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Der Fall Rudolf Rössler Ein Beitrag zur weiteren Klärung | APuZ 41/1966 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 41/1966 Der Fall Rudolf Rössler Ein Beitrag zur weiteren Klärung Zum Verhältnis von Heer und Staat in der Weimarer Republik

Der Fall Rudolf Rössler Ein Beitrag zur weiteren Klärung

Wilhelm Ritter von Schramm

Eine Reportage und ihre Folgen

Hans-Adolf Jacobsen:

Zum Verhältnis von Heer und Staat in der Weimarer Republik .... S. 23

In diesem Frühjahr erschien in der Schweizer Wochenzeitung „Die Weltwoche" eine Artikelserie unter dem Titel „Der Krieg wurde in der Schweiz gewonnen", die auch hier Aufsehen erregt hat. Sie beschäftigte sich vor allem mit der Agententätigkeit des ehemaligen Reichsdeutschen Rudolf Rössler, der sich in der Schweiz aufhielt und in der Lage war, geheimdienstliche Nachrichten der höchsten Rangstufe, die die deutsche Kriegführung betrafen, nach Moskau zu übermitteln. Es ist bis heute noch nicht geklärt, wer ihm diese Informationen gab. Aber nach ihrem Inhalt muß angenommen werden, daß sie aus der nächsten Umgebung Hitlers stammten. Diese Tatsachen waren schon seit dem Anfang der fünfziger Jahre durch verschiedene Veröffentlichungen bekannt, sind aber erst jetzt durch die Reportage in der Schweizer Wochenzeitung in weite Kreise gedrungen. Die Autoren dieser Artikel-serie sind zwei Franzosen, Pierre Accoce und Pierre Quet. Sie erheben gewiß nicht den Anspruch, einen wissenschaftlichen Beitrag zur Zeitgeschichte geleistet zu haben; sie sind auch von verschiedenen Seiten sowohl wegen der romanhaften Form ihrer Darstellung wie wegen falscher Behauptungen angegriffen worden. Trotzdem hatte die Reportage eine beträchtliche Wirkung und zahlreiche weitere Gegen-oder Ergänzungsartikel in der Presse zur Folge. Da das Buch der beiden Franzosen — in einer neuen Bearbeitung allerdings — soeben auch in deutscher Sprache erschienen ist *), ist mit einer Fortsetzung dieser Diskussion zu rechnen. Die Zeitgeschichte sieht sich damit vor eine ungewöhnliche Aufgabe gestellt. Sie muß Notiz davon nehmen, daß die Wirkung der Reportage groß war und die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit vor allem auf drei Momente gelenkt hat:

Es gab in den deutschen Führungszentralen während des Zweiten Weltkriegs „undichte Stellen".

Wer waren die Lieferanten der geheimdienstlichen Nachrichten und auf welchem Wege gelangten sie zu Rössler?

Wie hat die Agententätigkeit Rösslers den Verlauf des Zweiten Weltkriegs beeinflußt?

Damit stehen aber nicht nur historische, sondern auch politische Fragen zur Debatte, die beantwortet werden müssen. Der Fall Rössler muß geklärt werden, und zwar bald und mit wissenschaftlicher Zuverlässigkeit. Die Zeit-geschichte muß ihre Scheu vor „Spionagegeschichten" dabei ebenso überwinden wie ihre begreifliche Abneigung gegen das Sensationelle, das diesem „Fall Rössler" nun einmal anhängt. Die Forschung hat auch eine Verpflichtung der Öffentlichkeit gegenüber, die Klärung erwartet, und zwar mit Recht aus vielerlei Gründen. Insofern darf man jene Ar-tikelserie als eine Provokation betrachten, die zur Erforschung der ganzen Wahrheit herausgefordert hat.

Allerdings sieht sich die Zeitgeschichte in diesem Fall auch ungewöhnlichen Schwierigkeiten gegenüber. Sie kann nur von wenigen sicheren Unterlagen ausgehen; denn es gibt kaum Dokumente. Sie muß nicht nur die Grenzen der Länder, sondern auch die der Fachgebiete überschreiten. Genaue Kenntnisse der Geschichte des Zweiten Weltkrieges werden ebenso von ihr verlangt wie die der Führungshierarchie der deutschen Wehrmacht. Die politischen und psychologischen Hintergründe spielen ebenso mit herein wie die Ideologien und politischen Hauptströmungen jener Zeit.

Auch mit den herkömmlichen Forschungsmethoden wird man in diesem Fall nicht sehr weit kommen. Persönliche Befragung wird notwendig sein, weil die schriftlichen Belege nicht ausreichen. Viele Spuren sind zu verfolgen, von denen manche in die Irre führen können. Der Nachforschende sieht sich vielfach in die Rolle des Untersuchungsrichters versetzt, der Zeugen finden und sie vernehmen, ihre Aussagen vergleichen und auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen, der Spuren verfolgen, vorläufige Arbeitshypothesen aufstellen und wieder verwerfen muß, wenn sie sich als irreführend erweisen. Ohne Vorstellungskraft wird er nicht weiterkommen. Er muß sich in die jeweilige konkrete Situation versetzen und den Motiven jedes Beteiligten nachzuspüren versuchen. Auch der scheinbar nebensächlichste Hinweis kann sich als Ariadne-Faden erweisen, der aus dem Labyrinth all der Komplexe herausführt, mit denen man es am Anfang zu tun hat.

Dabei muß vor allem auf eine Tatsache hingewiesen werden, die eventuell vergessen wird: Die wichtigsten Quellen der Geschichte sind vielfach nicht Papiere, sondern Menschen. Der Chronist muß sie hören. Das gilt vor allem auch im „Fall Rössler", diesem noch unerforschten Problem einer Zeit, die nach Margret Boveri eine „Verratszeit" ist, eine Zeit der „Verwerfungen" zwischen den Zeitaltern. Da gelten in der Tat andere Maßstäbe als herkömmliche, aber gewiß nicht beliebige. Jedenfalls ist es höchste Zeit, daß der „Fall Rössler" geklärt, das heißt wissenschaftlich erforscht wird, bevor die letzten Personen sterben, die durch ihr Zeugnis dazu beitragen können.

Der Verfasser hat sich die Aufgabe gestellt, der Wahrheit im Falle Rössler nachzugehen, und zwar der Wahrheit mit allen Hintergründen, nicht nur den äußeren Fakten. Er ist schon im März 1966 mit anderen aufgefordert worden, im Schweizer Fernsehen zu diesem Fall Stellung zu nehmen. Eine Reihe von glücklichen Fügungen kam und kommt ihm zu Hilfe. So hat er Rössler aus seiner Augsburger Zeit flüchtig, aus dessen Berliner Tagen näher gekannt. Er kennt den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht der oberen und obersten deutschen Führungszentralen. Seine Personal-und zeitgeschichtlichen Kenntnisse und Einsichten stammen aus persönlichem Erleben, und zwar des Beobachters, der sie nach 1945 kritisch geklärt hat.

Der Verfasser hat aber auch noch andere Beweggründe, sich so eingehend mit dem Fall Rössler zu befassen. Schon seit 1948 hat er sich mit dem „Komplex" beschäftigt, den man die deutsche Widerstandsbewegung genannt hat, den man aber nach dem gegenwärtigen Stand unserer Erkenntnis besser die deutsche Reformbewegung nennen sollte, auch aus dem Grund, um sie von einer bloßen „Anti-Haltung" zu unterscheiden. Die Klärung des Falles Rössler muß auch hier reinlich scheiden und unterscheiden. Vor allem wird sie sich mit dem Verdacht oder gar dem massiven Vorwurf auseinanderzusetzen haben, die Informatoren Rösslers stammten aus den Kreisen um Beck und Goerdeler. Die Andeutungen der Namen, die die Reportage der beiden Franzosen brachte, fordern auch hier zur vollen Klärung heraus. Sie muß auf einer Höhe erfolgen, die jedes Ressentiment auch dem „Verrat" gegenüber ausschließt und niemanden von vornherein diskreditiert.

Die Primärquellen

Im Fall Rössler kann von zwei „Kronzeugen" ausgegangen werden. Sie sind auch die ersten, die auf diesen ungewöhnlichen Verratsfall aufmerksam gemacht und ihn eingehend charakterisiert haben. Sie verdeutlichen beide auf ihre Weise, daß es sich nicht um einen der üblichen Spionagefälle handelte, nicht um einen Agenten, der im Sold einer fremden Macht stehend im eigenen Land spionierte, also Landesverrat trieb, sondern um einen einzigartigen Fall der Übermittlung geheimster Nachrichten aus den Zentralen des einen „Lagers" über einen „Vertrauensmann" in einem neutralen Land nach den Zentralen des anderen, feindlichen. Der Fall wird dadurch noch komplizierter, daß dieser Ubermittler staatenlos war und seine Geheimnachrichten zunächst aus freien Stücken dem Gastland zur Verfügung stellte, um dessen Neutralität zu schützen. Erst mit Hitlers Überfall auf die Sowjetunion stellte er sie dieser zur Verfügung. Auch das ist aus den beiden Primärquellen ersichtlich. Sie sind von den beiden Franzosen weitgehend „ausgewertet" worden.

Der wichtigste literarische Kronzeuge im Fall Rössler ist der Engländer Alexander Foote mit seinem „Handbook for Spies", das 1954 in Darmstadt unter dem Titel „Handbuch für Spione" auch in deutscher Sprache herauskam. Foote, ein ehemaliger Geheimagent, hat der sowjetischen Spionagezentrale in der Schweiz, der „Residentur" Alexander Rados, als Funker gedient. Sein Bericht ist sachlich und offensichtlich mit dem Willen zur Wahrheit geschrieben, wichtig vor allem das Kapitel, das Foote „Einer gegen Hitler" betitelt. Es wird von folgenden Sätzen eingeleitet: „Ich wende mich nun der wertvollsten Quelle zu, die das Netz besaß, dem einen Mann, der Nachrichten aus dem innersten Herzen Deutschlands lieferte. Dessen Kontakt nicht nur in die Wilhelmstraße und in die Bendlerstraße führte, sondern auch in alle deutschen Reichsbehörden der damaligen Zeit — Lucy’.

Wer war Lucy’? Er war der wichtigste Schauspieler in diesem sonderbaren Drama, aber er trat nie ins Rampenlicht. Seine Mitspieler sind nur undeutlich zu sehen und können nur verschwommen beschrieben werden, ihre Namen sind unbekannt, und sogar die Rolle, die sie spielten, ist dunkel geblieben. Lucy", der sich gemütlich in der neutralen Schweiz vergraben hatte, hielt in seiner Hand die Fäden, die zu den drei Oberkommandos in Deutschland führten, und konnte Informationen auch aus anderen deutschen Behörden liefern. Woher er diese Nachrichten bezog und auf welchen Wegen sie zu ihm gelangten, das blieb sein Geheimnis...

