Den Auftrag, das Thema „Der Professor im Dritten Reich" zu behandeln, hat man mir, wie ich annehme, darum gegeben, weil ich meine akademische Laufbahn bereits in der Weimarer Republik begonnen und das soge-nannte Dritte Reich von Anfang an als Professor an deutschen Universitäten erlebt habe, ohne Parteimitglied zu sein und ohne mich literarisch im Sinne des Nationalsozialismus zu betätigen. Ich soll also aus eigener Erfahrung berichten, in welcher Lage sich der deutsche Professor am Anfang und im Verlauf der Hitlerzeit befand, wie er sich damals verhielt und warum er sich so verhielt — mit einem Wort gesagt: was es mit dem oft zur Sprache gebrachten politischen und moralischen Versagen des deutschen Professors auf sich hat.
Das ist eine Aufgabe, der ich mich nur sehr unvollkommen gewachsen fühle. Meine Erlebnisse beschränken sich notwendigerweiser mehr oder weniger auf den örtlichen und fachlichen Bereich, in dem ich damals gelebt habe. Es gehört ja zu den Eigentümlichkeiten eines solchen Regimes, daß vieles geschieht, was der Öffentlichkeit vorenthalten wird, daß auch private Kommunikationen abreißen, sei es, weil man dem anderen nicht mehr völlig traut, sei es, weil man verfängliche Dinge der Post nicht anvertrauen möchte, daß schließlich sich die Dinge an verschiedenen Orten unter verschiedenen sachlichen und persönlichen Umständen ungleich entwickeln. Dazu kommt, daß mir keinerlei Aufzeichnungen aus jenen Jahren zur Verfügung stehen. Ich muß also damit rechnen, daß mein Bericht unvollständig und einseitig ausfällt, so sehr ich mich auch bemühen werde, das Wesentliche zu sagen. Ferner muß ich hervorheben, daß ich kein völlig unbeteiligter Beurteiler war und bin. Ich war es damals nicht, weil im Miterleben bald Erbitterung, bald Hoffnung den Blick trübte. Ich bin es heute nicht, weil ich mich selbst für das, was damals an den deutschen Universitäten geschehen oder nicht geschehen ist, mitverantwortlich fühlen muß. Eben weil ich die Hitlerzeit als deutscher Professor miterlebt habe, aus demselben Grund also, der mich legitimieren soll, heute darüber zu berichten, bin ich kein unbeteiligter Zeuge, sondern, wenn man so will, ein Mitangeklagter. Denn auch ich habe mich dem Regime in mancher Hinsicht anpassen müssen, habe mitunter etwas gegen meine Überzeugung sagen und öfter noch gegen meine Überzeugung schweigen müssen.
Trotz solcher Überlegungen darf ich mich aber meinem Auftrag nicht entziehen. Diejenigen, die das Hitlerregime nicht erlebt haben, haben ein Recht auf Information, damit sie sich über das, was damals an den deutschen Universitäten geschehen ist, ein Urteil bilden können. Ich werde also berichten: so vollständig, so nüchtern und so objektiv, wie ich eben vermag.
Ich möchte zunächst auf die Frage eingehen, wie es kam, daß die Universitäten, wie man damals sagte, „gleichgeschaltet" wurden und was diese Gleichschaltung bedeutete.
Die Universität in der Weimarer Republik
Die Universitäten waren kein geistiges Bollwerk der Weimarer Demokratie. Die Professoren, die ja noch alle in der Tradition des Wilhelminischen Deutschlands herangewachsen waren, dachten zum weitaus überwiegenden Teil entweder konservativ oder zum wenigsten nationalliberal im Sinne der politischen Terminologie des Kaiserreichs. Linksliberale und Sozialisten waren unter den Hochschullehrern der zwanziger Jahre entB schieden in der Minderheit. Jene Mehrheit trauerte der verschwundenen Herrlichkeit des Kaiserreichs nach. Der Weimarer Staat war für sie, wenn nicht geradezu ein Produkt des Hochverrats, so doch jedenfalls das beschämende Ergebnis eines verlorenen Krieges. Ich will diese Haltung durch zwei charakteristische Beispiele erläutern. Kurz ehe ich mich in Freiburg habilitierte, 1924 oder 1925, hielt dort ein Ordinarius des Staatsrechts am 18. Januar, dem Tag der Gründung des Bismarck-reichs, der damals noch an allen deutschen Universitäten gefeiert wurde, die Festrede — eine Festrede sonderbarerweise in fünffüßigen Jamben mit dem Titel: „Vom Kampf des Rechtes wider die Gesetze“. Sie enthielt unter anderen den Vers: „Wer aber sind die Volksverräter? Die Haase, Ebert und Genossen". Dieser Angriff auf den ersten deutschen Reichspräsidenten, der damals vor kurzem erst gestorben war, führte zu einer heftigen Reaktion der (sozialistisch geführten) badischen Regierung, aber nicht zu einer Bestrafung des Redners. Die Fakultät — deren Mitglieder, wie ich zu wissen glaube, zu einem beträchtlichen Teil ganz anders dachten — stellte sich im Namen der Lehrfreiheit vor den Redner. — Als ich dann 1929 nach Göttingen kam, wurde mir dort erzählt, daß einer der beiden Vertreter des öffentlichen Rechts in seiner Staatsrechts-vorlesung stets zu behaupten pflege, er habe die 1919 eingeführten neuen Reichsfarben wieder vergessen: „Die Reichsfarben — ach, wie sind sie doch, ich habe sie schon wieder vergessen: ach ja, schwarz, rot, gelb sind se." Dazu dröhnender Beifall der Hörer.
Ich erwähne diese Vorfälle, um das politische Klima an den deutschen Universitäten der Weimarer Zeit zu charakterisieren; ich erwähne sie auch deshalb, weil gerade diese beiden Professoren später im Dritten Reich, nach allem, was ich weiß, zu den wenigen gehört haben, die dem Nationalsozialismus nicht die geringsten Konzessionen machten. Es waren alte Konservative, denen jede Massen-bewegung ein Greuel war, ganz gleich, ob sie von links oder von rechts kam. Die meisten ihrer Kollegen gingen nicht so weit, dem demokratischen Staat offen ihren Haß oder ihre Verachtung zu zeigen. Sie waren aber auch nicht geneigt, für ihn einzutreten. Und selbst diejenigen, die bereit waren, mit der Weimarer Verfassung zu leben, gaben diese Einstellung zumeist auf, als sich das Schwergewicht immer mehr nach den radikalen Flügeln des Reichstags verschob, als es immer schwieriger wurde, eine tragfähige Regierungskoalition zu schaffen, und als schließlich das parlamentarische Regime überhaupt versagte und mit Notverordnungen regiert werden mußte.
Persönliche Erfahrungen
Mir selbst war diese Einstellung nicht fremd. Mein Großvater, ein hessischer Richter, war konservativ; mein Vater, liberaler Theologe, hielt sich politisch zu den Nationalliberalen. Ich selbst habe in der Weimarer Zeit stets die Deutsche Volkspartei, die die nationalliberale Tradition fortsetzte, gewählt; erst bei der letzten Reichstagswahl vor Hitlers Machtergreifung gab ich meine Stimme der Sozialdemokratie — in dem freilich irrigen Glauben, daß diese Partei noch am ehesten in der Lage sei, dem drohenden Verhängnis Widerstand zu leisten, weil sie sich auf die Arbeiterschaft stützen könne.
