorsitzende der alliierten Militärkommission für Ungarn, verlangte zunächst, daß bei den freien Wahlen eine einzige Kandidatenliste aufgestellt werden sollte. Die Kleinlandwirte-Partei widersetzte sich erfolgreich, mußte sich aber zu einer Koalitions-Regierung bereit erklären. Die ersten Nachkriegswahlen fanden am 4. November 1945 statt. Trotz sowjetischer Besatzung siegte die bürgerliche Kleinlandwirte-Partei mit 245 Mandaten. Die Sozialdemokraten erhielten 69, die Nationale Bauernpartei 23, die Kommunisten 70 und die Bürgerlich-Demokratische Partei 2 Mandate. Die Kleinlandwirte-Partei errang 57 Prozent aller Stimmen, also die absolute Mehrheit; die Kommunisten bekamen 17 " o. Trotz dieses Sieges verlangten die Sowjets, daß alle Schlüsselpositionen mit Kommunisten zu besetzen (Innen-, Außen-und Landwirtschaftsministerium) seien. Die neue Regierung wurde am 15. November 1945 konstituiert. (Von den 18 Ministerien wurden 9 durch Kleinlandwirte, je 4 durch Sozialdemokraten und Kommunisten und eines von den Nationalen Bauern besetzt.) Ministerpräsident wurde der Klein-landwirt Zoltan Tildy.

Am 5. März 1946 bildeten die Kommunisten mit den Sozialdemokraten und der Nationalen Bauernpartei den „linken Block" gegen die „reaktionäre Kleinlandwirte-Partei". Gleichzeitig erfolgte die erste Säuberung der Klein-landwirte-Partei. Mit sowjetischer Unterstützung griffen die Kommunisten einen der fähigsten Führer der Kleinlandwirte, Dezsö Sulyok, an.

Das Präsidium der Kleinlandwirte-Partei war gezwungen, der sowjetisch-kommunistischen Forderung nachzugeben. Dezsö Sulyok wurde am 12. März 1946 mit weiteren 21 Abgeordneten aus der Partei ausgeschlossen. Mit der Affäre Sulyok begann eine Terror-Aktion der Kommunisten. Die Staatssicherheitspolizei (AVO) schaltete sich in den politischen Kampf ein. Eine ganze Reihe Politiker, alles Widerstandskämpfer gegen das Nazi-Regime, wurde von der sowjetischen Militärpolizei (NKWD) verhaftet und in die Sowjetunion deportiert. Im Dezember 1946 wollte man eine „Verschwörung" der „Ungarischen Gemeinschaft" aufgedeckt haben. Die politische Polizei benutzte sie als Vorwand für einen systematischen Feldzug gegen die bürgerlich-demokratischen Elemente. Die parlamentarische Immunität wurde völlig mißachtet.

Nach der Besetzung Ungarns durch die Sowjets (4. April 1945) wurde zunächst die Monarchie als Staatsform beibehalten. Am 1. Februar 1946 beschloß das Parlament, die Republik auszurufen; damit endete das tausendjährige Königreich. Der bisherige Ministerpräsident Zoltan Tildy wurde Staatspräsident; zu seinem Nachfolger als Ministerpräsident wählte man den 1. Vorsitzenden der Klein-landwirte, Ferenc Nagy.

Am 10. Februar 1947 wurde in Paris zwischen Bulgarien, Rumänien, und Finnland Ungarn — während des Zweiten die Weltkrieges an der Seite Deutschlands gekämpft hatten — und den Alliierten der Friedensvertrag unterzeichnet. Der Friedensvertrag gründete sich auf das Waffenstillstandsabkommen vom 20. Januar 1945. Die Grenzen wurden auf den Stand vom 31. Dezember 1937 festgelegt. Ungarn mußte weitere Gebiete an die Sowjetunion und den „Preßburger Brückenkopf", etwa 40 Quadratkilometer mit drei Dörfern, an die Tschechoslowakei abtreten. Ungarn sollte seine Souveränität erhalten, die sowjetischen Truppen sollten, innerhalb von 9 Monaten das Land verlassen. Allerdings wurde ihnen erlaubt, für die Sicherung des Nachschubs in Österreich Militär-Einheiten in Ungarn zu stationieren. Die Besatzung des Landes dauerte an.

Nach Inkrafttreten des Friedensvertrages (15. September 1947) wurde der Kampf gegen die mächtigste Partei, die der Kleinlandwirte, fortgesetzt. Unter sowjetischem Druck wurde ihr rechter Flügel stufenweise ausgeschaltet. Der Generalsekretär der Kleinlandwirte, Minister Bela Kovacs, wurde am 25. April 1947 verhaftet, in die Sowjetunion deportiert und dort wegen „Spionage gegen die Sowjetarmee" zu 15 Jahren Kerker bzw. Zwangsarbeit verurteilt.

Die Kommunisten beschuldigten den zur Erholung in der Schweiz weilenden Ministerpräsidenten Ferenc Nagy illegaler Tätigkeit. Der Führer der Kommunisten, Mätyäs Räkosi, und die kommunistischen Parteigänger bei den Kleinlandwirten, Lajos Dinnyes und Szabo, zwangen Ferenc Nagy zum Rücktritt. Am 28. Mai 1947 erklärte Ferenc Nagy von der Schweiz aus seinen Rücktritt. Am 2. Juni desselben Jahres mußte der Präsident der Nationalversammlung, Bela Varga, ins Ausland flüchten. Neuer Ministerpräsident wurde Lajos Dinnyes; den Posten des Präsidenten der Kleinlandwirte erhielt Istvän Dobi. Unter sowjetischen Drgck löste sich die 1945 auf vier Jahre gewählte Nationalversammlung auf; es wurden zum 31. August 1947 Neuwahlen ausgeschrieben. Um die Kleinlandwirte-Partei weiter zu schwächen, ließen die Kommunisten im Parlament ein neues Wahlgesetz verabschieden, das die Teilnahme bürgerlicher Parteien außerhalb der Koalition und die Stimmabgabe außerhalb des Wahlkreises erlaubte. „Diese Bestimmung nutzten die Kommunisten für den größten Wahlbetrug der ungarischen Geschichte aus: Innenministerium, Polizei und Gewerkschaften stellten Jungkommunisten zahlreiche Lastwagen zur Verfügung. Diese fuhren mit den von ihnen erteilten . Wahl-berechtigungen'— je 70 bis 80 pro Person — von Ortschaft zu Ortschaft und stimmten für die KP." (Laszlo Revesz)

Trotz dieses Wahlbetruges vom 31. August 1947 vermochten die Kommunisten nur 22 °/o der Stimmen zu gewinnen und standen einer Mehrheit von 78 °/o gegenüber.

Von den — nach dem neuen Wahlgesetz (Nr. 22/1947) — zugelassenen Parteien gelang es der „Ungarischen Unabhängigen Partei", einen beträchtlichen Prozentsatz der Wählerstimmen für sich zu sichern (14°/o). Die Kommunisten beschuldigten die Partei, die Zoltan Pfeiffer führte, der Reaktion und des Wahlbetruges. Das von den Kommunisten geführte Innenministerium löste sie auf; alle 47 Abgeordneten dieser Partei verloren ihre Mandate. Auch den übrigen Parteien wurde ein ähnliches Schicksal zuteil.

Die neue Regierung, deren Mitglieder überwiegend Kommunisten und Sozialisten bzw. Kollaborateure waren, wurde am 24. September 1947 gebildet. Ministerpräsident blieb weiterhin Lajos Dinnyes.

Nach den Wahlen von 1947 wandte sich die KP mit verstärktem Kampf gegen den rechten Flügel der Sozialdemokraten. Unter kommunistischem Druck wurde in der SDP eine Säuberung durchgeführt. Die Führer des rechten Flügels, Anna Kethly, Ferenc Szeder, Imre Szelig, Antal Bän u. a., wurden gezwungen, am 18. Februar 1948 ihren Rücktritt zu erklären. Die Säuberung der SDP war notwendig, um die von Moskau angeordnete „Vereinigung" beider „Arbeiterparteien" in der „Partei der Ungarischen Werktätigen" (MDP) verwirklichen zu können. Besonders Anna Kethly und Imre Szelig leisteten harten Widerstand gegen die „Vereinigung". Nach der Beseitigung des rechten Flügels der Sozialdemokraten erfolgte sie endlich am 12. Juni 1948.

Bevor die Parteien endgültig aufgelöst wurden, führte man — unter Druck von Moskau — eine gründliche Säuberung durch. Selbst der Staatpräsident Zoltan Tildy fühlte sich nicht sicher und wollte ins Ausland flüchten. Die Flucht sollte sein Schwiegersohn, Viktor Csolnoky, der ungarische Gesandte in Kairo, vorbereiten. Der Plan wurde aufgedeckt, Csolnoky nach Budapest gelockt, vor Gericht gestellt und hingerichtet. Zoltan Tildy selbst wurde zur Abdankung gezwungen (30. Juli 1948) und unter Hausarrest gestellt. Sein Nachfolger, der Sozialdemokrat Arpad Szakasits, wurde ein Jahr später ebenfalls verhaftet. Nach der Säuberung der Parteien und der Verstaatlichung der Schulen griffen die Kommunisten die Katholische Kirche an. Der Konflikt erreichte seinen Höhepunkt, als am 26. Dezember 1948 der Fürstprimas von Ungarn, Kardinal Jzsef Mindszenty, verhaftet wurde. Mindszenty wurde unter erfundenen perfiden Anschuldigungen vor Gericht gestellt und in einem Schauprozeß am 8. März 1949 zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.

