Unzulässige Begriffsübertragungen
Kein Mensch wundert sich heutzutage, wenn Journalisten und Politiker ebenso wie Staatsrechtler und Soziologen politische Begriffe, die bei uns in Europa entstanden sind und unsere europäischen Verhältnisse widerspiegeln, ohne kritische Scheu auf die Verhältnisse der Dritten Welt anwenden. Wir sprechen z, B. vom ghanaischen Volk oder vom ceylonesischen Volk — und tun so, als ob es sich dabei um ein Sozialgebilde gleicher Art wie das italienische oder ungarische Volk handelte. Man stellt den afrikanischen oder arabischen „Nationalismus" als legitimen Erben des europäischen Nationalismus des vergangenen Jahrhunderts dar
Diese Begriffsübertragung ist durchaus unzulässig; denn wir versuchen auf diese Weise, die fremde Wirklichkeit mit ungeprüften und, wie ich glaube, untauglichen Begriffsinstrumenten einzufangen. Seit den Tagen von Vasco da Gama haben die Forschungsreisenden auf die sich aus solchem Mißbrauch ergebenden Sichtverschiebungen hingewiesen. Sie haben an ernsten und heiteren Beispielen illustriert, daß Staat nicht gleich Staat, König nicht gleich König, Moral nicht gleich Moral ist, weil sich unsere staatsrechtlichen und moralischen Vorstellungen, Begriffe und Imperative von den in fremden Gesellschaften gebräuchlichen oft grundlegend unterscheiden. Wir entrüsten uns etwa über Polygamie, aber diese Institution bedeutet unter fremden gesellschaftlichen Verhältnissen etwas ganz anderes als bei uns. Wir tadeln Grausamkeiten, aber es handelt sich dabei um religiöse Praktiken, die den Betroffenen gar nicht als grausam erscheinen. Die Ethnologen haben das Problem kritisch-vergleichend studiert, die Geschichtsphilosophen ihre relativistischen Folgerungen daraus gezogen, die Romanciers darüber amüsierte Betrachtungen angestellt. Die unkritische Begriffsübernahme aber ist weiterhin an der Tagesordnung.
Betrachten wir nach dieser allgemeinen Vorbemerkung genauer den Begriff Nationalis-mus, der bei den jungen Völkern Asiens und Afrikas, wenn meine Beobachtungen und Deutungen zutreffen, anderen Wesens und anderer Art ist als in Europa; denn er entspringt Kräften und Vorstellungen, die in Europa zu keiner Zeit Geltung besessen haben.
Der europäische Nationalismus läßt sich — trotz der Unterschiede etwa in West-und Osteuropa — auf drei Komponenten zurückfüh-ren, die, wenn auch von Fall zu Fall verschieden stark akzentuiert, doch überall auftreten: nämlich die territorialstaatlich-dynastische, die sprachlich-volkstumsmäßige und die liberal-demokratische Komponente. Wir wollen die drei sich daraus ergebenden Aspekte kurz analysieren, zuerst also die Komponente Staat—Souveränität.
Elemente des europäischen Nationalismus
Fast alle europäischen Nationen haben sich um eine Dynastie herum kristallisiert. Der Herrscher — in jenen Zeiten, dem 16. und 18. Jahrhundert, der Fürst geheißen — hat den Staat aufgebaut: seine Souveränität definiert, sein Territorium abgegrenzt, seine Bewohner unter ein einheitliches Gesetz gezwungen. Er entmachtete die lokalen Potentaten, mediatisierte ihre Hoheitsrechte, faßte die versprenkelten Besitzungen zusammen, die er ererbt hatte, eroberte Enklaven, tauschte Exklaven, erheiratete Nachbarländer, arrondierte die Grenzen zu einem geschlossenen Territorium. Kurz, es vollzog sich im wechselnden Kriegsglück eine Art Flurbereinigung im politischen Größenmaßstab. Die Angehörigen der neuen Staaten, die sich vorher nur den quergeschichteten Ständen und universal organisierten Körperschaften zugehörig fühlten, wurden in das neue, zentralistisch geäderte Kraftfeld ein-gesaugt. Sie lernten erst, sich der Dynastie gegenüber loyal zu verhalten, später den Staat selbst als ihre seelische Heimat zu empfinden.
Die Grenzen, auf die hin sich die neuen Territorialstaaten ausdehnten, waren nicht zufällig, sondern im wesentlichen durch die Sprach-gemeinschaften vorgezeichnet. Natürlich ergaben sich, wenn man so sagen will, mancherlei historische Regiefehler und politische „Irrtümer", Es entstanden mehrsprachige Staaten, wie die Schweiz oder Belgien, deren Angehörige sich als zusammengehörige Nation zu fühlen lernten. In manchen umstrittenen Grenzgebieten siedeln bis auf den heutigen Tag Bevölkerungsgruppen mit einem — sagen wir — schwankenden Nationalgefühl: ihre Solidarität richtet sich jeweils nach dem Ausgang des letzten Krieges. Aber im wesentlichen gliedert sich doch Europa, wie es insbesondere nach 1919 auf die Karte gezeichnet worden ist, nach Sprachgemeinschaften auf.
Diese Entwicklung basiert auf einer bestimmten Philosophie. Sie stellt das zweite Element des europäischen Nationalismus dar.
Jede Sprachgemeinschaft, die im Laufe von Jahrhunderten zusammengewachsen und in ihrer eigentümlichen Weise geprägt worden ist, stellt danach eine historische Individualität irreduzibler Art dar; Ranke nannte sie „unmittelbar zu Gott". Sie ist fortgediehen nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten und dazu bestimmt, im gleichen Sinne weiter zu wachsen. Der historische Auftrag jeder neuen Generation besteht darin, das von den Vätern ererbte Kulturgut, das sich in der Weitsicht und den Künsten, in Recht, Sitte und Lebensform entfaltet, zu bewahren, in der Anpassung an die Gegenwart lebendig zu erhalten und den Kindern und Enkeln unbeschädigt weiter-zureichen. Diese romantische Idee vom Volksgeist, vom „esprit des nations“ hat dem europäischen Nationalismus seine ästhetisch-kulturelle Färbung und seine metaphysischen Obertöne verliehen. Es kommt nun noch ein drittes Element hinzu. Die Angehörigen der in Bildung befindlichen Nationen wollten ihren Staat nicht nur als Verkörperung der Souveränität und als Träger des Kulturerbes erleben, sie wollten sich nicht nur vom Volksgeist innerviert und vom Fürsten repräsentiert wissen, sondern sie strebten danach, sich mit dem Staat selbst zu identifizieren, das heißt, an der Führung der Staatsgeschäfte teilzunehmen. Hier liegt die letzte, die demokratische Wurzel des europäischen Nationalismus.
