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Möglichkeiten und Grenzen der Neutralitätspolitik in Europa | APuZ 42/1966 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 42/1966 Möglichkeiten und Grenzen der Neutralitätspolitik in Europa

Möglichkeiten und Grenzen der Neutralitätspolitik in Europa

Oskar Huemer

I. Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik

Das Neutralitätsrecht beinhaltet alle Normen des Völkerrechts, die einem neutralen Staat ganz bestimmte Rechte einräumen und fest umgrenzte Pflichten auferlegen. Unter Neutralitätspolitik dagegen sind alle jene Maßnahmen zu verstehen, die ein neutraler Staat im Interesse der Erhaltung und Sicherung seiner Neutralität jeweils für erforderlich erachtet.

Das Neutralitätsrecht, das erst verhältnismäßig spät — im 19. Jahrhundert — ausgebildet worden ist, unterscheidet eine immerwährende und eine vorübergehende Neutralität. Während die vorübergehende Neutralität nur für die Dauer eines Krieges gelten soll, will die immerwährende Neutralität als ein Dauerzustand verstanden werden, der auch in Friedenszeiten anhält.

Für einen Staat mit einer immerwährenden Neutralität gelten grundsätzlich folgende Pflichten und Rechte: 1. Die Verpflichtung, schon zu Friedenszeiten sich weder an militärischen Bündnisverträgen zu beteiligen noch einem anderen Staat militärische Stützpunkte auf seinem Staatsgebiet einzuräumen. 2. Die Verpflichtung, die Neutralität stets zu beachten und mit allen verfügbaren Mitteln zu verteidigen. 3. Das Recht, sich um eine Garantie der Unabhängigkeit und Integrität seines Staatsgebietes zu bemühen.

4. Das Recht, seine Innen-und Außenpolitik im übrigen frei zu gestalten. Dieses Recht schließt in sich auch das Recht der Pressefreiheit und der freien Meinungsäußerung. Beim Abschluß des Haager Abkommens über die Landneutralität wurde die Freiheit der neutralen Presse ausdrücklich festgelegt. Das Neutralitätsrecht verpflichtet also einen Staat mit einer immerwährenden Neutralität nicht zu einer ideologischen Indifferenz.

Auch dem nur vorübergehend neutralen Staat kommt eine besondere Rechtsstellung zu, die auf der zweiten Haager Friedenskonferenz des Jahres 1907 in den beiden Abkommen über die Landneutralität und über die Seeneutralität ihre Verankerung gefunden hat. Danach sind die vorübergehend neutralen Staaten verpflichtet, keinem der Kriegführenden Unterstützung zuteil werden zu lassen. Den vorübergehend neutralen Staaten ist ferner die Verpflichtung auferlegt, die Kriegführenden an militärischen Aktionen auf neutralem Gebiet zu hindern. Die vorübergehend neutralen Staaten sind zur strikten Unparteilichkeit verpflichtet; erlassen sie ein Verbot, dann muß es in gleicher Weise für alle Kriegführenden gelten. Schließlich müssen die vorübergehend neutralen Staaten die Anhaltung und Durchsuchung ihrer Handelsschiffe auf hoher See und in den feindlichen Gewässern dulden. Nur neutrale Seehäfen besitzen das Recht, das Einlaufen von Kriegsschiffen zur Aufnahme von Treibstoffen und von Nahrungsmitteln sowie zur Durchführung der unbedingt notwendigen Reparaturen zu gestatten.

An die beiden Abkommen über die Landneutralität und über die Seeneutralität sind natürlich auch die Staaten mit einer immerwährenden Neutralität gebunden.

Vom Standpunkt des Neutralitätsrechtes gibt es gegenwärtig in Europa nur zwei Staaten mit einer immerwährenden Neutralität: die Schweiz und Österreich. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges bekannten sich auch Belgien (vom 15. November 1831 an) und Luxemburg (vom März 1867 an) zur immerwährenden Neutralität. Allerdings sprach man bei diesen beiden Staaten von einer Neutralisierung, da ihnen die Verpflichtung zu einer immerwährenden Neutralität von den Großmächten auferlegt worden war.

II. Die immerwährende Neutralität der Schweiz

1. Die Entwicklung des schweizerischen Neutralitätsrechts Konnte man während des Dreißigjährigen Krieges noch nicht von einer einheitlichen schweizerischen Außenpolitik sprechen, so war doch sowohl bei den katholischen als auch bei den protestantischen Kantonen der gemeinsame Wille unverkennbar, sich aus den Wirren des Krieges herauszuhalten. Und am Ende des Krieges erwies sich Bürgermeister Wett-stein von Basel als ein ebenso kluger wie gewandter Verhandlungsführer, der es verstand, den französischen und kaiserlichen Angeboten auszuweichen und im Frieden zu Münster für die Eidgenossenschaft die libertas ab imperio einzuhandeln 1) ; sie hielt zwar noch eine lose „Anverwandtschaft" zum Deutschen Reich aufrecht, stellte es aber doch den Eidgenossen anheim, selbst zu bestimmen, welchen sachlichen Inhalt sie dieser „Anverwandtschaft" geben wollten. Bereits im Jahre 1689 bezeichnete die Tagsatzung (bis 1848 traten die Delegierten der einzelnen Kantone zu einer Versammlung zusammen, die „Tagsatzung" genannt wurde) die Neutralität als eines der Fundamente der Republik.

Die Unabhängigkeit der Schweiz erlitt durch den Einmarsch der Truppen Napoleons eine zeitweilige Unterbrechung. Für den Diktator war Neutralität ein „sinnloses Wort".

Aber bereits am 30. Mai 1814 berichtete der Schweizer Gesandte in Paris an seine Regierung: „Die Höfe wünschen sehr, daß die politische Organisation der Schweiz so bald wie möglich beendet wird, damit bei einem im Anfang August in Wien sich versammelnden Kongreß die Unabhängigkeit, Neutralität und Bundeseinrichtung der Schweiz garantiert werden können."

Das vom Wiener Kongreß eingesetzte Komitee erklärte am 15. Januar 1815, die Mächte hätten sich verpflichtet, die dauernde Neutralität der Schweiz anzuerkennen und zu garantieren (ä reconnaitre et ä faire reconnaitre); doch könnte diese Verpflichtung erst in dem Zeitpunkt als wirksam angesehen werden, da die Schweiz die Neutralität ihres Staatsgebietes zu behaupten in der Lage sei.

Völkerrechtlich wurde die Neutralität der Schweiz in der Deklaration vom 20. März 1815 niedergelegt, die von der Eidgenossenschaft am 27. Mai 1815 angenommen worden ist.