In meiner Familie gab es auch einen gewissen Antisemitismus — keinen offenen und militanten freilich (der galt nicht als anständig), aber eine deutliche gesellschaftliche Ablehnung der Juden. Sie galten als unsolide, gerissene Geschäftsleute und Wucherer, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Einzelne rühmliche Ausnahmen wurden gelegentlich anerkannt. Diese Einstellung, die mir von Hause aus geläufig war, hat sich bei mir im Laufe meines Studiums durch persönliche Erfahrung geändert. Ich begegnete jüdischen Gelehrten von hohem wissenschaftlichen Rang, hoher Kultur und überzeugenden menschlichen Qualitäten; ich fand Aufnahme im Hause eines Berliner jüdischen Rechtsanwalts, mit dessen Sohn ich befreundet war, und wurde durch den Umgang mit diesen vielseitig interessierten und vornehmen Menschen bereichert. Dort lernte ich auch den politischen Standpunkt der Linksliberalen und Sozialisten näher kennen, sah ein, daß die mir geläufige Verketzerung der „Roten" doch wohl nicht der politischen Weisheit letzter Schluß sei. Ein entschiedener Anhänger der Weimarer Republik wurde ich dadurch nicht und bin ich bis zum Beginn des Dritten Reiches nie gewesen. Ich kam auch gar nicht auf den Gedanken, daß man als Professor eine feste politische Stellung beziehen müsse. Nach meinen Vorstellungen hatte meine Wissenschaft mit Politik nichts zu tun, und diese Wissenschaft samt den Lehraufgaben nahm mich so in Anspruch, daß ich die politische Entwicklung nur gerade noch am Rande meines Bewußtseins miterlebte. Ich glaube, daß auch diese mehr oder weniger apolitische Haltung in der damaligen deutschen Universität sehr verbreitet war.
Unterschwelliger Antisemitismus
Es gab auch unter den Professoren jenen stillen Antisemitismus, den man mehr fühlen als deutlich wahrnehmen konnte. Offene Unfreundlichkeit gegenüber jüdischen Kollegen war zum mindesten vor 1933 selten; ich kenne nur einen Fall, bei dem ich zudem nicht übersehe, in welchem Umfang etwa noch spezielle persönliche Differenzen im Spiele waren. Aber bei Berufungsverhandlungen und bei einer Rektorwahl in Göttingen war die Tendenz einer nicht geringen Zahl von Professoren, jüdische Kandidaten zu umgehen, kaum zu verkennen. Immerhin muß gesagt werden, daß in der Weimarer Zeit die Zahl der Professoren jüdischer Abkunft erheblich gewachsen ist — und zwar auf Grund des Vorschlagsrechts der Fakultäten —, daß wenigstens denen, deren Leistungen unbestritten waren, der Weg zu schnellem Aufstieg offenstand, und daß sie in den Fakultäten, wenn nicht ein gutes, so doch zumeist erträgliches Klima vorfanden. In meinem engeren Fach war die Mehrzahl der führenden Gelehrten Deutschlands jüdischer Abkunft. Die naturwissenschaftliche Fakultät der Göttinger Universität verdankte ihren damaligen Weltruf hauptsächlich den jüdischen Physikern und Mathematikern.
Diese Andeutungen über die politische Stellung der Professoren vor 1933 und den sozusagen unterschwelligen Antisemitismus, der in ihrem Kreise existierte, sollen lediglich dazu beitragen, die Lage der deutschen Universitäten zu Beginn des Dritten Reichs verständlich zu machen. Sie sind gemeint als nüchterne Feststellung von Tatsachen, die wir sehr bedauerlich finden mögen, die aber als solche noch nicht für einen Schuldvorwurf ausreichen, Um diesen zu begründen, müßte man in der deutschen Geschichte und Geistesgeschichte viel weiter ausgreifen; dazu sind andere mehr berufen als ich.
Illusionen
Hier muß genügen klarzustellen, daß und aus welchen unmittelbar vorangegangenen Ursachen die große Mehrzahl der deutschen Professoren keine Veranlassung sah, für die Weimarer Republik auf die Barrikaden zu gehen (wozu es übrigens 1933 natürlich längst zu spät war), und daß ein sehr beträchtlicher Teil von ihnen in der Zulassung der Nationalsozialisten zur Macht und also zur Verantwortung sogar den einzig möglichen Weg zu einer politischen Stabilisierung sah. Ich weiß dies aus eingehenden Gesprächen, die ich damals geführt habe. Man nahm das Programm und die terroristischen Methoden der Nationalsozialisten nicht vollkommen ernst. Man glaubte, daß davon in der Praxis sehr vieles unter den Tisch fallen werde, und man vertraute insbesondere auf die Bindung der Nationalsozialisten durch die Koalition mit den Deutsch-nationalen — die sich alsbald als völlig unwirksam erwies. Manche, vor allem unter den Jüngeren, unter dem akademischen Nachwuchs, die sich über das Versagen des parlamentarischen Regimes ihre Gedanken gemacht hatten und eine mehr autoritäre Regierungsform für notwendig hielten, sahen in der Machtübernahme des Nationalsozialismus den Weg zur Verwirklichung ihrer eigenen Ideen. Sie glaubten, wenn sie in die Partei einträten, hätten sie eine Chance, dort Einfluß zu gewinnen und an einer Entwicklung zum Positiven tätigen Anteil zu haben. Es gab sogar politisch rechtsstehende Juden, die es bedauersten, nicht dabei sein zu können, weil man sie ja nicht in die Partei aufnehmen werde. Ich kenne zwei Fälle dieser Art. Dies alles ist heute kaum zu begreifen, weil wir wissen, wohin der Weg des Nationalsozialismus geführt hat. Aber damals lag Auschwitz, lagen die Nürnberger Gesetze und vieles andere, was später geschehen ist, noch jenseits dessen, was man sich auch bei größtem Pessimismus als möglich vorstellen konnte. Ich glaube ein Recht zu haben, dies zu behaupten, denn ich sah damals, im Gegensatz zu den meisten meiner Altersgenossen, sehr pessimistisch in die Zukunft. Dies war zum Teil die Folge eines Erlebnisses, von dem ich kurz berichten möchte. Irgendwann um die Wende zu den dreißiger Jahren hatte in Göttingen eine Arbeitstagung der deutschen Studentenschaft stattgefunden, ich glaube, über Fragen der Hochschulreform, über die auch damals schon diskutiert wurde. Man hatte einige jüngere Professoren dazu eingeladen, darunter mich, und ich war hingegangen. An Pfingsten 1932 fand wiederum eine solche Arbeitstagung statt, diesmal in dem thüringischen Bad Blankenburg, und ich erhielt wieder eine Einladung. Inzwischen war die Spitzenorganisation der deutschen Studentenschaft bereits vom Nationalsozialistischen Studentenbund erobert worden. Nur ein liberaler Funktionär, der schon in Göttingen dabei gewesen war, hatte sich noch darin gehalten, hatte meine Einladung erwirkt und mir zugeredet, zu kommen. Was ich dort an Ausbrüchen eines ganz primitiven und rohen Antisemitismus zu hören bekam, übertraf alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Dazu kamen Spekulationen über Männerbünde, die mir abstrus und gegenwartsfern erschienen, die aber mit großem Eifer diskutiert wurden. Während wir in einer Sportschule außerhalb des Städtchens tagten, fand in der Stadt mit viel Lärm ein großes SA-Treffen statt, an dem offenbar die ganze Bevölkerung teilnahm. Ich fuhr nach Hause mit dem bedrückenden Gefühl, daß eine Woge primitivster Emotion im Begriff sei, die rationale Welt, der ich mich zugehörig wußte, zu überspülen. In der Tat war der Ungeist, dem ich in Blankenburg begegnete, damals schon in der Studentenschaft aller deutschen Hochschulen verbreitet. Vielleicht besaßen die entschiedenen Anhänger des Nationalsozialismus noch nicht überall das zahlenmäßige Übergewicht; aber ihre Aktivität beherrschte das Feld. Es kam zu Prügeleien mit dem (hauptsächlich aus SPD-Anhängern bestehenden) Republikanischen Studentenbund und zu Gewaltakten anläßlich der Berufung jüdischer Professoren. Unter den Göttinger Studenten herrschte allerdings, zum mindesten nach außen hin, verhältnismäßige Ruhe; das mag darauf beruhen, daß Göttingen eine ausgesprochene Arbeitsuniversität war, in der sich vor allem vorgerückte Semester auf ihr Examen vorbereiteten. Das Hitler-Regime begann bekanntlich mit einem Handstreich. In den letzten Januartagen 1933 wurden überall in Deutschland die öffentlichen Gebäude von der SA besetzt, die Hakenkreuzfahne wurde gehißt, die Machtübernahme durch Hitler proklamiert. Eine Gegenwehr fand nicht statt.
