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Auswanderung und Rückkehr Gedanken zur nationalsozialistischen Universität | APuZ 38/1966 | bpb.de

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APuZ 38/1966 Student im Dritten Reich Der Professor im Dritten Reich Auswanderung und Rückkehr Gedanken zur nationalsozialistischen Universität

Auswanderung und Rückkehr Gedanken zur nationalsozialistischen Universität

Friedrich G. Friedmann

Dieser Beitrag wird sich weder als wissenschaftliche Arbeit noch als autobiographischer Essay bezeichnen lassen. Zur wissenschaftlichen Arbeit gehört einerseits eine Objektivität, ein Ausschalten des eigenen Erlebens, was schon vom Thema her nicht möglich ist, andererseits vorhandenes Material, dessen Quantität und Beschaffenheit eine systematische Analyse erlauben. Solch eine Sammlung von Material ist, was die durch den Nationalsozialismus verursachte Auswanderung von akademischen Lehrern und Forschern sowie die Rückkehr einer Anzahl dieser Auswanderer in die Bundesrepublik betrifft, noch nicht in genügendem Maße vorhanden. Der autobiographische Essay verlangt eine gewisse Kontinuität im Ich des Erzählers, die aber gerade so tief einschneidende Ereignisse und Entscheidungen wie Auswanderung und Rückkehr in Frage stellen müssen. Es kommt hinzu, daß ich als Student flüchten mußte und als Professor zurückkehrte und daß das Deutschland, das ich verließ, dem Nationalsozialismus verfallen war, während das Land, das ich wiederfand, eben dabei war, demokratische Lebens-und Regierungsformen zu erproben. Vor allem aber war es das Gedächtnis, das sich während der Jahre 1933— 1945 der Fülle des Schrecklichen erwehrte: Nur durch seine, ich nehme an, vom Selbsterhaltungstrieb gesteuerte Dämpfung wurde es für die unmittelbar Betroffenen möglich, jene Zeiten seelisch und körperlich zu überstehen, was wiederum jene Diskontinuität des Ich förderte, die, subjektiv gesehen, aus einem Leben eine Anzahl von relativ autonomen Lebensphasen machte.

Mein Thema Auswanderung und Rückkehr — Gedanken zur nationalsozialistischen Universität wird also in zwei, durch Inhalt und Form wesentlich voneinander verschiedenen Teilen behandelt werden müssen. Ein erster Teil wird sich mit den grundlegenden Elementen beschäftigen, die, einmal in Erscheinung getreten, den erwähnten Umständen zum Trotz, mein Leben und mein Denken mit einer gewissen Konsistenz bestimmten. Sie werden manche Urteile und Überzeugungen erklären, die ich im zweiten Teil, in der Behandlung der Universität und ihres Versagens, aber auch ihrer Zukunftschancen, behandeln werde.

Ich glaube, in meinem Leben von vier bestimmenden Einflüssen sprechen zu können: die jüdische Abstammung, die benediktinische Erziehung, das amerikanische Erlebnis und — das mag überraschend klingen — die wissenschaftliche Beschäftigung und menschliche Verbundenheit mit der Welt der süditalienischen Bauern.

Jüdische Abstammung und benediktinische Erziehung

Ich meine mich genau erinnern zu können, daß meine jüdische Abstammung keinerlei Probleme vor der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus hervorgerufen hatte. In meiner Geburtsstadt Augsburg besaß jede der drei großen Relegionsgemeinschaften über die eigenen Formen des Gottesdienstes hinaus auch ein eigenes gesellschaftliches Leben. Dies bedeutete jedoch kein Sich-Verschließen vor dem anderen, sondern einen gewissen Respekt, der besonders bei feierlichen Anlässen klar zum Ausdruck kam. So erschienen Rektor und Konrektor des humanistischen Gymnasiums St. Stephan regelmäßig zu den hohen Feiertagen in der Augsburger Synagoge und nahmen dort ihre Ehrenplätze ein. Ich denke auch an meine Großmutter väterlicherseits, die Jahr für Jahr in der Sylvesternacht beim Einläuten des neuen Jahres ans Fenster ihrer Wohnung am damaligen Annaplatz trat und ihr Glas erhob. Ihr Gegenüber waren zwei ältere, evangelische Damen, die diese gutnachbarliche Geste im gleichen Sinne erwiderten.

Meine Verbundenheit mit der benediktinisehen Tradition war seit dem Beginn meiner Studienzeit bei St. Stephan eng und herzlich und, wie mir scheint, von einer persönlichen Affinität bedingt. Wenn ich heute versuche, mir diese Verbundenheit und die Verehrung für meine Lehrer und die Tradition, in der sie standen, zu erklären, so denke ich vor allem an die Selbstverständlichkeit ihrer Achtung für andere Menschen. Nicht ein einziges Mal in neun Jahren machten sie den Versuch, mich zu bekehren; ja, wenn ich mich damals noch wenig für jüdische Dinge interessierte, so war es gerade die natürliche Verehrung so mancher meiner Lehrer für die Tradition des Alten Testaments und des geschichtlichen Judentums, die mich zum Bewußtsein des eigenen riefen. Später, als ich über die Natur menschlicher Kulturen nachzudenken begann, sah ich in der Benediktinischen Gemeinschaft eine Verbindung von bäuerlicher und handwerklicher Lebensnähe mit einer Weltoffenheit, die einfache Güte und gelassene Gelehrsamkeit einschloß und mir als Prototyp jeder gesunden Gemeinschaft oder Gesellschaft erschien. Daß mich gleichzeitig manches in der katholischen Kirche stark anzog — der Reichtum an Symbolen, die vermittelnde Funktion der Sakramente, die einfache Frömmigkeit —, stand auf einer anderen Seite. Die Benediktiner bleiben für mich immer die Juden in der Kirche, wie ich mich umgekehrt gern als jüdischen Benediktiner betrachte. So erschien es mir kaum verwunderlich, daß die Mönche von St. Stephan im Dritten Reich aus ihrem Kloster vertrieben wurden.

Bindung an Amerika

Meine Bindung an Amerika läßt sich nicht leicht in wenigen Worten erklären. Sie beruht nicht nur auf dem Umstand, daß dieses große Land mich in schwerer Stunde bereitwillig aufnahm und mir eine Chance gab, ein neues Leben zu beginnen. Die vielbesprochene amerikanische Demokratie mag nach außen hin als hypokritische Verdeckung der sozialen Wirklichkeit, als Vorwand eines naiven Missionierungsglaubens, als eine Ideologie unter anderen Ideologien erscheinen. Von innen her gesehen bedeutet sie vielmehr eine Manifestation der Offenheit und Generosität anderen Menschen gegenüber, aber auch einer permanenten, von religiösen und sozialen Motiven getragenen Selbstkritik, die als Lebens-haltung des einzelnen und als in die Struktur der Gesellschaft und ihrer Institutionen eingebauter Mechanismus in Erscheinung tritt. Ihrem Ideal kommt die amerikanische Demokratie am nächsten, wenn sie sich um rationale Lösungen schwebender Probleme durch die Zusammenarbeit von Menschen bemüht, die sowohl von klar verstandenem Eigeninteresse als auch von einer weitgehenden Achtung der Rechte anderer geleitet werden.