Die Alleinherrschaft der Kommunisten

Im Februar 1949 schlossen sich die Parteien der Ungarischen Werktätigen (MDP) und die Nationale Bauernpartei und Kleinlandwirte zu einer „Volksfront der Unabhängigkeit" zusammen. Im April wurde das Parlament aufgelöst. Die ersten Wahlen auf Grund der Einheitsliste fanden am 15. Mai 1949 statt, die mit einem 92°/oigen Sieg der Kommunisten endeten. Die Kommunistische Partei Ungarns übernahm allein die Macht. Ihre Entwicklung ist charakteristisch: 1944 zählte sie weniger als 100 Mitglieder, im Januar 1945 10 000, im März 30 000, im Mai 150 000 und im Herbst 1945 653 000. Die „MDP" zählte 1949 1, 3 Millionen Mitglieder.

Die neue Regierung wurde am 7. Juni 1949 gebildet. Das Einparteiparlament hatte die Aufgabe der Proklamation einer neuen Verfassung. Sie war stalinistischer Prägung und trat am 20. August 1949 in Kraft.

Mit der neuen Verfassung begann die RäkosiÄra, ein trauriges Kapitel der ungarischen Geschichte.

Schon vor der neuen Verfassung wurden also die politischen Prozesse gegen „Klassenfeinde“, Kleinlandwirte-Politiker, Priester sowie gegen die gesamte Leitung der Katholischen und Lutherischen Kirche Ende 1948/Anfang 1949 auf sowjetischen Befehl hin eingeB leitet. 1949/50 wurden sie fortgesetzt: es kamen zunächst die Sozialdemokraten an die Reihe. Anna Kethly wurde zu 15 Jahren Kerker verurteilt, der sozialdemokratische Justizminister Istvän Ries wurde im Gefängnis zu Tode gefoltert, ebenfalls wurde der ehemalige Majordomus, Ferenc Szeder, zu Tode gequält.

Inzwischen war im Juni 1948 der Bruch zwischen Stalin und Tito erfolgt. Der mit Tito befreundete ungarische Innenminister Lszl Rajk mußte seinen Posten an Jänos Kädär abtreten. Rajk wurde Außenminister. „Es war für ihn (Rajk) eine entscheidende Rangminderung, da sein neues Amt ohne politischen Einfluß war; die auswärtigen Angelegenheiten Ungarns wurden ja in Moskau erledigt." Am 15. Juni 1949 ließ Räkosi den Altkommunisten Läszlo Rajk durch seinen Freund Jänos Kädär verhaften. Rajk wurde „wegen Kriegs-und volksfeindlicher Verbrechen" angeklagt. Man beschuldigte ihn, für Tito und für die westlichen Imperialisten Spionage getrieben, für die Wiederherstellung des Kapitalismus in Ungarn gearbeitet und Räkosis Ermordung geplant zu haben. Die Verhandlung gegen Rajk begann am 16. September 1949. Der Prozeß verlief nach Art der großen Moskauer Schauprozesse. Rajk und seine Mitangeklagten legten, nachdem Räkosi durch Kädär Rajk versichert hatte, ihnen würde nichts geschehen, dieser Prozeß sei nur eine notwendige Formalität zur Stärkung der Partei, groß-angelegte Geständnisse ab. Sie wurden am 24. September 1949 zum Tode verurteilt und tatsächlich anschließend hingerichtet. Es war eine Mordtat, die völlig grundlos erfolgte. Zwei weitere Innenminister — Altkommunisten — fielen der „Säuberung" zum Opfer: 1951 wurde Jänos Kädär eingekerkert, Ferenc Zöld erschoß sich und seine Familie kurz vor seiner Verhaftung.

Die zweite Verfolgungswelle innerhalb der Partei galt den „Zionisten"; der AVO-Chef Gäbor Peter scheute sich 1951/52 nicht einmal, hohe Partei-Funktionäre zu verhaften. Am 15. Mai 1951 verhaftete die AVO den Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Erzbischof Jözsef Grosz. In einem Schauprozeß wurde er mit einer Anzahl von Priestern am 28. Juni 1951 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Die Räkosi-Diktatur erklärte 1951 den Intellektuellen den Krieg. Im Juni/Juli 1951 wurden mehr als 70 000 Personen aus Budapest deportiert. Ähnliches geschah in den Provinz-städten. Die Deportierten verloren alles; sie wurden als Landarbeiter eingesetzt, standen unter polizeilicher Aufsicht und durften ihre Deportationsortschaft nicht verlassen. Gefängnisse und Internierungslager wurden mit ehemaligen Widerstandskämpfern gegen das Nazi-Regime, mit „Klassenfeinden" und politisch Andersdenkenden vollgestopft. Viele Tausende deportierte man nach Sowjetrußland. Das Land verwandelte sich in ein riesiges Konzentrationslager. — Eine Änderung und Verbesserung trat nach dem Tode Stalins (5. 3. 1953) ein, als Imre Nagy am 4. Juli 1953 das Amt des Ministerpräsidenten übernahm.

Wirtschaftliche Wandlungen

In keinem der von den Sowjets besetzten Länder wurde die Wirtschaft so rasch einigermaßen wiederhergestellt wie in Ungarn. Die kommunistische Partei buchte dies als eigenes Verdienst und nannte sich „Motor des Landes". Das wirtschaftliche Leben wurde jedoch völlig verändert. Schon die provisorische Regierung erledigte am 17. März 1945 das größte Problem des Landes: die Aufteilung des Bodens. Jene Grundbesitzer, die mehr als 1000 Joch Land besaßen (1 Joch -0, 57 ha), verloren durch die Bodenreform alles; diejenigen, die weniger als 1000 Joch hatten, durften 200 Joch behalten, wenn sie Landwirte waren, falls nicht, nur 100 Joch. Die Enteignung des Bodens wurde ohne Entschädigung durchgeführt. Es wurden 6 Millionen Joch Land unter 0, 7 Millionen Bauern verteilt, 2 Milionen Joch Boden wurden Staats-eigentum.Von den beiden Kirchen (Röm. -kath. und Ev. -ref.) enteignete man 0, 9 Millionen Joch Land.

Die ersten Schritte zur Änderung der Struktur der Industrie erfolgten von 1945 bis 1947. Im Dezember 1945 wurden die Kohlengruben, 1946 die Energie-, Metall-und Maschinenbauindustrie, 1947 die Banken verstaatlicht.

Bis zum Jahre 1952 waren die gesamte Industrie, das Bankwesen, alle Gewerbebetriebe und schließlich der Grundbesitz, Mietshäuser und größere Einfamilienhäuser mitsamt dem Inventar vom Staat enteignet.

Die Verstaatlichung erfolgte ebenfalls ohne Entschädigung. So entstand also bis 1952 der „sozialistische" Wirtschaftssektor.

Die Umstrukturierung der Landwirtschaft geschah langsamer: 1949 umfaßten die Staatsgüter 13, 5 °/o und 1954 24, 3% der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft, die mit einer Verhaftungs-und Internierungswelle verbunden war, begann man bereits im Herbst 1948. Bis Ende 1954 gab es 4381 Kollektivwirtschaften mit 1 880 000 Joch Boden, und Anfang 1956 waren es insgesamt 4186 Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) mit 2 282 000 Joch Boden. Den LPG-Bauern wurde erlaubt, eine Hofstelle mit höchstens einer Kuh, 1— 2 Kälbern, 1— 2 Mutterschweinen und bis zu 5 Schafen oder Ziegen zu halten.

Die Versorgungsschwierigkeiten und der heftige Widerstand der Bauern hinderten das Regime an der Verwirklichung seiner Kollektivierungspläne. Ende 1955 befanden sich noch 53, 5 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Privatbesitz.

Auch im Gewerbewesen entstanden ähnliche Genossenschaften (KTSZ). 1953 gab es kaum noch private Gewerbetreibende (1948: 367 000). Am 1. August 1948 lief der erste Dreijahresplan an, dessen Hauptziel die „sozialistische Industrialisierung“ war, d. h. die bevorzugte Förderung der Schwerindustrie. Der Dreijahresplan wurde „vorzeitig" (bis 1. Januar 1951) „erfüllt", seine Zielsetzungen wurden inzwischen weitgehend erhöht. Die geplanten 6, 5 Milliarden Forint Investitionen stiegen auf 7, 8 Milliarden Forint an. Die Planwirtschaft beraubte die Betriebe ihrer Selbständigkeit; sie führte zur totalen Zentralisation der Wirtschaft.

Am 1. Januar 1950 trat der erste Fünfjahresplan in Kraft, dessen Hauptziele waren: Beschleunigung der „sozialistischen Industrialisierung", Aufholen des Rückstandes in der Mechanisierung der Landwirtschaft, Beseitigung des Unterschiedes zwischen Stadt und Dorf, Förderung der nationalen Verteidigung, Abschaffung des bäuerlichen Einzelbesitzes und die Einrichtung von LPG. Der Fünfjahresplan führte zu einer schweren Wirtschaftskrise. Die Planwirtschaft benötigte einen großen bürokratischen Apparat. Von den 9, 5 Millionen Einwohnern waren 320 000 als Angestellte — ohne Wirtschaftsfunktionäre — bei der Verwaltung tätig. Allein die Parteibürokratie benötigte 40 000 Mitarbeiter. Die Zahl der Angehörigen der Staatsschutzpolizei erreichte Anfang 1956 etwa 100 000, die der Armee überstieg 250 000.