Die Entwicklung abwarten
Wenige Tage nach diesem Ereignis trafen sich die Vertreter der juristischen Fakultäten der deutschen Universitäten in Berlin. Die Tagung, an der ich teilgenommen habe, war längst zuvor angesetzt worden, und zwar mit einer Tagesordnung, die meiner Erinnerung nach unpolitisch war. Es kam aber zu einer eingehenden Aussprache über die neue Lage, und es wurde der Vorschlag gemacht, namens der juristischen Fakultäten eine Adresse an Hitler zu richten, in der die Erwartung ausgesprochen werden sollte, daß er die rechtsstaatliche Ordnung respektieren werde. Dieser Vorschlag fand zunächst viele Befürworter. Als sich dann freilich einer der anwesenden Dekane, ein Mann von nicht sehr großem wissenschaftlichen Ansehen, dazu erbot, diesen Schritt bei Hitler vorzubereiten, dem er schon Gutachten erstattet habe — da kamen manchen Konferenzteilnehmern Bedenken. Schließlich verfiel der Vorschlag der Ablehnung, wobei das Votum eines sehr bedeutenden Berliner Juristen, der später emigrieren mußte, meiner Erinnerung nach den letzten Ausschlag gab. Er warnte dringend vor einem solchen impulsiven Schritt, der auch sehr unerwünschte Folgen haben könne. Man müsse die Entwicklung abwarten.
Ich halte es für gewiß, daß Hitler sich durch eine Adresse der deutschen Rechtsfakultäten nicht im geringsten hätte beeinflussen lassen. Trotzdem bedauere ich, daß sie damals nicht beschlossen worden ist. Die Juristenfakultäten stünden heute vielleicht ein klein wenig besser da, wenn sie sich in jener Stunde nicht durch taktische Überlegungen (die damals klug und besonnen erscheinen mochten) von einem Beschluß hätten abhalten lassen, der wenig später schon nicht mehr gefaßt und erst recht nicht mehr wirkungsvoll durchgeführt werden konnte. Denn „die Entwicklung abwarten" bedeutete, wie sich alsbald herausstellte, sich von der Entwicklung überrollen lassen. Der Rest des Wintersemesters 1932/33 verging, meiner Erinnerung nach, ohne daß nach außen hin deutlich wurde, was bevorstand. Es gab, wie auch schon vor der Machtergreifung Hitlers, Störungsaktionen gegen die Vorlesungstätigkeit jüdischer oder politisch mißliebiger Professoren, gegen die zum mindeB sten an einigen Stellen, wie z. B. in Berlin, von Seiten des Rektors energisch eingeschritten wurde. Man hielt sie wohl zumeist für örtliche und spontane Vorgänge, während sie wahrscheinlich bereits von oben gelenkt waren. Ob die Neuwahlen der Rektoren und Dekane, durch die zwar keine Nationalsozialisten — die gab es unter den ordentlichen Professoren noch so gut wie gar nicht —, wohl aber den Nationalsozialisten genehme Männer an die Spitze der Universitäten und Fakultäten gelangten, ob diese Neuwahlen noch im Wintersemester angeordnet und durchgeführt wurden oder erst im Sommer 1933, weiß ich leider nicht mehr. Man ging mehr oder weniger bereitwillig auf diese Neuwahlen ein, weil man hoffte, daß die Gewählten einen besseren Stand haben würden als die bisherigen Rektoren und Dekane, die nicht unter politischem Aspekt, sondern in der Regel nach dem Turnus der Fakultäten und, soweit es sich um die Dekane handelte, nach dem Dienstalter gewählt waren. (Der Dekan meiner Fakultät z. B. — Artilleriehauptmann im Ersten Weltkrieg, Träger des Eisernen Kreuzes I. Klasse — war Jude, und es war trotz allem auch für den Harmlosesten vorauszusehen, daß er als Dekan Schwierigkeiten haben werde.) Jene Hoffnung trog freilich, zum mindesten in vielen Fällen. Die Neugewählten erwiesen sich als unsicher und nachgiebig, manche geradezu als trojanische Pferde. Jedenfalls war mit dieser Änderung in der personellen Leitung wahrscheinlich schon die Möglichkeit eines geschlossenen Auftretens der Universitäten verspielt — sofern die äußeren Umstände es überhaupt noch zugelassen hätten, was mir sehr zweifelhaft erscheint. Ich glaube nämlich nicht, daß ein Protestschritt der Universitäten im Frühjahr oder Sommer 1933 noch irgendeine Publizität, geschweige denn eine Unterstützung in der Öffentlichkeit gefunden hätte.
Denn die Presse wurde ja noch schneller und vollständiger geknebelt als die Universitäten — ihre Freiheit zu unterdrücken war leichter und für das Regime viel notwendiger —, und der Rundfunk war als staatliche Einrichtung von vornherein in der Hand der Nationalsozialisten.
Vielleicht darf ich hier, zeitlich vorgreifend, anfügen, daß dann im Oktober 1933 die akademische Selbstverwaltung der deutschen Hochschulen überhaupt beseitigt worden ist. Die Fakultäten (als Kollegien) und der Senat hatten fortan nicht mehr beschließende, sondern nur noch beratende Funktion: Rektor und Dekane entschieden jetzt kraft des sogenannten Führerprinzips in eigener Machtvollkommenheit. Sie verloren zugleich ihre Eigenschaft als echte Repräsentanten der Universität, denn sie wurden nicht mehr gewählt, sondern ernannt (und waren jederzeit absetzbar). Den Rektor ernannte der Reichskultusminister, die Dekane der Rektor. Rektor und Dekane standen überdies unter der Kontrolle der Funktionäre des NS-Dozentenbunds, das heißt einer Parteigliederung; selbst die Hochschulabteilung des Reichskultusministeriums war gehalten, in Berufungsangelegenheiten jeweils das Votum des Reichsdozentenführers einzuholen.
Diese administrative Subordinierung und Gleichschaltung der Universität ist zwar niemals in jeder Hinsicht voll durchgeführt worden. Namentlich in den Fakultäten war es unmöglich, auf die Dauer nach dem Führerprinzip zu regieren. Auch die ideologische Durchdringung der Universitäten durch den Nationalsozialismus ist durch „Führerprinzip“ und Einfluß des Dozentenbunds kaum wesentlich gefördert worden. Aber soviel ist doch festzustellen: Die Möglichkeit einer unabhängigen Willensbildung und Meinungsäußerung der Universitäten und der Fakultäten in hochschulpolitischen oder gar allgemeinpolitischen Fragen war nach den seit Oktober 1933 geltenden Bestimmungen auch juristisch nicht mehr vorhanden.
„Säuberung" der Professorenschaft
Ich kehre zu der Entwicklung im Frühjahr 1933 zurück: Anfang April 1933, das heißt noch während der Ferienzeit, erfolgte ein Schlag, der sich nicht gegen die Hochschule allein richtete, sie aber am schwersten traf. Es erging ein (von Hitler erlassenes, nicht von dem bereits entmachteten Reichstag beschlossenes) Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Sein Name, mit dem man in raffinierter Weise die weitverbreitete Abneigung gegen das sogenannte Parteibeamtentum der Weimarer Zeit ausnutzen wollte, war irre-B führend. Es enthielt zwar Bestimmungen gegen Beamte, die als Anhänger einer Linkspartei (nur Linksparteien waren gemeint) politisch hervorgetreten waren, daneben aber auch solche gegen jüdische Beamte. Jene Linksparteiler sollten als „politisch unzuverlässig“ in den Ruhestand versetzt werden, desgleichen alle jüdischen Beamten, soweit sie nicht bereits 1914 im Amte waren oder als Frontkämpfer am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten. Während die Bestimmung gegen die „politisch unzuverlässigen“ Beamten eine mehr oder weniger individuelle Prüfung im Einzelfall zuließ oder sogar verlangte, blieb gegenüber den Juden kein Spielraum, es sei denn in der Frage der Frontkämpfereigenschaft. Auf die sachlichen Qualifikationen für das betreffende Amt einzugehen, bot das Gesetz überhaupt keine Möglichkeit.