Am 20. November 1815 erfolgte in Paris die endgültige Unterzeichnung der vom eidgenössischen Delegierten Pictet de Rochemont verfaßten Urkunde (acte portant reconnaissance et garantie de la neutralite perpetuelle de la Suisse et de l'inviolabilite de son territoire) durch die Kongreßmächte.

In der Bundesverfassung von 1848 wurde allerdings der Neutralitäts-Status nicht verankert. Denis de Rougemont, einer der profiliertesten Kritiker der eidgenössischen Neutralitätspolitik, glaubt aus den Protokollen der Verfassungskommission und der Tagsatzung folgende drei Gründe für diese Zurückhaltung gefunden zu haben „ 1. Die durch den Vertrag von Wien garantierte schweizerische Neutralität wurde von den Mächten offenbar auch als Mittel betrachtet, die Eidgenossenschaft daran zu hindern, ihre innere Regierungsform zu ändern. Es konnte also nicht vorteilhaft sein, die Neutralität in einer neuen Verfassung allzu stark herauszustellen. 2. , Man konnte nicht wissen, ob man sie im Interesse der nationalen Unabhängigkeit nicht einmal aufgeben müßte', liest man im Abschlußprotokoll der Tagsatzung vom 17. Mai 1848, welche die Diskussion über den Artikel 2 der Verfassung beendete. , Die Neutralität ist ein Mittel zur Erreichung eines Zieles, sie ist eine politische Maßnahme, die zur Verteidigung der schweizerischen Unabhängigkeit geeignet erscheint; aber die Eidgenossenschaft muß sich das Recht vorbehalten, unter gewissen Umständen und wenn sie es für notwendig erachten würde, ihre neutrale Stellung aufzugeben.'3. Immerhin ist die Neutralität so gut , zur Verteidigung unserer Unabhängigkeit', zur Erhaltung unserer Tradition und unserer Sicherheit geeignet, daß es angemessen erscheint, die Behörden dazu zu verpflichten, sie in allen ihren politischen Entscheidungen zu respektieren. Dieser Überlegung entsprechen jene Artikel der Verfassung von 1848, die die Bundes-versammlung und den Bundesrat beauftragen, über die . Erhaltung der schweizerischen Unabhängigkeit und der schweizerischen Neutralität zu wachen'."

Durch Artikel 435 des Friedensvertrages von Versailles vom 28. Juni 1919 wurde der völkerrechtliche Status der schweizerischen Neutralität von den Signatarstaaten des Versailler Vertrages anerkannt. 2. Die Grundsätze der schweizerischen Neutralitätspolitik Wird in dem Abschlußprotokoll der Tagsatzung vom 17. Mai 1848 die Neutralität noch als ein „Mittel zur Erreichung eines Zieles", als eine „politische Maßnahme" bezeichnet, so hat der Neutralitätsbegriff in der Schweiz in den folgenden Jahren, insbesondere seit 1945, eine deutliche Aufwertung zu einem staats-ethischen Prinzip erfahren. Die Neutralität gilt nicht mehr als ein „Mittel zur Erreichung eines Zieles", sondern sie ist Selbstzweck geworden (Denis de Rougemont: „Integrale Neutralität").

Nach dem Ersten Weltkrieg trat die Eidgenossenschaft dem Völkerbund unter der Bedingung bei, daß sie sich niemals an militärischen Sanktionen, die der Völkerbund verhängen könnte, beteiligen müßte (differenzierte Neutralität).

Dagegen blieb die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg der UN bis heute fern. Doch ist die Schweiz Vollmitglied bei den UN-Sonderorganisationen. Die Interpretation des Neutralitätsrechtes im Sinne einer „integralen Neutralität" bestimmt die Schweiz zu einer Neutralitätspolitik, die bisweilen zu einem Isolationismus hinstrebt. Insbesondere unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die isolationistischen Tendenzen sehr deutlich spürbar. Die Schweiz stand allen europäischen Einigungsbestrebungen mit Skepsis gegenüber. Erst im Jahre 1963 trat die Eidgenossenschaft dem Europarat bei. Weniger zurückhaltend zeigt sich die Eidgenossenschaft gegenüber wirtschaftlichen Zusammenschlüssen. Die Schweiz gehört der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, seit 1961 OECD) seit Gründung dieser Institution an. Die Eidgenossenschaft verfolgte mit Sympathie die Bemühungen Großbritanniens, die OEEC zu einer europäischen Freihandelszone auszuweiten, denn nach den britischen Vorstellungen sollte die europäische Freihandelszone keine Übertragung von Souveränitätsrechten an supranationale Organe voraussetzen. Die Idee einer europäischen Freihandelszone konnte nicht verwirklicht werden. Am 20. November 1959 wurde daher in Stockholm die European-Free-Trade Association (EFTA) gegründet. Die Schweiz ist neben Großbritannien, Portugal, Österreich, Dänemark, Norwegen und Schweden ebenfalls Gründungsmitglied dar EFTA, die sich aus-B schließlich auf ökonomische Erwägungen gründet und jede politische Untermauerung ablehnt.

Die Neutralitätsakte des Jahres 1815 enthält den Satz: „Die Vertragsmächte ... anerkennen durch die vorliegende Erklärung, daß die Neutralität und Unverletzlichkeit der Schweiz und ihre Unabhängigkeit von jedem fremden Einfluß im wahren Interesse der gesamten europäischen Politik liegt." Pictet de Rochemont hat diesen Satz wie folgt erläutert: „Der europäische Friede, von nun an von der heiligen Allianz garantiert, ist nur gesichert, wenn die Schweiz sowohl für die österreichische als auch für die französische Armee unantastbar bleibt." Pictet de Rochemont schwebte ein Gleichgewicht der Kräfte vor, das die schweizerische Neutralität gewährleisten sollte. Seit 1815 ist die Welt anders geworden; Europa rückt mehr und mehr an die Peripherie des Weltgeschehens. Um so notwendiger erscheint es, daß sich die europäischen Staaten gemeinsam Gehör und Geltung verschaffen, wollen sie nicht Opfer einer verhängnisvollen Großmachtpolitik werden. Das ist auch der Grund, weshalb eine mehr oder minder passive Neutralitätspolitik selbst auch in der Schweiz auf eine wachsende Kritik stößt.