Es hat mich oft gewundert, warum gerade in den wesentlichen, den Kern der Gesellschaftsordnung und die Natur der Verhaltensweisen betreffenden Dingen so viele Mißverständnisse zwischen Amerikanern und Europäern bestehen. Der Europäer neigt dazu, Amerika als einen allzu schnell und allzu selbständig gewachsenen Ableger Europas zu interpretieren, obschon es richtiger wäre, Amerika als eine eigene Kultur anzusehen, die bedeutenden europäischen Ideen zum erstenmal zur Verwirklichung verhalf — auf einem Boden und in einem sozialen Klima, die jene Ideen weitgehend umformten. Nur zwei der üblichen Mißverständnisse möchte ich erwähnen: einmal die Vorstellung, daß der amerikanische Pluralismus lediglich eine quantitative Erweiterung dessen darstellt, was in Europa Pluralismus heißt, eine Art Relativierung der Werte, ja, Gleichgültigkeit gegenüber gewissen Werten. In Wirklichkeit ist der amerikanische Pluralismus keineswegs der Ausdruck der schwindenden Gültigkeit historisch etablierter Werte, sondern eine Folge des Glaubens an dauernde, von geschichtlichen Entwicklungen unabhängige Werte, die einen ganzheitlichen, unantastbaren Rahmen darstellen. Innerhalb dieses Rahmens liegt der Spielraum für eine Vielfalt von Interessen, Interpretationen und Ausdrucksmöglichkeiten von Gruppen und Individuen. Ein zweites Mißverständnis erzeugen die Ressentiments, die hin und wieder gegen den in Europa Geborenen und anscheinend aus Snobismus oder Hochmut als Amerikaner auftretenden Rück36 Wanderer zutage treten. So bestrafte mich 1950, bei meinem ersten Wiedersehen mit Europa, der Archäologe und Stephaner Ludwig Curtius für ein paar von mir verbrochene Ungeschicklichkeiten im Gebrauch der deutschen Sprache, die er offensichtlich als gewollte Kundgebung meines Amerikanertums betrachtete, dadurch, daß er bei einer österlichen Lesung des Faust, die er im Freundeskreis abhielt, an alle Anwesenden Rollen verteilte, mich aber zu einem ausschließlichen und peinlichen Zuhörertum verurteilte.

Wie dem auch sei, die Auswanderung von Europäern nach Amerika und die Sehnsucht vieler Amerikaner nach Europa entstehen aus sehr verschiedenen Situationen. Dazu kommt, daß es den meisten europäischen Einwanderern leicht fällt, Amerikaner zu werden, während in nur wenigen Fällen geborene Amerikaner Europäer werden. Freilich gibt es viele amerikanische Schriftsteller, die dem mitunter kunstfernen puritanischen Leben entflohen sind, um in dem vielschichtigeren Europa lange Jahre ihres Lebens zu verbringen. Und doch vermochten diese, oft romantisch bewegten Europareisenden nur als Amerikaner auf dem alten Kontinent zu leben. Dies mag darauf beruhen, daß Europa, trotz aller Reize und Anregungen, ein Gefühl der Beengtheit, der mangelnden geographischen Weite und vor allem der fehlenden menschlichen Großzügigkeit hervorruft. Die Anziehung, die Amerika hauptsächlich auf junge Menschen, und bei diesen besonders auf dem Gebiet der Wissenschaften ausübt, ist wohl gerade mit dieser Großzügigkeit verbunden, die eine erfreulichere Zusammenarbeit in einem menschlich offenen Milieu ermöglicht.

Die Welt der süditalienischen Bauern

Endlich muß ich meine Begegnung mit der Welt der süditalienischen Bauern erwähnen, eine Begegnung, die ich einer Anzahl von Forschungsaufträgen durch amerikanische Universitäten und Stiftungen verdanke und die meinerseits dem Gefühl entsprang, daß das akademische Leben oft recht weit von jenen Regionen entfernt ist, in denen die grundlegenden Probleme des menschlichen Daseins zum Vorschein kommen. Dazu kam, daß ich in Amerika in einer typisch modernen Gesellschaft lebte, in der uns jenes Mindestmaß an Sicherheit, ohne das wir kaum leben können, durch soziale Gesetzgebung und Konventionen, also durch die Vorsorglichkeit von Regierungen und Interessenvertretungen, aber auch durch Propaganda und Mode, gewährleistet wird. In Süditalien hingegen fand ich Kulturen, deren Sicherheit vor allem in der Anpassung der alltäglichen Dinge an den kosmischen Rhythmus lag, wobei jeder Aspekt dieses Lebens mit allen anderen in Verbindung stand. Es entstand das Bild einer Gesellschaft, das die Einheit und Gesetzlichkeit des Kosmos widerspiegelte und das der Zeitlosigkeit von Werten und Werken, wie wir sie in unseren eigenen Kulturen zu besitzen glauben, jene Unterseite der Zeitlosigkeit, die Wiederkehr menschlicher Situationen und entsprechender Reaktionen, gegenüberzusetzen schien. Dies bedeutete für den Beobachter, daß praktisch in jedem Mitglied dieser Gesellschaften eine in ihrer Selbstverständlichkeit und im Kontrast mit dem Elend der Lebensbedingungen ergreifende Würde zutage trat. Und es bedeutete weit mehr. Die Würde dieser Menschen erschien als unwiderlegbarer Beweis gegen jede deterministische oder mechanistische Interpretation menschlicher Kulturen, denn es war ja gerade die Art des Akzeptierens kosmischer Gesetzlichkeit, die den Gegebenheiten des Lebens einen moralischen Sinn abzuringen vermochte. Auf sozialem Gebiet bedeutete dies gleichzeitig ein äußerstes Feingefühl für hierarchische Strukturen und einen unbeeinflußbaren Sinn für die Menschlichkeit alles Menschlichen. Ich erinnere mich noch der Worte und der Figur eines jungen Landarbeiters, der die armselige Ernte einbrachte und dabei zu erklären versuchte, daß sein Leben dem eines Tieres ähnlich sei, bis er sich plötzlich der Gegenwart eines Fremden — in diesen Gegenden immer ein Symbol oder Bote einer fernen, vermeintlich edleren Menschheit — bewußt wurde und vor dem Wort „Tier", mit dem er sein eigenes Schicksal bezeichnen wollte und das meine großstädtischen, also gebildeten Ohren hätte verletzen können, den Ausdruck „con permesso parlando" (mit Ihrer Erlaubnis) einschaltete.