Die soziale Entwicklung

Der Klassenkampf wurde auf Grund der marxistisch-leninistischen Theorie zum konstitutionellen Grundsatz. Die Gleichberechtigung aller Staatsbürger ohne Unterschied wurde in allen Ostblockstaaten, so auch in Ungarn, zwar verfassungsmäßig garantiert, aber nicht eingehalten. Sie wurde durch die Gleichberechtigung der Angehörigen der gleichen Klasse ersetzt; die Gleichberechtigung der Klassen — und dadurch die der Angehörigen verschiedener Klassen — wurde abgelehnt.

Das heißt, der „Staatsbürger" ist nicht identisch mit dem Begriff „Werktätiger" und das „Volk" nicht mit der „Bevölkerung". Jeder Staatsbürger hat zwar Pflichten gegenüber der Ungarischen Volksrepublik, Rechte genießt jedoch nur der „Werktätige". Zum „Volk" — laut Dialektik — gehören nur jene Elemente der Bevölkerung, die sich für den Fortschritt, das heißt für den „Sozialismus", einsetzen.

Die Sozialpolitik der Kommunisten vermochte nicht, den Lebensstandard zu heben. Durch die Verstaatlichung der Privatwirtschaft, Lahmlegung des privaten Kleinhandels, Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und des Kleingewerbes und durch gewaltige Kulakenverfolgungen herrschte in Ungarn Armut. Die Geschäfte waren leer, es fehlte sogar an den wichtigsten Nahrungsmitteln. Der Verdienst war äußerst gering. Das Verhältnis zwischen den Preisen und dem Einkommen war völlig unhaltbar. Hinzu kommt noch, daß die Bevölkerung für die einzelnen Waren viel mehr ausgeben mußte, als amtlich festgesetzt war, denn die Waren waren häufig im staatlichen Handel nicht erhältlich, und auf dem Schwarzmarkt forderte man Wucherpreise. Eine Änderung in der Sozialpolitik trat erst nach Stalins Tod unter der Regierung von Imre Nagy ein.

Von Stalins Tod bis zum Volksaufstand von 1956

Der Tod J. W. Stalins (5. 3. 1953) deutete das Ende der Räkosi-Ära, die seit 1949 bestand, an. In Moskau wurden die Ämter des Regierungs-und Parteichefs voreinander getrennt: Malenkow wurde Ministerpräsident, Chruschtschow Parteisekretär. Auf Anweisung von Moskau legte in Ungarn Mätyäs Räkosi, der seit dem 14. 8. 1952 neben dem Amt des Ersten ZK-Sekretärs auch den Ministerpräsidenten-posten innehatte, letzteren nieder. Am 4. Juli 1953 wurde Imre Nagy Ministerpräsident, Mätyäs Räkosi blieb weiter Parteichef. Imre Nagy, ein Altkommunist, lebte lange Zeit in der Sowjetunion, galt aber sowohl in Ungarn als auch in der UdSSR nicht als Stalinist. Er war Agrarspezialist, Universitätsprofessor und eine Persönlichkeit von großem Format und billigte niemals eine Politik des sowjetischen Staatsbürgers und Stalin-Schülers Mätyäs Räkosi. Imre Nagy legte, um sich von Räkosi zu distanzieren, großen Wert darauf, daß er nicht von Räkosi, sondern von Moskau zum Ministerpräsidenten ernannt wurde. „Der Wahrheit halber sei die Tatsache festgehalten, daß ich" —betonte Imre Nagy— „nicht von Mätyäs Räkosi, sondern von den sowjetischen Genossen — den Genossen Malenkow, Molotow und Chruschtschow — vorgeschlagen worden war und daß der Genosse Räkosi und alle Mitglieder der ungarischen Delegation diesen Vorschlag begrüßt haben". In seinem „Politischen Testament" stellt Imre Nagy fest, daß Mätyäs Räkosi für seine Designierung zum Ministerpräsidenten keinerlei Verantwortung getragen habe.

Am 4. Juli 1953 verkündete Imre Nagy sein Regierungsprogramm. Dieses war eine klare Absage an das Räkosi-Regime. Imre Nagy versprach die Förderung der Gebrauchsgüter-erzeugung auf Kosten der Schwerindustrie, die Hebung des Lebensniveaus, die Revision der „unter Mißachtung der sozialistischen Gesetzlichkeit" gefällten Gerichtsurteile, die Auflösung der Internierungslager, die Abschaffung der Polizeigerichtsbarkeit und gestand den Kollektivbauern u. a. das Recht zu, die LPG zu verlassen.

Nach diesem Programm sollte eine Änderung der bisherigen Politik eintreten. Zahlreiche Bauern schieden aus den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften aus, viele LPG wurden aufgelöst. Die Zahl der LPG sank von 5224 (1953) auf 4381 (1954) und die Zahl der Mitglieder verringerte sich zwischen 1953 und 1954 von etwa 376 000 auf 230 000.

Die Internierungslager wurden aufgelöst, die Macht der politischen Polizei wurde verringert, die grundlosen Verhaftungen wurden eingestellt, die Verfolgung der Geistlichen ließ nach. Die allgemeinen Lebensverhältnisse wurden mit der Zeit erträglicher. Parteichef Mätyäs Räkosi war über den neuen Kurs Nagys nicht erfreut und versuchte dessen Beschlüsse zu boykottieren. Räkosis Gefolgsleute sorgten dafür, daß ein großer Teil der Häftlinge in den Internierungslagern noch vor deren Auflösung vor Schnellgerichte gestellt und nicht freigelassen, sondern in Gefängnisse eingeliefert wurde. Die Überprüfung der Schauprozeß-Urteile dauerte über ein Jahr lang. Im Herbst 1954 wurden nur wenige der unschuldig Verurteilten — zunächst hundert Altkommunisten bzw. Sozialdemokraten wie Anna Kethly •— rehabilitiert und freigelassen. Räkosi setzte auch den wirtschaftlichen Bemühungen Imre Nagys heftigen Widerstand entgegen. Es entwickelte sich ein politischer Zweikampf zwischen Regierungs-und Parteichef. Nach dem Sturz G. M. Malenkows in Moskau (am 8. Februar 1955) fiel auch der Ministerpräsident Imre Nagy in Ungnade. Am 18. April 1955 wurde bekanntgegeben, daß Imre Nagy „aus gesundheitlichen Gründen" sein Amt niedergelegt hätte und aus dem Politbüro und Zentralkomitee ausgeschieden wäre. Mätyäs Räkosi hatte also gesiegt.

Räkosi und der Nachfolger von Nagy, Andräs Hegedüs, verlangten, daß Imre Nagy seine Schuld bekenne und Selbstkritik übe. Imre Nagy weigerte sich, statt dessen bereitete er eine großangelegte Anklageschrift gegen Räkosi für Chruschtschow vor. Er schrieb sein „Politisches Testament“ nieder, das heute einen unschätzbaren Wert hat. Imre Nagy genoß jedoch nicht mehr die Gunst Chruschtschows. Er erlaubte sogar seinem Statthalter in Ungarn, Mätyäs Räkosi, Imre Nagy aus der Partei auszuschließen. Es schien so, als wäre die alte Macht Räkosis wiederhergestellt. Dieser Anschein wurde durch den Abschluß des Warschauer Militärpaktes (am 14. Mai 1955) und des Staatsvertrags mit Österreich (Unterzeichnung am 15. Mai 1955) bestätigt. Laut Pariser Friedensvertrag von 1947 durften sich sowjetische Truppen zur Sicherung des Nachschubs für die in Österreich stationierten Sowjet-Einheiten auf ungarischem Territorium aufhalten. Durch den Staatsvertrag mit Österreich hätte die sowjetische Besatzung in Ungarn de jure beendet sein müssen. Der Warschauer Mili-tärpakt erlaubte jedoch weiterhin die Stationierung sowjetischer Truppen auf ungarischem Boden. Die Tatsache, daß die sowjetischen Truppen Ungarn nicht verließen, löste große Depression aus.