Die Untertanen wünschten, Bürger zu werden, das heißt ihr Schicksal im Rahmen des Staates und das Schicksal des Staates innerhalb der Staatenwelt mitzugestalten. Die Erkämpfung von Rechten und Freiheiten, die von den Ständen und Bürgern der Krone abgetrotzt werden, füllt die Verfassungsgeschichte der europäischen Staaten. Diese Forderungen zielen, so verschiedenartig sie im einzelnen auch sind, alle auf dasselbe ab: Staat und Volk sollen eins werden. Die Nation soll danach — wie sich Ernest Renan ausdrückt — als ein „Plebiscite de tous les jours", als das tägliche Bekenntnis der Bürger zu dieser Gemeinschaft erscheinen.
Kein historisch gewachsenes Staatsgefühl in der Dritten Welt
Das sind also die drei Komponenten, aus denen der europäische Nationalismus zusammengewachsen ist, denen wir aber nicht in der farbigen Welt begegnen. Wir wollen das im einzelnen darstellen.
Im Gegensatz zu den europäischen sind die neuen Staaten nicht in langsamem und organischem Werden zusammengewachsen — Stück um Stück durch tüchtige, listige oder glückliche Herrscher erobert, erheiratet, erkauft oder ererbt —, sondern durch Machtspruch von außen gegründet worden. Ihre Existenz beginnt mit einem Verwaltungsdekret der Kolonialmacht, die die eroberten oder ihrem Schutz anvertrauten Gebiete von einem Tag zum nächsten als Einheit behandelt. Der Prozeß der Staatswerdung dauerte meist nur wenige Jahrzehnte.
Darum entbehren diese Staatsgebilde der vielfältigen inneren Verstrebungen und Verflechtungen, die den europäischen Staaten ihre Stabilität und historische Stand-und Wetterfestig4 keit verleihen. Die Bewohner konnten in der Kürze der Zeit nicht jenes historische Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit, nicht jenes Staatsgefühl entwickeln, das den europäischen Staaten im Laufe der Jahrhunderte eigen geworden ist.
Natürlich sind die Unterschiede des National-gefühls und des Nationalismus der verschiedenen jungen Völker erheblich. Um einige Beispiele zu nennen: Ägypten ist — obschon jahrhundertelang unter Fremdherrschaft stehend, erst unter arabischer, dann unter türkischer, schließlich unter britischer — ein seit Jahrtausenden in sich gefestigtes, territorial umgrenztes Gebilde mit einer entsprechenden historischen Selbstdeutung. Die meisten Staaten des schwarzen Afrika hingegen sind erst in unserem Jahrhundert von den europäischen Mächten auf die Landkarte gezeichnet worden — übrigens ursprünglich durchaus wider Willen der Kolonisatoren, die nur Verwaltungsgrenzen zu ziehen, keineswegs als künftige Staats-und Nationsgründer sich zu betätigen vorhatten. Der schwarze Nationalismus entbehrt darum aller historischen Wurzeln und ist wesentlich zukunftsgerichtet. Auf dem indischen Subkontinent wiederum herrschten kulturelle und religiöse Zusammengehörigkeiten. Als Nation — oder richtiger: Nationen — lernten sich die Bewohner dieses Riesen-reiches erst in dem Augenblick zu deuten, als sich jüngere Intellektuelle in der Auseinandersetzung mit Europa auf ihr traditionelles Erbe besannen und sich gegen die Fremdherrschaft zur Wehr setzten.
So groß diese Unterschiede untereinander nun auch sind, aus historischer Optik gesehen ist den meisten neuen Nationen die staatliche Einheit von den Fremden vorgegeben, ja gleichsam aufgezwungen werden. Anders als die europäischen Nationen sind sie nicht um eine innere Gemeinsamkeit, also in erster Linie die Sprache, zur Einheit zusammengeschlossen, sondern haben ihre Identität im Kampf gegen die — plötzlich als solche empfundene — Zwingherrschaft der weißen Eindringlinge gefunden und definiert.
Der Faktor Sprache
Welche Bedeutung dieser Besonderheit zukommt, läßt sich mit größter Deutlichkeit an dem Integrationsfaktor Sprache veranschaulichen; Im Unterschied zu den Verhältnissen auf dem europäischen Kontinent sind die Sprachgrenzen in der Dritten Welt keineswegs mit den Nationalgrenzen kongruent. Das lehrt ein kurzer Blick auf die Landkarte. In den arabischen Staaten zwischen Atlantik und Persischem Golf wird überall arabisch gesprochen; Ausnahmen bilden residuale Enklaven (kabylisch) und regionale Einsprengsel (kurdisch, hebräisch). Die arabische Sprache, in der der Koran geschrieben ist, begründet also eine Religions-und Kultureinheit, nicht wie bei uns die staatliche Einheit. Die religiöse Gemeinsamkeit aber bildet für die Araber nur eine verhältnismäßig schwache Klammer, denn der Islam greift Weit über die arabische Welt hinaus. Mehr Nicht-Araber (von Persien und Pakistan bis nach Indonesien) als Araber bekennen sich zur Lehre des Propheten.
Die asiatischen Länder sind umgekehrt sprachlich bunt gegliedert; übergreifende Einheitsfaktoren bilden außer der administrativen die zivilisatorische und religiöse Zusammengehörigkeit. In dem indonesischen Reich der 3000 Inseln werden 17 Sprachgruppen gezählt — mit 25 Hauptsprachen und 250 Dialekten. In Indochina finden neben dem Vietnamesischen zahlreiche Mon-Khmer-Sprachen und außerdem viele indonesische Dialekte Verwendung. Burma hat mit der Landessprache Burmesisch eine Hauptsprache, die von der größten Zahl der Einwohner gesprochen wird, daneben werden aber von kleineren Gruppen (zwischen 1 000 000 und 1000 Menschen) andere asiatische Sprachen benutzt; Thailand hat eine Einheitssprache mit Minoritätseinsprengseln. In dem riesigen Indien werden etwa 200 (davon zwölf größere) Volkssprachen mit 800 Dialekten gezählt.
Am buntesten ist die afrikanische Sprachlandschaft. Selbst in den kleinsten Territorien werden Dutzende von Stammesidiomen verwendet, und umgekehrt durchschneiden die Territorialgrenzen zusammengehörende Sprach-und Volkstumsgruppen. Insgesamt werden im schwarzen Afrika 500, anderen Forschungen zufolge 700 verschiedene Sprachen gesprochen, die Mundarten nicht mitgerechnet.
Versuche zur Überwindung des Sprachenwirrwarrs
Auf diese „Herausforderung" des Sprachen-wirrwarrs reagierten die einzelnen Staaten auf verschiedene Weise. Indonesien führte — gleichsam durch Verwaltungsdekret — eine aus dem Malaiischen fortgebildete Kunstsprache ein, die als neutrale Amts-und Verkehrssprache dienen und schließlich den Kristallisationspunkt der werdenden Nation abgeben soll. In gewisser Hinsicht ähnelt dieser Vorgang der Einführung des Iwrit (des modernen Hebräischen) als Amts-, Volks-und Umgangssprache des neugegründeten Staates Israel. Doch ist Israel ein Einwanderungsstaat, in dem „die Eltern von ihren Kindern deren Muttersprache erlernen" müssen. In Indonesien müssen genauso wie in Israel große Teile der Bevölkerung auf ihre angestammte Sprache verzichten, um nun allerdings nicht die traditionelle, im Religiösen verwurzelte, sondern eine artifizielle Sprache zu übernehmen.