Entschluß zur Rückkehr

Wenn ich mich frage, was mich, auf der Grundlage jener entscheidenden Erfahrung meines Lebens, in mehr bewußter und spezifischer Weise dazu veranlaßt hat, nach Deutschland zurückzukehren, so war es vielleicht die Über-zeugung, daß es die Aufgabe jedes Menschen ist, seine Kräfte dort einzusetzen, wo nach seinem Dafürhalten die Probleme seiner Zeit den höchsten Grad menschlicher Relevanz, das höchste Maß menschlicher Dichte zeigen. Anders ausgedrückt: Es schien mir, als ob das eigentliche Engagement dort stattfinden sollte, wo die persönliche — man würde heute wohl sagen existentielle — Betroffenheit am größten ist. Gerade an diesem Ort massivster Betroffenheit schienen mir zwei Postulate Dostojewskischen Denkens — so wie ich sie aus meinem eigenen background verstand — ihres Beweises zu harren: daß entweder jeder Mensch oder keiner die Möglichkeit hat, erlöst zu werden; und daß jeder Mensch für jedweden anderen Menschen volle Verantwortung trägt.

Praktisch bedeutete mein Entschluß die radikale Ablehnung jeglichen Urteilens oder Moralisierens aus sicherer Ferne und an deren Stelle die tägliche erschütternde und verwirrende Begegnung mit Menschen, die in der einen oder anderen Weise die unaustilgbaren Spuren jener Zeiten zeigten, für deren Verständnis die Kategorien des Denkens und Urteilens, die in der bisherigen Geschichte der Menschheit entwickelt worden waren, nicht ausreichen. Es bedeutete, unter anderem, das Vorbeigleiten von stumpf verschlossenen Gesichtern, von Menschen, die unansprechbar, voll trotziger Unschuld, ihr Leben dem magischen Worte „Befehlsnotstand" verdanken; die durch veränderte Umstände, nicht durch ein verändertes Gewissen, davon abgehalten werden, an mir das zu vollziehen, was sie an meinen Eltern und anderen Mitgliedern meiner Familie vollzogen haben. Aber auch die Begegnung mit Menschen, die ohne Rücksicht auf eigenes Wohl oder Wehe den zur Ausrottung Verdammten noch in letzter Minute ihr eigenes Brot brachten; mit dem Kollegen, der vor meiner Antrittsvorlesung auf mich zukam und etwas scheinbar so Einfaches sagte wie: „Ich danke Ihnen, daß Sie trotz allem zu uns zurückgekommen sind"; mit jenem anderen Kollegen, der eine Gruppe von Freunden bat, ihn nach der sonntäglichen Messe auf den Dorffriedhof zu begleiten, wo wir, Christen und Juden, vor dem Grab eines in Dachau umgekommenen Freundes gemeinsam ein Gebet sprachen.

Endlich bedeutete mein Entschluß zur Rückkehr den Versuch, eine Haltung der Unbefangenheit zu entwickeln, gerade aus dem Zentrum der Betroffenheit heraus, frei also sowohl von Gleichgültigkeit als auch von Ressentiments, und vor allem von jeglichem sentimentalen Drang nach Vergeben, das nur ein feiges Verwischen der Probleme bedeutet hätte. Es kann ein Suchen nach Verstehen gewesen sein, aber weit mehr noch nach Befreiung von dem Alptraum des Unmenschlichen und Unverständlichen, nicht Symptom also von etwas Edlerem, sondern lediglich ein Schritt zur eigenen Erlösung.

Bildung und Geist

Meine Betrachtungen zum Schicksal der deutschen Universität im Zusammenhang mit dem Dritten Reich sind also in diesem Sinne Betrachtungen über den Versuch, mit dem eigenen Schicksal, dem eigenen Menschsein und seinen Anforderungen fertig zu werden und, innerhalb der Universität, eine den eigenen Erfahrungen und Überzeugungen angemessene Rolle zu spielen.

Auch ich stelle mir die Frage, warum die Universität als Institution, warum so viele der akademischen Lehrer und der im Beruf stehenden Akademiker unfähig oder unwillig waren, sich der intensiven Erforschung der grundlegenden sozialen und kulturellen Probleme jener Krisenzeit mit aller Energie zuzuwenden und Vorschläge zu deren friedlicher, humaner und fortschrittlicher Lösung zu machen. Weiterhin: Warum haben die Universitäten und viele ihrer führenden Mitglieder, als ihr erstes Versagen zur Machtübernahme durch den Nationalsozialismus beigetragen hatte, sich nicht mit größerem Mut und mit größerer Klarheit gegen alle jene, den Prinzipien einer Universität widersprechenden Denk-und Verhaltensweisen der Diktatur aufgelehnt?

Die Antwort, wie mir scheint, muß lauten, daß die Universität in ihrem Gedankengut und ihren Grundeinstellungen der Zeit nicht mehr gewachsen war — und ich füge hinzu, daß sich die Universität in diesen grundsätzlichen Dingen in der Zwischenzeit kaum wesentlich geändert hat und daß sie es deshalb, auch unter den vollständig veränderten Umständen der Gegenwart, schwierig findet, ihre wirkliche Aufgabe zu erfüllen. Zur Erläuterung meiner These muß ich zuerst von zwei, auch die heutige Universität beherrschenden Begriffen — nämlich „Bildung" und „Geist" — sprechen.

Unter Bildung, so dürfen wir wohl annehmen, versteht man das, was einen Menschen prägt, der sich mit Ausdauer und Intelligenz, in sowohl wissenschaftlicher als auch musischer Weise mit jenen Werken menschlichen Schaffens beschäftigt, die durch die Werte, die sie verkörpern, Dauerhaftigkeit beanspruchen können. Diese Prägung schließt neben einem abstrakt geistigen Aspekt einen konkretethischen ein, indem der Gebildete sich verpflichtet fühlt, zu versuchen, die Probleme des Alltags ebenfalls im Sinne jener Werte anzugreifen und zu lösen. Die Anfälligkeit des traditionellen Bildungsideals liegt nun vor allem darin, daß es uns leicht dazu verführt, zu vergessen, daß die zeitlose Gültigkeit der angesprochenen Werte keineswegs eine geschichtliche Bedingtheit ihrer spezifischen Ausdrucks-und Anwendungsformen ausschließt. Das Bildungsideal, zu dem sich die Universität noch heute zu bekennen scheint, entstammt im wesentlichen dem 19. Jahrhundert und den Bedürfnissen und Aspirationen der damals führenden Gesellschaftsschichten. Wir wollen uns hier nicht mit der Frage aufhalten, ob dieses Bildungsideal nicht schon im vergangenen Jahrhundert das wahrhaft Humane vernachlässigt hat. Es genügt, festzustellen, daß die unkritische Beibehaltung dieses Ideals in unserem Jahrhundert zu einer wachsenden Entfremdung der Bildung von der sozialen Wirklichkeit geführt hat. Zu ihren Symptomen gehört unter anderem die abstrakte Gelehrsamkeit, die Unbekümmertheit so mancher Gebildeter gegenüber Unmenschlichkeiten, die in der nahen oder der fernen Welt begangen wurden und noch heute begangen werden, vor allem aber die Unfähigkeit, eine wirkliche sinngebende Funktion in unserer Gesellschaft auszuüben. Dies steht im Zusammenhang mit anscheinend so entgegengesetzten Erscheinungen wie dem Kult der Kultur, der oft eine Flucht aus der Verantwortung des Alltags bedeutet, und jenem Liebäugeln zwischen Geist und Macht, wobei sich das „Ewige" des Geistes nur allzu leicht mit dem Ephemeren der Macht verbindet. Vor allem in den Geisteswissenschaften ergeben sich Widersprüche, ja Absurditäten, wie etwa die Tatsache, daß sich die Geisteswissenschaften zwar sachgemäß mit den Erzeugnissen des menschlichen Geistes beschäftigen, daß sie jedoch keineswegs eine besondere Beziehung zum geistigen Leben im schöpferischen, religiösen oder ethischen Sinne des Wortes zu haben brauchen. In besonders eklatanten Fällen könnte man sagen, daß so manches menschliche Versagen auf einer allzu großen Beschäftigung mit dem absoluten Ich und einer zu geringen Beschäftigung mit dem nachbarlichen Du beruht.

