Mit freundlicher Genehmigung des Norddeutschen Rundfunks veröffentlichen wir an dieser Stelle die teilweise geringfügig überarbeiteten Manuskripte einer Sendereihe zum Thema „Nation und Nationalismus". Den Beiträgen von Eugen Lemberg und Walter Laqueur folgen Artikel von Peter Coulmas über den „Nationalismus in der Dritten Welt“ und von Helmut Schoeck über die „Nationale Idee in den USA". Bei einem Thema, das so heftig diskutiert wird wie die Frage „Nation und Nationalismus", versteht es sich, daß die von den Autoren vertretenen Meinungen sich nicht unbedingt mit der Auffassung des Herausgebers decken. Die Nationalismus-Diskussion ist mit diesen Beiträgen auch keineswegs abgeschlossen.
Kein Ende des Nationalismus
Ein schöner Traum ist ausgeträumt: der Traum vom Ende des Nationalismus. Es war der Traum einer furchtbaren Nacht nach dem Zusammenbruch der exzessivsten Form, die der Nationalismus je gefunden hatte, nämlich des Nationalsozialismus. Kein Wunder deshalb, daß es gerade die Deutschen waren, die diesem Traum vom Ende des Nationalismus am leidenschaftlichsten anhingen, die eine Art Religion daraus machten mit Ketzerverfolgungen und allem drum und dran bis heute.
Indes ist der Alltag wieder heraufgedämmert, ein düstererTag mit wenig erfreulicher Wetter-prognose: Der Kalte Krieg der großen ideologischen Blöcke, der die Konflikte der Nationalstaaten endgültig abgelöst zu haben schien, erwies sich zusehends als eine Angelegenheit von Machtkörpern, die nach Struktur und Verhaltensweise wiederum nichts anderes waren als Nationen — wenn auch Nationen eines größeren Formats, Großnationen oder Imperien, die ihrerseits über ganze Systeme von Völkern und Staaten eine handfeste Hegemonie ausübten. Damit war das ganze Problem des Nationalismus nur auf eine andere, höhere Ebene verschoben, aber keinesfalls ausgeräumt.
Allein selbst diese höhere Ebene der Groß-nationen oder ideologischen Blöcke erweist sich in den letzten Jahren und Monaten als keineswegs gegen den Nationalismus der früheren Nationen und Nationalstaaten gesichert. Ganz abgesehen vom Nationalismus in den Entwicklungsländern mit ihren erst vielfach entstehenden, um Integration, Abgrenzung und Souveränität ringenden ethnischen Gruppen, selbst innerhalb der beiden ideologischen Systeme Ost und West versuchen sich die alten Nationalstaaten von der jeweiligen Hegemonialmacht zu emanzipieren. Im Osten hatte man schon gegen die Zwingherrschaft Stalins vom sogenannten eigenen, nationalen Weg zum Sozialismus geschwärmt, bis sich die italienische Formel vom Polyzentrismus durchsetzte. Polen und Ungarn haben 1956 einen nationalen Kommunismus eigener Art erzwungen; die Tschechoslowakei ist in den letzten Jahren — weniger spektakulär — dem gleichen Modell gefolgt. Am weitesten ist Rumänien mit seiner eigenwilligen Staats-und Wirtschaftspolitik vorgestoßen. Von allen diesen Ländern aus erscheint Ulbrichts mitteldeutsche Satrapie wie eine konservative, vergangene Zustände bewahrende Insel. Im Westen hat der Souveränitätswille der alten Nationalstaaten gegen alle supranationalen Einheitsbestrebungen neues Leben gewonnen. Die EWG-Krise läßt sich nicht einfach aus dem Willen eines Mannes erklären. De Gaulle stützt sich gewiß auch auf einen durchaus noch vorhandenen — wenn auch von ihm wohl überschätzten — französischen Nationalismus.
Versuch einer soziologischen Theorie des Nationalismus
Daß sich der Nationalismus nicht nur in Asien und Afrika, sondern gerade auch im aufgeklärten und zivilisierten Westeuropa so vernehmlich zu Worte meldet, ist besonders peinlich. Denn hier wie in Amerika war unter den Gebildeten die Meinung verbreitet, es handle sich beim Nationalismus bestenfalls um eine Durchgangsstufe der Menschheitsgeschichte, eine mit gelegentlichen Exzessen verbundene jugendlich barbarische Phase entstehender Nationen, um Primitivität und Reaktion, die sich bei fortschreitender Reife und Vernunft, beim Abstreifen irrationalen und autoritären Denkens wie ein Nebel auflösen würde zugunsten — wenn nicht einer einheitlichen Welt, so doch — einer rationalen und nach festen Spielregeln organisierten Gemeinschaft von Nationen.