Die Inder haben sich für eine autochthone Nationalsprache entschieden, nämlich Hindi, das etwa 100 von den 450 Millionen Indern sprechen, das allerdings eine Sprache mit relativ armem, den Erfordernissen der modernen Wissenschaft und Technik nicht entsprechendem Wortbestand ist. Jedoch ist der entsprechende Artikel der Verfassung wegen der anhaltenden schweren Sprachenkonflikte bisher noch nicht in Kraft gesetzt worden, und es sieht auch nicht so aus, als ob das in absehbarer Zeit geschehen könnte. Die Regionali-sten bekämpfen im Namen der einheimischen Sprachen die Einführung des Hindi und empfehlen die Beibehaltung des Englischen als auxiliärer Amts-und Verkehrssprache. Die Pro-Hindi-Fraktion hingegen bekämpft die fremde Sprache. „Englisch ist ein Symbol der Sklaverei", rief kürzlich ein Politiker im Parlament aus, „Indien kann nicht als frei bezeichnet werden, solange die gegenwärtigen Sprach-verhältnisse nicht geändert werden."
Die Regierung versucht Zeit zu gewinnen und erklärt, es sei weder ihre Aufgabe noch ihr Wunsch, einheimische Dialekte? durch die englische Sprache zu verdrängen. Die Sprach-Situation bleibt also verworren und fließend. Macaulays Entscheidung von 1835, die Bemühungen der Ostindischen Kompanie? mit Sanskrit und Arabisch aufzugeben und statt dessen Englisch als Sprache der gebildeten Inder einzuführen, ist noch für die Gegenwart maßgebend.
Die neuen afrikanischen Länder schließlich haben auf die Verwendung der vorhandenen Verkehrssprachen (Haussa, Kisuaheli etc.), die von Millionen Afrikanern als Muttersprache und als zweite Sprache benutzt werden, verzichtet und sich ausnahmslos für die von den Kolonialherren importierten europäischen Sprachen entschieden. Nach dem Willen der neuen Eliten sollen sie den Staaten als Integrationsfaktoren und zugleich als Vehikel der Kulturvermittlung dienen. In dem höher ausgebildeten Medium des Englischen oder Französischen sollen die Afrikaner lernen, sich in die moderne Weltzivilisation einzutügen und den Kulturstandard der entwickelten Völker zu erreichen. Gleichzeitig sollen sie sich um die Sprache national zusammenschließen, was gleichbedeutend mit der Überwindung der Stammespartikularismen ist. Ibos und Jorubas werden sich, so hofft man, im Englischen als Nigerianer fühlen lernen, Ashantiund Fantistämme als Ghanaer. Es entstehen also Nationen ohne Sprache, Dutzende von Nationen, die sich in einer fremden, übernommenen Sprache verwirklichen — ein Kuriosum ohnegleichen.
Welch schier unüberwindliche Integrationsschwierigkeiten sich ergeben, zeigen gegenwärtig die Verhältnisse in Nigeria. Das labile Gleichgewicht, das bei der Gründung des Staates zwischen den zahlenmäßig überlegenen Haussa-Stämmen im Norden und den entwickelteren Bewohnern der südlichen Landesteile mit ihren verschieden geprägten Verhaltens-, Glaubens-und Lebensformen errichtet wurde, ist in einer Serie von stammesmäßig inspirierten Aufständen und Militärputschen so gründlich erschüttert worden, daß die Einheit des Bundesstaates selbst gefährdet erscheint. Der von den Engländern geschaffene politische und gesellschaftliche Rahmen, innerhalb dessen die englisch gebildete und englischsprachige Oberschicht die Stämme einigen sollte, ist der äußersten Belastungsprobe ausgesetzt.
Im ganzen gesehen befestigen jedoch die afrikanischen Staatsmänner mit ihrer Sprachenpolitik die bestehende Ordnung. Die importierten Landessprachen überformen die Sprachenvielfalt der Stämme, zersetzen damit gleichzeitig die alte Stammesgliederung und konsolidieren die neuen Staaten. Insoweit entspricht diese Politik den historischen Erfordernissen der Stunde. Gleichzeitig aber ist sie durchaus paradox. Denn gegen nichts protestieren die Nationalisten Afrikas und ebenso des Mittleren Ostens und Südostasiens erbitterter als gegen die Entwicklung, die sie selbst als Balkanisierung bezeichnen. Sie klagen die Imperialisten und Neoimperalisten der Divide-et-impera-Politik an: sie hätten die einheimischen Bevölkerungen in Besatzungszonen eingesperrt, um sie gegeneinander auszuspielen — ein Stück vom kolonialen Kuchen gegen das andere. Sie hätten die Dritte Welt zu einem buntscheckigen Durcheinander kleiner, eifersüchtig einander bekämpfender und daher leicht zu beherr-sehender Zwergstaaten gemacht. Die neuen Völker aber bildeten größere Einheiten und strebten nach einem panarabischen, panafrikanischen usw. Zusammenschluß. Gerade diese Zusammenschlüsse aber behindern die Sprachenpolitik, die die jungen Nationen selbst befolgen.
Das Sprachendilemma tritt gewiß nirgendwo in so radikaler Form auf wie in dem stammesmäßig zerklüfteten Afrika; doch befinden sich auch die meisten und die größten asiatischen Nationen (Pakistan, Indien, Indonesien) in vergleichbarer Lage.
Gefahr der geistigen Heimatlosigkeit
Wenn man darüber nachdenkt, welche Formen sich aus der zwiespältigen Sprachsituation ergeben werden, so kann man sich nur schwer mancher Befürchtungen erwehren. Man ist dabei nicht auf Spekulationen angewiesen, sondern kann sich vielmehr auf historische Erfahrungen stützen. Wir brauchen dazu nicht tief in die Vergangenheit zurückzusteigen. Die Herausbildung der europäischen National-sprachen aus den Stammesidiomen und dem Lateinischen mag Parallelen zur heutigen Situation aufweisen; ein Vergleich läßt sich doch angesichts der ungleichartigen Entstehungsbedingungen schwerlich mit Nutzen ziehen. Hingegen ist es möglich, auf die Entwicklung in Staaten wie Liberia oder Haiti hinzuweisen. Diese beiden Länder haben ihre Unabhängigkeit bereits vor anderthalb Jahrhunderten errungen und ihre Nationalität im Englischen bzw. Französischen zu verwirklichen gesucht — wie es heute die jungen Staaten tun. Der Erfolg dieser Unternehmungen war nicht ermutigend, denn noch heute, nach mehreren Generationen, werden die fremden Sprachen nur von einer Minderheit als Muttersprache empfunden, die Massen sprechen ihre Stammesidiome. (In Haiti: Creolisch, eine wenig entwickelte Mischsprache aus einem im 17. Jahrhundert gesprochenen nordfranzösischen Dialekt, Spanisch, afrikanischen Stammessprachen und indianischen Worten.) Die Sprache begründet also weniger die nationale Integration, als sie die Nation in zwei deutlich voneinander geschiedene Klassen aufspaltet. In Haiti beanspruchen Mischlinge mit hellerer Hautfarbe traditionellerweise eine hervorragende Stellung in der Gesellschaft und das Monopol der Regierungsposten; in Liberia bil-den die sogenannten Americo-Liberianer, die Nachkommen der aus den USA ein-bzw. rückgewanderten Neger, eine Elite, die über die rückständigen Stämme im Hinterland die selbstverständliche Oberherrschaft ausüben. Erst unter Duvalier bzw. Tubman werden neue Wege in Richtung auf die Integration der Nation eingeschlagen.