Was den „Geist" betrifft, so scheint es der Mißverständnisse nicht wenige zu geben. Eine Gruppe von Gelehrten und Studierenden sieht in der sogenannten Wertfreiheit der Forschung einen Freibrief für die Unbekümmertheit um menschliche Schicksale, eine andere läßt sich von dem Postulat der engen Bindung zwischen Wissenschaft und Ethik zu dem Glauben verführen, daß wissenschaftliche Tätigkeit jeglicher Art schon für sich einen ethischen Wert darstellt. Wohl noch ernstere Folgen ergeben sich aus der Verschwommenheit des Begriffes „Geist" selbst. Nur selten wird zwischen „Geist", also etwa der rein spekulativen oder gar ästhetischen Beschäftigung mit transzendenten Dingen, und Geistigkeit im ethisch-religiösen Sinne unterschieden, die eine jeden Aspekt des Alltags durchdringende Lebens-und Gesinnungsweise darstellt. Im ersten Fall kann dies bis zu einer Konzeption des Menschen führen, der sich selbst zum Gott oder Übermenschen proklamiert; um eine Pseudo-Vergeistigung, eine Flucht in eine Irrationalität, die zu den möglichen Ursachen von Gewalttätigkeit und Barbarei gezählt werden muß. Im zweiten Fall handelt es sich um ein Innewohnen des göttlichen Geistes im Menschen, das ihm Würde und Glaubwürdigkeit verleiht und dadurch die Gültigkeit seiner Werke verbürgt.

Versagen einer Generation

Es entspräche nicht den Tatsachen, würden wir etwa die Professorenschaft allein verantwortlich machen für den Mißbrauch von Begriffen wie „Geist" und „Bildung". Wir Professoren müssen uns zwar als berufene Träger dieser Begriffe besonders schuldig fühlen; darüber hinaus ist es jedoch eigentlich unsere ganze Generation, die, mit Ausnahmen, angesichts der Krise der westlichen Kultur in so weitgehendem Maße versagt hat. Dabei denke ich nicht nur an jene Kollegen, die sich dem Nationalsozialismus verschrieben haben, sondern auch an diejenigen von uns, die durch Abstammung oder Schicksal vor der Versuchung bewahrt blieben, ihr Versagen in jenen schrecklichen, dem Nationalsozialismus eigenen Formen zu bekunden.

Eine der bedenklichsten Erscheinungen menschlichen Versagens scheint mir in Deutschland gerade bei denjenigen zu liegen, die aus einem als „Korrektheit" dargestellten Untertanengeist alles taten, was von ihnen verlangt wurde, anstatt auf jenes Gewissen zu hören, von dem Dichter und Philosophen Generationen lang so leidenschaftlich geschrieben und gesprochen hatten. Zu den Exzessen dieser im Grunde aus menschlicher Feigheit geborenen „Korrektheit", dieses in der Unfähigkeit eigener, verantwortungsvoller Entscheidung verankerten Obrigkeitskults und Gefälligkeitsdenkens gehörten das angeblich Nichts-von-den-Greueln-Wissen, das heißt ein bewußt oder unbewußt Nichts-wissen-Wollen, und letzten Endes jene kalte Pseudo-Rationalität, mit der die Untaten absoluter Irrationalität zu ihrem logischen Ende geführt wurden.

Daß in meiner Generation auch heute noch, obgleich unter neuem Vorzeichen, Opportunismus und falsche „Korrektheit" herrschen und daß das Bekenntnis zu den großen Traditionen oft rein rhetorisch ist, wird sichtbar im Mangel an Selbstkritik, in jener Vielfalt peinlicher Reaktionen gegenüber der Vergangenheit — vom vorsichtigen Sich-Umsehen, ehe man den Nationalsozialismus erwähnt, bis zur bravourösen Hervorzauberung der schrecklichen Phänomene, im Sinne etwa des Menschen, der im Dunkeln geht und sich durch lautes Pfeifen Mut zu machen sucht. Den freilich extremsten Fall fehlender Einsicht mag man in dem Absurdum sehen, daß das Sühnekloster in Dachau auf Initiative ehemaliger Insassen errichtet wurde, und nicht von ihren Peinigern.

Daß die für das geistige Leben und speziell für die Rehabilitierung der Universität so dringende Selbstkritik gerade vielen Professoren schwerzufallen scheint, mag unter anderem mit ihrer privilegierten Stellung Zusammenhängen. Man kann wohl sagen, daß die Professorenschaft einen Stand darstellt und möglicherweise den einzigen Stand, den es in unserer Gesellschaft noch gibt. Nun gehört das Ständewesen zu einer relativ stabilen, hierarchisch aufgebauten Gesellschaft. Unsere moderne Gesellschaft ist aber gekennzeichnet durch ein hohes Maß von sozialer Mobilität, die durch ein vorwiegend pragmatisches Bewährungsprinzip bestimmt wird. Die Struktur unserer Universitäten sowie der Professorenschaft ist charakteristisch für sogenannte geschlossene Gesellschaften, während wir heute in einer im großen und ganzen offenen Gesellschaft leben. Dies führt zu mehreren, auf die Dauer nicht tragbaren Widersprüchen. Es bedeutet, daß die Professoren, als ein auch heute noch in seinen Privilegien geschützter Stand, sich im Grunde nur im eigenen Kreise ausweisen, nicht aber vor der Gesellschaft als Ganzem bewähren müssen. Eine eindeutige Diskrepanz zwischen dem zu einem guten Teil auf diesen Privilegien aufgebauten sozialen Prestige und der wirklichen Nützlichkeit der Professoren für die Gesellschaft scheint mir zum Ausdruck zu kommen in Merkmalen wie der keineswegs seltenen professoralen Empfindlichkeit und gelegentlichen Willkür. Dem steht gerade in den Ländern, in denen die Naturwissenschaften und ihre praktische Anwendung am höchsten entwickelt sind, ein Elitebegriff gegenüber, der die ältere Idee einer geschlossenen Gruppe, die ihre Privilegien gegen das Gros der Gesellschaft verteidigt, vollständig ablehnt. Der neue Elitebegriff fußt auf der Notwendigkeit, aus allen Schichten der Bevölkerung systematisch ein Maximum von begabten jungen Leuten zu finden, um so rasch wie möglich eine immer breitere wissenschaftliche Führungsschicht zu schaffen.