Zunächst, was lieferte Lucy’? Die Antwort hierauf ist einfach. Lucy’ versorgte Moskau täglich mit dem neuesten Lagebild der deutschen Truppen an der Ostfont. Diese Informationen konnten nur vom Oberkommando des deutschen Heeres selbst stammen. In anderen Dienststellen in Deutschland waren diese Nachrichten täglich gar nicht erhältlich. Lucy lieferte nicht nur die Tageslagen von der Ostfront, sondern beantwortete auch besondere, darauf bezug nehmende Fragen. Es kam häufig vor, daß Moskau diese oder jene Ersatz-division aus dem Gesichtskreis verloren hatte. Eine entsprechende Rückfrage wurde an Lucy’ gestellt, und in wenigen Tagen lag die Antwort vor, die Zusammensetzung, Stärke und Einsatzort der betreffenden Einheit enthielt."

Alexander Foote berichtet dann weiter, daß Rössler aber nicht allein Nachrichten über die deutschen Reserven und Truppenbewegungen lieferte, sondern auch solche aus dem Reichsluftfahrtministerium und dem Oberkommando der Marine. Er gab auch Berichte über die deutsche Waffenproduktion und die Kriegswirtschaft. Selbst die ersten Nachrichten über die Herstellung von V-Waffen sind offenbar auf dem Weg über Rössler nach Moskau gelangt. Foote rühmt auch die Schnelligkeit, mit der die Geheiminformationen von Rössler geliefert wurden und schreibt: „Bei Lucy’ trat kein Zeitverlust ein. In den meisten Fällen erhielten wir die Nachrichten spätestens vierundzwanzig Stunden, nachdem sie bei den entsprechenden Dienststellen in Berlin vorgelegen hatten. Eine Kurier-Verbindung oder eine sichere Von-Hand-zu-Hand-übermittlung war nicht zu erkennen. Die Nachrichten mußten Lucy’ auf dem Funkweg erreicht haben; seine Quellen, wer immer sie auch gewesen sein mögen, müssen fast stehenden Fußes von ihren Dienstfernschreibern zu den Funkgeräten gelaufen sein, um ihre Nachrichten an Lucy’ abzusetzen."

Bis hierher stimmt der Bericht Footes sicherlich, soweit es sich um die Substanz der Nachrichten handelt, die von ihm selbst weitergegeben wurden. Auch seinen Angaben über die Promptheit der Meldungen ist Glauben zu schenken. Anders jedoch bei den Berichten, die Foote über Rössler selbst gibt: Hier ist er offenbar gezielten Mystifikationen zum Opfer gefallen. Das konnte bereits in dem Nachwort zu der Reportage der beiden Franzosen nachgewiesen werden, das der Verfasser unter dem Titel „Die rot-weiße Kapelle" in der „Weltwoche" vom 27. Mai und 5. Juni 1966 veröffentlichte. „Lucy" hieß natürlich nicht „Seizinger", wie Foote angibt, und war auch kein Tscheche. Die Personalien Rudolf Rösslers stehen vielmehr fest: Er wurde am 22. November 1897 in Kaufbeuren im bayerischen Schwaben als Sohn eines Oberforstmeisters geboren und ist in Augsburg ausgewachsen. 1934 emigrierte er in die Schweiz. Ob er schon vor 1939 als Agent tätig gewesen ist, indem er dem tschechischen Nachrichtendienst Informationen beschaffte, ist ebenso wenig sicher wie der Hinweis Footes, daß in Prag „das Geheimnis seiner Quellen" gelegen haben soll.

Auch in anderer Beziehung hat sich Foote offenbar irreführen lassen. So schreibt er über 2 die publizistische Tätigkeit Rösslers in der Schweiz: „Seine öffentliche Stellung war sehr ähnlich derjenigen, die zahlreiche hohe Offiziere außer Dienst bekleideten, die jetzt als Militärkorrespondenten für verschiedene Zeitungen tätig sind. Er fungierte als Militärsachverständiger für die Schweizer Presse und ließ gelegentlich Artikel erscheinen, die das letzte Wort über irgendeinen strategischen Gegenstand sein sollten." Nun war in der Tat 1941 in dem von Rudolf Rössler nach seiner Emigration in die Schweiz (1934) gegründeten und geleiteten Vita Nova Verlag eine Schrift mit dem Titel „Die Kriegsschauplätze und die Bedingungen der Kriegführung" veröffentlicht worden, die allgemein Rössler selbst zugeschrieben wurde. Genaue Recherchen über den Werdegang Rösslers wie seine Erlebnisse und Erfahrungen als Kriegsfreiwilliger von 1916 bis 1918, die der Verfasser an anderer Stelle publiziert hat erweisen aber auch diese Vorstellungen als Legende: Rössler selbst war eine so unmilitärische Natur, wie seine inzwischen beschaffte Kriegsstammrolle beweist, daß er unmöglich selbst diese strategische Studie oder andere militärwissenschaftliche Artikel geschrieben haben kann, auch wenn er im Zweiten Weltkrieg noch weitere militärische Kenntnisse erworben haben sollte. Hinter ihm stand ein anderer, ein wirklich sachverständiger Kriegswissenschaftler, der sich mit dem Namen R. A. Hermes tarnte. Es ist naheliegend, hinter diesem Pseudonym auch den Hauptinformator Rösslers zu vermuten. Ja, es ist möglich, daß er 1939, nachdem die Kriegspolitik Hitlers offenbar wurde, den seit 1937 von Himmler „ausgebürgerten" Rudolf Rössler als „Isolator" und „Transformator" benützt und als „Militärsachverständigen" in der Schweiz aufgebaut hat. In jedem Fall hat dieser Unbekannte über ein großes Fachwissen und über eine außergewöhnliche Intelligenz verfügt. Ja, er war u. E.der strategische Fachmann, als der sich Rössler ausgab, und er saß wohl auch in einer Führungszentrale des Dritten Reiches während des Krieges. Die Schrift „Die Kriegsschauplätze" leitet auf diese Spuren. Wir werden uns noch eingehend damit beschäftigen. Zunächst aber müssen die Funksprüche untersucht werden, die Foote nach Moskau durchgab.

Die entschlüsselten Funksprüche

Hier ist man nicht allein auf das Zeugnis des abgesprungenen Sowjetagenten angewiesen. Was Foote über Rössler und seine Informationen schreibt, wird auch von anderer Seite bestätigt. Diese Klärung ist in der Hauptsache dem ehemaligen Regierungsrat in der Chiffrierabteilung des OKW W. F. Flicke und außerdem den Berichten von früheren Angehörigen der deutschen Funkabwehr zu verdanken: Sie kam dem Funkverkehr zwischen der Schweiz und Moskau auf die Spur und brachte es dann fertig, eine Reihe der zwischen ihnen gewechselten Funksprüche zu entschlüsseln, bekanntlich in jedem Fall eine Leistung, zu der nicht nur eiserner Fleiß, Geduld und Scharfsinn, sondern auch Glück gehören. Diese entschlüsselten Funksprüche bzw. ihre Texte hat Flicke über den Zusammenbruch von 1945 hinübergerettet und damit unschätzbare Dokumente des Krieges der Nachrichtendienste vor der Vernichtung bewahrt. Sie sind in dem unter Flickes Namen veröffentlichten Buch „Agenten funken nach Moskau" abgedruckt Der Rahmen ist eine romanhafte Reportage, deren Schauplätze zwischen der deutschen Funkabwehr und der Geheimdienstzentrale in Moskau sowie dem sowjetischen Agentennetz in der Schweiz wechseln. Dabei wurden auch Schweizer Unterlagen benutzt, vor allem sind aber die mitgeteilten Funksprüche authentisch Um sie ist das Buch wohl überhaupt erst „herumgeschrieben" wor-den. Nur Teile der Telegramme, die zwischen der Schweiz und Moskau hin-und hergingen, konnten entschlüsselt werden, aber sie sagen genug, denn sie bestätigen im Detail, was verraten wurde. Außerdem geht aus ihnen hervor, welche Informationen Moskau von Rössler verlangte und offenbar auch erhielt.

Nach dem Bericht Flickes sind bereits bis zum 6. September 1941, also etwa nach zweieinhalb Monaten Ostfeldzug, 208 Funksprüche aus der Schweiz nach Moskau durchgegeben worden. Am 6. September kam nämlich die deutsche Funkabwehr diesem Funkverkehr auf die Spur, wie sie auch einem anderen auf die Spur kam, der dann zur Verhaftung der Berliner Agentengruppe, der sogenannten Roten Kapelle, führen sollte. Allerdings hat es noch bis zum 29. Oktober gedauert, bis es gelang, den ersten Funkspruch zu entschlüsseln. Am 25. November 1941 wurde ein zweiter Funkspruch entschlüsselt. Allerdings hatten diese Telegramme nur technische Fragen zum Inhalt. Einige Wochen später gelang dann aber der entscheidende Einbruch in einen Funkspruch, der von einer Genfer Station am 28. Oktober nach Moskau durchgegeben wurde. Dessen Schluß lautete: „Alle diese Informationen Schweizer Generalstabes stammen von einem deutschen Offizier, der im deutschen OKW sitzt. Ich nenne in Zukunft Nachrichtenabteilung Schweizer Generalstabes . Luise'. Unterschrift , Dora'." Durch dieses Telegramm wird bestätigt, daß Rössler, seit 1937 staatenlos, seine Informationen aus der deutschen Führungszentrale erhielt, daß er sie ursprünglich an den Schweizer Generalstab bzw.dessen Nachrichtendienst weitergab, aber dann auch an „Dora", an das Agentennetz nämlich, das der sowjetrussische Nachrichtendienst schon im Frieden in der Schweiz aufgezogen hatte. Rössler konnte die nach Moskau gesandten Nachrichten durch die Kenntnisse ergänzen, die er als Mitarbeiter und vermeintlicher „Militärsachverständiger" des Schweizerischen Nachrichtendienstes gewann.