Diese Entwicklung darf freilich nicht ohne weiteres auf andere Länder übertragen werden; denn es ist bekannt, daß die politischen und sozialen Verhältnisse sowohl in Liberia wie in Haiti während der zurückliegenden Periode alles andere als erfreulich oder fortschrittlich waren (beide Länder halten den Rekord an Analphabetentum im karibischen bzw. westafrikanischen Raum). Immerhin werfen diese Entwicklungen ein Licht auf die Gefahren, die den Nationen ohne Sprache drohen. Wir wollen in diesem Zusammenhang nur auf zweierlei hinweisen. Erstens klagen viele Angehörige dieser Nationen heute (ohne einen Wandel für die nächste Zukunft vorauszusehen) über die geistige Heimatlosigkeit, der sie sich ausgesetzt wissen. Wenn sich ein Nigerianer auf Englisch äußern muß, wird er dann nicht zum Gefangenen der englischen Sprache? Wird das ihm aufgezwungene Ausdruckskorsett nicht seine Aussage vergewaltigen? Sprache ist ein geprägtes Ganzes und existiert vor den einzelnen Menschen, die sie benutzen. In dem System von Worten, Begriffen, Redewendungen, grammatischen und syntaktischen Regeln speichern sich Wissen und Weisheit, Träume und Erlebnisse einer Jahrhunderte überspannenden Menschengemeinschaft auf. Der einzelne, der in die Sprache hineinwächst, wird durch sie geprägt. Er kann nur den in der Sprache vorgebahnten Denkwegen folgen. Er kann sich nur mit den in ihr vorgebildeten Begriffen der Welt bemächtigen und im Leben zurechtfinden. Er kann sich nur die von ihr erschlossenen Gefühls-und Wertwelten aneignen. Es ist, wie Stefan George einmal über den Wanderer in fremde Sprachlande gedichtet hat, der sich vergeblich bemüht, in der Heimat von den Wundern der Ferne zu künden: „So lernt er traurig den Verzicht, Kein Ding ist, wo das Wort gebricht.“
Für den Afrikaner oder Inder, der sich der europäischen lingua franca bedient, gebricht es an dem eigenen Wort, das seine Dinge — Erfahrungen und Widerfahrnisse der Menschengemeinschaft, der er angehört — ausdrückt. Er übernimmt eine fremde Sprache, mit der fremden Sprache zugleich aber eine fremde Seele, einen fremden Geist, eine fremde Art. Er wird gleichsam gezwungen, in eine fremde Haut zu kriechen. Zwischen seinem Inneren und seinem Ausdruck steht immer das fremde Sprachmittel, oder, wie es Sartre einmal formuliert hat: bis in die geheimsten Zusammen-künfte drängt sich, selbst wenn er abwesend ist, der Weiße als ewiger Mittler. Der Neger, der seine Polemik gegen die französische Überfremdung seiner Kultur auf französisch zum Ausdruck bringt, nimmt das, was er mit der einen Hand zurückweist, mit der anderen wieder an; er nimmt den Denkapparat des Feindes in sich auf. . , .
Die Afrikaner klagen heute darüber, daß ihre Theaterstücke nicht in Ibadan öder Accra, sondern in London und Manchester aufgeführt, daß ihre Romane nicht in Brazzaville oder Abidjan, sondern in Paris veröffentlicht werden müssen, um zur Geltung und Wirkung zu kommen. Das ist gewiß ein wichtiger Gesichtspunkt; wichtiger aber ist, daß das, was sie schreiben, seinem Wesen nach englisch oder französisch inspiriert ist. Die europäischen Weltvölker haben viel an Glanz und Farbe, an Gefühl und Phantasie gewonnen dadurch, daß Angehörige fremder Zivilisation ihre Fühl-, Denk-und Wertungsweisen in ihre Sprachen haben einströmen lassen. Die Fremden aber sind ihrer Heimat dadurch entfremdet worden, daß sie in das fremde Sprachmilieu assimiliert worden sind.
Bastardisierung der angenommenen Sprache
Was nun die Völker angeht, die sich in der fremden Gemeinsprache ausdrücken lernen müssen, so ergibt sich für sie eine zweite, wohl noch größere Gefahr. Sie besteht darin, daß eine auf diese unorganische, fast gewaltsame Weise eingeführte Sprache stets nur unvollkommen und beiläufig erlernt und dadurch verhunzt und bastardisiert wird — wie es bei dem sogenannten Pidgin-Englisch und dem francais petit negre schon geschehen ist. Man kann sich mit Hilfe solcher Sprachbrocken wohl im Alltag verständigen, ebenso wie man mit Esperanto jeden Geschäftsverkehr ermöglichen kann; aber man kann darin weder höhere geistige Zusammenhänge und Abstraktionen noch subtilere Gefühle und Vorstellungen zum Ausdruck bringen. Uber den Niveauverfall des Englischen in Indien in den anderthalb Jahrzehnten seit dem Rückzug der Briten werden schon heute die bittersten Klagen geführt. Sprachforscher und Politiker gehen soweit, daß sie einen Zerfall des Englischen in mehrere Sondersprachen (Oxford-Englisch, Amerikanisch, Australisch, Indo-Englisch usw.) befürchten; doch könnte sich diese Lösung für die neu entstehenden Nationen als die auf die Dauer einzig glückliche erweisen.
Solange aber nicht neue, bestimmten Nationen zugeordnete Sprachen entstehen, werden sich Menschen und Völker eines verstümmelten Ausdrucksmittels nicht ohne Rückwirkung auf sich selbst bedienen können. Mit der Sprache werden sie selbst bastardisiert. Sie werden das Vermögen verlieren, ihrem eigenen Wesen angemessenen Ausdruck zu geben und dadurch günstigenfalls zu Kulturanhängseln fremder Völker herabsinken, ungünstigenfalls ihre kulturelle Individualität einbüßen. Aus einer weiteren historischen Perspektive betrachtet erscheint diese Gefahr, die Bastardisierung, für die betroffenen Völker als zumindest ebenso bedrohlich, wenn nicht bedrohlicher als die Balkanisierung.