Chance einer Wiederbelebung der Universität

Wenn ich bisher ein negatives Urteil über unsere Universität und vor allem über meine eigene Generation gefällt habe, so schließe ich angesichts der Erfahrungen, die ich bisher mit den Mitgliedern der jüngeren Generation gemacht habe, die Möglichkeit einer Reform, oder besser, einer Wiederbelebung der Universität nicht aus. Ich huldige dabei nicht etwa dem romantischen Glauben, daß die jeweils jüngere Generation von Natur aus vernünftiger oder mutiger ist als die Generation der Eltern und Lehrer. Ich stelle lediglich fest, daß die Konstellation, unter der die heutige Studentenschaft ausgewachsen ist, günstiger war als die Situation, in die ihre Lehrer hineingeboren wurden. Mir scheint, daß manche von dieser jungen Generation diese Gelegenheit benutzt haben, andere, positivere Denkund Verhaltensweisen zu entwickeln.

Man darf wohl sagen, daß im Gegensatz zur Situation, die die Zeit nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg kennzeichnete, der verlorene Zweite Weltkrieg weder eine Welle revanchistischer Ressentiments noch eine Welle romantischer Idealismen erzeugte, wie sie in völkischen Gruppen, auch in Teilen der Jugendbewegung ihren Ausdruck gefunden hatten. Anstelle von emotionalen und irrationalen Reaktionen, die später im Nationalsozialismus ihre Krönung fanden, begegnen wir heute, vor allem bei der akademischen Jugend, einer im allgemeinen nüchternen und sachlichen Haltung. Dazu haben wohl im besonderen zwei Ereignisse beigetragen: einmal, daß die Schuld des nationalsozialistischen Regimes am Zweiten Weltkrieg doch wesentlich klarer festliegt als die Schuld der deutschen Regierng an den Kriegsereignissen von 1914/18; zum zweiten, daß die Alliierten, und vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika, nach anfänglichen großen Ungeschicklichkeiten alles unternahmen, um durch wirtschaftliche und militärische Hilfe die Grundlagen zu schaffen, auf denen ein Wiederaufbau Deutschlands durch eigene Kräfte und eine zunehmende Teilnahme an der westlichen Allianz und an der Entwicklung europäischer Gremien möglich wurden. Daß die Motive zum Beispiel der Vereinigten Staaten in der Verteidigung der Bundesrepublik auch die Verteidigung des eigenen Landes und der gesamten nicht-kommunistischen Welt einschlossen, mindert in keiner Weise die Bedeutung der Tatsache, daß trotz des wiederholten Aufflackerns der Berlinkrise und des Weiterbestehens der Teilung Deutschlands der Bundesrepublik nunmehr zwanzig Jahre — ich betone — relativer Ruhe und Sicherheit gegönnt waren, die dem Wiederaufbau des Landes, der demokratischen Bewährung und der Übernahme neuer, internationaler Verpflichtungen gewidmet werden konnten.

Traditionelle Autoritäten in Frage gestellt

Ich habe schon erwähnt, daß nach meiner Erfahrung wenigstens ein Teil der jüngeren Generation diese Zeit keineswegs als einen Urlaub von geistiger oder sozialer Verantwortung betrachtet hat. So haben sich viele von ihr mit dem Problem der Glaubwürdigkeit befaßt, in anderen Worten, mit den Kriterien der Berechtigung eines Autoritätsanspruches einzelner, aber vor allem von Institutionen wie Familie und Staat, Kirche und Universität. Nach dem Verfall legitimer Autorität im totalitären Machtbereich war jeglicher apriorische Autoritätsanspruch von Seiten jener Institutionen, war jedes innere Verhältnis zu überkommener, formaler Autorität in Frage gestellt. Wer oder was immer Achtung verB langte, mußte sich, jeweils von neuem, ausweisen, und zwar nicht nur vor der kritischen Vernunft, sondern auch durch die Fähigkeit und den Mut praktischer Bewährung. Dies bedeutete keineswegs einen banalen Pragmatismus, also etwa Erfolg nach den Kriterien eines geistigen Opportunismus oder eines nackten Nützlichkeitsdenkens, sondern einen Pragmatismus geistig-religiöser Art, in dem sich zwei vollkommen von einander verschiedene Bereiche berühren und ergänzen: einmal Kriterien der Wahrheit, wie sie uns etwa von dem in der Offenbarung verankerten Glauben oder von den Überlegungen der philosophia perennis vorgelegt werden; dann auch das schon angesprochene Kriterium der Glaubwür-digkeit, das darin besteht, daß ein Mensch jene als gültig anerkannten Grundsätze und Einsiditen in seinem eigenen Leben zu verwirklichen hat. In diesem Sinne besteht keine Divergenz zwischen abendländischem Konservatismus und anglo-amerikanischem Pragmatismus, wie sie manchmal heraufbeschworen wird. Besteht doch der amerikanische Pragmatismus, gerade in der Praxis, auf außerpragmatischen Kriterien, nämlich auf der Institutionalisierung naturrechtlichen Denkens!

Was die einzelnen Institutionen betrifft, so sehen wir, daß in der Familie die traditionelle Autorität des Vaters nicht nur durch wirtschaftliche und soziale Entwicklungen eine Minderung erfahren hat, wie etwa durch die heute bestehenden größeren Möglichkeiten der Studierenden, ihr Studium durch Stipendien zu finanzieren, sondern auch durch die Rolle, die viele Väter in aktiver oder allzu passiver Weise in der Zeit des Nationalsozialismus gespielt haben. Dabei ist die Einstellung der Jugend keineswegs familienfeindlich. Denn eine wachsende Zahl von jungen Menschen neigt selbst dazu, Familien zu gründen, um in einer unsicher gewordenen, schwankenden Welt eine Privatsphäre der Sicherheit und Selbsterfüllung zu finden.