Während sonst im allgemeinen jene erste Bestimmung die größere praktische Bedeutung hatte, war es in den Universitäten umgekehrt. Zwar ist im unmittelbaren Vollzug des Gesetzes eine nicht unbeträchtliche Zahl von Professoren als „politisch unzuverlässig“ entlassen worden, darunter so hervorragende Männer wie der Rechtsphilosoph und Kriminalist Gustav Radbruch in Heidelberg, und die Klausel über die politische Unzuverlässigkeit wurde wohl auch noch in der Folgezeit des öfteren dazu benutzt, um Professoren abzuschießen, die der Ablehnung des Nationalsozialismus verdächtig waren. (Ich selbst bin dieser Gefahr, wie ich später erfuhr, nur eben entgangen.) Aber da an den deutschen Hochschulen, wie ich zu Beginn schon gesagt habe, nur wenige Professoren lehrten, die wirklich entschiedene Anhänger der Linksparteien waren, war diese Gruppe der Opfer des Gesetzes insgesamt nicht sehr groß — gemessen jedenfalls an der Zahl der jüdischen Professoren, die der deutschen Wissenschaft durch dieses Gesetz und im Anschluß daran verlorengingen.
Freilich schien gerade der Juden-Paragraph im Vergleich mit dem, was man über die Parteidoktrin und die Hetzpropaganda der Nationalsozialisten wußte, noch einigermaßen maßvoll. Es stellte sich heraus, daß überraschend viele jüdische Professoren Frontkämpfer waren. Sie alle, so schien es, konnten also bleiben. Da das Gesetz sie ausdrücklich in ihrem Amt bestätigte, lag sogar der Gedanke nahe, daß wenigstens sie künftig in ihrer Lehrtätigkeit gegen Störungsaktionen geschützt waren. Es mag also, vor allem unter den nicht-jüdischen Professoren, manche gegeben haben, die sich mit dem Gedanken beruhigten, es sei ja doch nicht ganz so schlimm gekommen, wie man befürchtet habe, und das Gesetz schaffe trotz seiner Härte immerhin eine stabile Rechtslage.
Emigration
Daß dem in Wahrheit nicht so war, konnte man aus einer anderen Vorschrift ersehen, die etwa zur gleichen Zeit erging (ich weiß nicht, ob es sich um ein Gesetz oder eine Verordnung des Reichskultusministers handelte — ich glaube, es war eine Verordnung). Danach wurden jüdische Schüler aus den öffentlichen Schulen ausgeschlossen und in neu zu gründende Judenschulen verwiesen. Für die Kinder der im Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von der Entlassung Ausgenommen, insbesondere der Frontkämpfer, gab es hier keine Sonderbestimmungen. Es war klar, daß jene Ausnahme nicht ernst gemeint war. Man wollte auch den Frontkämpfern das Verbleiben im Amt praktisch unmöglich machen. In der Tat verzichteten zum Beispiel die jüdischen Physiker und Mathematiker der Göttinger Universität, auch soweit sie nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums hätten bleiben können, noch im Sommer 1933 auf ihr Lehramt und gingen ins Ausland, wo man diese weltberühmten Gelehrten natürlich mit offenen Armen empfing. Mit der führenden Stellung, die Göttingen gerade auf den Gebieten der Physik und der Mathematik in der Welt inne-gehabt hatte, war es vorbei. Schwieriger war die Lage der Juristen. Für Lehrer des deutschen Rechts hatte das Ausland, hatten vor allem England und die Vereinigten Staaten, in denen ein ganz andersartiges Rechtssystem gilt, keinen Bedarf. Die jüngeren deutschen Emigranten mußten dort noch einmal als Juristen in die Schule gehen, um mit den inländischen Bewerbern in ihrer neuen Heimat konkurrieren und sich einen Platz als Rechts-lehrer oder als Anwalt erringen zu können; die älteren erhielten schließlich dank der Hilfsbereitschaft der angelsächsischen Universitä26 ten ein Unterkommen, zumeist aber nur in Gestalt einer Art von Forschungsstipendien. Für sie war die Emigration in besonderem Maße ein Sprung ins Ungewisse, und sie blieben deshalb im allgemeinen länger in Deutschland.
Um sie trotz des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums loszuwerden, kam man zunächst auf die Idee, möglichst viele von ihnen an eine einzige Universität zu versetzen und diese Universität dann aufzuheben. Frankfurt, eine Stiftung der Frankfurter jüdischen Bankiers, schien den antisemitischen Drahtziehern für diesen Zweck besonders geeignet. Man begann tatsächlich mit den Versetzungen nach Frankfurt, aber dann wurde dieser Plan aufgegeben, weil es gelang, den Einfluß von Parteifunktionären dagegen mobil zu machen. Nun ging man dazu über, Störungsaktionen des NS-Studentenbunds gegen die im Amt verbliebenen jüdischen Professoren zu organisieren, mit dem Erfolg, daß spätestens Ende 1935 keiner von ihnen mehr sein Lehramt ausübte und schließlich nahezu alle in die Emigration gingen. Man hat errechnet, daß 1933 und in den folgenden Jahren etwa 15% der Lehrer und des wissenschaftlichen Nachwuchses der deutschen Hochschulen und Forschungsinstitute durch Emigration verlorengegangen sind. Schon rein zahlenmäßig ist dies eine außerordentliche Einbuße. Sie erscheint aber noch viel schwerer, wenn man die wissenschaftliche Potenz der Forscher ins Auge faßt, die Deutschland den Rücken kehren mußten. Daß Deutschland damals auf dem Gebiet der Physik seine führende Stellung verlor, habe ich schon angedeutet, als ich von dem Fortgang der Göttinger Physiker sprach. In meinem eigenen Fach gingen von den zehn oder elf international anerkannten Gelehrten aus der Generation der um 1880 Geborenen acht. Neue Fachbereiche, die sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Zeit zu entwickeln begonnen hatten, zum Beispiel die Soziologie, verödeten vollständig. Diese Andeutungen müssen genügen, um wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon zu geben, was Deutschland damals an geistigem Kapital verloren hat.
Mutige Einzelaktionen
Die Universitäten schwiegen. Ich habe schon gesagt, daß sie bereits im Sommer 1933 zu korporativem Handeln gar nicht mehr imstande waren, daß es also nach meiner Über-zeugung nicht gerechtfertigt wäre, ihnen das Unterbleiben einer umfassenden Protestaktion gegen die Austreibung der jüdischen Professoren vorzuwerfen. Was man erwarten konnte, war ein kollegiales Verhalten gegenüber den Opfern der Verfolgung. Das hat es in vielen Fällen gegeben. Um ein Beispiel zu nennen, das ich selbst erfahren habe: Als ich 1936 nach Bonn berufen wurde, wurde mir von der Fakultät eröffnet, daß der Vorschlag, mich zu berufen, von meinem amtsentsetzten Vorgänger stamme, von dem sich die Fakultät (natürlich inoffiziell) in der Nachfolgerfrage hatte beraten lassen. Mein Vorgänger, den ich bei meiner Übersiedlung nach Bonn noch dort antraf, hat mir das bestätigt. Die Fakultät hielt also bis zu seiner Emigration einen engen Kontakt mit ihm aufrecht. Auch mein Lehrer, damals in Heidelberg in der gleichen Lage wie mein Bonner Vorgänger, rühmt das kollegiale und freundschaftliche Verhalten al-lerdings nur eines Teils der Fakultät. Es gab Beispiele mutigen Eintretens der Schüler für ihre Lehrer: So unternahm in Berlin eine Anzahl von jungen Dozenten und Habilitanden der juristischen Fakultät eine Protestaktion gegen die Entlassung ihrer Lehrer — mit der Folge, daß sie selbst entlassen und von der akademischen Laufbahn ausgeschlossen wurden. Leider sind mir nicht alle ihre Namen er-innerlich; ich nenne zwei, die ich noch weiß: Ludwig Raiser, der heute in Tübingen, und Werner Flume, der jetzt in Bonn lehrt. Selbst unter den fanatischen Anhängern des Nationalsozialismus gab es Leute, die sich im Einzelfall spontan für ihre Lehrer einsetzten. Ich erinnere mich einer Szene in der Göttinger Universität, die einer meiner Schüler beobachtet hat. Ein SS-Mann redete auf andere ein:
„Ja, wenn Ihr meint, daß ... (es folgte der Name eines Kollegen, der als Frontkämpfer zunächst im Amt blieb und gegen den nun eine Störungsaktion durchgeführt werden sollte) — wenn ihr meint, daß er in Ordnung ist, dann müßt ihr auch für ihn eintreten.“ Leider gab es aber auch viele Gegenbeispiele. Es gab Professoren, die ihre jüdischen Kollegen nicht mehr kannten. Ich erlebte, wie es ein Dekan nicht für tunlich hielt, einem entlassenen Fakultätskollegen auch nur ein Wort der Teilnahme zu sagen oder zu schreiben. Er begnügte sich damit, die noch bei dem Entlassenen liegenden Doktorarbeiten durch den Pedell abholen zu lassen. Ich erlebte es, wie die Anfrage, ob die Fakultät bereit sei, einen Frontkämpfer aufzunehmen, der von seiner bisherigen Universität fortversetzt werden sollte und den Wunsch geäußert hatte, nach Göttingen zu kommen, in der Fakultät gegen wenige Stimmen verneint wurde. Es ist schwer zu sagen, inwieweit solches Verhalten auf jenem latenten Antisemitismus beruhte, der, wie ich andeutete, schon in der Weimarer Zeit spürbar war und jetzt offen hervortrat, und inwieweit auf der Angst vor Komplikationen, auf dem Wunsch, nicht selbst in die Schußlinie des Terrors hineinzugeraten, der im Sommer 1933 an den deutschen Universitäten zu herrschen begann. Wahrscheinlich war beides im Spiel, das zweite Moment wohl mehr als das erste. Damit bin ich bereits bei der Lage und dem Verhalten derjenigen, die bleiben konnten und blieben.