Diese Hoffnung hat nun offensichtlich getrogen: Nicht nur von den als halbbarbarisch angesehenen Deutschen und von den Völkern des Ostens muß man sich nationalistischer Bewegungen und Exzesse versehen, auch der aufgeklärte und rationale Westen ist anfällig. Der Glaube an den Fortschritt zu immer größerer Rationalität ist ins Wanken geraten. Zu allen Zeiten, in verschiedenen Formen und auf verschiedene Größenordnungen, Personenkreise und Territorien bezogen kann — so muß man fürchten — Nationalismus oder so etwas Ähnliches wie Nationalismus in Erscheinung treten.
Daß wir dergestalt an der erwarteten Über-windung und Selbstauslösung des Nationalismus irre geworden sind, hat nun freilich auch sein Gutes. Es zwingt uns, das Phänomen des Nationalismus ernst zu nehmen, es aus größerer Distanz, auf breiterer historisch-soziologischer Basis, aber auch ohne moralische Entrüstung und intellektuelle Überheblichkeit zu studieren: als einen gesellschaftlichen Tatbestand, als eine Einstellung und Verhaltensweise der menschlichen Gesellschaft, die im Leben dieser Gesellschaft offenbar eine bestimmte Funktion haben, mit einem gewissermaßen naturwissenschaftlich-technischen Interesse also. Das bedeutet mit anderen Worten, daß wir versuchen, eine soziologische Theorie des Nationalismus zu entwickeln.
In dieser Betrachtung über den Nationalismus soll der eigentümliche Nationsbegriff und Nationalismus des Westens charakterisiert und dem östlichen, deutsch-slawischen Nationalismus als besonderer Typ gegenübergestellt werden. Bevor das geschehen kann, ist es nötig, sich über einige Grundbegriffe des Nationalismus zu verständigen, also eben eine solche Theorie des Nationalismus zu skizzieren. Dies wiederum bedeutet, daß wir — über unseren europäischen und westeuropäischen Erfahrungskreis und über die Erlebnisse der letzten Jahrzehnte hinaus — den gemeinsamen Nenner aller jener Erscheinungen in der Weltgeschichte zu ermitteln suchen, die man als Nationalismus bezeichnen oder mit dem Nationalismus in eine gemeinsame Kategorie einordnen kann. Wann, wo und unter welchen Bedingungen treten — so lautet die erste Frage dieses Versuchs — Nationalismus oder nationalismusähnliche Bewegungen und Kräfte auf und wie funktionieren sie?
Gruppenbildung in der Geschichte
Ein erster Blick auf die Geschichte lehrt:
So etwas wie Nationalismus gab und gibt es zu allen Zeiten. In jedem Zeitalter und in -je nämlich dem Kulturkreis treten große Gruppen auf, die sich irgendwie politisch organisieren und die dazu eines Zusammenhaltes bedürfen, eines Bewußtseins der Gemeinsamkeit, der Abgrenzung gegen andere, nicht zu dieser Gruppe Gehörige, der Bindung an diese Gruppe und einer Verpflichtung für sie. Ohne diese Elemente kann eine Gruppe von Menschen nicht existieren und handeln. Ohne sie kommt keine gesellschaftliche Organisation und keine Kultur zustande. Die solche Groß-gruppen bindenden oder integrierenden Kräfte, Wertvorstellungen und Normen stellen aber schon eine Art Nationalismus dar, auch wenn wir nicht jede der so integrierten Gruppen gleich als Nation bezeichnen. Jedenfalls sind es immer die gleichen seelischen Kräfte und Bindungen, die das Bestehen und Funktionieren menschlicher Gruppen von der primitiven Horde über kompliziertere Stammes-gefüge zu voll ausgebauten Nationen ermöglichen und sichern. Zu allen Zeiten war die menschliche Gesellschaft in solche Gruppen gegliedert, und sie wird allem Anschein nach in aller Zukunft in solche Gruppen gegliedert sein. Wie es also zu allen Zeiten solche Kräfte der Gruppen-integration gegeben hat, so wird es vermutlich in aller Zukunft solche Integrationskräfte geben müssen. Mit anderen Worten: etwas wie Nationalismus hat es immer gegeben und wird es immer geben. So ist der Nationalismus, in diesem weitesten Sinne des Wortes genommen, eine unvermeidliche Eigenart des menschlichen Zusammenlebens in allen Zeitaltern und Kulturen.