Der Volksaufstand von 1956

Nadi dem XX. Parteitag in der UdSSR (er tagte vom 14. bis 25. Februar 1956 in Moskau) wurde die Lage innerhalb der Partei und vom Sommer an auch im öffentlichen Leben immer kritischer. Im Sommer 1956 wurden in Ungarn auch die noch vorhandenen Internierungslager aufgelöst, und hierdurch erlangten 27 184 unschuldige Menschen wieder die Freiheit. Das ungarische Volk forderte die Bestrafung der der Mißhandlung politischer Häftlinge schuldigen Funktionäre. Die Staatsanwaltschaft leitete gegen fünf AVO-Offiziere Disziplinarverfahren, gegen 13 Strafverfahren ein. Die Ruhe wurde aber dadurch noch nicht hergestellt. Das ZK der Partei faßte auf der Tagung vom 18. bis 21. Juli den ersten schwerwiegenden, jedoch verspäteten Beschluß: Mätyäs Räkosi wurde seines Postens als Parteichef enthoben und durch seinen engsten Mitarbeiter Ernö Gero ersetzt. Einige Monate davor wäre dieser Schritt mit Jubel begrüßt worden, jetzt forderte man die Entfernung der ganzen Regierung und die Aufhebung der Regierungsmaßnahmen. In der Partei entstand eine Spaltung. Bei der feierlichen Trauerfeier — dem „Staatsbegräbnis" — am 6. 10. 1956 für den 1949 völlig unschuldig hingerichteten Rajk versprach die Partei: Niemals mehr Terror, Unrecht und Justizmord! In den Kreisen der Intellektuellen, bei den Studenten und Schriftstellern, gärte es. Vom 20. Oktober 1956 an kam es an mehreren Hochschulen zu stürmischen Versammlungen der Studenten, in denen diese mehr Freiheit forderten. Am 22. Oktober faßten sie ihre Forderungen in 16 Punkten zusammen:

1. Wir fordern den sofortigen Abzug aller sowjetischen Truppen in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Friedensvertrages. 2. Wir fordern die Wahl neuer Führer in der Ungarischen Arbeiterpartei auf der unteren, mittleren und höheren Ebene in geheimer Wahl von unten nach oben. Diese Führer sollen den Parteikongreß in der kürzesten Zeit, die möglich ist, einberufen und sollen ein neues Zentralkomitee wählen. 3. Die Regierung soll unter dem Vorsitz von Genosse Nagy umgebildet werden; alle verbrecherischen Führer aus der Stalin-RkosiÄra sollen sofort ihres Postens enthoben werden. 4. Wir fordern ein öffentliches Gerichtsverfahren für den Kriminalfall Mihäly Farkas und seine Mitschuldigen. Mätyäs Räkosi, der in erster Linie verantwortlich ist für alle Verbrechen in der jüngsten Vergangenheit und für den Ruin des Landes, soll zurückgebracht und vor einen Volksgerichtshof gestellt werden. 5. Wir fordern allgemeine Wahlen im ganzen Lande mit allgemeinem Wahlrecht, geheimer Wahl und der Teilnahme verschiedener Parteien zum Zwecke der Wahl einer neuen Nationalversammlung. Wir verlangen das Streikrecht für die Arbeiter.

6. Wir fordern eine Überprüfung und Neuordnung der ungarisch-sowjetischen und der ungarisch-jugoslawischen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen auf der Basis völliger Gleichberechtigung und der Nicht-einmischung in die inneren Angelegenheiten der einzelnen Staaten.

7. Wir fordern die Reorganisierung des gesamten wirtschaftlichen Lebens in Ungarn unter der Heranziehung von Experten. Unser ganzes wirtschaftliches System, das auf der Planwirtschaft beruht, soll überprüft werden im Hinblick auf die ungarischen Lebensbedingungen und die Interessen des ungarischen Volkes.

8. Unsere Handelsabkommen und die tatsächlichen Zahlen der Reparationszahlungen, die niemals gezahlt werden können, sollen veröffentlicht werden. Wir fordern offene und ehrliche Informationen über die Uranvorkommen, ihre Ausbeutung und die russischen Konzessionen. Wir verlangen, daß Ungarn das Recht haben soll, Uranerz frei zu Weltmarkt-preisen für harte Währung zu verkaufen. 9. Wir fordern eine vollständige Revision der Normen in der Industrie und eine drin-B gende und radikale Angleichung der Löhne, um die Forderungen der Arbeiter und Intellektuellen zu erfüllen. Wir verlangen, daß Mindestlöhne für Arbeiter festgesetzt werden. 10. Wir fordern, daß das Ablieferungssystem auf eine neue Grundlage gestellt wird und daß die Erträge rationell verwendet werden. Wir fordern gleiche Behandlung für die Einzelbauern. 11. Wir verlangen die Überprüfung aller politischen und Wirtschaftsprozesse durch unabhängige Gerichte und die Freilassung und Rehabilitierung der Unschuldigen. Wir fordern die sofortige Freilassung der Kriegsgefangenen und Zivilisten, die in die Sowjetunion deportiert wurden, einschließlich der Gefangenen, die jenseits der Grenzen Un-garns verurteilt wurden.

12. Wir fordern völlige Meinungs-und Redefreiheit, Freiheit der Presse und des Rundfunks und eine neue Tageszeitung mit großer Auflage für die MEFESZ. Wir fordern, daß alles vorhandene „persönliche Informationsmaterial" veröffentlicht werden soll.

13. Wir fordern, daß die Stalin-Statue — das Sinnbild der stalinistischen Tyrannei und politischen Unterdrückung — so rasch wie möglich entfernt wird und daß ein Denkmal der Freiheitskämpfer und Märtyrer von 1848/49 an seiner Stelle errichtet wird.

14. An Stelle des jetzigen Wappens, das dem ungarischen Volke fremd ist, fordern wir die Wiedereinführung des alten ungarischen Kossuth-Wappens. Wir fordern für die ungarische Armee neue Uniformen, die unseren nationalen Traditionen entsprechen. Wir fordern, daß der 15. März zum nationalen Feiertag mit Arbeitsruhe, der 6. Oktober zum nationalen Trauertag ohne Schulunterricht erklärt wird.

15. In Verbindung mit der polnischen nationalen Bewegung erklärt die Jugend der Technischen Hochschule in Budapest einstimmig ihre vollständige Solidarität mit den polnischen und den Warschauer Arbeitern und der Jugend.

16. Die Studenten der Technischen Hochschule in Budapest werden so rasch wie möglich örtliche Gruppen der MEFESZ organisieren und haben beschlossen, ein Jugendforum in Budapest für den 27. dieses Monats (Sonnabend) einzuberufen, auf dem die ganze Jugend des Landes durch Delegierte vertreten sein wird. Die Studenten der Technischen Hochschule und der verschiedenen anderen Universitäten werden sich morgen, am 23. dieses Monats, um 2. 30 Uhr in der Gorki Fasor vor dem Haupt-büro des Schriftstellerverbandes treffen, von wo sie sich nach dem Pälffy Ter (Bem Ter) zum Bem-Denkmal begeben werden. Dort werden sie, zum Zeichen ihrer Sympathie mit der polnischen Freiheitsbewegung, Kränze niederlegen. Die Arbeiter aus den Fabriken werden aufgefordert, sich diesem Zug anzuschließen. Die Studenten verlangten also sofortigen Abzug der Sowjettruppen, Garantie der persönlichen Freiheit, Mehrparteiensystem usw. Diese Forderungen wurden am 23. Oktober als offizielles Programm der Demonstranten anerkannt und vom Präsidenten des Schriftsteller-Verbandes, Peter Veres, während der Demonstration am Abend des 23. Oktober 1956 vorgelesen. Den unmittelbaren Anstoß zum Ausbruch der Revolution gaben die Vorgänge in Polen. Studenten, Schriftsteller, Arbeiter und Intellektuelle wollten am 23. Oktober 1956 ihre Sympathie für die polnischen Aufständischen in Form einer Demonstration bekunden. Etwa 200 000 — 300 000 Menschen versammelten sich vor dem Denkmal des polnischen Generals Josef Bem in Budapest. Von dem Bem-Denkmal zogen die friedlichen Demonstranten zum Parlamentsgebäude, wo sie das Erscheinen des früheren Ministerpräsidenten verlangten. Imre Nagy erschien auf dem Balkon und hielt eine kurze Ansprache. Es schien so, als ob die Demonstration friedlich enden würde. Am Abend des 23. Oktober erregte ein Zwischenfall die Demonstranten auf das äußerste. Um 20. 00 Uhr hielt der gerade aus Jugoslawien zurückgekehrte erste Parteisekretär — der Nachfolger von Mätyäs Räkosi —, Ernö Gero, eine äußerst scharfe Rede, in der er die Demonstranten als „PöbelVolk" bezeichnete.