Begeisterung — Idealismus — Opportunismus
Wie ich angedeutet habe, gab es schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten auch unter den Hochschullehrern sehr viele, die in der Zulassung Hitlers zur Regierung (und das heißt: zur Verantwortung) den einzigen Weg zur Herstellung stabiler politischer Verhältnisse sahen. Für sie war die Machtergreifung Hitlers entweder ein willkommenes oder doch wenigstens ein unvermeidliches Ereignis, aus dem es galt, das beste zu machen. Einige — es waren nicht sehr viele, aber unter ihnen befanden sich prominente Gelehrte — ließen sich von dem Begeisterungsrausch erfassen, der sich im Frühjahr 1933 in ganz Deutschland verbreitete. Sie glaubten wirklich, jetzt beginne ein besseres Zeitalter, eine Erneuerung des deutschen Wesens, und lieferten sich mit Emphase dem Nationalsozialismus aus. Es waren zum Teil Männer, die aus der Jugendbewegung kamen oder dem Kreise Stefan Georges nahe-standen, romantische Naturen von differenzierter geistiger Struktur, die in der Gesellschaft des Ungeistes, in die sie sich nun begaben, völlig fehl am Platze waren. Sie wurden dessen auch in der Regel bald inne und traten dann zur Seite. Aber die Emphase, mit der sie den Nationalsozialismus begrüßt hatten, die Reden, die zum Beispiel von solchen Männern bei den berüchtigten Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 gehalten worden sind, bleiben Zeugnisse einer verhängnisvollen politischen Blindheit und einer Emotionalität, die gerade dem Gelehrten besonders schlecht zu Gesichte steht. Immerhin sollte mannicht vergessen, daß diese blinde Emotionalität damals in Deutschland sehr weit verbreitet war; viele Tausende, auch unter den Gebildeten außerhalb der Universitäten, fühlten und glaubten nicht anders — von den Studenten ganz zu schweigen, unter denen es damals, in den ersten Monaten des Hitlerregimes, wohl nur eine kleine Minderheit gab, die gleichgültig blieb oder gar kritisch abseits stand.
Andere Professoren und namentlich viele, die damals zum akademischen Nachwuchs gehörten, dachten weniger emotional. Sie erkannten mehr oder weniger deutlich das Bedrohliche, den Ungeist des Nationalsozialismus. Die sahen darin die Kennzeichen einer Revolution, die unvermeidlichen Begleiterscheinungen einer elementaren Volksbewegung. Sie glaubten sich berufen, die neue Ordnung mitzubauen, indem sie jetzt die geistige Grundlage eines autoritären Staatswesens entwickelten. Ich kenne diese Einstellung aus mancherlei Gesprächen, die ich damals mit jungen Kollegen meiner Fakultät, auch gelegentlich mit Studenten geführt habe. Ich war sehr skeptisch gegen solche Perspektiven, aber ich bedauerte manchmal meinen Unglauben und fragte mich, ob ich denn am Ende in meinen jungen Jahren schon in veralteten liberalistischen Anschauungen erstarrt sei. Ich erwähne dies hier, um deutlich zu machen, daß die Neigung mancher meiner damaligen Kollegen und insbesondere der jungen Dozenten und Habilitanden zum Anschluß an den Nationalsozialismus nicht einfach als Opportunismus abgetan werden darf, daß vielmehr oft (und ich meine sogar: in der Mehrheit der Fälle) ein echter Idealismus im Spiel war, der sich freilich an eine schlechte Sache verschenkte. Es gab natürlich auch reinen Opportunismus. Es gab Leute, denen Paris eine Messe wert war, die, um ihre politische Vergangenheit vergessen zu machen, um ihre Karriere zu sichern oder (wenn sie das nicht nötig hatten) um sich gehörig in Geltung zu bringen, bereit waren, ein sacrificium intellectus zu erbringen. An solchen Menschen wird es ja niemals fehlen. Ich glaube aber sagen zu können, daß dieser gesinnungslose Opportunismus an den damaligen Universitäten keineswegs vorherrschte.
Die Gegner
Ich komme zu denen, die dem Nationalsozialismus gegenüber von Anfang an reserviert und kritisch oder gar entschieden ablehnend gegenüberstanden. Sie bildeten in Göttingen — an der Universität, an der ich die ersten Jahre des Hitlerregimes miterlebt habe — die Mehrheit, und ich weiß, daß es in dieser Hinsicht an anderen Hochschulen nicht wesentlich anders aussah. Vor allem die älteren Professoren gehörten mit nicht sehr zahlreichen Ausnahmen zu dieser Gruppe. Auch bei der Mehrzahl der konservativ und national Gesinnten unter ihnen riefen das Programm und die terroristischen Methoden der Nationalsozialisten entschiedene Ablehnung und schwere Besorgnis für die Zukunft hervor. Um das zu veranschaulichen, erwähne ich noch einmal jenen Professor des Staatsrechts, der sich vor 1933 in seiner Vorlesung über die neuen Reichsfarben zu mokieren pflegte; nun konnte man ihm nicht begegnen, ohne von ihm zu hören, daß alles, was sich jetzt abspielte, heller Wahnsinn sei. Auch unter den Jüngeren, unter meinen Altersgenossen, gab es wohl nicht wenige, die ebenso dachten. Sie waren freilich in einer schwierigen Lage.
Die Älteren, die Sechzigjährigen, aus denen meine Fakultät (und z. B. auch der ganz überwiegende Teil der Philosophischen Fakultät in Göttingen) bestand, ließ man im allgemeinen in Frieden. Mein Kollege für Zivilrecht und Zivilprozeß zum Beispiel trug, wie ich von einem seiner damaligen Hörer weiß, in aller Harmlosigkeit noch wie vor dem Beginn des Hitlerregimes sein Loblied auf den Liberalismus und speziell auf das liberale Vollstrekkungsrecht vor. Man nahm dies unter den Studenten nicht sehr ernst; er war beliebt wegen der bescheidenen Anforderungen, die er in Übungen und Prüfungen stellte, und man wußte, daß er nur noch eine kurze Frist im Amt bleiben werde. Gegen andere, und vor allem gegen die Jüngeren, die der Ablehnung des Nationalsozialismus verdächtig waren, wurde Material gesammelt. In den Vorlesungen und nicht selten auch in den Instituten saßen Spitzel, Studenten oder Assistenten, die vom NS-Studentenbund auf Grund ausdrücklicher Anweisungen aus Berlin beauftragt waren, den betreffenden Professor zu beobachten. Auch das Privatleben wurde kontrolliert, was natürlich in einer kleinen Universitätsstadt leichter war als in Berlin oder Frankfurt. Man wußte zum Beispiel von mir, wie ich später bei verschiedenen Gelegenheiten erfahren habe, daß ich viel Umgang mit jüdischen Kollegen hatte, man hielt fälschlicherweise meine Frau für eine Jüdin, und man führte den Umstand, daß ich sehr früh Professor geworden war, auf meine jüdischen Beziehungen und meine politische Vergangenheit als Anhänger der Weimarer Republik zurück (eine Vergangenheit, die — leider — nur in den Köpfen dieser Leute existierte). Aus meinen Vorlesungen wußte man die Ungeheuerlichkeit zu berichten, ich sei für die Geschwisterehe eingetreten — ich habe wohl gelegentlich einmal darauf hingewiesen, daß die Anschauungen, die dem Ehehindernis der Verwandschaft zugrunde liegen, nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturen in gleicher Weise gegolten haben. Wie ich bei meinem Weggang von Göttingen durch den Kurator erfuhr, war meine Position zeitweise sehr gefährdet. Einer meiner Fakultätskollegen, der Völkerrechtler, fiel einer solchen Aktion zum Opfer, er wurde in den Ruhestand versetzt. In manchen Fällen sind die Bestrebungen, durch solche Verdächtigungen oder durch planmäßige Störungen der Vorlesungen Professoren abzuschießen, verhindert worden.