Die Intellektuellen der Dritten Welt, die sich mit diesen Fragen intensiv und voller Beteiligung auseinandersetzen, verweisen dazu gern auf Amerika. Diese große Nation sei auch ohne eigene Sprache in einer geliehenen, von außen importierten entstanden, gleichsam als Ableger. Das ist freilich richtig, doch hat in Amerika die Spracheinheit von vornherein bestanden. Die englischen Kolonisten haben immer den Ton angegeben, und noch heute rechnet man, daß die Bevölkerung der USA zu 55 bis 60 Prozent aus Nachkommen englischsprachiger Einwanderer besteht. Die fremdsprachigen Zuwanderer wurden in das englische Sprachmilieu individuell eingeschmolzen. Das Kind hörte auf der Straße, von den Nachbarn, in der Kirche die neue Sprache und wuchs mit ihr auf — was gleichzeitig eine Entfremdung von der elterlichen Sprache und von den Eltern selbst bedeutete. Der Sohn des Italieners wurde Amerikaner.
Nichts Vergleichbares kann in der farbigen Welt geschehen, denn in den Staaten ohne eigene Sprache gibt es keine vorgegebene Spracheinheit, in die die neue Generation hereinwachsen könnte. Um aber aus der fremden Landessprache eine Muttersprache zu machen, müßte man beim utopischen Nullpunkt anfangen, auf einer linguistischen tabula rasa gleichsam, man müßte eine ganze Generation von ihren Eltern wegreißen und von Fremden erziehen lassen. Aber das ist natürlich unmög-lieh. Mit einem Wort: die übernommenen Landessprachen mögen dienlich sein, die staats-liehe Einheit der neuen Länder zu konsolidieren, ihrer nationalen Einheit sind sie vorderhand nicht förderlich.
Die innere Ordnung der neuen Nationen
Das ist der zweite Unterschied zum europäischen Nationalismus. Kommen wir nun zum dritten Merkmal, zur demokratischen Legitimation der Nation. Die Nationalisten der Dritten Welt kämpften wohl um die Freiheit; aber darunter verstehen sie nicht Mitwirkung an der Staatsführung. Vielmehr kämpfen sie — jedenfalls bisher — einzig und allein um staatliche Unabhängigkeit. Die innere Staatsorganisation steht heute nicht zur Debatte. Ihr Ziel war nicht ein demokratisches Regime, sondern die Verjagung der Fremden. Die Parole lautete nicht „Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit", sondern Dekolonisation. Sie kämpften nicht gegen den Absolutismus und die Willkürherrschaft der Obrigkeit, sondern gegen die Fremdherrschaft der Imperialisten.
Der farbige Nationalismus entspringt also anderen Wurzeln als der europäische, er zielt auf ein anderes Ziel und besteht aus anderen Elementen. Die beiden Bewegungen dürfen darum nicht als Phasen des gleichen Prozesses angesehen, zumindest ihre Unterschiede nicht übersehen werden. So sehr diese Unterschiede zum europäischen Nationalismus einerseits zu betonen sind (angesichts der unkritischen Begriffsübertragung, von der wir anfangs sprachen), so sehr muß andererseits auf den Einfluß hingewiesen werden, den die europäische Präsenz auf den in der Bildung begriffenen Nationalismus der jungen Völker ausgeübt hat.
Im wesentlichen lassen sich drei Struktur-Elemente aufzeigen, die die weißen Kolonisatoren den abhängigen Völkern hinterlassen haben, als sie sich aus den Kolonien zurückzogen, drei soziale Form-und Aufbauelemente, mit denen sich die neuen Völker auseinander-setzten, die sie rezipieren, integrieren oder abstoßen mußten, nämlich erstens das Territorialprinzip, zweitens die Bürokratie und drittens die Demokratie. Betrachten wir diese drei Faktoren.
Importiertes Territorialprinzip
Als die europäischen Kolonisatoren — von der sacra auri fames, von romantischem Abenteuersinn und wissenschaftlicher Neugier getrieben und zugleich beseelt von grenzenlosem imperialistischen Machtstreben und der idealistischen Vorstellung einer zivilisatorischen Mission — sich an den Küsten der Weltmeere niederließen und die Kontinente unter sich aufteilten, fanden sie eine Welt vor, deren Ordnung von der ihrigen so grundlegend verschieden war, daß sie sie insgesamt als ein der politischen Ordnung entbehrendes, darum rechtsfreies Gebiet ansahen. Seine Inbesitznahme stand nach der traditionellen europäischen Völkerrechtslehre (der übrigens auch die islamischen Staaten gefolgt waren) jedem Staat frei, der darauf seine Ordnung auszudehnen gewillt war.
Als das entscheidende, wenn auch negative Merkmal der politischen Szenerie in den meisten Ländern von Übersee erschien den Kolonisatoren die Abwesenheit des Territorial-prinzips. Es gab freilich Herrschaftsbereiche: Häuptlinge, Sultane, Stammeskönige übten die Gewalt über ihnen unterstellte Bevölkerungsgruppen aus und fanden bei ihnen willigen Gehorsam. Sie sprachen Recht, leiteten Zeremonien und zelebrierten die kultischen Handlungen der Gemeinschaft, die zogen Steuern ein, führten Kriege und schlossen Frieden.
Ihre Herrschaftsbereiche waren jedoch nicht gebiets-, sondern stammesmäßig begrenzt, überschnitten sich also räumlich. Gelegentlich überschichteten sie sich zu lehnsrechtlich gegliederten Ordnungen — mit Oberhoheiten, tribut-und leistungspflichtigen, aber sonst selbständigen Vasallen usw. Die Landkarte war infolgedessen, falls man sie damals hätte zeichnen können, bunt gesprenkelt, ein Durcheinander von kleinen und größeren Besitztümern, Ex-und Enklaven, wechselseitigen Abhängigkeiten.
Die Europäer haben anfangs nicht daran gedacht, die Welt, in die sie eindrangen, umzugestalten. Sie fühlten sich dazu viel zu erhaben. Weder waren sie bestrebt, ihre Besitzungen zu innerlich kohärenten Einheiten zu machen, noch wollten sie die bestehenden Sozialbeziehungen zerstören oder durch europäische ersetzen. Die Kolonien wurden vielmehr als Reichsteile und demzufolge nur in ihrer funktionalen Abhängigkeit vom Mutterland als Rohstoff-und Absatzmärkte, Kompensationsgebiete, Stützpunkte usw. betrachtet.
Die Verhältnisse erlaubten den Kolonisatoren aber nicht, in dieser hoheitsvollen Distanz lange zu verharren. Wohl oder übel importierten sie vom ersten Augenblick an ein Strukturelement, das die neue Ordnung gleichsam automatisch aus sich hervortrieb: das Territorialprinzip und die dazugehörige Idee der Souveränität. Die in Besitz genommenen Gebiete wurden vermessen, ordnungsgemäß begrenzt und unter eine oberste Autorität gestellt, womit ein die ganze Welt umgreifender Prozeß zu Ende geführt wurde: die Aufteilung der bewohnten und unbewohnten Erde unter souveräne Herrschaftsgewalten. Die riesigen weißen Flecken verschwanden von der Landkarte. In den Schulatlanten war Ende des 19. Jahrhunderts fast der ganze Globus, wie es sich gehörte, in bunte Flächen aufgeteilt.