Der bereits genannte Denis de Rougemont argumentiert folgendermaßen „Die schweizerische Neutralität wurde , im Interesse ganz Europas'garantiert. Heute ist aber die Vereinigung im Interesse aller Völker Europas. Wenn die Neutralität ein Hindernis auf dem Wege zur Vereinigung ist, dann muß man sie revidieren, wie es die Schweizer wiederholt gemacht haben, seit sie im 16. Jahrhundert durch die besonderen Umstände ihrer Innenpolitik dazu gezwungen wurden, sich von den militärischen Auseinandersetzungen der Großmächte zurückzuziehen. Sie würde Gefahr laufen, ihre besondere Mission zu verraten, wenn sie ihren besonderen Status den europäischen Anforderungen entgegenstellte. Es wäre, als ob die Waldstätte beschlossen hätte, allen Fremden den Zugang zum Gotthardpaß zu verbieten mit der Begründung, daß sie beauftragt wären, den Paß zu schützen. Die schweizerische Neutralität ist kein Dogma. Sie ist nie etwas anderes gewesen als ein politisches Mittel im Dienste unserer Unabhängigkeit. Sie wurde nie durch die Verfassung bestätigt. , Sie ist kein integraler Bestandteil der Eidgenossenschaft'."

Ernste Bedenken muß man allerdings gegen die von Denis de Rougemont vertretene Ansicht anmelden, „die Neutralität sei in verschiedener Hinsicht ein überflüssiges Anhängsel geworden". Denis de Rougemont will offenbar nicht wahrhaben, daß in Europa glücklicherweise manche Dinge in Fluß geraten sind; daß sich die Blockbildungen langsam aufzulockern beginnen; daß in West und Ost wieder ein europäisches Solidaritätsgefühl lebendig wird. Vor der Konsultativversammlung des Europarates sprach der Regierungschef des anderen Landes mit einer immerwährenden Neutralität in Europa, Dr. Josef Klaus, am 26. Januar 1965 die mahnenden Worte: „Auch Osteuropa ist Europa." Der österreichische Bundeskanzler begründete seine Mahnung wie folgt: „Das europäische Haus der Zukunft müßte von uns Österreichern als ein unvollendetes, steckengebliebenes Bauwerk empfunden werden, wenn es zwar eine mittlere Fassade und einen westlichen Trakt gäbe, der östliche Flügel aber unausgebaut bliebe. Österreich bekennt sich zur freiheitlich-demokratischen Lebensform. Wir sind dem okzidentalen Denken, den westlichen Traditionen und Lebensgewohnheiten unerschütterlich verhaftet. Wir wissen, daß in den osteuropäischen Ländern ein Gesellschaftssystem herrscht, das mit dem unseren keine Gemeinsamkeit besitzt. Aber wir begrüßen jene Evolution in den osteuropäischen Ländern, die auf das Näherrücken dieser Völker, auf das größere Europa hinhoffen läßt."

In dem Memorandum, das im Frühjahr des Jahres 1955 die Beneluxstaaten auf Anregung des damaligen belgischen Außenmini6 sters Paul Henri Spaak an die Regierungen der übrigen Länder der Montangemeinschaft richteten, wird die Errichtung eines geeinten Europas gefordert. Die Messina-Konferenz des gleichen Jahres gab dafür ausschließlich wirtschaftliche Richtlinien. Das Kernstück des Vertrages über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bildet demnach auch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes. Es wäre daher nach meiner Auffassung zu wünschen, wenn der EWG-Vertrag ein Instrument zur wirtschaitlichen Einigung bliebe. Der Versuch, dem Vertragswerk eine politische Zielsetzung zu oktroyieren, erschwert ein Arrangement der neutralen und allianzfreien Staaten mit der Sechsergemeinschaft und macht den wünschenswerten Brückenschlag zum Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON) unmöglich.

III. Die immerwährende Neutralität Österreichs

1. Die Geschichte der österreichischen Neutralität Die Geschichte der österreichischen Neutralität ist die Geschichte des österreichischen Staatsvertrages. Im Verlaufe der Berliner Konferenz brachte am 14. Februar 1954 der österreichische Außenminister Dr. Leopold Figl den Großmächten eine Deklaration der österreichischen Bundesregierung zur Kenntnis, die folgenden Wortlaut hatte: „Das österreichische Volk wünscht in Frieden und Freundschaft mit allen Staaten zu leben. Darüber hinaus kann ich an dieser Stelle in aller Form die Feststellung der Bundesregierung und der österreichischen Volksvertretung nachdrücklich wiederholen, daß Österreich nicht die Absicht hat, sich irgendwelchen Militärbündnissen anzuschließen."

Die Bedenken des amerikanischen Außenministers Dulles, ob eine solche Erklärung nicht zu große Risiken beinhaltet und der Verzicht auf die Zugehörigkeit zu einem Bündnissystem nicht einen zu schweren Nachteil bedeute, konnten von Außenminister Dr. Figl und Dr. Kreisky (damals Staatssekretär) mit dem Hinweis zerstreut werden, daß der Anschluß Österreichs an eines der bestehenden Bündnis-systeme unweigerlich die Teilung des Landes mit sich brächte. In der letzten Sitzung der Konferenz verzichtete der sowjetische Außenminister Molotow auf die Aufnahme einer Neutralitätsklausel in den Staatsvertrag und gab sich mit der Deklaration der österreichischen Bundesregierung zufrieden. Da jedoch ein Termin für den Abzug der Besatzungstruppen nicht fixiert werden konnte, führte die Berliner Konferenz nicht zum Abschluß eines Staatsvertrages. Die Konferenz hatte aber doch sichtbar gemacht, daß sich eine neue Phase der sowjetischen Außenpolitik anzubahnen begann.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fehlte es in Österreich nicht an gewichtigen Stimmen, die für eine Neutralität nach dem Vorbild der Schweiz plädierten. Am 19. Januar 1947 schrieb der damalige Bundespräsident Dr. Karl Renner in der „Wiener Zeitung": „Wiederholt ist darauf hingewiesen worden, daß die Republik Österreich für die Zukunft eine ähnliche Rolle und Bestimmung beansprucht wie die Schweizer Eidgenossenschaft." Am 11. November 1951 erklärte der damalige Bundespräsident Dr. Theodor Körner: „Niemand kann unserem kleinen Staat den selbstmörderischen Größenwahn zutrauen, bei Auseinandersetzungen von Weltmächten mitreden oder mithandeln zu wollen. Ein freies, unabhängiges Österreich, allen Rivalitäten entrückt, nach keiner Richtung hin einseitig gebunden, einzig und allein der Sache des Friedens ergeben, wird ein Gewinn für Europa, für die Welt sein."

In der Sitzung des österreichischen Nationalrates vom 14. März 1950 stellte Dr. Karl GruB ber — damals Bundesminister für die Auswärtigen Angelegenheiten — vor den versammelten Abgeordneten des Parlamentes fest: „Wir sind selbstverständlich neutral und haben niemals die Absicht, den Grundsatz der Neutralität zu verlassen, aus dem einfachen Grund, weil dieses österreichische Volk von einer echten Friedenssehnsucht erfüllt ist, weil wir nicht vorhaben, Kreuzzüge in Nachbarländer zu unternehmen, weil wir es im Grunde genommen nicht als unsere Sache betrachten, welches Regime jenseits unserer Grenzen besteht, wenn man nur uns in diesem Land in Ruhe läßt und dieses Prinzip auch auf uns anwendet."