Dekane, Rektoren, auch Dozentenbundsführer haben sich nicht selten energisch für ihre Kollegen eingesetzt. Man erfuhr davon in der Regel nur gerüchtweise. Ob in meinem Fall eine solche Intervention stattgefunden hat, weiß ich nicht.
Auswandern oder bleiben?
Ich habe mir im Laufe des Jahres 1933 wiederholt überlegt, ob ich nicht auswandern sollte — nicht im Zusammenhang mit der Gefahr, mein Amt zu verlieren, von der ich damals nichts wußte, sondern weil ich an der Möglichkeit einer befriedigenden Existenz in der geistigen Unfreiheit zweifelte, die über die deutschen Universitäten hereingebrochen war. Auch andere werden diesen Gedanken erwogen haben. Aber nur sehr wenige haben ihn ausgeführt. Unter den Juristen, die damals an deutschen Universitäten Lehrstühle innehatten, kenne ich nur drei, die, wenn ich recht unterrichtet bin, mehr oder weniger aus freiem Entschluß ins Ausland gegangen sind: zwei -— der eine Schweizer von Geburt, beide früher Lehrer an Schweizer Hochschulen — gingen in die Schweiz; einer, Österreicher und zuvor schon einmal Professor in Wien, kehrte nach Wien zurück, wo er freilich dann doch wieder vom Nationalsozialismus ereilt wurde. Es handelt sich also mehr oder weniger um Sonderfälle, um Fälle einer Rückkehr ins Ausland. Die anderen blieben aus, wie mir scheint, sehr verständlichen Gründen. Man mußte sich ja, von allen persönlichen Bindungen an die Heimat abgesehen, die Frage stellen, ob man den Kollegen, die Deutschland verlassen mußten, die Existenzmöglichkeiten im Ausland streitig machen dürfe. Dazu kam die Überlegung, daß man nicht freiwillig seinen Platz räumen dürfe und daß man jetzt erst recht die Aufgabe habe, nüchternes und kritisches Denken zu lehren. Hinzu kam auch die Hoffnung, daß über kurz oder lang ein Wandel eintreten werde; gerade wer den Nationalsozialismus ablehnte, konnte sich kaum vorstellen, daß dieses Regime des Ungeistes und des Unrechts von sehr langer Dauer sein werde.
Wer blieb, konnte irgendwelche Konzessionen nicht vermeiden. An manchen Universitäten wurden die jüngeren Professoren zum Eintritt in die SA genötigt, der dann später regelmäßig die Aufnahme in die Partei zur Folge hatte. Mich hat niemand dazu aufgefordert — vielleicht darum nicht, weil man mich nicht im Amt lassen wollte. Aber dem NS-Juristenbund mußte ich schließlich beitreten; ich habe seinen Versammlungen nur wenige Male beigewohnt. Was ich dabei hörte, war übrigens ziemlich harmlos und meist sehr langweilig. Nach meiner Übersiedlung nach Bonn 1936 hatte ich überhaupt keine Fühlung mehr mit dieser Vereinigung. Ich weiß gar nicht, ob dort damals noch regelmäßig Versammlungen stattfanden. In Göttingen habe ich eine Weile einen kleinen Beitrag als sogenanntes förderndes Mitglied der SS bezahlt, wofür an der Haustür von Studenten geworben wurde; man erhielt dafür eine Anstecknadel, die ich nie getragen habe. In Bonn erschien niemand mehr, um den Beitrag zu erheben.
Unterschiedliche Situation in den Fachgebieten
In der Lehrtätigkeit und der wissenschaftlichen Produktion war die Lage der Professoren, je nach ihrem Fach, sehr verschieden. Der Chirurg, der Botaniker, der Sprachwissenschaftler, der Altphilologe zum Beispiel konnte sich in seinem Fach frei bewegen. Niemand konnte von ihm ein Eingehen auf politische Fragen verlangen (was freilich nicht ausschließt, daß manche es trotzdem für nötig hielten). Dasselbe galt wohl auch für den Physiker, denn was damals von zwei deutschen Nobelpreisträgern über „deutsche Physik" und über „rassebedingte Naturwissenschaft" geschrieben worden ist, war, wenn ich recht sehe, nur ein blindwütiger Ausbruch des Antisemitismus ohne sachliche Substanz und wurde von niemanden in wissenschaftlichem Sinn ernst genommen. Andere Fächer, wie insbesondere die Anthropologie, waren dagegen durch nationalsozialistische Dogmen blockiert. Wer von diesen Dogmen als Lehrer und Autor abwich, wurde, wie Kollege Sailer, der Anthropologe unserer Universität, der damals Privatdozent in Göttingen war, aus seinem Lehramt ausgestoßen und durch ein Verbot seiner Schriften mundtot gemacht. Auch für die Historiker, namentlich für die Vertreter der neueren Geschichte, war die Lage nicht ganz einfach: Eine objektive Behandlung zum mindesten der jüngsten Geschichte, die in Lehre und Forschung einzubeziehen freilich schon vorher nicht üblich war und nicht als ganz seriös galt, war ohne Konflikt mit der Partei nicht möglich. Es gab auch sonst neuralgische Punkte, wie die Beurteilung der Italien-Politik der mittelalterlichen Kaiser oder der Bauern-30 krieg; aber hier hatte man es nicht so sehr mit Glaubenssätzen des Nationalsozialismus als mit den Ansichten nationalsozialistischer Autoren zu tun, gegen die zu polemisieren gelährlich, aber immerhin nicht unmöglich war. Einer meiner Göttinger Freunde, der den Beginn des Hitlerregimes aus wirklicher Über-zeugung begrüßt hatte, geriet in schwere Konflikte, als er sich gegen die besonders in Niedersachsen sehr populäre Darstellung Karls des Großen als „Sachsenschlächter" wandte. Im übrigen bot der weite Raum der Geschichte natürlich viele stille Bezirke, in denen sich der Historiker unangefochten sachlich betätigen konnte.
Um schließlich auf meine eigene Wissenschaft, die Jurisprudenz, zu kommen, so scheint es mir nötig, darauf hinzuweisen, daß an den Universitäten das geltende Recht gelehrt wird. Wer in der Hitlerzeit als Jurist an einer deutschen Universität wirkte, mußte also diejenigen Normen vortragen und erläutern, die damals in Deutschland angewendet wurden. Wer zum Beispiel Familienrecht las, konnte die Nürnberger Gesetze nicht übergehen. Am leichtesten hatte es der Rechtshistoriker, zumal, wenn er wie ich das vom Parteiprogramm verfemte römische Recht vertrat, das in der nationalsozialistischen Studienordnung nur unter der leicht verschleiernden Bezeichnung „Antike Rechtsgeschichte" geduldet wurde. Aber auch ich mußte einige Male Familienrecht lesen, als während des Krieges die Zahl der verfügbaren Dozenten in meiner Fakultät zusammengeschmolzen war. Auch ich habe also meine Studenten über die antisemitische Gesetzgebung des Nationalsozialismus unterrichtet. Eine offene Kritik dieser Gesetze hätte das Ende meiner Lehrtätigkeit bedeutet. Man konnte sich nur einer kühlen Sachlichkeit befleißigen. Auch sie wurde übrigens von den Studenten bereits als Kritik verstanden und (in den letzten Jahren des Hitlerregimes) von den meisten begrüßt. In der schwierigsten Lage war der Lehrer des öffentlichen Rechts: Er hatte ja nichts anderes zu tun als Struktur und Praxis des Regimes darzustellen — für den, der an die Rechtlichkeit dieses Regimes nicht glaubte, wahrlich eine schwere Gewissensbelastung.