Diesen Integrationskräften der politisch relevanten Großgruppen aber sind — auch das lehrt ein Blick auf die Geschichte der Menschheit — einige Grundzüge gemeinsam. Um nämlich auf ihre Mitglieder eine derart verpflichtende Wirkung, eine solche Faszination ausüben zu können, wie sie für den Zusammenhalt und das gemeinsame Handeln unerläßlich sind, müssen diese Gruppen im Welt-und Gesellschaftsbild ihrer Angehörigen als wertvoll erscheinen; sie müssen gewisse Vorzüge der Umwelt gegenüber besitzen — und sei es auch nur in der Meinung dieser Angehörigen —; es muß diesen Angehörigen als erstrebenswert erscheinen, sich an die betreffende Gruppe zu binden, die von ihr auferlegten Pflichten zu erfüllen, für sie Leistungen zu vollbringen, Opfer auf sich zu nehmen, ja dieser Gruppe gegebenenfalls das eigene Leben zu opfern. Der Dienst an einer solche Gruppe muß den einzelnen rechtfertigen, ihn über sich selbst hinaus erhöhen; dieser einzelne mag dann in dem Dienst an einer solchen Gruppe eine ehrenvolle Aufgabe, ja den Sinn seines Lebens entdecken. Ein solches Wechselspiel der seelischen Kräfte zwischen dem Individuum und der Gruppe gehört offenbar zu jenem Mechanismus, der die menschliche Gesellschaft gliedert und aufbaut, lebens-und funktionsfähig macht. Zu allen Zeiten und in allen Teilen der Welt können wir ein solches Wechselspiel der Kräfte, einen solchen Mechanismus der menschlichen Gruppenbildung beobachten.
Nationalismus keine europäische Erfindung des 18. und 19. Jahrhunderts
Es ist darum falsch — oder mindestens zu eng —, wenn manche Historiker oder Soziologen den Nationalismus als eine Erfindung der Europäer des 18. und 19. Jahrhunderts bezeichnen, die sich wie eine Ansteckung von Europa aus über die Welt verbreitet habe. Sie treffen damit nur eine bestimmte Form des Nationalismus, die mit der Ausbildung moderner Industriegesellschaften auftritt und in der Tat zu unserer Zeit die europäischen Nationen neu organisert, von Europa aus aber in der ganzen übrigen Welt ähnliche Nationen zum Leben und zum Bewußtsein erweckt hat. Die gesellschaftliche Grundfunktion, die dem Nationalismus zugrunde liegt, die Integration großer, politisch relevanter Gruppen auf Grund eines in der menschlichen Gesellschaft allgemein wirksamen Prinzips, hat es aber zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben. Es ist notwendig, sich dessen bewußt zu sein, schon weil es eine wissenschaftliche Theorie verlangt, das von ihr behandelte Phänomen in die übergeordnete Kategorie einzuordnen, in die es gehört.
Wenn wir freilich den Nationalismus auf diesen, ihm zugrunde liegenden, allgemein menschlichen Sachverhalt zurückführen, dann scheint der Name Nationalismus für das hier in Rede stehende Phänomen beinahe zu eng. Denn nun wird es klar, daß auch andere, von uns üblicherweise nicht als national bezeichnete Gruppen den gleichen Gesetzen der menschlichen Gruppenbildung unterliegen, der gleichen Binde-und Integrationskräfte bedürfen, um existieren und handeln zu können. Religionsgemeinschaften, ideologische Gruppen werden — so können wir beobachten — nach den gleichen Gesetzen und mit den gleichen Kräften integriert, gegen ihre Umwelt abgegrenzt, organisiert und zu geschichtlichem Handeln befähigt, wie Gruppen, die sich auf Grund der gemeinsamen Sprache oder Abstammung oder Kultur ihrer Einheit und Eigenart bewußt geworden sind. Nur in unserem Zeitalter der auf Sprachgruppen aufgebauten Nationalstaaten war es uns vorgekommen, als seien ausschließlich Sprach-und Kulturgemeinschaften, das heißt nach dem übB liehen Sprachgebrauch Nationen, zu solchen Formen und Kräften des Zusammenhaltes fähig, die wir als Nationalismus bezeichnen. Heute, im Zeitalter der ideologisch gebundenen Großnationen — wie die über verschiedene Sprachvölker hinweg integrierte Sowjet-union, wie China oder die Vereinigten Staaten —, wird es uns klar, daß es auch andere Kriterien geben kann, die große Gruppen zu Nationen binden, sie wie Nationen auftreten und politisch agieren lassen, sie zu Staaten formen.