Eine andere große Demonstranten-Gruppe versammelte sich vor dem Rundfunk-Gebäude der Hauptstadt. Eine studentische Abordnung wollte mit der Direktion der Rundfunkanstalt verhandeln. Sie bat um Sendeerlaubnis für ihre 16-Punkte-Forderungen. Die Abordnung wurde von der ÄVO (Staatssicherheitspolizei), die das Gebäude bewachte, verhaftet. Die Demonstranten verlangten ihre Freilassung. Um 21. 00 Uhr am 23. Oktober 1956 eröffnete die AVO gegen die unbewaffneten, friedlichen Demonstranten das Feuer. Es gab eine Anzahl Tote und Verwundete, die ersten Blutzeugen des ungarischen Freiheitswillens. So entwickelte sich aus der friedlichen Demonstration ein Aufstand. Es muß betont werden: In Ungarn wurde keine Revolution geplant, provoziert oder vorbereitet. Der Volksaufstand brach spontan aus, nachdem die Sicherheitspolizei das Feuer auf die Demonstranten eröffnet hatte. Ein Teil der wütenden Menge entwaffnete die Ordnungs-Polizei, andere griffen Munitionslager an. Die zur Verstärkung der AVO herbeigeführten ungarischen Truppen gingen zu den Demonstranten über. Etwa um 23. 00 Uhr des 23. Oktober wurde das Rundfunk-Gebäude von Demonstranten mit leichten Waffen angegriffen. Am 24. Oktober um 8. 00 Uhr morgens stürmten die Demonstranten mit der Unterstützung der „Dözsa György-Militärakademie" das Rundfunk-Gebäude. Während der erbitterten Kämpfe um das Rundfunk-Gebäude schalteten sich um 2. 00 Uhr morgens des 24. Oktober sowjetische Truppen in die Kämpfe in Budapest ein. Indessen wurde allgemein verlangt, daß Imre Nagy eine neue Regierung bilden solle. Bereits am frühen Morgen des 24. Oktober meldete der ungarische Rundfunk, daß „Imre Nagy auf einer nächtlichen Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Arbeiter-(Kommunistischen) Partei als nächster Vorsitzender des Ministerrats vorgeschlagen worden sei". Um 8. 45 Uhr desselben Tages meldete der Budapester Rundfunk, daß Standgerichte eingesetzt worden seien. Diese Verordnung, so verkündete der Rundfunk, wurde von „Imre Nagy, Vorsitzender des Ministerrates", unterzeichnet. Nach dieser Meldung wurde um 9. 00 Uhr morgens bekanntgegeben, daß die Regierung „die Hilfe von sowjetischen Formationen erbeten habe, die in Ungarn stationiert sind". Es wurde also geleugnet, daß sich die sowjetischen Truppen bereits kur? nach Mitternacht in den Kampf eingeschaltet hatten. Es sollte der Eindruck erweckt werden, daß Imre Nagy die Sowjettruppen um Intervention ersucht hatte.

Die Kämpfe dauerten an. Am 25. Oktober kam es zu einem weiteren ernsten Zwischenfall. Die AVO und die sowjetischen Truppen eröffneten plötzlich am Vormittag das Feuer auf die vor dem Parlamentsgebäude demonstrierenden Massen. Die Demonstranten, die unbewaffnet waren, waren meist Jugendliche, Frauen und Kinder. Dieses Blutbad, bei dem mehrere hundert Personen ums Leben kamen, empörte die Ungarn. Die Bevölkerung von Budapest verlangte den Rücktritt Imre Nagys.

Imre Nagy war aber unschuldig. Das Volk konnte nicht wissen, daß Imre Nagy zu diesem Zeitpunkt Gefangener der Staatssicherheitspolizei war. Nachdem immer mehr Einheiten des Militärs sich auf die Seite der Aufständischen gestellt hatten und Oberst Pal Maleter einen legendären Kampf gegen die russischen Panzer bei der Verteidigung der Kiliän-Kaserne geführt hatte, war der Sieg der Revolution nicht mehr aufzuhalten. Am 25. Oktober mußte der Erste Parteisekretär Ernö Gero abdanken. Sein Nachfolger wurde der frühere Innenminister Jänos Kädär, der 1951 von Räkosi eingekerkert und 1954 von Imre Nagy freigelassen worden war. Am 27. Oktober bildete Imre Nagy seine Regierung um, die sich aus Kommunisten und Nicht-Kommunisten zusammensetzte. Von 27 Minister-und stellvertretenden Ministerpräsidenten-Posten wurden 7 durch Nicht-Kommunisten besetzt. Dem neuen Kabinett gehörten Zoltan Tildy, der frühere Staatspräsident, Bela Kovacs, der frühere Generalsekretär der Kleinlandwirte, Jözsef Bognär von der ehemaligen Kleinlandwirte-Partei und Ferenc Erdei von der ehemaligen Nationalen Bauernpartei an. Die überwiegende Mehrzahl der Kabinettsmitglieder waren Kommunisten;

sogar „Stalinisten" wurden ausgenommen. Die Nicht-Kommunisten galten aber nicht als Vertreter ihrer Parteien, sie erhielten ihr Amt als Persönlichkeiten. Das Zentralkomitee kündigte am selben Tag (27. Oktober) an, daß die Regierung über den Abzug der Sowjettruppen mit der Sowjetunion Verhandlungen führen würde. Am 28. Oktober ordnete Imre Nagy die sofortige Einstellung des Feuers an.

Die Verhandlungen mit Mikojan und Suslow, die sich seit dem 24. Oktober in Budapest aufhielten, verliefen günstig. Mikojan und Suslow, die Ernö Gero am 26. Oktober zum Rücktritt zwangen, kündigten an, daß die sowjetischen Einheiten den Befehl zum Verlassen Budapests erhalten würden. Die Sowjettruppen begannen am 28. Oktober in der Tat, die Hauptstadt zu verlassen. Am gleichen Tag gab Imre Nagy die Auflösung der Staatssicherheitspolizei (ÄVO) bekannt, die am nächsten Tag, dem 29. Oktober, bereits durchgeführt wurde. Imre Nagy war mit dieser Tat einem der innigsten Wünsche der Bevölkerung nachgekommen, denn das ganze Volk forderte die Liquidierung der ÄVO. Die aufgelöste Staatssicherheitspolizei versuchte rasch in Zivilkleidung unterzutauchen. Viele flüchteten in die Tschechoslowakei, da sie die Rache des Volkes fürchteten. Es muß festgestellt werden, daß es zu furchtbaren Szenen kam. Mehrere hohe AVO-Offiziere wurden öffentlich hingerichtet. Diese Scheußlichkeiten sind aus der aufgestauten Wut der Bevölke-B rung über die langjährigen Gewalttaten, Justiz-morde, Verfolgungen und die frühere Lynchjustiz zu erklären. Nach der Auflösung der AVO öffnete man die Tore der Gefängnisse, um die politischen Gefangenen zu befreien. So wurde auch am 30. Oktober 1956 Erzbischof Kardinal Jözsef Mindszenty, der 1949 zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden war, freigelassen. Mindszenty nahm seine Amtsgeschäfte sofort auf und richtete bereits am 1. November eine Botschaft an das ungarische Volk. Die kommunistische Propaganda maß Mindszenty während der Revolution eine große Rolle bei. In der Tat führte Mindszenty zwar mehrere Gespräche mit maßgebenden Politikern— Zoltan Tildy, Pal Maleter u. a. —, eine wichtige politische Rolle spielte er jedoch nicht.

Am 29. Oktober 1956 hatte der stand -Auf ge siegt: die Sowjets begannen ihre Truppen aus Budapest zurückzuziehen, und am 30. Oktober erließ die Sowjetregierung eine Erklärung,... „in der sie die bisherigen Methoden der Behandlung der . Verbündeten'verurteilte und eine sich auf Gleichberechtigung stützende Zusammenarbeit versprach“. Imre Nagy verzichtete auf das kommunistische Parteimonopol zur Führung des Staates, verkündete das Mehrparteiensystem und bildete am 30. Oktober sein Kabinett erneut um. Dem neuen Kabinett gehörten nur 6 Mitglieder an, hiervon 3 Kommunisten (Imre Nagy, Jänos K-dar und Geza Losonczy), 2 ehemalige Mitglieder der Kleinlandwirte-Partei (Zoltan Tildy und Bela Kovacs) und ein ehemaliges Mitglied der Nationalen Bauernpartei (Ferenc Erdei). Die Sozialdemokraten, die unter der Führung von Anna Kethly am 30. Oktober ihre Partei reorganisierten, lehnten es zunächst ab, in das Kabinett einzutreten. Auf Imre Nagys Vorschlag löste Jänos Kädär am 1. November die Kommunistische Partei auf. Unter seiner Leitung entstand die „Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei". Die neue Partei — so betonte Kädär — würde die Sache des Sozialismus und der Demokratie vertreten. „... nicht durch sklavische Nachahmung fremder Beispiele, sondern dadurch, daß sie einen Weg geht, der den wirtschaftlichen und historischen Gegebenheiten unseres Landes entspricht. ... Wir wollen nicht abhängig sein, wir wollen nicht, daß unser Land ein Schlachtfeld wird". Nach der Proklamation des Mehrparteiensystems wurden freie Wahlen angekündigt. Dieser Schritt wurde auch von Jänos Kädär gebilligt.

Am 1. November übernahm Imre Nagy das Außenministerium selbst. Am selben Nachmittag faßte der Ministerrat unter dem Vorsitz von Imre Nagy den Beschluß, aus dem Warschauer Pakt auszutreten und Ungarns Neutralität zu proklamieren. Dieser Beschluß des Ministerrates wurde dem sowjetischen Botschafter und den in Ungarn akkreditierten diplomatischen Vertretern übermittelt. Gleichzeitig wurden sie darüber unterrichtet, daß Imre Nagy... „an die Vereinten Nationen eine Bitte um Hilfe der vier Großmächte bei der Verteidigung der ungarischen Neutralität gerichtet habe." Am Abend des 1. November 1956 verlas Imre Nagy die Neutralitätserklärung über den Rundfunk. Mit der Neutralitätserklärung sowie mit der Kündigung des Warschauer Paktes waren alle Parteien und das ganze Kabinett, dem auch Jänos Kädär angehörte, einverstanden. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß Kädär gegen diesen Beschluß gestimmt hat. Er selbst hielt um 22. 00 Uhr am 1. November eine Rundfunkrede, in der er das Programm seiner neuen Partei, der „Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei", vorstellte. Seinen Ausführungen war zu entnehmen, daß er den Entschluß der Regierung Imre Nagys billigte, er forderte sogar die demokratischen Parteien auf, „... die Regierung festigen zu helfen und damit die drohende Gefahr einer Intervention von außen abzuwenden". Am 3. November bildete Imre Nagy zum letztenmal sein Kabinett um.