Konflikte
Was für die Vorlesung gilt, gilt natürlich auch für das Lehrbuch. Man wird darum, abgesehen vielleicht von Werken über Schuldrecht, Handelsrecht, Zivilprozeß und andere unpolitische und von der spezifisch nationalsozialistischen Gesetzgebung mehr oder weniger unberührte Gebiete, kein Lehrbuch aus jenen Jahren finden, in dem nicht nationalsozialistische Gedanken enthalten sind. Natürlich wurde niemand gezwungen, ein Lehrbuch zu schreiben. Aber wer sich dazu entschloß, konnte es nicht vermeiden, Sätze zu schreiben, die er damals vielleicht mit Widerwillen schrieb und heute lieber nicht geschrieben hätte. Ich möchte nicht mißverstanden werden: Ich kann und will nicht meine Kollegen oder auch nur einzelne von ihnen gegen Vorwürfe verteidigen, die auf Grund ihrer damaligen Publikationen gegen sie erhoben worden sind. Jeder von uns muß für das eintreten, was er gelehrt, geschrieben und getan hat. Ich bin dazu auch gar nicht in der Lage, weil ich in den wenigsten Fällen genug über die Umstände und über den Inhalt solcher Schriften weiß. Meine Absicht ist nur, gewisse Tatsachen festzustellen, die wohl nur für den-jenigen selbstverständlich sind, der unter einem solchen Regime gelebt und gearbeitet hat.
Wer unter Hitler nicht bereits einen Lehrstuhl innehatte, sondern erst Dozent und Professor werden wollte, konnte sich dem SA-Dienst, der sogenannten weltanschaulichen Schulung in Dozentenlagern und im allgemeinen auch dem Eintritt in die Partei nicht entziehen. Ich kenne nur sehr wenige Fälle, in denen es jungen Gelehrten gelungen ist, sich der Partei fernzuhalten: Ein Weg dazu bot sich nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht über die freiwillige Teilnahme an militärischen Lehrgängen und die Ernennung zum Reserveoffizier. Das galt immerhin als ein Beweis „nationaler Gesinnung", und man konnte sich in den ersten Jahren des Regimes darauf berufen, daß Soldaten nicht in die Partei eintreten dürften. Der Hochschulnachwuchs wurde übrigens nach einigen Jahren des Regimes, zum mindesten im Bereich der Geisteswissenschaften, spärlich. Auch die Freguenz der Universitäten sank erheblich, als die Offizierslaufbahn als Berufschance neben das Studium trat. Manche Abiturienten mögen sie gewählt haben, um dem politischen Druck, der auf die Studenten ausgeübt wurde, zu entgehen. Es geschah so gut wie nichts für den Ausbau der Universitäten. Die wenigen Neubauten, die während des Dritten Reiches in Benutzung genommen wurden, waren, wenn ich recht unterrichtet bin, in ihrer Mehrzahl schon vor 1933 geplant und begonnen worden. Neue Lehrstühle wurden im allgemeinen nur errichtet, um Parteileute zu versorgen; in vielen Fällen geschah dies ohne Rücksicht auf das Votum der Fakultäten.
Staat und Partei hatten an den Universitäten nur geringes Interesse. Sie galten als Stätten der Reaktion. Immer wieder sprach man davon — und manche Kollegen taten es mit Besorgnis —, daß der Führernachwuchs in Partei und Staat künftig nicht mehr auf den Universitäten, sondern auf den Ordensburgen ausgebildet werden solle, die man in den letzten Jahren vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zu gründen begann. Es ist eine Tatsache, auf die einmal hingewiesen werden muß, daß die Universitäten, denen heute mit einigem Recht vorgeworfen wird, daß sie sich dem Nationalsozialismus unterworfen hätten, doch niemals das Vertrauen der Nationalsozialisten besessen haben. Natürlich hängt das mit dem Un-geist des Regimes zusammen, dem das wissenschaftliche Denken an und für sich schon gefährlich erscheinen mußte, weil es zur Kritik erzog, zur Kritik auch an den Glaubenssätzen, die man dem deutschen Volk einhämmern wollte — selbst, wenn diese Glaubenssätze in den Vorlesungen nicht ausdrücklich angegriffen und von einigen Dozenten mehr oder weniger lautstark verkündet wurden.
Auch die Professoren, die sich zum Nationalsozialismus bekannten, gewannen keinen wirklichen Einfluß. Die Hoffnung, die viele von ihnen anfangs geleitet hatte, sie könnten durch theoretische Fundierung der neuen Staats-und Gesellschaftsordnung zur Bändigung des Ungeistes beitragen, erwies sich als eine Utopie. Manche haben dies bald, einige wohl erst sehr spät eingesehen. Manche gerieten in Konflikt mit der Partei. Ich möchte zwei Beispiele, die mir bekannt sind, ausdrücklich nennen: Es sind sicher nicht die einzigen Fälle dieser Art. Jens Jessen, 1933 Privatdozent der Nationalökonomie in Göttingen, schon vor der Machtergreifung Hitlers Parteimitglied, wurde als Kieler Professor wegen seiner wirtschaftspolitischen Anschauung alsbald angefeindet und schließlich aus Kiel verdrängt; er ist als Teilnehmer der Verschwörung vom 20. Juli hingerichtet worden. Der Staatsrechtslehrer Ernst Forsthoff, zu Beginn des Dritten Reichs Vorkämpfer eines neuen autoritären Staatsrechts, erstattete Ende der dreißiger oder anfangs der vierziger Jahre ein Rechtsgutachten gegen die von den Nationalsozialisten beabsichtigte Umwandlung des Magdeburger Doms in eine Parteigedenkstätte. Seine Vorlesungen in Wien, wohin er gerade berufen worden war, wurden auf Anordnung des Gauleiters Baldur v. Schirach durch Studentendemonstrationen gestört und mußten abgebrochen werden. Es gelang, ihn nach einiger Zeit durch eine Berufung nach Heidelberg aus dieser Lage zu befreien. Ich erwähne auch diesen Fall mit Namensnennung, weil die nationalsozialistische Vergangenheit Forsthoffs kürzlich in der Presse erörtert worden ist, als die Wiener Juristische Fakultät ihm die Ehren-doktorwürde verleihen wollte. Forsthoff hat, ohne sich zu verteidigen, auf diese Ehrung verzichtet. Unter solchen Umständen erscheint es mir angebracht zu sagen, daß er unter dem Hitlerregime durch sein Eintreten für das Recht in Gefahr gekommen ist, sein Lehramt zu verlieren.
Besserung des Klimas
Es bedurfte im übrigen nicht einmal einer vorbedachten, gegen irgendwelche nationalsozialistische Ideologien oder Ziele gerichteten Handlung, um solche Gefahren heraufzubeschwören. Ein unüberlegtes Wort in der Vorlesung oder selbst in einer privaten Unterhaltung, ein Brief, der in die falschen Hände geriet, eine Äußerung oder Handlung des Sohnes oder der Ehefrau konnte dieselben oder noch schlimmere Folgen haben, bespitzelung gab es während der ganzen Hitlerzeit. Es gab den sogenannten SD (Sicherheitsdienst), der überall seine Beauftragten hatte, auch unter Studenten und Dozenten. Mitunter mögen allerdings auch SD-Leute zugunsten des Bespitzelten gearbeitet haben, in Anwandlungen von Anständigkeit oder weil sie überhaupt gezwungen und nur zum Schein mitmachten. Die damals vielgerühmte Volksgemeinschaft war ein Dschungel, in dem man überall unver32 mutet auf giftiges Gewürm stoßen, in dem aber auch das, was zunächst bedrohlich erschien, sich als harmlos herausstellen konnte. Ein Beispiel dafür aus den Erinnerungen des Altphilologen Karl Reinhardt an das Dritte Reich: Ein neuberufener Professor erschien in seinem Institut in SS-Uniform. Als er die verschlossenen Gesichter seiner Mitarbeiter sah, sagte er, sein Kostüm sei nur eine Verkleifung. Er wurde alsbald denunziert.