Die Idee einer immerwährenden Neutralität für Österreich wurde in den maßgebenden politischen Kreisen des Landes niemals ernstlich in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil, bei allen außenpolitischen Entscheidungen, die während der Besatzungsepoche möglich waren, wurde auf den späteren Neutralitätsstatus Rücksicht genommen. Aus Anlaß der Abstimmung über die Verpflichtungserklärung für den Beitritt der Republik Österreich zu den Vereinten Nationen führte der Autor dieser Abhandlung am 3. Juli 1952 im österreichischen Parlament folgendes aus „In die Erklärung, über die wir nun abstimmen sollen, wurde der Passus hineingenommen: , ohne jeden Vorbehalt'. Ich weiß nicht, warum man diese Textierung gewählt hat, denn der Artikel 4 der Satzung sieht nur die Übernahme der Satzungspflichten und nicht etwa eine ausdrückliche Textierung . ohne jeden Vorbehalt'vor. Auch in der Geschäftsordnung der Generalversammlung heißt es nur, das Gesuch solle eine in formeller Urkunde — das heißt, verfassungsmäßig gefertigt — gegebene Erklärung enthalten, daß der ansuchende Staat die in der Charta enthaltenen Verpflichtungen übernimmt (§ 133).

Warum ich gegen die Textierung , ohne jeden Vorbehalt'bin? Deshalb, weil sich Österreich dadurch jeder Möglichkeit beraubt, später, wenn es einmal Mitglied der Vereinten Nationen geworden ist, Begünstigungen zu beanspruchen, die ihm auf Grund seiner politischen und geographischen Lage zukommen müssen.

Ich erinnere Sie daran, verehrte Damen und Herren, daß sich die Schweiz bisher geweigert hat, Mitglied der Vereinten Nationen zu werden. Die Schweiz hat lediglich die Mitgliedschaft gemäß dem Statut für den Internationalen Gerichtshof erworben, wie übrigens später auch Liechtenstein. Die Schweiz hat sich damit bereit erklärt, sich insbesondere den Verpflichtungen des Artikels 94 der Charta der Vereinten Nationen zu unterwerfen. Die Schweiz und Liechtenstein bedenken nämlich, daß mit der Mitgliedschaft zu den Vereinten Nationen zum Teil sogar automatisch wirkende Verpflichtungen zu Handlungen und Duldungen verbunden sind, die ihrer Neutralität widersprechen.

Dieselben Bedenken bestanden übrigens auch gegenüber dem Völkerbund, aber nicht in dem Ausmaß wie bei der Organisation der Vereinten Nationen. Die Schweiz ist dem Völkerbund erst beigetreten, nachdem ihr am 13. Februar 1920 Begünstigungen eingeräumt worden waren. Diese Begünstigungen wurden dann, als sie sich als unzulänglich erwiesen hatten, am 14. Mai 1938 vom Völkerbund erweitert.

Aus diesem Grund bitte ich Sie, verehrte Damen und Herren, zu bedenken, daß einmal die Zeit kommen könnte, wo wir bei den Vereinten Nationen unseren Neutralitätsstandpunkt anmelden müssen."

Im Sommer des Jahres 1953 begab sich auf Veranlassung des damaligen Bundeskanzlers Julius Raab der Außenminister Dr. Karl Gruber auf den Bürgerstock in die Schweiz, um dort in einem Gespräch mit dem indischen Ministerpräsidenten Nehru zu sondieren, ob Indien bereit wäre, in Moskau zugunsten des Abschlusses eines österreichischen Staatsvertrages zu vermitteln. Die guten Dienste Indiens blieben ohne Erfolg; der sowjetische Außenminister Molotow ließ den indischen Botschafter Menon wissen, daß eine Entscheidung des österreichischen Volkes für die Neutralität zum Abschluß des Staatsvertrages nicht ausreiche.

Hatte der sowjetische Außenminister Molotow auf der Berliner Konferenz des Jahres 1954 seinen Standpunkt, den er noch ein Jahr vorher gegenüber dem Botschafter Indiens eingenommen hatte, dahin gehend revidiert, daß die Sowjetunion sogar auf die Aufnahme einer Neutralitätsklausel in den Staatsvertrag verzichtete, so enthielt die Rede des sowjetischen Außenministers vom 8. Februar 1955 auf der Tagung des Obersten Sowjets einige weitere neue Gesichtspunkte. Deshalb wurde der sowjetische Botschafter in Wien ersucht, seiner Regierung den Wunsch der österreichischen Bundesregierung nach zusätzlichen Erläuterungen zu übermitteln 5a). Bereits am 25. Februar 1955 wurde der österreichische Botschafter in Moskau zu Außenminister Molotow gebeten. Molotow überreichte dem Botschafter Österreichs eine Einladung der sowjetischen Regierung an die österreichische Bundesregierung, in direkten Verhandlungen die Möglichkeit des Abschlusses eines Staatsvertrages zu erörtern.

Im April 1955 begab sich eine Regierungsdelegation unter Führung des Bundeskanzlers Raab nach Moskau. Bei der ersten Besprechung am 12. April 1955 stellte der sowjetische Außenminister fest, daß man in der Frage des Abschlusses eines Staatsvertrages zu einer Lösung komme könne. Bei einer späteren Sitzung erinnerte Molotow daran, die Republik Österreich hätte die Möglichkeit, nach dem Vorbild der Schweiz den Status der Neutralität anzunehmen. Molotow ließ erkennen, daß die Sowjetunion ein Bekenntnis Österreichs zur Neutralität begrüßen würde. Die österreichische Regierungsdelegation schlug daraufhin eine Formulierung vor, die auch in das „Moskauer Memorandum" ausgenommen wurde: „I. Im Zuge d. er Besprechung über den ehesten Abschluß des österreichischen Staatsvertrages in Moskau vom 12. — 15. April 1955 wurde zwischen der sowjetischen und der österreichischen Delegation Einverständnis darüber erzielt, daß im Hinblick auf die von den Mitgliedern der sowjetischen Regierung — dem Herrn Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR und Außenminister der UdSSR W. M. Molotow und dem Herrn Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR A. I. Mikojan — abgegebenen Erklärungen Herr Bundeskanzler Ing. Julius Raab, Herr Vizekanzler Dr. Adolf Schärf, Herr Außenminister Dr. h. c. Ingenieur Leopold Figl, Herr Staatssekretär Dr. Bruno Kreisky im Zusammenhang mit dem Abschluß des österreichischen Staatsvertrages für die Herbeiführung folgender Beschlüsse und Maßnahmen der österreichischen Bundesregierung Sorge tragen werden. 1. Im Sinne der von Österreich bereits auf der Konferenz von Berlin im Jahre 1954 abgegebenen Erklärung, keinen militärischen Bündnissen beizutreten und militärische Stützpunkte auf seinem Gebiet nicht zuzulassen, wird die österreichische Bundesregierung eine Deklaration in einer Form abgegeben, die Österreich international dazu verpflichtet, immerwährend eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird. 2. Die österreichische Bundesregierung wird diese Deklaration gemäß den Bestimmungen der Bundesverfassung dem österreichischen Parlament unmittelbar nach der Ratifikation des Staatsvertrages zur Beschlußfassung vorlegen. 3. Die Bundesregierung wird alle zweckdienlichen Schritte unternehmen, um für diese vom österreichischen Parlament bestätigte Deklaration eine internationale Anerkennung zu erlangen. 4. Die österreichische Bundesregierung wird eine Garantie der Unversehrtheit und Unverletzlichkeit des österreichischen Staatsgebietes durch die Vier Großmächte begrüßen. 5. Die österreichische Bundesregierung wird sich für die Abgabe einer solchen Garantie-erklärung durch die Vier Großmächte bei den Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika einsetzen."