Es setzte sich jetzt aus vier Parteien zusammen: Kommunisten (Imre Nagy, Geza Losonczy und Jänos Kädär), Kleinlandwirte-Partei (Zoltän Tildy, Bela Koväcs und Istvän B. Szabo), Sozialdemokraten (Anna Kethly, Gyula Kelemen und Jözsef Fischer), Nationale Bauernpartei (Istvän Bibö, Ferenc Farkas und Ferenc Erdei) und dem Parteilosen General Päl Maleter, der das Verteidigungsministerium übernahm.

Nach der Kündigung des Warschauer Paktes und der Neutralitätserklärung hörte plötzlich der am 28. Oktober begonnene Abzug der sowjetischen Truppen auf. Ab 1. November wurden neue sowjetische Militäreinheiten nach Ungarn geleitet, die strategisch wichtige Stellen besetzten. Imre Nagy protestierte diese Maßnahmen gegen der Sowjets. Einen Gegenangriff der ungarischen Streitkräfte ordnete er jedoch nicht an, um die am 3. November über den Rückzug der sowjetischen Truppen begonnenen Verhandlungen nicht zu gefährden. Während immer mehr neue sowjetische Truppen nach Ungarn einström12 ten — am 3. November 1956 befanden sich dort bereits etwa 2500 sowjetische Panzer und 1000 Nachschubfahrzeuge —, wurden die Verhandlungen in Budapest mit sowjetischen Vertretern über den Abzug der Sowjettruppen aus Ungarn fortgesetzt. Es schien, als ob die Verhandlungen zum Erfolg führen würden. Nur noch einige technische Einzelheiten sollten besprochen werden: militärische Ehren für die Sowjettruppen bei ihrem Rückzug, Wieder-errichtung der zerstörten Sowjetdenkmäler usw. Die Sowjets verlangten, das Gespräch im Quartier des sowjetischen Oberkommandos in Tököl zu Ende zu führen. Eine Delegation, die sich aus dem Verteidigungsminister General Päl Maleter, Finanzminister Ferenc Erdei, Generalstabschef Istvän Kovacs und Oberst Mikios Szücs zusammensetzte, begab sich am Abend des 3. November 1956 dorthin, um mit den Sowjets — General Malinin, Generalleutnant Stepano und Generalmajor Schelbanin — den Vertrag abzuschließen. Zu Ehren der ungarischen Delegation gaben die Sowjets in Tököl ein Bankett.

Um Mitternacht wurde die Festlichkeit durch die Ankunft des Chefs der sowjetischen Sicherheitspolizei, General Serow, unterbrochen, der den Saal in Begleitung von NKWD-Offizieren betrat und die Verhaftung der ungarischen Delegation anordnete.

Die Niederwerfung des Aufstandes

Während die ungarische Delegation in Tököl festgehalten wurde, begann der Aufmarsch sowjetischer Panzer in Richtung Budapest. Imre Nagy berief etwa um 3. 00 Uhr morgens am 4. November eine Kabinettssitzung ein. Das Kabinett beschloß, den sowjetischen Truppen militärischen Widerstand zu leisten. Den Beschluß des Kabinetts verkündete Nagy um 5. 20 Uhr morgens über den Rundfunk und gab bekannt, daß die Sowjettruppen Budapest „... mit der eindeutigen Absicht, die gesetzmäßige demokratische Regierung der Ungarischen Volksrepublik zu stürzen", angegriffen hatten. Er teilte weiter mit, daß die ungarischen Truppen im Kampf stünden und daß er döst UN-Generalsekretär Dag Hammerskjöld über die sowjetische Intervention informiert habe.

Trotz der großen Übermacht der Sowjets leisteten die ungarischen Armee-Einheiten, von den Freiheitskämpfern unterstützt, einen erbitterten Widerstand. Es wurden Straßen-barrikaden errichtet; Kinder, Frauen, Männer, Arbeiter, Studenten, Intellektuelle und Soldaten, das heißt das ganze Volk, beteiligten sich an dem Freiheitskampf. Um 7. 57 Uhr (am 4. 11. 1956) richtete der ungarische Schriftsteller-Verband ein Manifest in englischer, deutscher und russischer Sprache an die Schriftsteller und Gelehrten der Welt, um sie zur Hilfe für das ungarische Volk aufzurufen. Kurz nach dieser Meldung besetzten die Sowjettruppen die wichtigsten Ämter, Parlamentsgebäude, Rundfunkgebäude und Haupttelefonämter der Hauptstadt. Imre Nagy flüchtete in die jugoslawische Botschaft, Kardinal Mindszenty bat bei der USA-Gesandtschaft um Asyl. Die Kämpfe dauerten weiter an. Budapest leistete bis zum 7. November einen erbitterten Widerstand, einige Gruppen kämpften sogar noch Anfang Dezember. In den Provinzstädten (Csepel, Sztälinväros u. a.) verteidigten sich die Freiheitskämpfer bis 9. November, in den Bergen (Bakony, Pilis, Mecsek) kämpften einzelne Einheiten sogar noch im Januar 1957.

Die Zahl der Gefallenen war groß. Allein in den Kämpfen seit dem 4. November hatten über 20 000 Ungarn und 5000 sowjetische Soldaten den Tod gefunden. Tausende wurden nach der Sowjetunion deportiert und etwa 190 000 Ungarn flüchteten ins Ausland; vorwiegend nach Österreich; einige Tausende gelangten nach Jugoslawien.

Zusammenfassend können wir feststellen: Am 23. Oktober 1956 fand eine Sympathie-Kundgebung für Polen statt. Aus dieser friedlichen Demonstration entwickelte sich ein bewaffneter Volksaufstand. Die ersten Schüsse gab die Staatssicherheitspolizei (AVO) auf die unbewaffneten Demonstranten ab. Es kam zu einem spontanen nationalen Aufstand, der von niemandem geplant worden war; er wurde von Studenten, Arbeitern, Intellektuellen und Soldaten geführt. Der Aufstand war weder eine reaktionäre „Konterrevolution" noch wurde er vom westlichen Ausland inspiriert. Um Hilfe der Sowjettruppen wurde nicht gebeten. Diese griffen am 24. Oktober in Ungarn ein, um das kommunistische Regime zu retten. Bis zum 30. Oktober siegte der Volksaufstand, das bisherige System wurde beseitigt und die Grundlage der Demokratie gelegt. Auf demokratischer Grundlage kündigte Ungarn den Warschauer Pakt und proklamierte seine Neutralität. Die Sowjets erweckten den Eindruck, daß sie dies akzeptierten, als sie am 3. November mit einer ungarischen Delegation über den Abzug ihrer Truppen verhandelten. Durch die Festnahme der ungarischen Delegation ver-letzten die Sowjets das internationale Völker-recht. Am 4. November 1956 erfolgte die zweite sowjetische Intervention. Die gesetzmäßige demokratische Regierung wurde (mit Gewalt) vertrieben, die Sowjets setzten eine kommunistische Regierung unter Jänos Kädär ein.

Die Regierung Jänos Kdr

Am 4. November 1956 um 5. 05 Uhr meldete ein unbekannter Rundfunksender folgendes:

„Wir, die Unterzeichneten Antal Apr, Jänos Kädär, Istvän Kossa und Ferenc Münnich, alle ehemalige Minister der Regierung Imre Nagy, teilen euch mit, daß wir am 1. November 1956 unsere Beziehungen zu dieser Regierung abgebrochen, diese Regierung verlassen und die Initiative ergriffen haben, die ung-arische revolutionäre Arbeiter-und Bauernregierung zu bilden." — Um 6. 00 Uhr morgens meldete sich derselbe Sender und gab bekannt, daß Kädär eine neue Regierung gebildet habe. (Ihr gehörten an: Jänos Kädär, Dr. Ferenc Münnich, György Marosän, Istvän Kossa, Imre Horväth, Imre Dögei, Antal Apr 6 und Sandor Rönai.) Kädär erklärte, daß seine Regierung die Hilfe der Sowjettruppen erbeten habe, um die reaktionären Kräfte zu vernichten.

Es ist anzunehmen, daß Kädär sich während der Regierungsbildung in Szolnok aufgehalten hat. Nach Budapest kehrte er am 7. November 1956 zurück. Seine Regierung wurde erst am 12. November 1956 vom Präsidialrat ernannt. Rechtlich gesehen war seine Regierung zwischen dem 4. und 12. November völlig illegal und nichts anderes als eine Verschwörer-gruppe. Für die Herstellung der Ordnung sorgten zunächst die Sowjets. Die Kontrollbehörde war das sowjetische Militärkommando. Außer den Mitgliedern der ehemaligen Staatssicherheitspolizei, einigen höheren Armee-Offizieren und einer unbedeutenden Zahl von Funktionären unterstützte niemand das Kädär-Regime; im Land herrschte der Generalstreik. Die Arbeiter weigerten sich, die Arbeit aufzunehmen, bevor ihre Forderungen erfüllt würden. Sie verlangten den Abzug der Sowjettruppen, freie Wahlen und die Rückkehr Imre Nagys. Um diese Forderungen weiter aufrecht-zuhalten, wurde am 14. November der Arbeiterrat von Groß-Budapest gegründet. Dieser führte ständig Verhandlungen mit Jänos Kädär. Das Verhältnis des Arbeiterrates zu Kädär verschlechterte sich erheblich, als am 22. November 1956 Imre Nagy und weitere 40 Personen — unter ihnen Georg Lukäcs —, die nach dem 4. November in die jugoslawische Botschaft geflüchtet waren, beim Verlassen des Botschaftsgebäudes von sowjetischen Soldaten verhaftet wurden. Imre Nagy und die anderen Gefangenen wurden nach Rumänien deportiert.