In dem Buch von F. W. Flicke steht unmittelbar im Anschluß an den entschlüsselten Funk-spruch vom 28. Oktober: „Dieser Text wirkte bei der Zentrale der deutschen Funkabwehr wie der Einschlag einer schweren Granate. Man ging sofort an eine nochmalige Überarbeitung der bisher mitgehörten Funksprüche und stieß hierbei auf ein halbes Dutzend Sendungen, die nach dem gleichen Verfahren chif-riert worden waren." Das Ergebnis sah folgendermaßen aus: September: Einzelheiten über ein neues Flakgeschütz; 21. September: Nachrichten über Spannungen zwischen italienischer Armee und faschistischer Polizei; 16. Oktober: Formeln neuer deutscher Giftstoffverbindungen; 9. Dezember: Orientierung über die Änderung der deutschen Operationspläne in Rußland; 10. Dezember: Angaben über Stärke, Verteilung, Verluste und Ausrüstung der deutschen Armeereserven; 14. Januar 1942: Mitteilungen über eine neue Schweizer Sprengbombe. Es handelt sich aber, wie schon gesagt, bei diesen sieben entschlüsselten Funksprüchen nur um einen kleinen Teil der Geheimnachrichten, die von der Schweiz nach Moskau durchgegeben wurden. Dann wurden Telegramme aufgebrochen, die Agentenkontakte betrafen. Als schließlich noch ein Funkspruch entschlüsselt werden konnte, in dem Geldüberweisungen dringend erbeten wurden („Geldbedarf durch Ausdehnung des Netzes stark gestiegen und steigt weiter"), war die deutsche Funkabwehr alarmiert. Es war ihr früher bereits gelungen, ein Telegramm zu dechiffrieren, in dem es geheißen hatte: „Durch Taylor. Rußlandangriff von Hitler defintiv auf den 22. Juni angesetzt. Beschluß Hitlers erfolgte vor zwei Tagen." Das war schon im Juni 1941. Der folgenreichste Verrat militärischer Geheimnisse im Zweiten Weltkrieg hatte begonnen.

Wie viele Funksprüche von dem Agentennetz in der Schweiz nach Moskau abgesetzt worden sind, kann heute nicht mehr genau festgestellt werden. Nur ein Bruchteil, wir wiederholen es, wurde von der deutschen Funkabwehr entziffert. Aber die meisten waren so schwerwiegend, daß man Alexander Foote zustimmen muß, wenn er schreibt: „Jeder, der einen Feldzug mit den Augen des Generalstabs verfolgt hat, wird wissen, was es bedeutet, die Verteilung der eigenen Streitkräfte nach den Fähnchen auf der Feindlagenkarte vorzunehmen und dabei das Gefühl zu haben, daß die diesen Maßnahmen zugrundeliegenden Nachrichten so authentisch sind, als stammten sie aus dem Hauptquartier des Kollegen von der anderen Seite. Lucy’ versetzte Moskau in diese Lage, und die Wirkung seiner Informationen auf die Strategie der Roten Armee und die schließliche Niederlage der Wehrmacht ist gar nicht abzusehen. 8)

Information auf Bestellung

Die Analyse der entschlüsselten Funksprüche, wie sie Flicke wiedergibt, ist aber auch noch in anderer Beziehung aufschlußreich. Sie waren so genau, daß sie Moskau anfangs nicht glauben wollte und eine Falle oder „Spielmaterial" witterte, das heißt bewußt zugespielte Nach-richten, von denen die unwichtigen stimmten, während durch andere der Feind getäuscht oder irregeführt werden sollte. Erst nach und nach hat man sich dann in Moskau eines Besseren belehren lassen, ja man war schließlich dort so sicher geworden, daß man es wagte, auch große operative Entschlüsse darauf zu gründen. Als im August des Jahres 1942 Rössler der Deckname „Lucy“ gegeben wurde, war dies das äußere Zeichen dafür, daß man ihn als „sichere Quelle" anerkannte. Er war von nun an das As aller Agenten der Moskauer Zentrale. Eines muß dabei auffallen: „Lucy" wird ziemlich genau zu dem Zeitpunkt „kreiert", als „Dora an Direktor" folgenden Funkspruch durchgibt: „Im September wurde in Berlin eine umfangreiche Organisation aufgedeckt, die Nachrichten an die Sowjetunion leitete. Viele Verhaftungen sind bereits erfolgt und weitere sollen bevorstehen. Gestapo hofft, die gesamte Organisation aufdecken zu können. Leiter der Organisation und Funker sind verhaftet worden. Aufdeckung erfolgte durch Funkpeilung." Die Nachricht stammte aber nicht von Rössler, sondern von „Pakbo", einem anderen Agenten, der in der Schweiz saß und seine eigenen Quellen hatte. „Direktor" in Moskau funkte zurück: „Letzte Meldung Pak-bos über Aufdeckung weitverzweigter Nachrichtenorganisation in Berlin ist wichtig. Pakbo soll versuchen, festzustellen, wer verhaftet und was konkret festgestellt wurde. Wann ist die Aufdeckung erfolgt und wann wurden die ersten Verhaftungen durchgeführt?" Es fällt auf, daß dann die Nachrichten der nächsten Zeit, soweit sie entschlüsselt werden konnten, dünner fließen. Erst von Ende Oktober 1942 an kommen sie wieder reichlicher. Dann ist aber auch die deutsche Funkabwehr verstärkt. Außerdem war es gelungen, den Schlüssel zu lösen, nach dem die Zentrale in Moskau nach der Schweiz funkte. Sie richtet zahlreiche Fragen an „Taylor", den Mittelsmann zwischen Rössler und dem Agentennetz Alexander Rados, dem wir den Namen „Weiß-Rote Kapelle" geben Zugleich sind sie die Belege dafür, welches außergewöhnliche Wissen über Geheime Kommandosachen und Chefsachen der obersten deutschen Führung Moskau seinem „Vertrauensmann" zutraut. Bezeichnend dafür ist der Spruch vom 26. 10. 1942: „Wichtig. Fest-stellen Taylors Quelle zur Information über deutsche Verluste. Sie scheint sehr gut informiert zu sein. Manche Angaben stimmen mit unseren überein. Jedoch gibt es manchmal Gegensätze bei Taylor selbst. In Nummer fünf sagt Taylor, die Verluste betrügen jetzt 7O°/o der Verluste im Ersten Kriege. Bekanntlich beliefen sich diese auf 7 490 000 Mann. 70 °/o dieser Summe ergeben 5 300 000 und nicht 3 650 372, wie Taylor angibt. Er soll diese Frage klären."

Bereits einen Tag später stellt Moskau weitere Fragen: „ 1. Aus welchen Quellen hat Taylor seine Informationen über deutsche Armee an der Ostfront? Aus Gesprächen oder Dokumenten? 2. Prüfen, ob wirklich Guderian sich an Ostfront befindet, ob ihm 2. und 3. Armee unterstehen. 3. Wird Vierte Panzerarmee zur Armee-gruppe, die Jodl untersteht, gehören oder wird zu dieser Gruppe andere Panzerarmee gehören? Welche Nummer hat sie? 4. Welche Numerierung benutzt man im OKW? Baldige Antwort."

Der Spruch hat offenbar auch „Fangfragen" enthalten.

Man weiß heute mehr, als man damals bei der deutschen Funkabwehr gewußt hat. Stalingrad bereitet sich vor. Die sowjetische Oberste Führung will ihre Entschlüsse auf sichere Informationen gründen und funkt am 6. 11. an Dora:

„Kontrollieren Sie durch Taylor und alle anderen und melden Sie dringend: 1. Wer befehligt 19. Armee, Lindemann oder Schmidt? 2. Gibt es im Bestände der Nordgruppe ein IX. Armeekorps und welche Divisionen umfaßt es? 3. Ist Gruppe Model schon gebildet? Ihre Zusammensetzung, Kampfabschnitte und Stabsquartier. 4. Ist Gruppe Kluge schon reorganisiert und in welcher Zusammensetzung kämpft sie jetzt? 5. Befindet sich der Stab der 3. Panzerarmee in Wjasma? Ihre Zusammensetzung, wer befehligt sie?."

Auch der Funkabwehr ist damals aufgefallen, daß sich die Erkundungsarbeit des Schweizer Agentennetzes auf ein hohes Niveau verlagert hatte. Es gab Nachrichten aus dem operativen Bereich und nicht bloß über Verschiebung von Regimentern und Jagdgeschwadern. Es hatte offenbar Unterlagen aus erster Hand und nicht nur indirekte Informationen, die nicht nachgeprüft werden konnten. In diesem Sinn gehen die Rückfragen aus Moskau weiter. Am 9. November wird nach den rückwärtigen Abwehrstellungen südwestlich Stalingrad und entlang dem Don gefragt. Die Quelle Taylor soll angeben, wo sich die 11. und 18. Panzerdivision und die 25. mot. Division befinden. Man interessiert sich für die neue Heeresgruppe Weichs und eine (angebliche) Armeegruppe Guderian. Moskau bittet am 4. Dezember dringend, „letzte Informationen über Beschluß OKW Nordkaukasien und Stalingrad-Abschnitt preiszugeben." Es verlangt am 7. Dezember Auskunft darüber, welche Verbände vom Westen und aus Norwegen an die Ostfront verlegt werden und will über die operativen Absichten der obersten deutschen Führung orientiert werden. Die Schlacht um Stalingrad hat auf Grund „sicherer Unterlagen" begonnen.

Am 11. Dezember 1942 trat nach Flicke in den Funksprüchen der „Roten Drei", des Agentennetzes Alexander Rados in der Schweiz, ein neuer Deckname auf, der „Werther" lautete. Er bezeichnete eine Quelle, die in der Lage war, wie sich zeigte, die geheimsten und weitreichendsten Informationen aus dem deutschen OKW, oder wie wir besser sagen möchten, aus dem Führerhauptquartier und dem Wehrmachtführungsstab zu liefern. Diese Quelle war so umfassend und so gut informiert, daß am 25. Dezember 1942 geradezu befohlen werden kann, was ermittelt werden soll: „Werther soll klar angeben, wie-viele Reserve-Divisionen man insgesamt aus Ersatz bis 1. Januar gebildet hat. Antwort eilt" Und so geht es weiter. Schließlich gelang es auch, den Klartext eines Telegramms von „Werther" an „Direktor" zu beschaffen, der in der Tat sensationell war und folgendermaßen lautete: „Von Werther 12. März (1943).

Ziel deutscher Umfassungsangriffe nördlich Charkow ist Rückeroberung von Belgorod. Um Charkow zu halten, müssen Deutsche Stellungen erobern, die sie vor Sommeroffensive östlich der Stadt hatten. Verschiebungen mehrerer Divisionen der 3. Pz. Armee nach Süden setzt voraus, daß Heeresgruppe Kluge mindestens in den nächsten 15 — 20 Tagen in keine schweren Pänzerkämpfe verwickelt wird, und daß für den auf obere Dwina und auf Smolensker Raum zurückgehenden linken Flügel dieser Heeresgruppe vorerst keine kritische Lage entsteht. OKW glaubt, daß diese Voraussetzungen vorhanden sind, da Zurücknahme der 9. Armee zunächst relativ gut gelungen und für ausgiebige Zerstörung der Bahnen und Quartiere im geräumten Gebiet genügend Zeit blieb. Auch meteorologische Voraussagen längere Zeit dauernden Tauwetters wirkten auf diese Entscheidung ein. Entschluß ist sehr riskant wegen der im Raume Wjasma nach-stoßenden und bei Welikie Luki stehenden russischen Armeen und besonders wegen der noch immer vorhandenen Gefahr russischen Einbruchs in den Raum Brjansk und Konotop, wodurch die ganze Ostfront zerschnitten wäre."