Bürokratischer Apparat gegen Stammesordnung
Aus der Souveränitätsidee leitete sich das zweite Element ab, das nach Übersee transportiert wurde — der rationale, auf Hierarchie und Aktenverkehr basierende Verwaltungsapparat. Je mehr Europäer sich in den Kolonien ansiedelten, je größere Bedürfnisse sie entwikkelten und je intensiver die Gebiete wirtschaftlich erschlossen wurden, um so dringender wurde eine funktionsfähige Bürokratie benötigt, um so weiter mußten ihre Befugnisse ausgedehnt werden. Man baute also Verkehrs-und Nachrichtenwesen aus, richtete eine sich auf kodifizierte Regeln stützende, nach rationalen Kriterien urteilende Justiz ein, deren Entscheidungen voraussehbar und kalkulierbar waren, und etablierte schließlich, fast ohne dessen gewahr zu werden, alle Zweige einer modernen Verwaltung, von der Finanz über die Polizei bis zur Schule.
Auf welche Weise das aber auch geschah (ad-ministration directe oder indirecte) — der bürokratische Apparat erwuchs stets oberhalb der bestehenden Stammesordnung und ohne Verbindung zu ihr. Es ergaben sich zwei — anfangs miteinander konkurrierende — Lebens-systeme, von denen sich aber das moderne unaufhaltsam ausbreitete, während die Stammesordnung einem ebenso unaufhaltsamen Verkümmerungsprozeß unterworfen wurde.
Territorialprinzip und Bürokratie assimiliert — Demokratie verworfen
Als drittes Strukturelement versuchten die Kolonialmächte den sich neu bildenden Staaten eine — ihrer eigenen Staatsordnung nach-gezeichnete — demokratische Verfassung zu oktroyieren.
Was ist aus diesen drei aus Europa importierten Strukturelementen geworden? Hinsichtlich des Territorialstaates befanden sich die Führer der neuen Staaten in der paradoxen Lage, ihn zugleich bejahen und verneinen zu müssen. Sie protestierten gegen die künstlichen, oft sinnlos-willkürlichen Grenzen, die ihnen hinterlassen worden waren, identifizierten sich aber mit den dadurch begründeten und defi10 nierten Staatsgebilden, an deren Existenz ihre eigene Karriere hing. Gleichzeitig suchten sie aber über den übernommenen Staat hin-auszugehen: durch Revisionismus und Irredentabewegungen (z. B. Kaschmir), durch projektierte Zusammenschlüsse (Vereinigte Arabische Republik, Maphilindo — aus Malaysia, den Philippinen und Indonesien) oder durch Pan-und Reichsvisionen (Panafrika). Trotz dieser Ausgriffe auf Nachbars Land bleibt das Prinzip der territorialstaatlichen Einheit und Souveränität doch unangetastet.
Betrachten wir nun das zweite importierte Element: die Herausbildung eines bürokratischen Herrschaftsapparates. Die neuen Herren haben innerhalb der Grenzen ihres Landes die von den Kolonialmächten erst umrißweise eingerichtete Verwaltung ausgebaut, haben sie sich mit Geschick dienstbar gemacht und zur Zerschlagung der Kpnkurrenzautoritäten, zur Stabilisierung ihrer eigenen Herrschaft und zur Einbeziehung der gesamten Bevölkerung in den Staat („national unity") benutzt. Die lokalen Stammesgewalten waren schon während der Kolonialzeit in den Windschatten der Geschichte geraten, dadurch aus dem Spannungsfeld der Politik gleichsam herausgefallen und einer allmählichen Degradation unterworfen. Ihre äußere Politik schrumpfte auf den — meist sterilen — Dialog mit den Kolonialamt im Mutterland zusammen. Die künstliche Sicherheit, die ihnen dadurch beschieden war, lähmte ihre Kräfte. Es fehlten ihnen die Aufgaben, an denen sie sich hätten bewähren können. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit machten die neuen Herren dann kurzen Prozeß mit ihnen. Obschon die sogenannte Detribalisation noch keineswegs abgeschlossen ist, haben die Stammesfürsten (sofern sie sich nicht in der neuen Hierarchie einen Posten gesichert haben) alle Macht eingebüßt. Wer sich nicht freiwillig in die neue Staatszucht fügte, wurde dazu gezwungen. Der neue Staat duldet keine anderen Götter neben sich.
Damit ist allerdings nicht gesagt, daß der souveräne Territorialstaat schon fertig aufgebaut und die Nation begründet ist; eher das Gegenteil ist der Fall. Weite Teile der Bevölkerung leben nach wie vor auf sozusagen staatsfreien Räumen. Der Arm der Exekutive reicht bei weitem nicht bis ins letzte Dorf. Doch ist die Herrschaft als solche fest begründet; die Gegner sind ausgeschaltet. Die Herren der ersten Stunde regieren —mit wenigen Ausnahmen — bis zum heutigen Tag; ihre Stellung und ihr Regime haben sich konsolidiert; ihre Souveränität ist fest gegründet. Die Verwaltung funktioniert, wenn nicht immer vorbildhaft, so doch genügend, um den Staat in Betrieb zu halten. Man kann also resümieren: Die zwei genannten europäischen Strukturelemente sind bislang mit beachtlichem Erfolg übernommen und assimiliert worden. Anders steht es um das dritte. Wenige Jahre, ja oft schon Monate nach Erringung der Unabhängigkeit begannen die neuen Herren, die verfassungsmäßig festgelegte Staats-und Regierungsform umzumodellieren und ihren andersartigen Vorstellungen und Bedürfnissen anzupassen. Der Trend der Entwicklung weist dabei auf die autoritäre Führung hin. Fast überall — Indien stellt die einzige wichtige Ausnahme dar — wurde die Zentralgewalt gestärkt. Der Mann an der Spitze erwarb sich eine unanfechtbare, gelegentlich geheiligte Führungsstellung. Die Opposition wurde auf mehr oder weniger legale, mehr oder minder brutale Weise ausgeschaltet. Das demokratische Element hat also in der Dritten Welt keine Karriere gemacht, es ist vielmehr von den meisten jungen Völkern abgestoßen worden, es konnte demgemäß auch nicht zur Begründung der eigenen National-idee benutzt werden.
Der Weg zur Nation
Nachdem wir bisher den Nationalismus der Dritten Welt aus der Gegenüberstellung zu den gleichnamigen Entwicklungen in und den Importen aus Europa zu verstehen und zu definieren versucht haben, müssen wir jetzt jene Kräfte und Erscheinungen analysieren, die diesen Völkern spezifisch sind. Dabei stoßen wir auf folgenden Zusammenhang: Während die Nationen in Europa gleichsam vor dem Nationalismus als Sprach-und Volkstums-gemeinschaften bestanden und nur den Begriff finden mußten, um in die nationale Existenz zu treten, müssen die afroasiatischen Nationen erst vom Nationalismus — also vom Begriff her — geschaffen werden. Die neuen Nationen sind, wie ein amerikanischer Gelehrter einmal in burlesker Übertreibung, aber treffend gesagt hat, von den Kolonialmächten buchstäbB lieh „erfunden" worden. Richtiger ist allerdings zu sagen: sie sind von ihren gegen die Kolonialmächte revoltierenden Eliten erfunden worden. Jedenfalls sind sie erfunden, das heißt künstlich erzeugt worden; sie müssen im Laufe der nächsten Jahrzehnte, oder Jahr-hunderte erst noch zu vollen Nationen integriert werden. So sonderbar es klingt: nach der nationalen, nach der Unabhängigkeitsrevolution beginnt erst der Kampf um die Schaffung von Einheitsstaat und Nation. Charismatische Volksführer oder schlichte Offiziere, Obristen und Generale, die über ein paar gehorsame Regimenter verfügen, übernehmen dieses Werk und spiegeln die Vision Nation als Glücksprophetie an den Horizont der Zukunft.