Wenige junge Menschen sprechen heute dem Staat eine durch besondere historische Ereignisse erworbene oder gar durch metaphysische Überlegungen sanktionierte Autorität zu. Es ist dies das Gebiet, auf dem noch am wenigsten den Erfahrungen und der Denkweise der jungen Generation entsprechende Alternativen entwickelt worden sind. Wesentlich Positiveres kann man von den großen Religionsgemeinschaften sagen, die heute in weitgehendem Maße auf jede, sozusagen von außen oder oben her eingesetzte, formale Autorität verzichten und ihre Glaubwürdigkeit durch systematische Selbstkritik, durch Demut und Sühne und nicht zuletzt durch Mut zum Unpopulären zu beweisen suchen. Was die Autorität der Universität und vor allem der Professoren betrifft, so findet sie zwar ihren Ausdruck in den staatlich geschützten Rollen des Prüfers, des Institutsdirektors oder Seminarvorstandes, des Doktor-oder Habilitationsvaters; daß diese Autorität aber nicht immer mit wirklicher Achtung für die Person identisch ist, ja, daß sie oft hindernd für die Entwicklung der Wissenschaft und der jungen Wissenschaftler empfunden wird, zeigt unter anderem die Auswanderung so vieler begabter junger wissenschaftlicher Kräfte in universitätsfremde Institute und Institutionen sowie ausländische Universitäten.

Bedürfnis nach Zugehörigkeit

Die Beschäftigung mit dem Problem der Glaubwürdigkeit traditioneller Institutionen hat, soweit ich sehen kann, wenige der mir bekannten Studenten dazu verführt, das Problem der eigenen Glaubwürdigkeit zu vernachlässigen, mit anderen Worten, nicht jene Selbstkritik auszuüben, die mir eine unentbehrliche Vorbedingung jeder wirklichen menschlichen Kommunikation zu sein scheint. Diese Ehrlichkeit mit sich selbst sowie die Bereitschaft, sich gerade in Gesprächen mit jungen Menschen aus anderen Ländern in deren Probleme hineinzudenken — eine Art geistiger Generosität, die meiner eigenen, oft von Mitleid mit sich selbst angekränkelten Generation häufig fehlt —, haben mehr dazu beigetragen, negative Pauschalurteile über Deutschland abzubauen, als etwa die im Wirtschaftswunder zutage getretene Tüchtigkeit oder die löblichen Versicherungen der Regierungen.

Können wir einerseits behaupten, daß es innerhalb der jüngeren Generation eine Anzahl von Menschen gibt, die sich in inneren Kämpfen zu neuen Haltungen durchgerungen, ja vielleicht mit der Schaffung eines neuen Persönlichkeitstyps begonnen haben, so müssen wir auch feststellen, daß es für sie noch wenig Gelegenheiten gibt, innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung eigene Initiative und Verantwortung zu entwickeln. Dies ist um so besorgniserregender, als Geschichtsund Sozialwissenschaften eindeutig feststellen, daß eine enge Beziehung zwischen Persönlichkeit und Kultur, zwischen Individuum und Gesellschaft besteht und daß eine Vernachlässigung der Entwicklung geeigneter sozialer und kultureller Formen und Institutionen früher oder später zum Zerfall der Persönlichkeitsstruktur der in der betreffenden Gesellschaft lebenden Menschen führen muß. Der normale Mensch kann, in anderen Worten, sich ohne Partizipation in gewissen, seiner Persönlichkeitsstruktur entsprechenden Formen nicht entwickeln, kann ohne ein gewisses kulturelles belonging nicht bestehen. Man könnte auch sagen, daß der Mensch zur Befriedigung lebenswichtiger Bedürfnisse und der Verwirklichung seiner Lebensideale eines Minimums an Institutionen bedarf.

Es scheint also klar zu sein, daß jene Errungenschaften der jüngeren Generation, von denen wir soeben sprachen, wenig mehr als eine menschlich erfreuliche, jedoch geschichtlich unwirksame Erscheinung bleiben werden, sollte es nicht gelingen, in absehbarer Zeit entsprechende Formen von Partizipation und Zugehörigkeit, einschließlich geeigneter Institutionen, zu entwickeln. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß eine der Ursachen des Nationalsozialismus gerade in der Unfähigkeit der deutschen Gesellschaft bestand, die Forderung der engen Bindung von menschlicher Haltung und sozialer Struktur zu erfüllen. In diesem Fall allerdings waren die neu entstandenen sozialen und politischen Formen das chronologisch Primäre, während die menschliche Haltung und die Persönlichkeitsstruktur unfähig waren, sich der Entwicklung anzupassen. Genauer gesagt, fand dabei ein doch recht abrupter Wandel von kleinstädtischen und klein-staatlichen zu großstädtischen und national-staatlichen Lebensformen statt, wobei die der früheren Phase entsprechenden Persönlichkeitsstrukturen und Werte im großen und ganzen beibehalten wurden. Dies führte u. a. zu romantischen Ausflüchten und Projektionen und zu Ressentiments gegen die vermeintlichen Urheber der Krise, die faktisch durch das eigene Versagen hervorgerufen worden war. Der fanatische Nationalismus des Spieß-bürgers wurde zum klassischen Beispiel einer mißlungenen Verbindung von klein-und großräumiger Partizipation, von partikulärem, das heißt übersichtlichem belonging und Streben nach Teilhaben an ideeller Universalität. Eine solche Verbindung aber ist die Grundlage jedes wirklichen geistigen und kulturellen Lebens. Man denke an Platons Vorstellung von der Struktur der Seele, die der Struktur der polis entspricht, jedoch ihr Heim im Bereich ewiger Ideen hat; oder an die Mitgliedschaft eines Mönches in einer örtlich gebundenen klösterlichen Gemeinde und in der den Anspruch auf Universalität erhebenden Kirche; oder an jene kleinstaatlichen Weltbürger wie Perikies oder Dante, die aus der Besonderheit ihrer Heimatstädte zu einem universalen Menschenbild vorzudringen vermochten. Beim Nationalsozialismus hingegen handelte es sich um das Absinken existentieller Bindung zum bloß Irrationalen und Emotionalen, von der Übersichtlichkeit eines kulturellen belonging zum Kult des „Blut und Bodens", während gleichzeitig eine echte, eben in der konkreten Wirklichkeit verankerte Transzendenz zur abstrakten Ideologie, mit einem totalitären Herrschaftsanspruch, verfälscht wurde. Der einzelne verlor dadurch Gesicht und Gewissen und seine Partizipation wurde zur undifferenzierten, plebiszitären Bejahung eines in ähnlichem Maße undifferenzierten Ganzen.

Respektierung der Minderheiten

Es versteht sich von selbst, daß der Nationalsozialismus und andere totalitäre Lebens-und Regierungssysteme nicht die einzigen Formen einer mißlungenen oder überhaupt unterlassenen Lösung des Problems der Partizipation darstellen. Sensiblere Naturen, gerade unter der akademischen Jugend, neigen heute oft zu einer persönlichen Isoliertheit, die in extremen Fällen zu einem zynischen „ohne-mich" gegenüber herkömmlichen Organisationen und Institutionen, sei es Staat, Parteien, Universität, führt. Diese Einstellung wird dadurch verstärkt, daß Vertreter der älteren Generation gelegentliche Versuche jüngerer Menschen, neue Formen der Partizipation zu entwickeln, nur selten begrüßen. Weniger senB sible und realistischer eingestellte Naturen dagegen sind sich bewußt, daß sich persönlicher Erfolg nur durch Anpassung an die bestehenden Institutionen und Umgangsformen erreichen läßt. In beiden Fällen führt es zu einem Aufgeben oder einem Absterben dessen, was seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges an menschlicher Haltung und geistigem Gut errungen worden ist.