Es ist hier nicht der Ort, noch weiter auf den Inhalt des Buches von Flicke einzugehen. Jedenfalls war die deutsche Funkabwehr seit Ende März 1943 in der Lage, auch Funksprüche zu entziffern, die von der Schweiz nach Moskau durchgegeben wurden. Darunter auch die Ankündigung der Operation „Zitadelle" bereits am 20. April. „Gibt es denn", so heißt es in diesem Zusammenhang bei Flicke, „überhaupt noch etwas an geheimen Dingen in der Wehrmacht, das seinen Weg nicht nach Moskau nimmt? Wurde jemals in der Geschichte ein gegnerischer Informationsdienst so vollendet, so präzise und fortlaufend mit Nachrichten beliefert?"

Inzwischen aber holte die Schweizer Polizei zum Schlag gegen das Agentennetz aus. Die letzte Agentennachricht von „Werther an Direktor" lautete: „OKH schätzt gegen Witebsk, Orscha, Gorki vorrückende russische Truppen auf 5 Armeekorps und 2 Panzer-divisionen, 5 Panzerbrigaden, 3— 4 motorisierte Divisionen, 10 Infanterie-und Kaval- wobei man glaubt, daß stärkste Gruppe entlang und südlich Straße Smolensk-Witebsk vorgeht. Man erwartet entscheidenden Angriff im Südosten der Stadt. Dort gibt es keine zusammenhängenden Abwehrstellungen. An einigen Punkten zwischen Straße Smolensk—Witebsk und Eisenbahn Orscha-Witebsk wurden erst nach Bedrohung von Smolensk eilig Stellungen gebaut. Gut ausgebaut sind nur Stellungen im Nordosten und Osten der Stadt in den Abschnitten Su-rasch und Gododok."

Das war die letzte Meldung von „Werther". Ende Oktober 1943 legte die Schweizer Bundespolizei das Agentennetz, das für Moskau arbeitete, völlig lahm. Auch Rudolf Rössler wurde verhaftet, aber bald wieder auf freien Fuß gesetzt.

Die andere Seite

Diese Tatsachen stehen also fest. Die entschlüsselten Funksprüche sind bezeichnend für das Gewicht des Verrats, der vor allem seit 1942 getrieben wurde. Sie unterstreichen aber auch die Einzigartigkeit des Falles Rössler, der selbst kein Agent im herkömmlichen Sinn war, indem er Nachrichten für eine fremde Macht in deren Auftrag beschaffte. Diesem Mann, der so unauffällig wie unbedeutend wirkte, sind die geheimsten militärischen und Staatsgeheimnisse des Dritten Reiches zugespielt worden, und zwar unmittelbar aus einer der Führungszentralen, aus der nächsten Umgebung Hitlers. Das alles weiß man seit Jahren, vor allem natürlich in der Schweiz. Außer in den genannten Büchern ist der Fall Rössler außerdem von Margret Boveri in ihrem „Verrat im 20. Jahrhundert“ behandelt, allerdings noch mit Angaben, die inzwischen überholt sind. Diese Bücher liegen seit Jahr und Tag vor. Auch in dem Buch vom Jon Kimche, „General Guisans Zweifronleriedivisionen, tenkrieg" sind interessante Aussagen über Rössler nachzulesen. Trotzdem hat erst die Veröffentlichung der beiden Franzosen die Diskussion über diesen einzigartigen Fall so in Gang gebracht, wie es längst nötig gewesen wäre. Vier ungelöste Fragen vor allem haben die Öffentlichkeit beschäftigt und beschäftigen sie noch weiter: 1. Wer hat Rössler informiert? Hatte er nur einen oder mehrere Informatoren und wo saßen sie? Was waren ihre Motive? 2. Warum sind die Feststellungen der deutschen Funkabwehr, die den Funkverkehr zwischen der Schweiz und Moskau mithören und zum Teil auch entschlüsseln konnte, nicht zur Kenntnis der obersten deutschen Führung gelangt? 3. Warum hat sich die Kriegsgeschichte bisher nicht mit dem Fall Rössler befaßt und die Auswirkungen des Verrats auf den Kriegs-verlauf untersucht? 4. Warum hat die Zeitgeschichte die ideologischen Hintergründe nicht analysiert?

Die Informatoren Rösslers

Wer hat Rössler in der Schweiz informiert? Wer hat die Fragen prompt und sachgemäß beantwortet, die Moskau an ihn stellte? Wer war dazu überhaupt in der Lage? Es sind viele Vermutungen geäußert und Behauptungen aufgestellt worden, die der sachlichen Nachprüfung nicht standhalten. Nur das Buch von W. F. Flicke bezw. die Analyse der entschlüsselten Funksprüche, die in ihm veröffentlicht werden, geben Hinweise, die weiterverfolgt zu werden verdienen. Dabei ist bei einem Gesamtüberblick festzustellen: In der „Berichterstattung" an Moskau sind deutlich drei zu unterscheiden, nämlich Phasen zunächst die Nachrichten, die sich jeder bebeschaffen konnte, wenn er nur einer zentralen Dienststelle saß oder z. B.dem Reichsluftfahrtministerium angehörte. Die ersten entschlüsselten Telegramme nach Moskau aus dem Jahre 1941 tragen alle diesen Charakter. Auch nennen sie Quellen. verschiedene Nur der Funkspruch vom 9. Dezember 1941 stammt von „Luise." Es ist der wichtigste dieser Serie und lautet: „Neuer Angriff aus Moskau ist nicht Folge einer strategischen in Entscheidung, sondern entspricht der der deutschen Armee herrschenden Mißstimmung darüber, daß seit 22. Juni immer wieder neu gesteckte Ziele nicht erreicht werden. Infolge Sowjetwiderstandes mußte Plan 1 Ural, Plan 2 Archangelsk— 3 aufgegeben Plan Kaukasus werden. Nachschub leidet am meisten durch diese Umänderungen der Pläne."

In einer Zwischenphase befassen sich die Funktelegramme aus und nach der Schweiz mit Fragen der Geldbeschaffung. Auch für die Sowjetspionage sollten sich hohe Dollarbeträge als unentbehrlich erweisen; erst dann konnte die neue zweite Phase beginnen. Der deutschen „Abwehr" wurden damit wichtige Hinweise gegeben.

Aber der Informator in dieser Phase heißt noch nicht „Lucy“, sondern „Luise". Unseres Erachtens bedeutet das, daß Rössler schon geliefert hat, aber noch nicht der Star der Agenten war. Liegt das vielleicht an seinen „Quellen"? Haben sich ihm später neue, noch bessere erschlossen? Es hat den Anschein. Jedenfalls verraten die entschlüsselten Funksprüche jetzt Kenntnisse, die man nicht aus Gesprächen aufsammeln, sondern nur in der nächsten Umgebung Hitlers gewinnen konnte.

So muß man genau beachten, daß Rössler erst vom August 1942 an den Decknamen „Lucy“ trug. Er war als der wichtigste aller Agenten des sowjetischen geheimen Nachrichtendienstes anerkannt — und ist auch entsprechend dafür bezahlt worden. Die finanziellen Schwierigkeiten der Residentur Alexander Rados waren inzwischen behoben. Dann erst gewinnen die Funkmeldungen nach Moskau die immense Bedeutung, von der Foote berichtet. Diese Wertsteigerung ist auffallend. Sie fällt aber auch mit einer Reihe von Ereignissen in der deutschen Führungshierarchie zusammen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, ihrer aber wegen Gleichzeitigkeit nicht aus den Augen gelassen werden dürfen. In denselben Wochen hat nämlich Hitler die absolute Herrschaft über die Wehrmacht und vor allem über den Generalstab des Heeres endgültig an sich gerissen. Der bisherige Chef des Generalstabs, Halder, ist entlassen worden, mit ihm auch Feldmarschall List und andere hohe Befehlshaber, die daran festhielten, daß Vernunft und kriegswissenschaftliche Erfahrung auch in diesem Krieg notwendig seien, daß auch die kühnste strategische und operative Führung der rationalen Gegenkontrolle bedürfe. Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen hat Hitler befohlen, eine eigene Dienststelle „Der Beauftragte des Führers für die militärische Geschichtsschreibung" einzurichten; ihr Leiter, der damalige Oberst i. G. Scherff, ist seitdem immer in seiner Nähe und hat das Recht, alle notwendigen Unterlagen für die Gesamtkriegführung zu sammeln. Und schließlich hat etwa gleichzeitig die Funk-abwehr ihren ersten großen Erfolg: Sie kommt in Berlin der sowjetischen Spionage-Organisation auf die Spur. Ende August und Anfang September 1942 werden an die 80 Personen verhaftet. Das eigentliche Haupt dieser Gruppe ist der Oberleutnant d. R. Harro Schulze-Boysen, Dozent für Weltwirtschaft an der Universität Berlin, Neffe des Großadmirals Tirpitz — ein Täter aus ideologischer Über-zeugung. Er war Adjutant der Attachegruppe im Reichsluftfahrtministerium. Ist an seine Stelle etwa jemand getreten, der noch besser Bescheid wußte? Alle Indizien weisen in diese Richtung. Denn die Nachrichten, die jetzt aus der Schweiz nach Moskau gefunkt werden, können nur aus der obersten Führungszentrale stammen. Rössler selbst weiß am besten, was sie wert sind und stellt dementsprechende Forderungen. Jedenfalls wird dies von Foote berichtet und auch in dem Bericht Flickes offenbar aus Schweizer Quellen bestätigt.

Bleiben wir aber zunächst bei den Antworten auf die oben gestellten Fragen.

Hitler und die deutsche Funkabwehr

Im Dritten Reich ist es nirgendwo „mit rechten Dingen" zugegangen und in der Führung des Zweiten Weltkriegs erst recht nicht. Wenn der Generalstab bestrebt war, der klassischen Ratio Raufn zu schaffen, und zwar sowohl in der strategischen wie in der operativen und taktischen Führung, so sah er sich immer wieder durch Hitler in diesem Festhalten an den Prinzipien der Vernunft desavouiert. Je länger der Krieg dauerte, um so mehr wurde „der Führer“ zum militärischen Diktator und um so häufiger setzte sich bei ihm das Irrationale durch. In der ersten Phase des Krieges hatte er sicher hellsichtige Momente; seine Intuition erwies sich zuweilen als treffender und zielsicherer als die Führungsroutine im herkömmlichen Sinn, aber im zweiten Teil des Krieges ist diese Gabe nahezu erlahmt. Dann wird aus der Neigung zum Irrationalen ein Hang zum Widervernünftigen oder Phantastischen und schließlich zum baren Unsinn. Sie nimmt in demselben Maß zu, wie seine physische und psychische Erschöpfung und schließlich auch seine „Nervenkrankheit" fortschreiten. Wie aber um jeden absoluten Herrscher mit großen Anfangserfolgen, so hat sich auch um Hitler seit 1939 ein „Hof" gebildet, haben sich Höflinge gesammelt, die völlig in seinem Bann stehen. Dieser „Hof" fürchtet aber auch seinen Zorn und hütet sich, seinen Unwillen zu erregen. Der Verfasser konnte diese Tendenz noch vom September 1944 bis zum März 1945 aus nächster Nähe beobachten. Nur so kann überhaupt erklärt werden, daß ihm die Ergebnisse der Funkabwehr vorenthalten, daß keine Gegenmaßnahmen getroffen wurden.