Namens der Sowjetunion gaben Molotow und Mikojan folgende Erklärungen ab:

„Die Sowjetregierung ist bereit, die Deklaration über die Neutralität Österreichs anzuerkennen. Die Sowjetregierung ist bereit, an einer Garantie der Unversehrtheit und Unverletzlichkeit des österreichischen Staatsgebietes durch die Vier Großmächte — nach dem Muster der Schweiz — teilzunehmen."

Am 27. April 1955 erstattete Bundeskanzler Raab dem österreichischen Nationalrat über die Besprechungen in Moskau Bericht. Der österreichische Bundeskanzler bemerkte dabei, daß die im Moskauer Memorandum vorgesehene Erklärung über die immerwährende Neutralität der Republik Österreich nur dann besonderen Wert habe, „wenn sie von einem vollsouveränen Staat freiwillig gesetzt wird. Eine derartige Erklärung zu erzwingen, würde nur ihren Wert herabmindern".

Bundeskanzler Raab wollte damit dem eventuellen Vorwurf begegnen, das Bekenntnis der Republik Österreich zu einer immerwährenden Neutralität sei unter sowjetischem Druck zustande gekommen. Wenn auch unbestreitbar ist, daß die Bereitschaft Österreichs, den Status einer immerwährenden Neutralität nach dem Vorbild der Schweiz anzunehmen, einem sowjetischen Wunsch entgegenkam, so entsprach diese Bereitschaft doch auch dem Willen der weitaus überwiegenden Mehrheit des österreichischen Volkes. Die Forderung des österreichischen Bundeskanzlers, daß die Erklärung über die immerwährende Neutralität von einem vollsouveränen Staat freiwillig gesetzt werden sollte, zielte außerdem auf eine Stellungnahme des amerikanischen Außenministers Dulles vom Jahre 1954, worin festgestellt wurde, der Status der Neutralität sei dann ein Ehrenstatus, wenn er von einem Staat freiwillig gewählt wurde. Freilich, Dulles konnte sich mit der Neutralität niemals ganz anfreunden; 1956 bezeichnetete er in einer Rede im Iowa State College die Neutralität als eine Konzeption, die immer mehr obsolet werde und die, abgesehen von außerordentlichen Umständen, als unmoralisch betrachtet werden müsse. Daß die USA trotz der Erklärung Österreichs über die immerwährende Neutralität dem Abschluß eines österreichischen Staatsvertrages zustimmten, muß deshalb als besonders positiv gewertet werden.

Am 1. Juni 1955 faßte der Hauptausschuß des österreichischen Nationalrates einstimmig den Beschluß, der Nationalrat wolle nachstehende Entschließung annehmen „Österreich erklärt zum Zwecke der dauernden und immerwährenden Behauptung der Unabhängigkeit nach außen und der Unverletzlichkeit seines Gebietes sowie im Interesse der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Inneren aus freien Stücken seine immer-währende Neutralität und ist entschlossen, diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechtzuerhalten und zu verteidigen. Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zulassen. Österreich erklärt in diesem Zusammenhang, sich in seinen Beziehungen zu anderen Staaten stets an die in der Charta der Vereinten Nationen ausgesprochenen Grundsätze halten zu wollen, und bringt neuerlich seine Bereitwilligkeit und seine Fähigkeit zum Ausdruck, die in der Charta enthaltenen Verpflichtungen anzunehmen und einzuhalten.

Darüber hinaus wird die Bundesregierung aufgefordert, dem Nationalrat den Entwurf eines die Neutralität regelnden Bundesverfassungsgesetzes vorzulegen, alle Schritte zu unternehmen, um die endliche Aufnahme in die Organisation der Vereinten Nationen, um die Österreich bereits angesucht hat, zu erreichen, sobald der österreichische Staatsvertrag in Kraft getreten ist und Österreich von den Besatzungstruppen geräumt sein wird, dieses Gesetz allen Staaten mit dem Ersuchen um Anerkennung der Neutralität Österreichs mitzuteilen."

Auf Grund der vom österreichischen Nationalrat am Juni 1955 einstimmig angenommenen Entschließung arbeitete die Bundesregierung die Regierungsvorlage über ein Verfassungsgesetz betreffend die Neutralität Österreichs aus und legte sie dem Nationalrat vor, der dann nach dem am 25. Oktober 1955 abgeschlossenen Abzug der fremden Truppen folgendes Verfassungsgesetz beschlossen hat 7): „Artikel I: (1) Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen. (2) Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.

Artikel II: Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut.“

Die österreichische Bundesregierung notifizierte dieses Verfassungsgesetz allen Staaten, mit denen die Republik Österreich diplomatische Beziehungen unterhielt, mit dem Ersuchen um Anerkennung der immerwährenden Neutralität Österreichs. Die Neutralität Österreichs wurde teils ausdrücklich anerkannt, teils wurde die Notifikation widerspruchslos zur Kenntnis genommen.