Verschiedene Kriterien der Abgrenzung
Das gleiche lehrt ein Blick in die Geschichte zurück: Da sind es — lange vor unserem nationalistischen Zeitalter — Religionsgemeinschaften, die im Bewußtsein ihrer Angehörigen den gleichen verpflichtenden Charakter annehmen, wie ihn später die Nationen erhalten sollten. Damals spielten in Europa die religiösen Grenzen die gleiche einschneidende Rolle, die zu unserer Zeit Sprach-und Staatsgrenzen spielen. Damals galten Verfolgungen, Vertreibungen und Völkermord nicht den Angehörigen einer bestimmten Sprache und Kultur wie heute, sondern den Gläubigen einer bestimmten Konfession: „Cuius regio, eius religio". Daß auch heute noch die Religion als das entscheidende Kriterium der Nation-bildung und -abgrenzung auftreten kann, das offenbart sich am Beispiel Indiens. Die Eisernen Vorhänge wiederum, die heute in verschiedenen Teilen der Welt einheitsbewußte Sprachvölker spalten, verraten, daß auch nach dem Zeitalter der Sprachnationen eine Einteilung der Menschheit nach anderen als den uns geläufigen Kriterien der Sprache, der Kultur oder der Staatszugehörigkeit möglich sein kann.
Der gemeinsame Nenner aus allen diesen Beobachtungen aber lautet: Die Kriterien oder Merkmale, nach denen sich die politisch relevanten Großgruppen oder Nationen abgrenzen, sind verschiedenartig und austauschbar. Je nach dem Stil der Epoche oder des Kulturkreises spielt unter ihnen bald die Sprache, bald die Abstammung, bald wieder die Religion oder irgendeine Ideologie die entscheidende Rolle. Gleich ist aber zu allen Zeiten eben jene Grundtatsache, daß die politisch relevanten Großgruppen im Welt-und Gesellschaftsbild ihrer Angehörigen auf Grund irgendeines solchen Merkmals als Einheit erscheinen, daß sie gegen andere abgegrenzt und mit einem faszinierenden und verpflichtenden Charakter ausgestattet sind. Mit anderen Worten: die Faszinationskraft, die solche Nationen oder nationsähnlichen Gruppen in sich bindet und von anderen abgrenzt, erweist sich als eine Ideologie, die sich je nach dem herrschenden Stil an verschiedenen Merkmalen orientieren kann, zu allen Zeiten aber die gleiche integrierende Funktion übt. In diesem ideologischen Charakter und in dieser Funktion aber besteht das Wesen des Nationalismus. Es ist offenbar ein Konstruktionsprinzip der menschlichen Gesellschaft, daß sie in große Gruppen gegliedert ist, deren jede sich mit Hilfe einer Ideologie — eben des Nationalismus — in sich integriert und gegen die andern abgrenzt.