Jedenfalls erscheint es glaubwürdig, was Flicke aus dem Führerhauptquartier berichtet: Hitler haßte Funksprüche und wollte von ihnen nichts wissen, vor allem dann nicht, wenn sie aus dem feindlichen Lager kamen. Er hielt sie samt und sonders für Täuschungsmanöver. So kann es durchaus sein, daß er zu Halder und anderen, die ihm solche Funksprüche vorlegen und damit ihre Vorschläge begründen wollten, dem Sinne nach gesagt hat: „Funksprüche?! Soll ich vor Funksprüchen kapitulieren? Ein Täuschungsschwindel Stalins! Ein so plumper Bluff, daß nur ein naiver Mensch darauf hereinfallen kann! Funksprüche? Lächerlich! Mit derartig albernen Tricks lasse ich mich nicht blenden!"

Aber gerade in diesem Fall war Hitler nicht nur geblendet, sondern vollends mit Blindheit geschlagen. Und mit Blindheit geschlagen war auch der Chef OKW, Feldmarschall Wilhelm Keitel, der hier persönlich hätte eingreifen und auch ohne Hitler handeln müssen. Das wäre ihm indessen bereits als eine Art „Insubordination" erschienen. So sind die Meldungen über die entschlüsselten Funksprüche wohl schon „auf dem Dienstweg" hängen geblieben. Der Chef OKW hat sich offenbar nicht weiter um diesen „Komplex" gekümmert, immer bemüht, „seinen" Führer nicht zu verärgern und sich selbst keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Wenn er die Funksprüche vorlegte, kam nur Ärger dabei heraus, nichts weiter. Es ist uns ein anderer Fall eines entschlüsselten Funkspruchs bekannt geworden, der an die Abwehr des Admirals Canaris gelangte. Dort wurde er für so wichtig gehalten, daß man einen Abteilungschef mit dem Text ins Führerhauptquartier schickte. Es wurde besprochen, daß er Hitler selbst vorgelegt werden sollte. Aber dann winkte Keitel ab. Die Untersuchung verlief im Sande. Nach dem Grundsatz: „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf", gab es im Befehlsbereich Keitels keine „undichten Stellen".

Und die Kriegsgeschichtsschreibung?

Wie aber hat sich die deutsche Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg verhalten? Soweit wir sehen, hat auch sie grundsätzlich noch keine Stellung genommen. Der seriöse Historiker spricht und schreibt nicht gern über Spionagegeschichten. Der geheime Nachrichtendienst ist eine Sache für Außenseiter, die höchstens frühere „Abwehr" -Leute mit der notwendigen Vorsicht behandeln. Und doch kann ihn keine Armee entbehren, wie ihn auch die neutrale Schweiz nicht entbehren konnte. Ihr hat Rössler sicher große Dienste geleistet; denn gerade die Schweizer Neutralität war auf das europäische Gleichgewicht gegründet und von 1940 bis 1943 durch das absolute Übergewicht Hitlers tödlich gefährdet. Dieses Politikum zwang sie auch zu einem bestimmten Verhalten. Aber das galt nur so lange, bis die Gefahr des totalitären Übergewichts in Mitteleuropa gebannt war. Dann stieg mit der beginnenden Niederlage Hitlers, die nur noch hinausgezögert, doch nicht mehr aufgehalten werden konnte, eine andere Gefahr herauf. Zu diesem Zeitpunkt hat die Schweizer Bundespolizei zugegriffen. Die Sendungen nach Moskau verstummten; denn seit dem Herbst 1943 hatte die Schweizer Eidgenossenschaft kein Interesse mehr daran, daß anstelle der einen die andere, noch stärkere totalitäre Großmacht in Mitteleuropa die Oberhand gewann. So hat sich die Schweiz im Falle Rössler durchaus im abendländischen Interesse verhalten, die das eigene mit einschloß. Auch die deutsche Kriegsgeschichte wird dies anerkennen müssen, wenn sie sich grundsätzlich mit diesem Verratsfall beschäftigt. Aber für die deutsche Kriegsgeschichte stehen auch noch andere Fragen zur Debatte. So vor allem die, wieweit der Verrat aus der nächsten Umgebung Hitlers den Gang des Ostfeldzuges beeinflußt hat. War er entscheidend oder nur eine wichtige Hilfe für die Russen bei ihren Operationen? Hätten seine Folgen unter gewissen Umständen größer oder geringer werden können? Jedenfalls wären sie nicht so schwerwiegend gewesen, wenn Hitler seinen Heerführern operative Freiheit gegeben hätte. In einem einzigen, letzten Fall, nämlich im März 1943, hat Hitler dem Feldmarschall v. Manstein diese dringend erbetene operative Freiheit bewilligt — mit dem Ergebnis des vollen Sieges bei Charkow und der Wiederherstellung der Lage im Süden der deutschen Ostfront. Kein Verrat aus dem FHQ hat diesen letzten Erfolg an der Ost-front verhindert. Er hatte also auch seine Wirkungsgrenzen. Aber an diesem Beispiel wird offenkundig, daß es in diesem Zusammenhang wichtige Fragen gibt, die noch nicht erforscht sind. Die Operation „Zitadelle“ zum Beispiel, deren Absicht bereits am 20. April 1943 verraten wurde, erscheint an Hand der entschlüsselten Funksprüche im neuen Licht. Vielleicht wäre sie überhaupt abgeblasen worden, wenn diese Hitler vor Augen gekommen wären.

Verrat aus ideologischen Gründen

Im Falle Rössler steht, wie schon gesagt, nicht mehr die Spionage im hergebrachten Sinn, sondern der Verrat aus ideologischen Gründen zur Debatte, wenn auch mit gewissen Differenzierungen, wie wir noch sehen werden. Er gehört in dieses Zeitalter der Randverwerfungen, so daß wir auch künftighin mit ihm rechnen müssen. Andere Motive als die der Abenteurerlust oder der Geldgier oder eines pervertierten Geltungsbedürfnisses stehen im Vordergrund. Insofern ist der Fall Rössler geradezu ein Modellfall und eine Warnung, auch eine Mahnung zur Wachsamkeit. Dabei war er nach dem heutigen Stand unseres Wissens gar kein eigentlicher „Landesverräter" — denn er hatte ja gar kein Vaterland mehr —, sondern nur das begabte Werkzeug und Vollzugsorgan eines solchen aus ideologischen Gründen. Viele Jahre mit der Welt des Theaters beschäftigt, spielte er aber die Rolle des geheimnisvollen Agenten ebenso perfekt, wie er die des Militärexperten gespielt hat. Es war aber nicht nur die Rache an Hitler und dem Nationalsozialismus, sondern auch die an einer Gesellschaft, die ihn nie hatte hochkommen lassen. Aus seiner Verteidigungsrede, die die „Weltwoche" am 10. Juni 1966 veröffentlichte, wird dies ersichtlich.

Hinter Rössler hat ein anderer gestanden, eine sehr viel größere Persönlichkeit. Diese These möchten wir heute wagen. Es muß sich um einen wirklichen Soldaten und Kriegswissenschaftler gehandelt haben, um einen kritischen Geist und eine ungewöhnliche Intelligenz, aber auch um einen starken Charakter mit politischer Leidenschaftlichkeit. Er haßte nicht nur den Nationalsozialismus, sondern die ganze Welt und Gesellschaft, die Hitler in den Sattel gehoben hatte. Darum wollte er mit an einer besseren Welt bauen, so wie er sie verstand. Diese Welt war für ihn das „sozialistische Vaterland", die Sowjetunion geworden wie für manche Künstler und Wissenschaftler im Berlin der dreißiger Jahre, vor allem auch viele Schauspieler. Nicht von militärischer, sondern von dieser Seite her ist wohl die Brücke zu Rössler geschlagen worden, sind ihm dann auch zuerst geheimdienstliche Informationen zugegangen: Der erste seiner Informatoren war unseres Erachtens kein anderer als Harro Schulze-Boysen, der eigentliche „Vormann" der sogenannten Roten Kapelle. Alle Indizien weisen auf ihn hin.

Schulze-Boysen war Oberleutnant der Reserve der Luftwaffe und im Krieg Adjutant der Attachegruppe im Reichsluftfahrtministerium. Zu dieser immerhin wichtigen Dienststellung kam er wohl nicht nur als Neffe des Großadmirals von Tirpitz, sondern auch deshalb, weil er ein sehr gebildeter und vielseitiger Mann war. Er hatte weite Reisen gemacht und war auch 1935 in der Schweiz, wie wir wissen Von der Attachegruppe der Luftwaffe aus boten sich dann 1939 wohl auch technische Möglichkeiten, eine „Linie" zu schaffen, die in die Schweiz lief und nie entdeckt wurde. Vielleicht ist diese Linie auch nach Mailand als einem wichtigen Stützpunkt der deutschen Luftwaffe gegangen. Von dort aus soll dann ein Kurier die Nachrichten nach Luzern gebracht haben, wie Dr. Schnieper, ein Vertrauter Rösslers, dem Verfasser gegenüber erklärt hat. Es gibt ein wichtiges Indiz, das für Schulze-Boysen als dem eigentlichen Urheber und ersten Hauptinformator spricht, nämlich die Schrift „Die Kriegsschauplätze und die Bedingungen der Kriegführung“, die, wie bereits erwähnt, 1941 in Rösslers Vita Nova Verlag erschien. Wir sagten schon, daß sie bisher allgemein Rössler zugeschrieben wurde, aber gewiß zu Unrecht. Nach der Aufhellung seines militärischen Werdegangs wie seiner Interessen und Tätigkeiten bis 1934 erscheint dies so gut wie ausgeschlossen. Es handelt sich hier genauso um eine bewußte Mystifikation wie bei der Legende von den „zehn Gefährten", mit denen Rössler angeblich die Front-kameradschaft des Ersten Weltkriegs verband und die ihm dann seine geheimen Informationen geliefert haben sollen. Die Schrift „Die Kriegsschauplätze und die Bedingungen der Kriegführung" konnte nur jemand schreiben, der ein durchgebildeter Soldat war, die Kriegsgeschichte gründlich kannte, darüber kritisch nachgedacht und sich ein selbständiges Urteil gebildet hatte. Diese Voraussetzungen fehlen bei Rössler. Bis 1939 lagen jedenfalls seine Interessen auf ganz anderen Gebieten. Wie hätte er sich da mit Schliessen befassen und Ludendorffs Schrift „Der totale Krieg" so sehr mit Gewinn benützen können, wie dies „R. A. Hermes" getan hat.