Als man die Ruhe im Lande nicht herzustellen vermochte, griffen die Sowjets zu strengen Maßnahmen: Es wurden Massenverhaftungen durchgeführt und viele in die Sowjetunion deportiert. Die ungarische Armee, die sich schon während bzw. nach dem Volksaufstand teilweise aufgelöst hatte, wurde von dem damaligen Minister für die bewaffneten Streitkräfte, Ferenc Münnich, vollends aufgelöst bzw. umorganisiert. Eine neue Sicherheitspolizei, der meist ehemalige ÄVO-Offiziere und -Unter-offiziere angehörten, wurde aufgestellt.

Der politische Druck begann unerträglich zu werden. Der Arbeiterrat von Groß-Budapest protestierte gegen die Verhaftungen, Deportationen und Verschleppungen mit einem 48stündigen Streik. Der Proteststreik, der für den 11. und 12. Dezember angekündigt wurde, veranlaßte Jänos Kädär zur Herausgabe eines Erlasses, der Arbeiterräte, die über den eigenen Betrieb hinausgingen, abschaffte und für Streik die Todesstrafe einführte. Am 20. Dezember ließ Kädär ein staatliches Informationsbüro einrichten, das die Presse zu überwachen hatte. Der Revolutionsrat der Intellektuellen wurde am 9. Dezember 1956, der Schriftstellerverband am 21. April 1957 aufgelöst. Der berühmte Petöfi-Club mußte seine Arbeit einstellen. Jede Opposition wurde sofort unterdrückt. Trotzdem vermochte sich das Kädär-Regime nicht zu stabilisieren. So wurden weitere Repressalien eingeleitet. Durch Gesetzesverordnungen wurden — trotz Kädärs Amnestie vom 4. November 1956 — Internierungslager eingerichtet; mit den Prozessen gegen die Freiheitskämpfer wurden Militärgerichte beauftragt. Seit März 1957 durfte die Staatssicherheitspolizei wieder Todes-14 urteile fällen. Der Notstand wurde verhängt (15. Januar 1957). Die Sonderkammern wurden ermächtigt, Freiheitskämpfer ohne schriftliche Anklage zum Tode zu verurteilen. Mißhandlungen von kommunistischen Parteifunktionären wurden als „aktive Teilnahme an einer auf den Sturz der volksdemokratischen Staatsordnung gerichteten widerrechtlichen Vereinigung" gualifiziert. Jugendliche von 14 Jahren wurden vor Gericht gestellt und mehrere hingerichtet. Bis Mitte 1957 erreichte die Zahl der Hingerichteten, Eingekerkerten, in Zwangs-arbeitslager Eingewiesenen, innerhalb Un-garns sowie nach der Sowjetunion Deportierten mehr als 60 000.

Zahlreiche Intellektuelle, Schriftsteller, Journalisten, Professoren, Künstler und Geistliche wurden verhaftet. Der Journalist Gabor Tolly wurde Anfang Juli hingerichtet, der bekannte Schriftsteller Tibor Dery am 13. November 1957 zu neun Jahren Gefängnis, am selben Tag der Dramatiker Gyula Häy zu sechs Jahren, die Schriftsteller Zoltan Zelk und Tibor Tardos zu drei bzw. 11/2 Jahren Gefängnis verurteilt. Etwa 50 Schriftsteller und Journalisten wurden verhaftet und eingekerkert. Mitte Juli 1957 wurde eine Anzahl von Wissenschaftlern verurteilt, u. a. Dr. Lszl Bede zu 15 Jahren Gefängnis, Andräs Zoltan zu 21/2 Jahren Gefängnis, der Rektor David Süveges zu 2 Jahren Gefängnis. Der Rektor der Universität in Szeged, Prof. Dr. Dezsö Barti, sowie der bekannte Chemiker Prof. Dr. Gabor Fodor wurden aus der Universität entfernt und unter Hausarrest gestellt.

Ähnlich rigoros ging man auch gegen die Künstler vor. Der Regisseur des Stadttheaters von Györ, Gabor Földes, wurde zum Tode verurteilt, Ägi Meszäros, Ferenc Bessenyei, Mikios Szakäcs und 13 weitere Schauspieler erhielten hohe Gefängnisstrafen. Der verfolgte junge Schauspieler Imre Soos und seine Frau begingen Selbstmord. Zahlreiche prominente Geistliche wurden verhaftet, verfolgt und eingekerkert. Unter den Internierten befanden sich u. a.der katholische Bischof von Väc, Jozsef Peteri, der Abt von Zirc, Vendel Erdelyi, die beiden Sekretäre Kardinal Jozsef Mindszentys, Dr. Andreäs Zakar und Dr. Egon Turcsänyi, der katholische Theologie-Professor Dr. Istvän Tabödi.

Der reformierte Bischof Dr. Läszlo Ravasz erlielt Hausarrest, die reformierten Theologie-Professoren D. Dr. Barna Nagy und Lszl Papp wurden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Der Pfarrer Lajos Gulyäs wurde hingerichtet.

Das Kädär-Regime verschonte auch die Juden nicht. Im Februar 1957 wurden 4 jüdische Professoren verhaftet. Sie hatten sich geweigert, das vom Regime herausgegebene „Weißbuch"

zu billigen, in dem behauptet wurde, daß es während der Oktober/November-Tage 1956 zu antisemitischen Pogromen gekommen sei.

Der politische Terror des Kädär-Regimes erreichte seinen Höhepunkt, als am 17. Juni 1958 Imre Nagy, General Päl Maleter und zwei weitere Personen in Geheimprozessen zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden.

Das am 4. November 1956 von Kädär gebildete Kabinett, das sich aus nur 7 Ministern zusammensetzte, wurde am 31. Dezember 1956 umgebildet. Die Zahl der neuen Kabinettsmitglieder wurde auf 16 erhöht, von denen jedoch nur 5 Minister waren. Die übrigen Ministerien wurden von Regierungskommissaren verwaltet. Erst am 5. Mai 1957 war das Kabinett vollständig. Neben dem Ministerpräsidenten, zwei stellvertretenden Ministerpräsidenten und dem Präsidenten des Planungsbüros wurden 17 Ressortministerien eingerichtet. Die überwiegende Mehrheit des Kabinetts vom 9. Mai 1957 bestand aus Stalinisten, die während der Räkosi-Ära wichtige Ämter innehatten. Es kam zwischen Kädär und den Stalinisten zu einer Machtprobe. Kädär gelang es nicht, sich zu behaupten, und er war gezwungen, aus „gesundheitlichen Gründen“ das Amt des Ministerpräsidenten am 27. Januar 1958 an den sowjetischen Staatsbürger Dr. Ferenc Münnich abzugeben. Münnich bildete am 28. Januar 1958 sein Kabinett. Jänos Kädär blieb 1. Sekretär der „Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei" (USAP) und erhielt den Posten eines seinem Rücktritt Ministerpräsident als Seit bemühte er sich um die Beseitigung der Stalinisten, zunächst ohne nennenswerten Erfolg. So ist es zu erklären, daß der VII. Parteikongreß (vom 30. November bis 5. Dezember 1959) völlig unter dem Einfluß der Stalinisten und Räkosi-Anhänger stand. Die während des Volksaufstandes etwa eine Million Mitglieder zählende KP konnte sich nur allmählich regenerieren. Die neue „Ungarische Sozialistische Arbeiter-Partei" hatte kaum Anhänger; zur Zeit (1966) zählt sie etwa 520 000 Mitglieder. Die kommunistische Jugendorganisation (DISZ) zerfiel in den Oktober/November-Tagen 1956 ebenfalls und wurde 1957 unter dem Namen „Bund der Kommunistischen Jugend" (KISZ) neu gegründet. Es kann also festgestellt werden: Trotz der von Kädär verkündeten Amnestie begann dieB ser nach seiner Machtübernahme mit der Verfolgung der Freiheitskämpfer. Die Errungenschaften der Arbeiter, Intellektuellen und Studenten, die während der Oktober/November-Tage 1956 erkämpft und von Kdr am 4. November 1956 anerkannt worden waren, wurden bald wieder beseitigt. Die Arbeiterräte wurden aufgelöst und Streik mit dem Tode bestraft. Verhaftungen, Deportationen, Verfolgungen und Verschleppungen waren an der Tagesordnung. Der Notstand wurde verhängt; ohne schriftliche Anklage konnten Personen zum Tode verurteilt werden, der neu gegründeten Staatssicherheitspolizei w urde erlaubt, Todesurteile zu fällen. Arbeiter, Studenten, Priester und Intellektuelle, Frauen, Männer und sogar Jugendliche unter 16 Jahren wurden deportiert, eingekerkert, ja hingerichtet. Die Zahl der Eingekerkerten, Deportierten, Verschleppten und Hingerichteten stieg auf Zehntausende an. Bis 1960 war das Leben in Ungarn kaum zu ertragen, erst ab 1960 wurde es erträglicher.