Man wird sagen können, daß sich trotz der eben geschilderten Zustände das Klima in den Universitäten schon in den letzen Jahren vor dem Krieg zu bessern begann. Unter den Studenten wuchs die Kritik. Sie wurden mehr und mehr der nationalsozialistischen Phrasen müde und empfänglich für nüchterne Sachlichkeit. Ich erinnere mich eines Rechtsreferendars und Assistenten — er war Parteigenosse —, der zu seinem Professor sagte: Herr Professor, Sie müssen uns im Seminar etwas anderes bieten; was Sie bisher gebracht haben, kennen wir alles schon aus den Schulungskursen der SA — eine vernichtende Kritik. Der, den sie traf, ist übrigens'nach 1945 nicht wieder in sein Amt zurückgekehrt. Was irgendwie als Kritik am Regime aufgefaßt werden konnte, erregte bei den Stundenten lebhaftes Interesse. Idi erinnere midi, daß die Darstellung der Entwicklung des römischen Senats in der Kaiserzeit, die Beschreibung der Akklamationen, die schließlich an die Stelle der echten Senats-debatten und -beschlüsse traten, mit stürmischer Heiterkeit und demonstrativem Beifall ausgenommen wurde.
Nüchterne und sachliche Wissenschaft—wenn auch ohne offene Polemik gegen die nationalsozialistische Ideologie und Praxis —-war in der Hauptsache das, was an der Universität gelehrt wurde, auch von der großen Mehrzahl derer, die sich 1933 dem Nationalsozialismus angeschlossen und in der Folgezeit literarisch exponiert hatten. Die unentwegten und fanatischen Nationalsozialisten und diejenigen, deren Charakter umstritten war, kannte man; man suchte sie bei Berufungen — meist mit Erfolg — zu umgehen. Ihre Zahl war, meinen Eindrücken nach, nicht sehr groß. Im ganzen dürfte das Urteil der Parteistellen, daß die Universitäten (im Sinn des Nationalsozialismus)
„reaktionär" seien, zum mindesten für die Zeit von 1936 oder 1937 an zutreffen.
Konzessionen
Was ich auf Grund eigenen Erlebens nach bestem Vermögen darzustellen versuchte, ist gewiß kein besonders rühmliches Kapitel in der Geschichte des deutschen Geistes. Die deutsche Universität war braun — so braun wie alle Institutionen des öffentlichen Lebens, wie die Presse, die Schule, die Verwaltung, die Justiz. Aber hier wie dort wirkten viele, die den Nationalsozialismus mehr oder weniger entschieden ablehnten. In diese Gruppe gehörte in der Universität die Mehrzahl vor allem der älteren Professoren. Sie waren in einem Staat, in dem es kein Recht zur freien Meinungsäußerung und überhaupt keine Grundrechte gab, gezwungen, ihre Überzeugung in der Öffentlichkeit zu verschweigen und manches mitzumachen, was dieser Über-zeugung widersprach. Wir alle, die wir damals an deutschen Hochschulen lehrten, haben den Eid auf Hitler abgelegt; wir alle haben den offiziell eingeführten „deutschen Gruß“ erwiesen. Es war in den meisten, aber keineswegs in allen Fachbereichen möglich, Lehre und Forschung ohne Konzessionen an nationalsozialistische Dogmen weiterzuführen. Manche hielten allerdings auch hierbei eine Tarnung für notwendig und meinten, zum Beispiel wenigstens in dem Vorwort eines sonst durchaus sachlichen und soliden Buches ein paar nationalsozialistische Phrasen anbringen zu müssen. Manche gingen noch weiter. An Opportunisten hat es nicht gefehlt. Die meisten aber unter denen, die sich 1933 mehr oder weniger entschieden auf die nationalsozialistische Ideologie einließen, handelten aus einem idealistischen Impuls heraus. Hierzu zwei Sätze aus einer Äußerung des Germanisten Gerhard Fricke, die im 3. Heft der Publikation Braune Universität wiedergegeben ist: „Nachdem ich das Ende der 20er und den Anfang der 30er Jahre sehr intensiv durchlebt hatte: den Zerfall der Weimarer Demokratie, den Haß der Parteien, die Verschärfung der Klassengegensätze, das Erliegen der Wirtschaft, die 6 Millionen Arbeitslosen, die Lähmung jeder Zukunftshoffnung; nachdem ich dann, am Beginn meines Wirkens stehend, erlebte, wie in der studentischen Jugend ebenso wie in breiten Schichten des Volkes keineswegs nur brutaler Macht-und Unterdrük-B kungsinstinkt, sondern auch ein späterhin furchtbar betrogener und manchmal sich betrügender Glaube an einen möglichen Neubeginn, eine Zukunft, an Gemeinsamkeit und Dienst am Ganzen erstarkte, handelte es sich für mich nicht einfach um eine Frage opportunistischen Mitlaufens, sondern darum, ob die abschreckenden Momente zur sich ausschließenden Resistenz oder die positiven Impulse zum tätigen Mitwirken aufforderten. Herkunft und Erziehung — ich entstamme dem östlichen Grenzland und war in der selbstverständlichen Bejahung dessen ausgewachsen, was man vor dem ersten Weltkrieg . nationale Gesinnung'nannte — führten den Entschluß herbei, teilzunehmen."
Maßstäbe für die Beurteilung
Was Fricke mit diesen Worten sagt, gilt für die meisten unter den jungen Dozenten, die sidr damals dem Nationalsozialismus zuwandten. Viele von ihnen waren hochbegabt; ihre späteren Werke haben dies bestätigt. Was sie damals schrieben, um den Nationalsozialismus wissenschaftlich zu unterbauen, auch wohl, um ihn zu zähmen, läßt sich ebensowenig verteidigen wie vieles andere, was damals gesagt, geschrieben und getan wurde. Es mag als warnendes Beispiel dafür dienen, was geschieht, wenn der Geist, und sei es selbst in guter Absicht, mit dem Ungeist paktiert. Es mag uns Späteren zeigen, in welchem Maße politischer Überschwang und zumal nationalistische Emotion die Kritik und die Selbskritik eines Gelehrten trüben kann. Zwei Umstände aber müssen immerhin bei der Beurteilung solcher Publikationen berücksichtigt werden: Was einmal veröffentlicht war, ließ sich während des Dritten Reichs ohne schwere Gefährdung des Autors weder widerrufen noch — etwa gelegentlich einer Neuauflage — wieder aus dem Verkehr ziehen. Dies ist das eine. Das andere ist folgendes: Wer gegen nationalsozialistische Ideologien und Praktiken polemisieren wollte, konnte dies nur mehr oder weniger versteckt tun und indem er sich selbst als Nationalsozialisten, ja als den besseren Nationalsozialisten präsentierte. Ein offener Angriff hätte, von allen anderen Folgen abgesehen, die Öffentlichkeit nicht erreicht: er wäre gar nicht gedruckt worden. Für den heutigen Leser ist die versteckte polemische Tendenz mancher dieser Publikationen nicht oder nur schwer zu erkennen.
Aktiver Widerstand im Sinne revolutionärer Betätigung ist auch von Professoren geleistet worden. Ich habe als Beispiel den Nationalökonomen Jens Jessen genannt. Auf Kurt Huber, das geistige Haupt der Weißen Rose, brauche ich nicht erst hinzuweisen. Auch andere Lehrer an deutschen Universitäten haben Widerstandskreisen angehört. Zu ihnen zählte zum Beispiel der Freiburger Nationalökonom Constantin v. Dietze, den nur ein gütiges Geschick vor der Rache des Regimes bewahrt hat. Freilich waren es nicht eben viele, die in dieser Weise ihr Leben einsetzten. Man mag dies daraus erklären (nicht entschuldigen), daß Gelehrte im allgemeinen keine Männer der Tat und insbesondere keine Revolutionäre sind. Um so mehr verdienen aber die wenigen, die sich dennoch zum Handeln entschlossen und ihr Leben wagten, unsere Bewunderung und unsere Dankbarkeit.