Dieses Pseudonym könnte einen bestimmten Hinweis geben: Hermes der Gott des Handels. Schulze-Boysen war, wie gesagt, Dozent für Weltwirtschaft. Auf den weltwirtschaftlichen Fachmann mit fortschrittlichen Anschauungen deutet der Satz auf Seite 18 der Schrift hin: „Die Tatsachen einer Weltwirtschaft, eines Weltverkehrs, einer den ganzen Erdball dicht umspannenden Organisation von Produktion und Verbrauch sind es, welche die Vorstellung eines auf die Schießstätten der militärisch Kriegführenden beschränkten Kriegsschauplatzes zur Illusion machen. Schon im letzten großen Krieg hat jede Rechnung versagt, die nicht die zwangsläufige agrar-und industriewirtschaftliche, organisatorisch-technische und sozial-kulturpolitische Kriegseinbeziehung der scheinbar am Kriege Unbeteiligten in ihr weltpolitisches Kalkül gestellt hat. Die Zahl derjenigen Erdenbewohner, die jetzt, im zweiten Jahre dieses Krieges, Gewehr bei Fuß stehen, aber mit ihrer Arbeit, mit ihrem Denken, mit dem Besitz und den Werkzeugen ihrer Länder schon Stellung bezogen haben — freiwillig oder unfreiwillig -—, ist nicht kleiner und nicht größer als 1915. Für wen oder gegen wen sie denken und produzieren, wem sie die Früchte ihrer Arbeit zur Verfügung stellen, für wen oder gegen wen sie säen und ernten, ihre Erze aus dem Boden holen und ihre Schiffe beladen, wem sie ihr Ohr leihen und wem sie es verschließen, ist von kriegsentscheidender Bedeutung. In der Welt, in der Krieg geführt wird, sind alle Mithandelnde auf einem Kriegsschauplatz geworden, von dem sie nur militärisch und diplomatisch distanziert sind." So konnte nur jemand schreiben und denken, der in der Weltwirtschaft völlig daheim war. Von daher hatte der Verfasser auch erkannt, „daß man Schlachten serienweise gewinnen und den Krieg dennoch vollkommen verlieren kann — in der . letzten Schlacht', die vielleicht nur ein Gefecht, , nur'ein wirtschaftliches Erliegen, , nur'eine Rebellion der Geschwächten ist —, leuchtet den an Hannibals . Cannae'Geschulten, den mit Felddienstordnung überernährten, den nur Geländestrategen nicht ein."

Noch deutlicher tritt der Weltwirtschaftler, der aber auch im modernen Luft-und Seekrieg genau Bescheid weiß, in dem Kapitel „Die umkämpften Kriegsschauplätze" in Erscheinung, das nach einer Anmerkung Ende Februar 1941 abgeschlossen wurde. Es heißt dazu über die nachfolgenden Ausführungen ausdrücklich: „Sie stellen den Krieg nicht in den Aspekt von wechselvollen Kampfschauplätzen, sondern in den Gesichtskreis der geographisch-politischen und geographisch-wirtschaftlichen Machtgebiete, von deren Behauptung oder Eroberung der entscheidende Kriegsverlauf abhängt." Die Skizze „Seeverkehr und Seestützpunkte im Atlantischen Ozean" verrät wieder den Welt-wirtschaftler, die Bedeutung, die er nach einem weltweiten Überblick der Seeherrschaft zumißt, u. E.den Neffen des Großadmirals Tir-pitz. Seine Schrift hat noch heute ihre Bedeutung. Aber auch in anderer Beziehung ist sie wichtig, nämlich in ihrem „ideologischem überbau" auf der ökonomischen Basis: Sie enthält den Versuch einer Rechtfertigung des Hoch-und Landesverrats in der völlig veränderten weltpolitischen Lage. Dieses „Umschlagen" der Intelligenz in die Ideologie ist nicht nur charakteristisch für Harro Schulze-Boysen, sondern auch das gemeinsame Merkmal fast aller Mitglieder der kommunistischen oder prosowjetischen Untergrundorganisation, die man dann die Rote Kapelle genannt hat. Es kann als eine Art von Glaubensbekenntnis angesprochen werden, wenn es da heißt: „Entschieden wird dieser Krieg nicht durch die Totalität in der Zerstörung und in den Gedanken, die zur Zerstörung befähigen, sondern durch die Totalität in der produktiven Gesinnung und Leistung, die den zerstörenden Mächten trotzt und von der sich die Menschen eine bessere Ordnung versprechen. Gerade deshalb, weil er seine Spielregeln nicht mehr dem alten Nationalhaß und den imperialistisch-nationalstaatlichen Kämpfen des 18, und 19. Jahrhunderts entnehmen kann, wird dieser Krieg nach Regeln der . Weltanschauung'geführt; gerade deshalb hat er die Entscheidung der inneren Front anheimgegeben."

Was aber ist unter dieser „inneren Front" zu verstehen? „Hermes" stellt fest, daß in dieser neuzeitlich veränderten Welt „die Kriegführenden in jedem Land ihre Parteigänger haben, die nur darauf warten, daß sie vom Eindringling mobilisiert und seiner Sache dienstbar gemacht werden. Der Regime-Sturz, die planmäßige Auswechselung der bisherigen Regierung durch eine neue, ihr Einverständnis mit dem Eindringling weltanschaulich oder gesinnungsmäßig rechtfertigende, sind wichtige Kriegswaffen geworden, die seit den Religionskriegen unangewendet geblieben sind und deren zweckmäßige Handhabung eine hochentwickelte intellektuelle und politisch-organisatorische Kampftechnik voraussetzt." In diesem Zusammenhang wird dann auch der Begriff der revolutionären Kampfführung zum erstenmal gebraucht und genauer präzisiert, immer in Hinblick auf die zunehmende Bedeutung, die dieser revolutionären Kampfführung in einer total veränderten Welt nicht nur zukommt, sondern logilogischerweise zusteht, wie „Hermes" meint.

In diesem Zusammenhang findet der Autor sogar ein Wort der Rechtfertigung für die „Quislinge", wenn er schreibt: „Die Tatsache, daß bisher nur eine der kriegführenden Parteien sich dieser revolutionären Kampfführung bedient und mit dieser auch den Einsatz ihrer militärischen Machtmittel in Einklang gebracht hat, darf nicht dazu verführen, die Anwendung der ungewohnten Kriegswafie als bloße Spekulation auf . Verräter' zu bagatellisieren, die es schon immer gegeben habe... Die gewaltige Macht der einander ohne Rücksicht auf Landes-und Volksgrenzen feindlich gegenüberstehenden Gesinnungsfronten ist heute die Tatsache, die dem modernen Krieg, im Unterschied zu früheren Kriegen, geradezu den Stempel aufdrückt. .. Solche und ähnliche Erscheinungen lassen sich als Ausdruck und Folge bloßer privater Verräterei, vaterlandsloser Gesinnung oder nationaler Unzuverlässigkeit in ihrem Kern nicht erfassen. Sie deuten vielmehr darauf hin, daß dieser Krieg auf einem revolutionären Untergrund geführt wird, daß er aus einer Erschütterung und Infragestellung des nationalen und gesellschaftlichen Bewußtseins gespeist wird und daß er seinen Schauplatz sehr weitgehend in das übernationale Reich der gesellschaftlich-politischen Gesinnung, der überpersönlichen Werte und der Weltanschauung erstreckt hat. Das Kennzeichen jeder revolutionär bewegten Zeit aber ist gerade der Umstand, daß nicht nur für einzelne Wenige, sondern für große Massen von Menschen die Gesinnung wichtiger geworden ist als die Nationalität', die Frage nach der , Welt-anschauung’ entscheidender als die Frage nach der Volks-und Staatsangehörigkeit."

Dank dieser und ähnlicher programmatischer Passagen ist die Schrift von „R. A. Hermes" eines der wichtigsten Dokumente der Zeitgeschichte, die wir aus jenen Jahren besitzen. Sie definiert nicht nur die revolutionäre Kampfführung als neue und zeitgerechte Waffe, sondern stellt u. E. zugleich eine Programmschrift der Gruppe dar, die als „Rote Kapelle" bekannt geworden ist. Neben jüngeren Intellektuellen setzte sich diese Gruppe aber auch aus Theaterleuten zusammen, als deren führender Kopf der frühere Dramaturg des Berliner Staatstheaters unter Leopold Jess-ner, Adam Kuckhoff, anzusprechen ist. Das waren die Berliner „Gefährten“ Rösslers aus jenen Jahren, als er noch den Bühnenvolksbund leitete. Es waren auch die Bekannten, wenn nicht nahe Freunde von Dr. Xaver Schnieper, dem Vertrauten Rösslers in der Schweiz. Die Legende von den „Kriegskameraden" ist nur der Versuch, von diesen „Beziehungen" abzulenken, gerade weil sie so nahe-liegend sind.

Nach der Zerschlagung der Roten Kapelle

Die Rote Kapelle wurde Ende August und Anfang September 1942 zerschlagen. Sie war ein Opler der Funkabwehr geworden, die einen höchst leichtfertigen Spruch aus Moskau aufgeschlüsselt hatte. In diesem Spruch war eine Berliner Adresse angegeben worden, und von dieser aus konnte dann das ganze Netz „aufgerollt" werden. Die näheren Einzelheiten sind in dem anderen Erlebnisbericht von F. W. Flicke „Spionagegruppe Rote Kapelle" nachzulesen. Der Rußlandfeldzug und damit der Zweite Weltkrieg war inzwischen in seine entscheidende Phase getreten. Aber gerade jetzt lief die Sowjetarmee Gefahr, daß eine ihrer wichtigsten geheimdienstlichen Quellen versiegte. Offenbar aber hatte Schulze-Boysen auch für diesen Fall schon Vorsorge getroffen. Wir haben noch keine Beweise, aber dies entspräche seinem Charakter, seiner Umsicht und — den revolutionären Tendenzen, zu denen sich die in der Schweiz erschienene Programm-schrift bekannte. Wahrscheinlich hat er sich rechtzeitig nach einem „unverdächtigen" Nachfolger umgesehen. War das der Adjutant der Dienststelle „Der Beauftragte des Führers für die militärische Geschichtsschreibung"? Dieser Schluß bietet sich an, denn Schulze-Boysen und Dr. S. waren beide Dozenten an der Berliner Universität. Sie sind sich wohl auch dienstlich begegnet und haben mehr oder minder offen miteinander gesprochen. Es kann angenommen werden, daß es Schulze-Boysen gelang, den Kollegen für „die revolutionäre Kampfführung" in seinem Sinne zu gewinnen. Jedenfalls muß bis zum Beweis des Gegenteils diese Spur weiter verfolgt werden.