Kädär gelang es, das Vertrauen Chruschtschows zu gewinnen und sich nach hartem innerparteilichem Kampf endlich zu behaupten. Sein Nachfolger Ferenc Münnich mußte abdanken. Kädär bildete das neue Kabinett am 13. September 1961. Er ist ein geschickter Politiker; ihm ist es gelungen, den Eindruck zu erwecken, daß er ein liberaler Kommunist ist. Auf dem VIII. Parteikongreß vom 20. bis 25. November 1962 verkündete er sein berühmtes Programm: „Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns."

Der VIII. Parteikongreß nahm ein neues Programm an; den Parteimitgliedern wurde erlaubt, aus der Partei auszutreten, die „Zentrale Kontrollkommission" wird in Zukunft nicht vom ZK, sondern direkt vom Kon-greß gewählt, das ZK darf zwischen zwei Kongressen höchstens ein Zehntel seiner Mitglieder kooptieren. Im Frühjahr 1963 wurden durch einen ZK-Beschluß die ehemaligen kommunistischen Funktionäre, die während der Räkosi-Diktatur gesetzwidrig eingekerkert und hingerichtet worden waren, rehabilitiert. Für die unschuldig verurteilten Parteilosen erließ man am 22. März 1963 eine „Allgemeine Amnestie". Durch diese erlangten mehrere tausend Personen wieder die Freiheit. Auch zwischen Staat und Kirche besserte sich das Verhältnis, ohne daß darum die Verfolgung der Kirche aufgehört hätte.

Im November 1962 erklärte Kädär, die Grundlagen des Sozialismus seien gelegt, die Hauptaufgabe sei nun die Festigung der nationalen Einheit. 1960 wurde die direkte Verfolgung der „Klassenfeinde“ eingestellt. Bei der Besetzung leitender Posten sollte in erster Linie die fachliche Qualifikation berücksichtigt werden. Dies führte zu Gegensätzen in der Partei, weil das Partei-Statut die Kommunisten verpflichtet, den Staat und die Wirtschaft zu leiten und zu kontrollieren. Wenn sie die notwendige Qualifikation nicht besitzen, können sie keine führende Stellen besetzen und können so ihre Pflichten gegenüber der Partei nicht erfüllen.

Es kann nicht geleugnet werden, daß sich zwischen 1957— 1965 vieles geändert hat und eine gewisse „Liberalisierung" Fortschritte sowohl im geistigen als auch im materiellen Leben gebracht hat. Als Zeichen der „Liberalisierung" öffneten sich die Grenzen für Viele tausend Bürger; bereits 1964 durften mehr als 700 000 Ungarn das Ausland besuchen. Der Lebensstandard besserte sich — bis Ende 1965 —, besonders in der Hauptstadt. Man darf allerdings keine Vergleiche mit den Ländern Westeuropas anstellen.

Die jüngsten Ereignisse

Seit dem Sturz Chruschtschows (1964) wird sowohl in der Sowjetunion als auch in den Ostblockstaaten von Seiten der Regierung und der Partei wieder ein harter Kurs verfolgt. In Polen wurde gegen Kardinal Wyszynski eine Hetzkampagne und gegen die Katholische Kirche ein scharfer Kulturkampf eingeleitet. Die Sowjets verlangen von den ungarischen Kommunisten, daß sie ähnlich vorgehen. Es wurden einschneidende wirtschaftliche und politische Maßnahmen getroffen. Die Preiserhöhungen bei wichtigen Produkten bis zur Höhe von 50 °/o lösten bei der Bevölkerung große Besorgnis und Unzufriedenheit aus. Am 9. Januar 1966 demonstrierten Arbeiter und Studenten in Csepel dagegen. Um weitere Unruhen und Demonstrationen zu vermeiden, ließ das Kädär-Regime eine größere Anzahl von Personen verhaften. Man glaubte, durch diese Maßnahmen die Ruhe im Lande her stellen zu können. Zunächst weigerte sich die Regierung zuzugeben, daß am 9. Januar 1966 eine Demonstration stattgefunden hatte und mehrere Personen in Haft genommen worden waren. Das Regime befürchtete, daß ehemalige Freiheitskämpfer, die erst nach der Am-16 nestie von 1963 freigelassen worden waren, bei den wegen der wirtschaftlichen Maßnahmen unzufriedenen Massen eine wichtige Rolle spielen könnten. Um sie unschädlich zu machen, bereitete man eine Verhaftungswelle gegen sie vor. Noch am 2. Januar 1966 dementierte die ungarische Regierung die Verhaftungen, war aber am 19. Februar 1966 dann doch gezwungen, eine umfangreiche Erklärung zur veröffentlichen: „Es ist unbestreitbar, daß es eine — wenn auch verhältnismäßig dünne — Schicht gibt, die unserem Regime feindlich gegenübersteht. Ein kleiner Teil der durch die Amnestie freigewordenen politischen Verurteilten hat schon im Gefängnis die Verbindung untereinander hergestellt und wird sich — zwar vorsichtig, aber ihre Gedanken austauschend — auf eine eventuelle . Großaktion’ vorbereiten."

Man mußte endlich zugeben, daß mehrere Priester und prominente Persönlichkeiten, darunter „Verschwörer", die dem Regnum-Marianum-Kreis angehörten, der ehemalige Vertraute des Kardinals Mindszenty, Lszl Emödy, und der Pressechef Imre Nagys, Mikios Vsrhelyi, verhaftet wurden. Alle diese Personen waren nach 1956 eingekerkert und 1963 amnestiert worden. „Nepszabadsäg" schreibt: „Es war notwendig, gegen mehrere Personen wieder ein Verfahren einzuleiten und sie zu mahnen. Obwohl sie früher begnadigt wurden — wie z. B. Mikios Väsärhelyi —, mußten sie wieder verhaftet werden, weil sie offen gegen unsere Volksdemokratie gehetzt haben. Eine derartige gegen das Regime gerichtete Aufwiegelung konnten wir in der letzten Zeit mehrmals feststellen; die Feinde unseres Volkes haben vielleicht gemeint, sie können ungestraft feindliche Gesinnung verbreiten und gegen die gesetzlichen Verordnungen hetzen." Die Verhaftungen sind als Warnung an politische Gegner des Regimes in Ungarn vor Aktionen wie im Oktober/November 1956 zu betrachten. Die Kommunisten beseitigen die eventuell „gefährlichen Personen" und geben das auch offen zu: „Unser Staat wird solche Gestalten mitleidlos niederschlagen; für solche Angriffe gegen unser Volk und System kann es keine Entschuldigung geben."

Gerüchte wollen wissen, daß innerhalb des ZKU eine Spaltung eingetreten sei, daß es einen weichen und einen harten Kurs gäbe und daß die Verhaftungen darauf zurüdezuführen seien. In Wirklichkeit aber herrscht beim ZKU volle Übereinstimmung. Kädär hat unter den Kommunisten keine Opposition mehr. Die Verhaftungen sind mit dem allgemeinen verschärften Kurs des Ostblocks zu erklären.

Zusammenfassend kann festgestellt werden: Seit Kädärs Ablösung als Ministerpräsident durch Gyula Källai (1965) herrscht in Ungarn wieder Zwang und Unterdrückung, und zwar sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht. Sie lösten bei der Bevölkerung Unzufriedenheit und Besorgnis aus. Es kam zu Demonstrationen der Arbeiter und Studenten, ähnlich wie 1956. Das Kädär-Källai-Regime reagierte darauf wieder mit Verhaftungen. Als Gründe wurden „Umsturzversuche", ja „Verschwörung" angegeben.

In Wirklichkeit wagt in Ungarn niemand eine Verschwörung, und es besteht auch keine Möglichkeit, eine solche anzuzetteln. Aber die Situation ist labil. Das ungarische Volk ist zehn Jahre nach dem Volksaufstand wieder enttäuscht. Es muß sich damit abfinden, daß das Regime nicht gewillt ist, eine größere politische, wirtschaftliche und persönliche Freiheit zu gewähren. Die Kommunisten wollen vermeiden, daß die Unzufriedenheit und die freie Kritik des Volkes zu einem Ausbruch und zu einer ähnlichen Massenbewegung führt wie vor zehn Jahren im Oktober/November 1956.

Fussnoten

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Vilmos v o n Z s o 1 n ay, Dr. phil., geboren 1934 in Szombathely/Ungarn; während des ungarischen Volksaufstandes Soldat der ungarischen Volksarmee und Teilnehmer am Freiheitskampf; nach der Niederwerfung des Auf-standes Flucht nach Österreich; Studium an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz; seit 1960 Lehrbeauftragter an der Universität Mainz; Promotion 1963. Veröffentlichungen u. a.: Die Entstehung der ungarischen Literatur unter Matthias Corvinus, Köln—Detroit—Wien 1962; Johann von Hunyady und die Verteidigung Belgrads (in Vorbereitung); zahlreiche Zeitschriftenaufsätze.