Zusammenfassend sei festgehalten: a) Es lag ausschließlich im Belieben der Vier Großmächte, trotz der Bereitschaft Österreichs, den Status der immerwährenden Neutralität anzunehmen, dem Abschluß eines Staatsvertrages zuzustimmen oder Widerstand zu leisten. Weder die Bundesregierung noch die gewählte Volksvertretung waren in der Lage, auf die Entscheidung der Großmächte maßgeblich Einfluß zu nehmen. b) Regierung und Parlament der Republik Österreich konnten lediglich unermüdlich und mit allem Nachdruck die Forderung nach Abschluß eines Staatsvertrages erheben und dafür sorgen, daß hinter dieser Forderung der Wille der Mehrheit des Volkes stand. Die „Große Koalition“, gebildet aus den zwei großen politischen Parteien des Landes, der österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ), verkörperte diesen Willen der Mehrheit des Volkes und verhinderte gleichzeitig, daß die Frage des Abschlusses eines Staatsvertrages zum Objekt eines Parteienstreites gemacht wurde. c) Österreichs Weg zum Staatsvertrag und damit zur immerwährenden Neutralität erwies sich erst dann als gangbar, als sich eine Entspannung zwischen West und Ost abzeichnete. „So wie Chruschtschow auf dem 20. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in spektakulärer Weise die Periode des Stalinismus beendete, so sollte durch den Abschluß des österreichischen Staatsvertrages ein weithin sichtbarer Akt der Beendigung der stalinistischen Außenpolitik gesetzt werden." 2. Die österreichische Mitgliedschaft in der UN Österreich entschloß sich von allem Anfang an für eine aktive Neutralitätspolitik. Wenn es eine ethische Rechtfertigung für die immer-währende Neutralität eines Landes gibt, so kann sie nur in der verbesserten Möglichkeit, zur Erhaltung des Weltfriedens aktiv beizutragen, gesucht werden. Aus diesem Grund war Österreich bestrebt, Vollmitglied der Vereinten Nationen zu werden, und tatsächlich wurde die Republik Österreich am 14. Dezember 1955 von der UN als Mitglied ausgenommen. Es stellte sich dabei die Frage, ob die Mitgliedschaft bei der UN mit dem Status der immerwährenden Neutralität vereinbar ist.

Durch Artikel 2, Punkt 5 der Satzung der Vereinten Nationen werden alle Mitgliedstaaten verpflichtet, der UN bei jeder von ihr ergriffenen Maßnahme jede Unterstützung zu gewähren und keinem Staat Hilfe angedeihen zu lassen, gegen den die UN Maßnahmen ergriffen hat. Auf der Konferenz von San Franzisko des Jahres 1954 stellte der Delegierte Frankreichs, Paul Boncour, den Antrag, in die Satzung der Vereinten Nationen die Bestimmung aufzunehmen, daß es keinem Staat erlaubt sein sollte, sich auf seine Neutralität zu berufen, um sich dadurch den Pflichten der Satzung zu entziehen. Boncour vermochte mit seinem Antrag zwar nicht durchzudringen, aber im Bericht des ersten Komitees wurde doch niedergelegt, die Neutralität sei mit der UN-Satzung unvereinbar 7a).

Heute herrscht jedoch die Rechtsmeinung vor, daß die UN-Satzung sehr wohl eine echte Neutralität gestatte. Das gilt für den Fall, daß die Generalversammlung gemäß Art. 10 und 11 den Mitgliedstaaten empfiehlt, einem angegriffenen Staat Hilfe zu leisten. Da solche Empfehlungen nicht rechtsverbindlich sind, steht es den Mitgliedern der UN frei, der Empfehlung nachzukommen oder nicht. Das gilt ebenso für den Fall, daß es dem Sicherheitsrat mangels der gemäß Art. 27 erforderlichen Stimmen nicht gelingt, einen Beschluß nach Art. 39 zu fassen. In einem solchen Fall sind die Mitgliedsländer gemäß Art. 51 berechtigt, aber nicht verpflichtet, dem angegriffenen Staat Hilfe zu leisten. Es besteht daher durchaus die Möglichkeit, im Kriegsfall neutral zu bleiben. Für den Fall, daß der Sicherheitsrat gemäß Art. 39 gegen einen Aggressor Zwangsmaßnahmen ergreift, besteht für den Sicherheitsrat keine Verpflichtung, alle Mitglieder zu den Zwangsmaßnahmen heranzuziehen; er kann einzelne Mitglieder davon ausnehmen. Zudem ist die Teilnahme an den militärischen Zwangsmaßnahmen einschließlich der Gewährung von Durchmarschrechten gemäß Art. 43 der UN-Satzung vom Abschluß eines Sondervertrages zwischen dem Sicherheitsrat und den einzelnen Staaten abhängig.

Da der Sicherheitsrat berechtigt ist, einzelne Mitglieder der UN für einen konkreten Fall von Zwangsmaßnahmen auszunehmen und er in seiner Ermessensentscheidung völlige Freiheit genießt, bleibt es auch seinem Ermessen überlassen, einzelne Mitglieder generell für alle künftigen Konflikte von der Heranziehung zu Zwangsmaßnahmen auszunehmen.

Man darf unterstellen, daß der Sicherheitsrat tatsächlich stillschweigend für einige Staaten eine generelle Ausnahme gebilligt hat, darunter auch für Österreich. Die Republik Österreich wurde am 14. Dezember 1955 als Voll-mitglied der Vereinten Nationen ausgenommen, obgleich die immerwährende Neutralität Österreichs vorher von den Vier Großmächten und von anderen Staaten anerkannt worden ist. Die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien, vier ständige Mitglieder des Sicherheitsrates, haben den österreichischen Staatsvertrag unterzeichnet, ohne die Frage der Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit der immerwährenden Neutralität mit der Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen zur Diskussion gestellt zu haben.

Aber auch Indien und Schweden haben erklärt, daß sie in künftigen Kriegen neutral bleiben wollen. Die Vereinten Nationen nahmen die Willensentscheidung dieser beiden Staaten ohne Widerspruch zur Kenntnis. Die Vereinten Nationen haben Indien und Schweden neben der Schweiz als „neutrale Staaten' zur Sicherung des Waffenstillstandes in Korea herangezogen. Die Praxis der UN anerkennt also durchaus die Neutralität. Allerdings muß vermerkt werden, daß es sich bei der indischen und schwedischen Neutralität nicht um einen Status der immerwährenden Neutralität handelt, der völkerrechtlich gesichert ist.

Die Satzung der Vereinten Nationen weist gegenüber der Satzung des früheren Völker-bundes eine größere Elastizität auf. Nach Art. 16 der Völkerbundsatzung waren die Mitglieder verpflichtet, im Falle eines verbotenen Krieges sofort und unmittelbar die wirtschaftliche und finanzielle Blokade gegen den Aggressor zu verhängen und die gegen den Angreiferstaat eingesetzten Truppen durch ihr Territorium durchziehen zu lassen. Der Art. 39 der UN-Satzung weist den Sicherheitsrat an, den Bestand einer Angriffsgefahr, eines Angriffs oder eines anderen Friedensbruches festzustellen und die zur Sicherung oder Wiederherstellung des Friedens erforderlichen Maßnahmen anzuordnen. Für die Mitglieder der UN besteht demnach keine Verpflichtung, sofort und unmittelbar gegen einen Angreifer-staat einzuschreiten.