Wir sprachen von der Präzisierung und Verdichtung der Nachrichten, die vollends seit dem August 1942 Moskau erreichen. Seitdem trägt Rössler bekanntlich den Decknamen „Lucy". Er hatte schon Ende August nach den Angaben Flickes durch seinen Mittelsmann Schneider, genannt „Taylor", die Verlegung der 73., 337. und 709. I. D. wie der SS-Division „Das Reich" nach der Ostfront melden können. Kurz darauf wurden die Angaben über Standort, Zusammensetzung, Ausrüstung und Einsatzziel der Heeresgruppe des Feldmarschalls List nach Moskau gefunkt. Erst jetzt begann die große Zeit Rösslers. Woher hatte er nun diese wichtigen Nachrichten, und zwar laufend, während er früher nur von Fall zu Fall darüber verfügte? Es drängt sich der Schluß auf, daß ein neuer Informator auf der Bildfläche erschienen ist. Und zwar ein Informator, der direkt im Führerhauptquartier sitzen mußte, denn nur dort war zu erfahren, was von nun an fast täglich gemeldet wurde. Nur dort liefen alle Nachrichten zusammen und nur von dort aus konnten sie so rasch weitergegeben werden, daß es die Organisation Rado erfuhr, „noch bevor sich die betreffende Division in Marsch gesetzt hatte." Das wäre schon rein technisch niemals möglich gewesen, wenn Rössler im OKW „zehn Gefährten" gehabt hätte, die noch einen Meldekopf brauchten. Die „Linie", die nach der Schweiz ging, blieb jedenfalls auch nach der Verhaftung Schulze-Boysens intakt.

Die „Eskalation" der geheimdienstlichen Nachrichten ist jedenfalls nicht zu einem beliebigen Zeitpunkt erfolgt; sie fiel mit der offiziellen Einrichtung der Dienststelle „Der Beauftragte des Führers für die militärische Geschichtsschreibung" zusammen, der die Kriegsgeschichte strikt im NS-Sinn schreiben sollte. Der Adjutant dieser Dienststelle, der damalige Oberleutnant Dr. S., ist dem Verfasser damals persönlich begegnet. Er hatte den Eindruck einer sehr intelligenten Person, aber auch eines völlig undurchsichtigen Charakters, und er wurde in diesem Eindruck bestärkt durch Feldmarschall Rommel, zu dem er nach dessen Rückkehr aus Afrika nach Ostpreußen einige Zeit kommandiert war. Dr. S. „pendelte“ zwischen dem FHQ und Berlin, dem Dienstsitz der II. Staffel der Dienststelle, während sein „Dienstherr" Scherff im FHQ blieb und an den täglichen Lagebesprechungen teilnahm. Die Stenogramme dieser Lagebesprechungen sind teilweise erhalten. Es wird eine interessante Aufgabe sein, ihren Inhalt einmal genau mit den entschlüsselten Funksprüchen zu vergleichen, die Rössler alias „Lucy" über Rado und Foote nach Moskau durchgab. So könnte die Kette geschlossen werden. Allerdings bleiben auch dann noch weitere Fragen offen, vor allem die der Übermittlung von Berlin nach der Schweiz.

Dagegen ist heute klar, mit wem man es bei Dr. S. tatsächlich zu tun hat. über ihn liegt sehr viel Material vor. Nach diesem Material, das bis zu seinem Tod in Bonn im Januar 1954 reicht, hat es sich, ganz im Gegensatz etwa zu Schulze-Boysen, nicht um einen Gesinnungstäter aus ideologischer Überzeugung, sondern um einen „Rückversicherer" gehandelt. Sein weiterer Lebensweg seit 1945 ist jedenfalls entsprechend verlaufen. Nach sicheren Quellen steht fest, daß er schon 1942 von der Niederlage Hitlers überzeugt war. Sein Hauptmotiv sind wohl eigensüchtige Interessen gewesen, so daß er vor allem an seine eigene Position, an sein weiteres Fortkommen nach der Katastrophe gedacht hat. Außerdem mochte er sich als Kenner Nietzsches — er war belesen und „gebildet" — sagen, daß man noch stoßen müsse, was fallen wolle. So trug er allem Anschein nach auf beiden Schultern, wie er es auch nach 1945 getan hat. Selbst bei der Gruppe Beck-Goerdeler versuchte er sich rückzuversichern, wie sicher bezeugt ist. Die Akten über diese Person sind freilich noch nicht geschlossen, die Indizien häufen sich, aber noch fehlen die Beweise.

Doch haben wir Beweise für ein anderes Kapitel in der Hand, programmatische nämlich. Sie dürften sich in diesem Fall gleichfalls als unentbehrlich erweisen.

Weltrevolutionäres Programm und reformerische Zielsetzung

Wir wissen aus der Programmschrift „Die Kriegsschauplätze" was die Gruppe Schulze-Boysen weltrevolutionär-ideologisch gewollt hat, auch wenn sie sich mit Rücksicht auf die Schweiz eine gewisse Zurückhaltung auferlegte. Wir kennen aber auch die konkreten außen-und innenpolitischen Ziele, die die deutsche Widerstandsgruppe um Beck und Goerdeler verfolgte. Die erstere konnte man schon seit 1941 nachlesen; die anderen aber erst seit dem Sommer 1965, als nämlich die Denkschrift „Das Ziel" von dem Verfasser dieser Studie zusammen mit anderen noch unveröffentlichten Dokumenten als Buch herausgegeben wurde Aus dem genauen Studium und der Analyse dieser beiden Dokumente ergeben sich zwar gewisse Affinitäten in der Hauptsache, aber diametrale Gegensätze in der Zielsetzung, so daß eine auch nur vorübergehende Kooperation zwischen den beiden Gruppen ausgeschlossen ist. Die Rote Kapelle verzehrte das revolutionäre Feuer für den Sowjet-kommunismus von damals, die Kreise um Beck und Goerdeler wollten auf der gemeinsamen Grundlage der klassischen Vernunft als dem besten Teil des abendländischen Erbes vorwärtsweisende Politik machen. Sie setzten dem Enthusiasmus der revolutionären Zerstörung des überkommenen die Idee der Weiterent-wiclilung, der politischen und sozialen, wirtschaftlichen und denkerischen Reformen entgegen. Bei ähnlich kritischer Beurteilung des Nationalsozialismus und der Kriegspolitik Hitlers kamen sie zu völlig verschiedenen politischen Zielen.

Schulze-Boysen und seine Gefährten suchen das zukünftige politische und gesellschaftliche Heil in Moskau. Sie wollen das Reich Hitlers mit zertrümmern helfen, um dem Sojwetkom-munismus in Mitteleuropa Raum zu schaffen. Darum werden sie Partisanen der Sowjetarmee und Wegbereiter ihres Sieges. Sie bedienen sich des Verrats militärischer Geheimnisse als eines revolutionären Kampfmittels. Es sind idealistische und enthusiastische Motive, die sie leiten. Um ihres vermeincc hohen weltpolitischen Zieles willen nehmen sie auch die totale Niederlage ihres Landes in Kauf, auch den Verlust der nationalen Selbstbestimmung. Sie haben keinen Sinn mehr für die Kontinuität und das organisch Gewachsene. Wie andere Zeitgenossen der dreißiger Jahre sind sie der Faszination des „Gottes“ Stalin erlegen und auch bereit, ihm jedes Opfer zu bringen. In diesem Glauben sind sie gestorben. Sie erleben es nicht mehr, daß ihr vermeintlicher Gott keiner war, sondern ein Moloch wie andere. Manche ihrer Berliner Bekannten der dreißiger Jahre sollten dies noch erleben, es sei nur an Arthur Koestler erinnert.

Programm und Wege der Gruppe Beck-Goerde-ler und dann auch der „Schattenregierung", die sich um sie bildet, sind anders. Sie leisten zwar gleichfalls subversiven Widerstand gegen Hitler, aber sie vergelten nicht Böses mit Bösem. Vom Urgrund der Tradition her versuchen sie vielmehr Gewalt durch Ausgleich, organisierte Anarchie durch eine lebendige Ordnung zu überwinden. Sie wollen keinen Umsturz, aber eine totale Erneuerung des Gemeinwesens von einer Gesinnung her, die dem Ganzen verpflichtet ist — dem Ganzen der deutschen Geschichte, dem Ganzen der abendländischen Überlieferung, der Zukunft der menschlichen Gesellschaft. Sie halten es für untragbar, eine Diktatur durch eine andere zu ersetzen. Sie bejahen den Nationalstaat und wollen ihn erhalten, aber auch sie haben erkannt, daß die Entwicklung vom nationalen zum kontinentalen Wirtschaftsraum fortschrei-tet, daß die Weltwirtschaft vor der Tür steht. Statt einer Revolution wollen sie Reformen, ja die Reformen weiterführen, die nach der preu-ßischen Niederlage von 1806 angefangen wurden. Sie glauben nicht an die Erlösung durch den Umsturz, sondern an jene Erneuerung des Denkens, von dem ein neues Handeln und Verhalten ausgeht.

Fast um die gleiche Zeit, als die Schrift „Die Kriegsschauplatze und die Bedingungen der Kriegführung" in der Schweiz erscheint, haben auch Beck und Goerdeler ihre programmatische Denkschrift abgeschlossen, die sie „Das Ziel" nennen — das Ziel nämlich, das sie sich setzen wollen: politisch, gesellschaftlich, aber auch in der Wirtschaft. Es ist aufschlußreich, die ersten Sätze dieser Denkschrift den Passagen gegenüberzustellen, die wir aus jener anderen Programmschrift zitierten. Beck und Goerdeler sagen in ihrem Konzept, das als Diskussionsgrundlage für die „Schattenregierung“ gedacht war: „Aufgabe jedes Staates ist es, die auf Erhaltung und Verbesserung des Lebens gerichtete, naturgesetzlich gebotene Arbeit seiner Bürger zu schützen, alle dieser Tätigkeit dienenden Kräfte zu stärken, sie vor Entartung zu bewahren (vom Vers, hervorgehoben) und ihnen eine möglichst lange Dauer sicherzustellen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern er hat eine Seele. Daher gelangt er zur höchsten Leistungsfähigkeit auf allen Gebieten nur, solange es gelingt, die seelischen Bedürfnisse zu befriedigen. Das gilt für sein religiöses Streben und Sinnen, das gilt für seine Ehrliebe, das gilt für sein Nationalbewußtsein, für seinen Hunger nach Wahrhaftigkeit und vieles andere. Die Tätigkeit, die Staatsführung und Volk diesen umfassenden Staatsaufgaben widmen, nennt man Politik. Die Wirtschaftspolitik ist nur ein begrenzter Teil dieser Staatspolitik. Nur Stümper, Schönredner und Schwadroneure können daher in eine Erörterung darüber eintreten, ob der Wirtschaft oder der Politik das Primat im Leben des Staates gebühre. Kurzes Nachdenken schließt jede solche Erörterung aus. Politik ist die umfassende, Wirtschaft die begrenzte Tätigkeit. Aber aus dem gleichen Grunde darf die Politik des Staates niemals die wirtschaftlichen Kräfte der Bürger außer acht lassen, von ihnen lebt der Staat, ohne sie verfällt er dem Tode. Wirtschaften heißt immer mit den Kräften der Natur, also auch mit anderen Menschen ringen. Kein Volk lebt allein auf dieser Welt; Gott hat auch noch andere Völker geschaffen und sich entwickeln lassen."