Das notwendige Verhältnis von Persönlichkeits-und Gesellschaftsstruktur, von Glaubwürdigkeit der einzelnen Person und Partizipation in einem kulturellen Ganzen mag auch im Problem der Authentizität des einzelnen und in der Verantwortung für alle Aspek43 te der eigenen Kultur zum Ausdruck kommen. Praktisch bedeutet dies zum Beispiel, daß die Authentizität der maßgebenden Mehrheit in einer Kultur oder Gesellschaft davon abhängt, inwieweit sie die Authentizität von Minderheiten respektiert. Das beste Beispiel dafür ist die Einstellung des Christentums gegenüber den Juden oder der weißen Amerikaner gegenüber den Negern. Seit der späten Antike und in besonderem Maße während des Mittelalters hatte die Kirche den Juden verboten, Land zu besitzen und die üblichen Gewerbe auszuüben. Gleichzeitig wurde den Christen verboten, Geld auf Zins zu verleihen. Man bestrafte also die Juden für ihre Weigerung, den christlichen Glauben anzunehmen, dadurch, daß man sie von der Art des Besitzes und der Arbeiten ausschloß, die im christlichen Denken einen positiven Wert darstellten, und für sie Beschäftigungen reservierte, die in der christlichen Ethik keinen Platz hatten. Mit der wachsenden Bedeutung des Geldhandels wuchs innerhalb des Christentums die Versuchung, die negativen und dem Christentum fremden Elemente des Geldwesens, ohne die man nicht auskam und mit denen man innerhalb der eigenen Glaubens-und Wertvorstellungen nicht fertig wurde, in die Juden hineinzuprojizieren. Den Juden wurde dadurch eine Reihe von Rollen übertragen, was der Oktroyierung eines fremden, unauthentischen Wesens gleichkam. Für den Christen war es eine Ausstoßung oder Verdinglichung eines Teils seines eigenen Ichs, so daß im Grunde der Haß gegen die Juden einen verkappten Selbsthaß und jene Schaffung des unauthentischen Ichs des Juden eine Entlastung des eigenen Ichs darstellte. Die Situation im Süden der Vereinigten Staaten in bezug auf den Neger war zumindest bis vor wenigen Jahren nicht wesentlich anders. Hier war es der weiße Puritaner, der innerhalb seines Systems unter anderem die Ambivalenz des Sexuellen nicht akzeptieren konnte und deshalb Vorstellungen einer primitiven Sexualität in die Persönlichkeit des Negers hineinprojizierte und diese dadurch mit etwas ihr Wesensfremdem belastete. In beiden Fällen litt die Glaubwürdigkeit und die Authentizität der Majorität. Denn Glaubwürdigkeit und Authentizität sind die Voraussetzungen unbefangener Partizipation. Diese ist nicht möglich, wenn ich den anderen Menschen, mit dem ich verkehren will, seiner Authentizität auf Grund der eigenen Unfähigkeit beraube, einer Unfähigkeit, die es mir versagt, mich mit allen, auch den negativen Aspekten meiner selbst kritisch auseinanderzusetzen.

Verantwortung für die Gesamtheit der Gesellschaft

Der Zusammenhang zwischen der Authentizität des einzelnen und der Gesellschaft oder Kultur, an der er teilnimmt, fordert auch, so scheint mir, daß der einzelne die eigene Kultur als etwas alle Aspekte und Dimensionen Einschließendes betrachtet und in diesem Sinne Verantwortung für die Gesamtheit seiner Gesellschaft übernimmt. Ich meine also, daß wir nicht berechtigt sind, uns der Größe unserer eigenen Kultur zu rühmen und die unerfreulichen Seiten, etwa die mangelnde Überein-stimmung mit ihren Idealen, als unwesentlich abzulehnen. Als Amerikaner darf ich mich nicht nur eines Jefferson oder eines Kennedy rühmen, sondern muß ebenso Verantwortung tragen für Erscheinungen wie McCarthyismus, Jugendkriminalität und die Greuel moderner Kriegführung, auch wenn man im technischen oder legalen Sinne von keiner Beteiligung oder Verantwortung sprechen kann. Selbst wenn ich keiner jüdischen Gemeinde angehöre und mich, wie man in einer völlig irreführenden, juristischen Sprache zu sagen pflegt, von vielerlei Aussagen, Entscheidungen und Betätigungen jüdischer Gruppen und Organisationen distanzieren würde, muß ich mich beschämt und verantwortlich fühlen, wenn manche Juden von der Kollektivschuld der Deutschen sprechen oder eine Art der sozialen Kritik üben, die sich nicht selten an der Brillanz der eigenen Ausdrucksweise berauscht, während sie versäumt, positive Alternativen zu entwickeln und diese im eigenen Lebensbereich verpflichtend zu praktizieren; oder wenn andere Juden in einer auf der Gleichheit der Chancen aufgebauten Gesellschaft Methoden anwenden, die der Notlage einer bedrängten, den Erfahrungen des Gettos nahestehenden Minderheit entsprechen. Im Zusammenhang mit dem Postulat, daß jedes einzelne Mitglied einer Kultur oder Gesellschaft Verantwortung trägt für die Gesamtheit ihrer Aspekte, soll es klar sein, daß gerade diese Forderung einen jeglichen Gedanken an die „Kollektivschuld" anderer ausschließt. Denn dies würde nicht nur einen Glauben an die moralische Überlegenheit der eigenen Gesellschaft bedeuten, sondern auch eine Verdinglichung, eine Reduktion zum Kollektiv, zur Masse jener anderen, die wir einerseits für ihr Tun verantwortlich machen, denen wir andererseits jene persönliche Authentizität absprechen, die allein Trägerin von Verantwortung und Verantwortlichkeit ist.

Reform der Universität

Wenn ich zum Schluß dieser Erörterungen die Frage stelle, was die Universitäten und einschlägigen Behörden bisher unternommen haben oder im Begriff sind zu unternehmen, um den Studierenden die hier angesprochene Partizipation und die nötigen Ausdrucksformen für die grundlegenden Aspirationen und Verhaltensweisen zu schaffen, so sehe ich eine Vielfalt von Reformversuchen, einschließlich der Gründung neuer Universitäten. Solche Versuche, die u. a. die Errichtung von Departments oder Abteilungen und den Ausbau eines sogenannten Mittelbaus einschließen, sind nur zu begrüßen, da sie voraussichtlich die Verwaltungsarbeit der Fakultäten erleichtern und allgemein dazu tendieren, den Problemen, die aus dem Massenansturm auf die Universitäten entstehen, einigermaßen Herr zu werden. Es darf aber nicht vergessen werden, daß Verwaltungsreformen an sich noch nicht notwendigerweise den Rahmen und die Formen schaffen, innerhalb derer das Suchen nach Partizipation von Seiten der Studenten und der jüngeren Gelehrten ihre entsprechende Befriedigung findet. Es sei nur daran erinnert, daß das Department in seinem Ursprungsland, den Vereinigten Staaten von Amerika, seine wissenschaftliche und soziale Funktion gerade dadurch erfüllt, daß es mit einer Anzahl wichtiger Strukturelemente und Verhaltensweisen unlösbar verbunden ist, die in Deutschland keineswegs gegeben sind und ohne die die erstrebten neuen Formen der Partizipation, wie mir scheint, kaum erzielt werden können.