Es soll nicht verkannt werden, daß es für einen Staat mit einer immerwährenden Neutralität manchmal schwierig ist, im Rahmen der Vereinten Nationen eine ausgleichende, der Erhaltung des Friedens dienende Tätigkeit auszuüben. Trotzdem kann sich kein Land mit einer immerwährenden Neutralität dieser Aufgabe entziehen, denn die dauernde Neutralität ist dann gerechtfertigt, wenn sie nicht nur aus Selbsterhaltungstrieb gewählt wurde, sondern auch den höheren Interessen des Friedens dienen will.

Ganz im Sinne ihrer aktiven Neutralitätspolitik hat sich die Republik Österreich auch an den UN-Aktionen im Kongo und auf Zypern beteiligt. Solange die Menschheit gezwungen ist, permanent unter dem Damoklesschwert einer nuklearen Vernichtung leben zu müssen, richtet sich jeder lokal auch so begrenzte Versuch, einen Streitfall mit Gewalt lösen zu wollen, gegen die gesamte Menschheit, denn er gefährdet den Weltfrieden. Wer sich auf den Weg der Gewalt begibt, setzt sich allein schon deswegen ins Unrecht. Die Bemühungen um die Aufstellung einer jederzeit einsatzbereiten UN-Friedensmacht finden daher im neutralen Österreich ein zustimmendes Interesse. Österreich hat die Entsendung von Einheiten zur Hilfeleistung in das Ausland auf Ersuchen internationaler Organisationen verfassungsgesetzlich geregelt. Danach ist die österreichische Bundesregierung ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Hauptausschuß des Nationalrates unter Beachtung der immerwährenden Neutralität in jedem Einzelfall zu entscheiden, ob sie dem Ersuchen einer internationalen Organisation auf Entsendung eines Kontingentes Rechnung tragen soll.

Der österreichische Außenminister Dr. Lujo Toncic-Sorinj konnte über die Tätigkeit Österreichs bei den Vereinten Nationen am 14. Juni 1966 bei einem Vortrag in Zürich eine durchaus positive Bilanz ziehen. Der Minister sagte dazu unter anderem: „In den zehn Jahren unserer UN-Mitgliedschaft, die seither verflossen sind, hat sich die Präsenz Österreichs in der Weltorganisation zweifellos vorteilhaft für uns ausgewirkt — ich brauche nur an Wien als den Sitz der Internationalen Atomenergieorganisation zu erinnern —, und es haben sich auch keine Schwierigkeiten hinsichtlich unserer völkerrechtlichen Stellung ergeben. Wir hatten niemals Nachteile und wir haben unseren Entschluß niemals bereut. Es ergab sich wohl die Notwendigkeit, bei unzähligen Abstimmungen zu politischen Problemen, die uns nicht direkt berühren, Stellung zu nehmen. Viele dieser Fragen kommen allerdings, sehr zu Unrecht, wie wir glauben, auch in Spezialorganisationen zur Sprache. Wir werden daher beispielsweise auch als Mitglied dieser Fachorganisationen mit rein politischen Fragen wie etwa Rassenpolitik und Kolonialpolitik konfrontiert. Unser Bemühen, in der Weltorganisation zu den behandelten Fragen, im Einklang mit unserer internationalen Stellung, eine objektive Haltung zu beziehen, hat zweifellos dazu beigetragen, unsere Neutralität im Bewußtsein der Völkergemeinschaft zu verankern, aber auch ein Bild der Neutralität im klassichen Sinn zum Unterschied von Neutralismus in der Weltorganisation zu formen. Man macht heute schon einen großen Unterschied zwischen den neutralen und den blockfreien Staaten, auch bei den letzteren selbst. Selbstverständlich war es unser besonderes Bestreben, als neutrales Land einen mäßigenden Einfluß auszuüben und, wo immer sich hierfür eine Möglichkeit bot, ausgleichend und vermittelnd zu wirken." 3. Beitritt zur EWG?

Die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Status der immerwährenden Neutralität stellt sich für Österreich auch bei dem Bestreben, mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu einem Engagement zu gelangen.

In seiner Denkschrift über die politischen Aspekte der Neutralität gab Paul Struye folgende Analyse: „Für Österreich würde sich die Frage folgendermaßen stellen: Ob die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auch ein Militärbündnis im Sinne des Artikels 1 und 2 des Verfassungsgesetzes vom 26. Oktober 1955 enthält?" Struye verneint diese Frage. „Und das heißt, daß vom juristischen Standpunkt aus selbst der Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft — zumindest in Friedenszeiten — mit dem Neutralitätsstatus Österreichs und der Schweiz übereinstimmen würde.

Allerdings stimmen maßgebliche Politiker in Österreich mit der von Paul Struye gezogenen Schlußfolgerung nicht überein: sie halten die Vollmitgliedschaft in der EWG nach Art. 237 mit der immerwährenden Neutralität nicht vereinbar, dagegen eine Assoziierung gemäß Art. 238 als statthaft.

Der österreichische Außenminister Dr. Lujo Toncic-Sorinj vertritt den Standpunkt, daß die Mitgliedschaft bei einer Wirtschaftsgemeinschaft für einen immerwährend neutralen Staat ausgeschlossen ist, „wenn diese Wirtschaftsgemeinschaft ihre Beschlüsse mit Stimmenmehrheit fällt — der Neutrale also überstimmt werden könnte — und unter Umständen, jedenfalls ihrer Satzung nach, in der Lage wäre, einen Wirtschaftskrieg oder wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen gegen irgendeinen Außenseiter durchzuführen." Toncic schlägt eine Regelung dahin gehend vor, die Staaten mit einer immerwährenden Neutralität sollten „ihre Teilnahme an der Intergration auf vertraglicher Basis in dem Sinne regeln, daß sie sich auf das rein Wirtschaftliche beschränken, weder einem supranationalen Organ angehören noch sich seinen Beschlüssen unterstellen und überdies eine Erklärung abgeben, wonach sie sich im Falle eines Krieges oder Wirtschaftskrieges oder wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen alle Rechte zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus der Neutralität vorbehalten."