In diesem Zusammenhang ist es auch von Bedeutung, sich die Sätze gegenwärtig zu halten, die Beck in seinem großen Vortrag über den totalen Krieg sagte, der eigentlich eine Kriegserklärung gegen diesen ist. Der Vortrag muß zugleich als eine Art von Regierungserklärung angesehen worden, denn im März 1942 war Beck als Zentrale der sich bildenden „Schatten-regierung“ bestimmt worden und im Juni wurde dieser Vortrag vor der Berliner Mittwoch-Gesellschaft gehalten. Da sagte Beck grundsätzlich: „Die technische Entwicklung hat die Welt verkleinert und verkleinert sie immer mehr. Die Reibungsmöglichkeiten für das Zusammenleben der Völker haben sich damit vergrößert, aber auch das Bedürfnis erhöht, den daraus resultierenden Gefahren vorausschauend zu begegnen. Was Handel und Wandel angeht, die nun einmal den breitesten Raum in den Beziehungen der Staaten untereinander einzunehmen pflegen, so nötigt diese Entwicklung heute, ähnlidi wie vor hundert Jahren auf dem Gebiet des Zollwesens im Deutschen Bunde, immer mehr zur Bildung großer Wirtschaftsräume, die zunächst unseren Kontinent zu umfassen haben werden. Diese Bildung darf aber nicht gottgewollte und in langem geschichtlichem Werden erprobte Faktoren im Leben der Völker mißachten. An der Sptze dieser Faktoren steht das selbständige nationale Eigenleben, dessen überwiegend segensreiche Wirkung wohl kaum bestritten werden kann und das um so größere Entfaltungsmöglichkeiten hat, je mehr sich alle Staaen zu seiner Anerkennung ohne Hintergedanken bereitfinden."

Der Standpunkt der Gruppe Beck-Goerdeler und der „Schattenregierung", die sich seit dem Spätsommer 1943 um sie sammelte, ist damit gekennzeichnet. Er ist völlig anders als der Rösslers und der „Roten Kapelle". Wie aus der Denkschrift hervorgeht, wünschen auch sie den Frieden mit Sowjetrußland, aber mit dem Sowjetkommunismus wollen sie nichts zu tun haben. Was sie erstreben, ist der Genossenschaftsverband der europäischen Völker, der europäische Wirtschaftsraum, eine gemeinsame europäische Wehrmacht — aber das alles unter Wahrung des nationalen Eigenlebens. Ihre politischen Zielsetzungen betreffen Ausgleich und Gleichgewicht, die Wiederherstellung des Gleichgewichts in Europa, das in seiner Mitte den deutschen Nationalstaat braucht, um der erstarkenden Sowjetunion das Gegengewicht zu halten. In diesen Punkten des lebendigen Fortschritts hat es keine Meinungsver-schiedenheiten innerhalb der Schattenregierung gegeben. Hier stimmten das vorgesehene Staatsoberhaupt Beck wie der Reichskanzler-Kandidat Goerdeler mit dem vorgesehenen Vizekanzler Wilhelm Leuschner und Dr. Julius Leber, der Innenminister werden sollte, völlig überein, und es gab keine Unterschiede in der Auffassung zwischen denjenigen, die von der „Rechten", und den Männern, die von der „Linken" und aus den Gewerkschaften kamen.

Landesverrat und die Männer des „ 20. Juli"

Nach diesen grundsätzlichen Klärungen ist es wohl kaum mehr nötig, sich lange mit der Frage aufzuhalten, ob Personen um Beck und Goerdeler mit Rössler in Verbindung gestanden oder ihm gar geheimdienstliches Material zugespielt haben. Die Unhaltbarkeit einer solchen Behauptung liegt ebenso auf der Hand wie derjenigen, Rössler sei ein Militärexperte ersten Ranges gewesen. So bedeutet auch die geheimnisvolle Behauptung von „zehn Gefährten" im OKW und OKH wie die Andeutung von Namen in jedem Fall nur eine Mystifikation und den Versuch, von der rechten Spur abzulenken. Aber auch diese „Sprachregelung" setzte Personalkenntnis in der Führungshierarchie der deutschen Wehrmacht voraus, über die Rössler kaum verfügte. Dafür aber war sein Hauptinformator seit 1942, eben jener Dr. S., um so genauer im Bilde. Er hatte ja auch allen Grund, von sich auf andere abzulenken. Auch nach 1945 hat er dies mit Raffinement getan.

Freilich bleiben auch weiterhin viele Fragen offen.

Hinsichtlich einer Frage aber können Akten geschlossen werden: War der Verrat, der über Rudolf Rössler ging, kriegsentscheidend? Oder hätte gar Hitler am Ende den Krieg gewonnen, wenn da nicht dieser „größte Verräter aller Zeiten" und seine Helfershelfer gewesen wären? Darauf ist zu antworten, was Beck schon 1938 als erster gesagt hat: Ein neuer Weltkrieg war mit dem ersten Schuß verloren und würde mit einer deutschen Katastrophe enden. Eine solche Prognose ergab sich zwangsläufig und zwar nicht aus rein militärischen Gesichtspunkten, die im Zeitalter der Weltwirtschaft überholt waren, sondern aus weltpolitischen. Das weltpolitische Übergewicht der Westmächte gab für die strategische Lagebeurteilung Becks 1938 den Ausschlag. Es hat auch den Ausschlag für den Kriegsausgang gegeben. Die tieferen Gründe dafür können übrigens schon bei Clausewitz nachgelesen werden, den Beck besser gekannt und gründlicher ausgewertet hat als alle Generäle seiner Zeit. Deshalb hat er sich auch in der Denkschrift „Der Weg" zusammen mit den anderen Mitgliedern der „Schattenregierung" mit aller Deutlichkeit von der sogenannten „Dolchstoßlegende", die nach dem Ersten Weltkrieg grassierte, distanziert und alles getan, daß keine neue aufkam. Er und seine Mitstreiter wollten den Krieg nach der Beseitigung Hitlers beenden, aber die nationale Substanz sollte nicht preisgegeben werden. Jede Form von Landesverrat hätte dieses wichtigste aller Ziele durchkreuzt. Er paßte weder zu dem Programm noch zur Moral und dem Charakter des Kreises und Beck und Goerdeler, zu dem ja auch viele Generalstabsoffiziere gehörten, und zu ihrer politischen Überzeugung und Zielsetzung schon gar nicht.

Die Artikelserie „Der Krieg wurde in der Schweiz gewonnen" ruft zur geschichtlichen Wahrheitssuche auf. Sie hat die Zeitgeschichte alarmiert. Schon sind einige Goldkörner gefunden, aber noch ist viel Arbeit zu leisten, die keine Routinearbeit sein kann. Auch die geschichtliche Forschung ist in diesem Fall aufgerufen, zu ihren Quellen zurückzukehren. Diese Quellen sind aber ursprünglich Menschen und nicht bloß beschriebenes oder bedrucktes Papier. Sie sind es auch im Falle Rössler. Die noch lebenden Zeugen wollen gehört werden, so daß ein Mosaikstein an den andern gefügt wird. Dann wird sich auch ein Gesamtbild des „Falles Rössler" ergeben, das mehr ist als eine Spionagegeschichte, nämlich das Bild der „Verwerfungen" zwischen den Zeiten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Alexander Foote, Handbuch für Spione, Darmstadt 1954, S. 92 ff.

  2. Foote, S. 95.

  3. Foote, S. 98.

  4. Siehe „Weltwoche" vom 3. Juni 1966.

  5. W. F, Flicke, Agenten funken nach Moskau, Kreuzlingen (Schweiz) 19572.

  6. Vom letzten Chef der Wehrmachtnachrichtenverbindungen, General a. D. Praun, in einem Brief an den Verfasser bestätigt.

  7. Flicke, S. 18.

  8. Foote, S. 94.

  9. Flicke, S. 235 ff.

  10. Siehe „Weltwoche" vom 3. Juni 1966.

  11. Flicke, S. 266 f.

  12. Flicke, S. 267.

  13. Flicke, S. 286.

  14. Flicke, S. 326.

  15. Flicke, S. 329.

  16. Flicke, S. 368 f.

  17. Margret Boveri, Der Verrat im 20. Jahrhundert, Bd. IV: Zwischen den Ideologien, Hamburg 1956 ff.

  18. Berlin — Frankfurt/M. — Wien 1962

  19. Flicke, S. 20.

  20. Flicke, S. 255.

  21. Siehe Schweizer „Volksrecht" vom 6. Juni 1966: „Bei Adrien Turel nachlesen".

  22. R. A. Hermes, Die Kriegsschauplätze und die Bedingungen der Kriegführung, 1941, S. 26 f.

  23. Hennes, S. 22.

  24. Hermes, S. 23 f.

  25. Flicke, S. 263.

  26. Flicke, S. 263.

  27. S. Anmerkung 22.

  28. Beck und Goerdeler. Gemeinschaftsdokument für den Frieden 1941 bis 1944, München 1965.

  29. Ebenda, S. 83.

  30. Ludwig Beck. Studien, Stuttgart 1955, S. 250.

Weitere Inhalte

Wilhelm Ritter von Schramm, Dr. phil., Dozent an der Hochschule für Politische Wissenschaften München, geb. 1898 in Hersbruck. Veröffentlichungen u. a.: Der 20. Juli in Paris, Bad Wörishofen 1953 (2. Auflage unter dem Titel: Aufstand der Generale, München 1964); Staatskunst und bewaffnete Macht, München 1957; Carl Clausewitz: , Vom Kriege'(Hrsg., zus. mit Wolfgang Pickert), Reinbek 1964; Beck und Goerdeler. Gemeinschaftsdokumente für den Frieden 1941 bis 1944, München 1965.