Hierin liegt nun das Paradoxe, oder sagen wir neutraler: die besondere Eigenart der neuen Nationen. Prophetisch in der Idee, sind sie pädagogisch in der Praxis. Die neuen Herren müssen die auf dem Staatsgebiet wohnende Bevölkerung erst zu einem Staatsvolk machen. Es gilt, die für sich lebenden Menschen in das Netzwerk des Staates einzubeziehen, sie durch Rechte und Pflichten, Leistungen und Forderungen miteinander und mit den Behörden zu verflechten. Die Integration des Volkes ist die wichtigste Aufgabe nach der Staatsgründung.
Die Sozialingenieure, die sich dieser Aufgabe annehmen, beginnen ihr Werk damit, die alten Ordungen zu zerschlagen. Sie wollen die Nation, die ihnen vor Augen steht, nach westlichem Vorbild aus gleichen und freien Individuen aufbauen, nicht aus in sich geformten und gegliederten Gemeinschaften. Also müssen sie die alten Stammesoder lokalen Gemeinschaften aufbrechen, die Bevölkerung atomisieren, um sie erst dann in die neue nationale Ordnung zu integrieren. Das ist eine schwierige und schmerzhafte Operation. Den Menschen muß dabei buchstäblich die Seele im Leibe herumgedreht werden; der Ibo soll sich von einem Tag zum andern als Nigerianer fühlen lernen, der Singhalese soll aufhören, Singhalese zu sein und Ceylonese werden. Die Angehörigen der älteren Generation sind meist außerstande, diese innere Umkehr zu vollziehen.
Bei den letzten Wahlen vor der Gründung von Ghana zum Beispiel trat ein Häuptling Dr.
Nkrumah entgegen. Er wandte sich an die Zuhörer und rief: „Brüder, Männer von Ga — haltet zusammen, schließt die Reihen. Die Stadt Accra ist die eure. Ihr dürft also, ihr werdet es also nicht zulassen, daß ein Fremder sich an eure Spitze drängt, ein Mann wie jener Kwama Nkrumah, der nicht einmal zu eurem Stamm gehört." Der Häuptling konnte sich noch nicht als Glied der ghanaischen Nation fühlen, er war und blieb Angehöriger seines kleineren Stammes von Ga. Er hatte keinen Erfolg mit seinem Appell. Nkrumahs suggestive Parolen waren in jenen Tagen zugkräftiger. Die Idee des Nationalismus hatte die Massen erfaßt. Aber in den meisten farbigen Ländern, auch in Ghana selbst, empfinden noch viele Menschen, vor allem die Alten und die auf dem Land lebenden, in ähnlicher Weise wie der alte Häuptling. Es ergeht ihnen wie den Neapolitanern, die nach der Vereinigung Italiens den von Rom entsandten Beamten klagend entgegenriefen: „Ihr habt uns zu Fremdlingen gemacht in unserem eigenen Land."
Die einfachen Menschen hängen am alten; sie sind träge, treu und lieben die Tradition. Aber ihr Widerstand läßt sich ohne Schwierigkeiten brechen. Zähere Verfechter der alten Ordnung sind die Privilegierten; denn sie verteidigen damit gleichzeitig ihre eigenen Interessen.
Gegen sie — die Häuptlinge, Onis und Obas in Afrika, die Emire, Paschas und Scheichs der arabischen Welt, die Rajas und Maharadschas von Indien — richten darum die Nationalisten ihre wütenden und erbarmungslosen Angriffe, und keiner von ihnen entgeht seinem Schicksal; ihre historische Stunde hat geschlagen. Die Nationalisten bleiben Sieger auf der ganzen Linie. Ihnen fällt dann auch die Beute zu — die führerlos gewordene Bevölkerung, die Menschen, denen, um es zu wiederholen, die Seele im Leibe herumgedreht werden muß. Diese Menschen sind ihren angestammten Herren entfremdet worden, sie haben an der Geltung der alten Werte zu zweifeln begonnen, lösen sich aus den überlieferten Bindungen. Sie lernen nun, sich über ihre Stammeszugehörigkeit erhaben zu dünken und als Vorkämpfer ihrer Nation aufzutreten.
Dieser Prozeß wird nun durch soziale Entwicklungen befördert: durch das Wachstum der Städte und durch den Aufbau von Massen-parteien.
Städte und Massenparteien als Vehikel der Nationsbildung
Die Städte, die — mit wenigen Ausnahmen _ europäische Gründungen sind, üben von Anfang an eine starke Anziehungskraft auf die benachbarten Stämme aus. Vor allem die jungen Menschen strömen herbei — angelockt vom Traum des schnellen Verdienstes und großen Glücks, berauscht von den Wundern der Zivilisation (dem Kino, dem Neonlicht), verführt von der freieren Lebensweise, die die anonyme Umgebung ermöglicht. Diese Menschenanhäufungen werden zu sozialen Mischkesseln., Personen, die einander „fremd", das heißt durch keine Bluts-oder Stammesbindungen verpflichtet sind, lernen miteinander zu reden, zu arbeiten, auszukommen. Bald beginnen sie sich zu vermischen, zu heiraten, Familien zu gründen und verlieren dadurch ihr angestammtes Sozialbewußtsein. Aus Stammesangehörigen werden Stadtbewohner (keine Städter freilich, dazu fehlt ihnen die Verbundenheit mit dem kommunalen Leben), werden Partikel der unter proletaroiden Verhältnissen lebenden Massen.
Unter diesen mobilen Massen finden nun die neuen Herren ihre ersten und leidenschaftlichen Anhänger. Sie rufen sie auf zum Kampf gegen die koloniale Unterdrückung, fixieren ihre freigewordenen, gleichsam auf Objekt-suche befindlichen Anhänglichkeitsund Loyalitätsgefühle und geben ihnen damit einen neuen Halt. Auf diese Weise entstehen eigene — für die Dritte Welt anfangs unbekannte — Gruppierungen: die politischen Parteien. Sie bilden das zweite Instrument zur Zerstörung der alten Ordnung.