Auch sein Vorgänger im Amt des Außenministers, Dr. Bruno Kreisky vertritt eine ähnliche Auffassung: „Ein Status der Voll-mitgliedschaft in der EWG bleibt nach wie vor, und zwar infolge der Neutralität unseres Landes, für Österreich unmöglich. Dies muß offen gesagt werden, um allen Mißverständnissen vorzubeugen. Der Römische Vertrag ist unwiderruflich. Wer auch immer der EWG beitritt, tut dies vorbehaltlos. Der Artikel 238 des Römischen Vertrages sieht indessen die Möglichkeit vor, daß ein Land als assoziiertes Mitglied in die Gemeinschaft ausgenommen wird. Da der erwähnte Artikel keinerlei Einzelheiten enthält, bleiben noch viele Dinge zu regeln, wenn ein Land der EWG als assoziiertes Mitglied beitreten will."

Der bekannte Rechtsgelehrte Professor Dr. Alfred Verdross meint: „Österreich kann entweder allein oder gemeinsam mit anderen EFTA-Ländern solche Verträge mit der EWG abschließen, die unsere wirtschaftliche Souveränität unantastbar lassen."

In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß auch Jugoslawien diese Auffassung teilt und ein Engagement mit der EWG nicht a priori negiert. „Je weniger die Mitglieds-länder des Gemeinsamen Marktes auf Machtblockausschließlichkeiten insistieren und je mehr Verständnis sie den Vorbehalten und Rücksichten der europäischen Neutralen entgegenbringen, desto größere Möglichkeiten wird es geben zur Überwindung einer Lage, die den internationalen Wirtschaftsaustausch und die wirtschaftlichen Interessen dritter Länder auf breiter Front ernsthaft bedroht."

Die Tatsache, daß Frankreich sich zwar aus dem NATO-Bündnis zurückzieht, jedoch in der EWG verbleibt, trägt nicht unwesentlich zu einer schärferen Akzentuierung der ursprünglichen Zweckbestimmung der Sechsergemeinschaft, nämlich der wirtschaftlichen Integration ihrer Mitglieder, bei und dürfte auch dazu führen, das Mißtrauen der osteuropäischen Staaten gegenüber der EWG allmählich abzubauen. Der Erfolg wird freilich entscheidend davon abhängen, ob und inwieweit überhaupt ein Brückenschlag zwischen der EWG, der EFTA und dem COMECON gelingt. Ein solches Wagnis wird um so größere Chancen besitzen, je mehr sich alle Beteiligten bemühen, Ressentiments auszuschalten und sich ausschließlich auf die wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu konzentrieren.

IV. Neutralität und Neutralismus

Die Neutralität muß sehr wohl von einem Neutralismus unterschieden werden. Scheut sich der Neutralismus, seinen Standort eindeutig zu fixieren, so kennzeichnet die echte Neutralität der Mut zu einem politischen Engagement. Doch sei davor gewarnt, die Politik eines Landes allzu voreilig als neutralistisch abzutun. Nur eine genaue Sachkenntnis kann vor einem ungerechten Urteil bewahren. Was am einen Ende der Welt vielleicht als ein charakterloser Neutralismus erscheinen mag, erweist sich andernorts als ein Akt staatsmännischer Klugheit. Es darf mit Genugtuung registriert werden, daß die Neutralität heute eine weitaus größere Wertschätzung erfährt, als dies im Jahre 1945 der Fall war. „Zahlreiche Vorkommnisse seit der Gründung der Vereinten Nationen zeigen, daß man sich der Nützlichkeit neutraler Staaten heute wieder mehr bewußt ist."

Mit Recht weist Dr. Bruno Kreisky darauf hin, daß die beiden neutralen Alpenrepubliken eine Zone des „weltpolitischen Disengagements" von der pannonischen Tiefebene bis zu den jurassischen Bergen darstellen.

Und was die Grenzen der Neutralitätspolitik anlangt, so sei an die Worte des früheren Schweizer Bundespräsidenten Petitpierre erinnert „Die kleinen Staaten müssen der Versuchung widerstehen können, eine Rolle außerhalb der ihnen durch ihre materielle Schwäche gezogenen Grenzen zu spielen. Das bedeutet nicht, daß sie keinerlei Verantwortung hätten, daß sie auf alle und jede Mitarbeit verzichten und sich passiv verhalten müssen. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß für sie zwar die Zurückhaltung von den großen politischen Kontroversen, bei denen sich ihre Stimmen vergeblich Gehör zu schaffen versuchen würden, ein Gebot der Klugheit und Vorsicht ist, daß es aber zu ihren Pflichten gehört, von sich aus, oder wenn sie darum angegangen werden, Dienste zu leisten und Aufgaben zu übernehmen, die der Herbei-führung und Erhaltung des Friedens förderlich sind."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Alfred Verdross, Die Entwicklung des Völker-rechts, Propyläen Weltgeschichte, 8. Band, S. 698 ff. (Das Neutralitätsrecht).

  2. Denis de Rougemont, Die Schweiz — Modell Europas, Wien-München, S. 63 ff.

  3. Ebenda, S. 240 ff.

  4. Bruno Kreisky, Die Herausforderung. Politik an der Schwelle des Atomzeitalters, Zürich, S. 67 ff.

  5. Stenographisches Protokoll der 94. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, VI. GP., S. 3647 ff.

  6. 520 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates, VII. GP.

  7. Bundesgesetzblatt Nr. 211/1955

  8. Dokumente der Konferenz von San Franzisko, VI, S. 418, 459, 722.

  9. Alfred Verdross, Die immerwährende Neutralität der Republik Österreich, Wien, S. 22 ff.

  10. Lujo Toncic-Sorinj, Probleme und Aussichten der Integration, in: Internationale Politik, Nr. 270.

  11. Bruno Kreisky in der Socialist International Information, 26. Mai 1962.

  12. Alfred Verdross in dem Vortrag „Österreich, die EWG und das Völkerrecht“, gehalten am 10. September 1959 im Wiener Institut für Außenpolitik und internationale Beziehungen.

  13. Ranko Petkovic, Die neutralen Länder und die EWG, in: Internationale Politik, Nr. 388.

  14. Rudolf Bindscheidler, Grundlagen der schweizerischen Außenpolitik, in: Österreichische Zeitschrift für Außenpolitik, Sonderdruck aus Heft 2/3, Jahrgang 4, Mai/Juni 1964.

  15. Bruno Kreisky, Österreichs Stellung in der Welt als neutraler Staat, in: Österreich zehn Jahre neutraler Staat, Graz.

  16. Mitgeteilt von Dr. Bruno Kreisky in dem Artikel „Österreichs Stellung in der Welt als neutraler Staat".

Weitere Inhalte

Oskar Huemer, geboren 31. 8. 1916. Von 1949 bis 1953 österreichischer Parlaments-abgeordneter. Veröffentlichungen: Zwei Kommentarwerke und zahlreiche Aufsätze in Fachzeitschriften. In Vorbereichung ein Sachbuch mit dem Titel: Die Deutschen sind auch Menschen — Die deutsche Frage aus neutraler Sicht.