Man erinnere sich nur daran, daß es in Amerika kein Staatsmonopol in der Erziehung gibt, daß Universitäten von Gremien prominenter Bürger, oft ehemaliger Graduierter, geleitet werden, daß das Department zwar Rangunterschiede zwischen den verschiedenen Mitgliedern kennt, daß Entscheidungen über Lehrpläne, Berufungen oder Beförderungen jedoch von dem ganzen Department getroffen werden. Es existiert dort also nicht nur eine volle Teilnahme an den Angelegenheiten und den Entscheidungen des Departments, vom jüngsten Dozenten bis zum ältesten Professor, sondern auch eine offene und meist reibungslose Beweglichkeit von unten nach oben, die von den Mitgliedern des Departments nach dem Grundsatz der wissenschaftlichen und menschlichen Bewährung bestimmt und durch keinerlei Engpässe wie Habilitation oder Beamtung behindert wird. Außerdem gibt es für die Mitglieder des Departments praktisch unbeschränkte Möglichkeiten, sich an Lehr-und Forschungsaufgaben zu beteiligen, die weit über die herkömmlichen Aufgaben eines Departments hinausgehen, die verwaltungstechnisch kaum lokalisierbar sind und eben jene Grenzgebiete berühren, wo heute das geistige Klima herrscht, das die Besten und Begabtesten unter den jüngeren Wissenschaftlern in seinen Bann zieht.

Es fragt sich, ob man nicht versuchen sollte, die jüngere Generation anzuregen bzw. ihr zu erlauben, auch außerhalb der Universität, aber doch auf dem weiteren Gebiet der Bildung, ihren neuen Geist, jenen Idealismus ohne Illusionen, wie er in Amerika im Friedenskorps zutage tritt, auf die Probe zu stellen. Welche Belebung des Volksschul-und Mittelschulwesens, welche Begeisterung für eine neue, unserer eigenen Zeit entsprechende Konzeption und Praxis der Bildung könnte erzielt werden, würde man es zum Beispiel Studierenden aller Fächer ermöglichen, nach Ablegung einer Diplom-oder Magisterprüfung ein oder zwei Jahre in oder außerhalb der Bundesrepublik zu unterrichten, auf alle Fälle dort, wo die Erziehung im argen liegt, um nach dieser Zeit freiwilligen Dienstes an der Gemeinschaft in den eigentlichen Beruf einzutreten oder zurückzukehren.

Keine mildernden Umstände für zweites Versagen

Welche Initiativen wir auch immer ergreifen, um neue Formen der Partizipation zu entwikkeln, die Aufgabe ist eilig und darf nicht verschoben werden — schon deshalb nicht, weil es keineswegs sicher ist, daß die Situation, die in den letzten Jahren für solch eine Entwicklung relativ günstig gewesen wäre, in der nächsten Zukunft nicht neuen Gefahren ausgesetzt sein wird. Bisher herrschte in der Bundesrepublik und vor allem bei der Jugend eine allgemeine Weltoffenheit, eine Freiheit von nationalistischen Ressentiments und eine relative Sicherheit, die unter anderem durch den Nordatlantischen Pakt garantiert wurde. Der Schock der Ermordung Präsident Kennedys, der in seiner Person einen großen Teil jener Haltung verkörperte, die junge Menschen für sich selbst zu entwickeln suchen, die gegenwärtige Uneinigkeit in der Europa-Konzeption und in dem gesamten westlichen Bündnis, die direkten und indirekten Folgen des Vietnam-Krieges, sich immer stärker äußernde Zweifel an der wirtschaftlichen Zukunft der Bundesrepublik, die wachsende Notwendigkeit eigener, schwerwiegender außenpolitischer Entscheidungen gehören zu der Vielzahl der Zeichen, die ein Ende jener Erholungspause für das deutsche Geistesleben anzudeuten scheinen. Sollten jetzt nicht energische Versuche unternommen werden, der geistigen Erneuerung der jüngeren Generation entsprechende

Wirkungsformen und Institutionen zu entwickeln, dann könnte in kommenden Zeiten der Krise das Pendel von einem wenigstens nach außen hin herrschenden „ohne mich“ zu neuen Formen fanatischer, unkritischer und die rationale Entwicklungsfreiheit des einzelnen beeinträchtigender totalitärer Aktivität zurückschwingen.

Wenn in der Vergangenheit die Universität mehr zur Stärkung des Nationalsozialismus beigetragen hat als der Nationalsozialismus zum Verfall der Universität, so wird es bei einem zweiten Versagen der Universität unmöglich sein, mildernde Umstände, wie etwa Gewaltherrschaft und die mit ihr verbundene Schwierigkeit der Selbstkritik und der praktischen Reform ins Feld zu führen. Die Frage, ob Humanität lediglich eine rhetorische Phrase bleiben soll oder ob sie jeden Aspekt unseres Lebens erfüllen kann, verlangt eine dringende Antwort von jedem von uns, unabhängig davon, ob wir Studenten, Professoren oder Mitglieder universitärer oder staatlicher Verwaltungsorgane sind. Sie wird entscheiden, ob die Universität eine wirkliche oder nur eine Scheinfunktion in der modernen Gesellschaft hat, ja, ob diese Gesellschaft, mit der sie in der einen oder der anderen Weise so eng verbunden ist, noch im wahren Sinne des Wortes eine menschliche ist.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Friedrich Georg Friedmann, Dr. phil., wurde am 14. 3. 1912 in Augsburg geboren, studierte Medizin an den Universitäten München und Freiburg i. Br. 1933 emigrierte er zunächst nach Italien, wo er bis 1939 Germanistik und Philosophie studierte. Von 1940 bis 1960 lehrte er als Professor der Philosophie an verschiedenen amerikanischen Colleges und Universitäten und leistete gleichzeitig mehrjähriges „field work" in Süditalien und Mexiko. Seit 1960 ist er Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte und Direktor des Amerika-Instituts der Universität München. Zahlreiche Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Kulturgeschichte, hauptsächlich der Bauernkulturen (The Hoe and the Book, 1960) und der Kultur der Vereinigten Staaten (in Vorbereitung: Amerikanische Kulturgeschichte).