Die Massenparteien (die nicht mit den Notabeln-Coterien von einst verwechselt werden dürfen) sind — in Anpassung an den imperialistischen Gegner — auf überregionaler Basis organisiert worden. Ein Netz von Ortsgruppen und Zellen breitet sich über das ganze Territorium aus. Alle Bewohner des Landes sollen aktiviert und zum gemeinsamen Kampf herangezogen werden. Die Führer der Parteien, oft charismatische Persönlichkeiten, versuchen, ihre Anhänger fest an sich zu ketten. Zu diesem Zweck lassen sie sie gern „unbedingten Gehorsam" schwören. Die Parteigenossen werden damit aus dem alten Gesellschaftssystem herausgelöst. Wer sich der Parteidisziplin unterordnet, entzieht sich der Gewalt der Häuptlinge. Wer in die Partei eintritt, entfremdet sich dem Stammesverband.
Nationalgefühl als Ersatzreligion
Eins greift ins andere: die Stammesordnung zerfällt, die Städte wachsen, die Parteien bauen sich im Kampf gegen die Kolonialmacht auf. Alles wirkt zusammen, den neuen Staat zu konsolidieren. An diesem Punkt der Entwicklung schürzt sich aber ein neues Problem. Die aus den alten Ordnungen herausgelösten, heimat-und wurzellosen Massen werden durch die neuen Führer wohl mobilisiert und aktiviert, aber nicht in feste Gemeinschaften eingebunden. Denn Parteien sind Zweckverbände, keine Lebensordnungen; der Staat ist eine abstrakte Institution, eine Verwaltungsmaschine, keine menschliche Gemeinschaft. Partei und Staat können daher wohl die politische Heimat eines Menschen ausmachen, aber sie sind nicht sein Zuhause; der einzelne findet in diesen Sozialgebilden wohl Gesinnungsgenossen, aber nicht „Brüder"; er bekommt von den neuen Führern wohl Richtlinien für sein staatsbürgerliches und politisches Verhalten, aber keine Ratschläge für den Alltag, keine Weisungen, wie er sein Leben einrichten soll. In diesen Leerraum tritt nun die Nation als ein Gebilde, das den Menschen auch emotial zu ergreifen, seine kollektiven Gefühle zu binden, seine Energie auf ein gemeinsames, als wertvoll erkanntes Ziel zu dirigieren vermag. Welche Kräfte damit — zum Positiven oder Negativen — entbunden werden, vermögen wir heute zu Beginn dieses Nationalisierungsprozesses nicht zu sagen. Immerhin können wir einige Faktoren betrachten, die in die Zukunft wirken werden. Wir wollen uns auf zwei — entgegengesetzte — beschränken. Erstens; trotz aller Vehemenz hat der Nationalismus die europäischen Völker niemals in der Ausschließlichkeit beherrscht wie in der Dritten Welt. Die Spanier oder Engländer oder Italiener standen auch in der Hochzeit ihrer nationalen Selbstverwirklichung gleichzeitig in vielen anderen — einander überlagernden und miteinander konkurrierenden — Wert-und Gefühlssystemen. Der Spanier empfand sich niemals nur als Spanier, sondern auch als Katholik, als Angehöriger des Abendlandes, als Diener der monarchischen Idee.
Der farbige Nationalist befindet sich in einer grundsätzlich anderen Lage. Die altüberlieferten Glaubensinhalte bedeuten ihm im allgemeinen nur noch wenig, meist überhaupt nichts mehr. Andere Bindungen hat er nicht. Darum bedeutet ihm das Nationalgefühl ungleich mehr als dem Europäer. Es ist für ihn zu einer Art weltlicher Religion geworden, zu einer Ersatzreligion ähnlichen Typus wie (wenn auch anderen Inhalts als) der Kommunismus. Die Anhänger sind Gläubige, die sich der neuen Lehre ohne Bedingung unterwerfen. Das Glaubensziel des Nationalismus — die Unabhängigkeit — erhält die Weihe eines Heilsgutes und gewinnt einen eschatologi-sehen Charakter. Durch Unabhängigkeit soll das Paradies auf die Erde gezwungen werden — gemäß dem in biblischer Sprache formulierten Satz, den Nkrumah auf den Sockel des ihn selbst darstellenden (mittlerweile gestürzten) Denkmals vor dem Parlament zu Accra zum Nutzen seiner Nachfolger hat einmeißeln lassen: „Seek ye first the political kingdom and all-other things shall be added unto it" (Strebe erst nach der politischen Herrschaft, und alles andere wird sich-dann von selbst ergeben). Alles: das selige Reich, das die Unabhänjig-keit gleichsam automatisch hervorbringt. Der Nationalismus der farbigen Völker ist also durch eine außerordentliche Dynamik inner-viert. Das ist der eine Faktor, auf den wir aufmerksam machen wollten.
Nationalismus in gemäßigter Form
Der andere weist in umgekehrter Richtung. Wenn man bedenkt, welchen tiefen Einbruch die Dekolonisation und Nationalisierung der farbigen Völker bedeutet — die Welt änderte ihr Gesicht! —, so muß es jeden unvoreingenommenen Betrachter wundernehmen, daß dieser Prozeß bisher in vergleichsweise sanften Formen abgelaufen ist. Gewiß wurde Unrecht begangen, gewiß ist Blut geflossen, gewiß haben wir von scheußlichen Terrorakten erfahren, gewiß hat es Krieg und Mord und Metzeleien gegeben — dennoch im ganzen hat der neue Nationalismus nicht die Formen angenommen, die man mit Grund hätte befürchten können. Es haben keine Jagden auf die Weißen stattgefunden. Es sind keine Konzentrationslager errichtet worden (jedenfalls nicht Vernichtungslager des europäischen Typs). Es hat keine summarischen Gerichtsurteile, keine Kollektiverschießungen, keine Massenaustreibungen gegeben, kaum je sinnlose Zerstörungen, Plündereien, Mord und Brandschatzungen, nicht einmal Massenenteignungen. Boden-reformen und Nationalisierungen erfolgten nach Gesetz und Recht und zumeist gegen Entschädigung. Man entgegne nicht: die neuen Staaten seien auf die Zusammenarbeit mit den ehemaligen Mutterländern und deren Unterstützung angewiesen. In Revolutionszeiten gelten solche Vernunftsüberlegungen nichts. Wenn Rausch und Raserei eine Gesellschaft erfassen, dann tanzen die Waschweiber um die „sainte guillotine" die Carmagnole. Ermahnungen und Ratschläge verschlagen da nichts. Solche Leidenschaften sind aber nicht entfesselt worden. Die Folge davon war, daß die viel-geschmähten Imperialisten und Kolonialisten zum größten Teil ungestört auf ihren angestammten Plätzen bleiben konnten. Von denjenigen, die in einer ersten Angstreaktion nach Europa heimgekehrt sind, kehrten viele zurück, viele neue folgten ihnen.
Trotz Ausschließlichkeit ist der Nationalismus der jungen Völker also in vergleichsweise sanften Formen in Gang gekommen. Wir wagen noch nicht zu sagen, ob diese Eigentümlichkeit der Anfangsphase für den Nationalismus der Dritten Welt konstitutiv bleiben wird, zumal in den letzten Jahren sich eine beunruhigende Gärung geltend macht, wir nehmen den bisherigen Verlauf der Entwicklung aber als erfreuliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem ursprünglichen, in Europa entstandenen, aggressiven und intoleranten Nationalismus in unseren Begriff mit auf.