Ambivalenz des Nationalismus
Von dieser Grundlage aus ist es nunmehr möglich, die moralische Seite dieses gesellschaftlichen Tatbestandes unter die Lupe zu nehmen: Ein solches für die menschliche Verhaltensweise und Gruppenbildung zu allen Zeiten gültiges Konstruktionsprinzip kann nicht schon an sich gut oder böse sein. Gerade für die sittliche Beurteilung des Nationalismus und damit für seine Überwindung ist es zweckmäßig, von dieser Ambivalenz des Nationalis-mus auszugehen, von seiner Fähigkeit, sowohl Gutes wie Böses zu bewirken. Denn jene Bindung an die Nation oder nationähnliche Groß-gruppe, die wir als Nationalismus definiert haben, erweist sich in der Geschichte als Antriebskraft zu sehr verschiedenen Handlungen und Verhaltensweisen. Wir sehen, wie sie die Angehörigen einer Nation zu bedeutenden Leistungen befähigt, zu Werken der Kultur und Kunst, zu Hingabe, zu Selbstaufopferung und Heroismus. Die gleiche Bindung an die Nation führt aber auch zu Überheblichkeit und Fremdenhaß, zu Fanatismus und Verbrechen, ja zur Ausschaltung aller Werteordnungen und Normen im vermeintlichen Dienst an der Nation.
Hier liegt das eigentliche ethische und pädagogische Problem des Nationalismus. Rottet man ihn aus — wie das nach einem Exzeß des Nationalismus durchaus naheliegt —, indem man ihn etwa als primitiv und reaktionär ver-ächtlich macht, dann hat man zugleich auch die Fähigkeit zur Hingabe an überindividuelle Ordnungen, an Staat und Nation zerstört, damit aber auch die Fähigkeit und Neigung zum Zusammenwirken in der demokratischen Gesellschaft, zu jenem politischen Engagement, das Politiker und politische Pädagogen — ob mit Recht oder Unrecht, sei dahingestellt — an der deutschen Nachkriegsjugend vermissen. Denn das ist inzwischen klargeworden: eine Gesellschaft von nach gut gelernten Spielregeln ist Egoisten noch lange keine Demokratie.
Es ist also eben diese Ambivalenz des Nationalismus, die Tatsache, daß er Antrieb zum Guten wie zum Bösen sein kann, was die Politik und politische Pädagogik vor ihre eigentliche und schwere Aufgabe stellt, die richtige Mitte zu finden zwischen der Vorurteilsfreiheit und Selbstbestimmung des Individuums auf der einen Seite und der Hingabefähigkeit an überindividuelle Ordnungen auf der anderen. Sie muß zu der Bindung und Hingabe erziehen, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht möglich ist, auf der andern Seite aber diese Bindung und Hingabe vor dem für sie typischen Exzeß bewahren, vor dem Fanatismus, der im vermeint-lichen Dienst an der eigenen Gruppe oder Nation die allgemein menschliche Werteordnung und Ethik außer Kraft setzt, indem er die eigene Nation zum absoluten Wert erhebt.
Es ist darum wichtig, unter den verschiedenen Erscheinungsweisen und Formen des Nationalismus die genaue Grenze zu bestimmen, an der diese Ausschaltung des übernational gültigen Sittengesetzes eintritt. Es gibt in der Geschichte mehrere Beispiele für diesen Sündenfall des Nationalismus. Er vollzieht sich genau in dem Augenblick, in dem die Nation — auf Grund einer Bedrohung, einer Niederlage, eines Schocks des nationalen Selbstbewußtseins und der daraus folgenden Furcht vor Desintegration — absolutgesetzt, das heißt an die Spitze der Wertetafel gerückt wird, so daß im Dienste dieses nunmehr höchsten Wertes alles, auch das schlimmste Verbrechen, als gerechtfertigt erscheint. „Recht ist, was meinem Volke nützt", das war die einprägsame Formel für diese Außerkraftsetzung aller menschlichen Normen, die freilich auch der absolutgesetzten Nation ihre sittliche Grundlage entzog. Vor dieser Absolutsetzung der Nation ist, unter bestimmten Voraussetzungen, auch der westeuropäische, rationale Nationalismus nicht sicher. Das zeigt der in Frankreich nach 1871 entflammte „integrale" Nationalismus, der in vielen Einzelheiten den deutschen Nationalismus nach 1918 vorwegnahm.
Rationaler und mystisch-romantischer Nationsbegriff ?
Bei all diesen gemeinsamen Wurzeln und Erscheinungsweisen des Nationalismus oder der hier mitgemeinten nationalismusähnlichen Bindekräfte scheint es doch — das lehrt unsere europäische Erfahrung — räumlich verschiedene Typen des Nationalismus, verschiedene Nationsbegriffe, verschiedene Weisen des nationalen Denkens und Verhaltens zu geben. Einer von diesen Typen des Nationsbegriffs, der westeuropäische, soll ja Gegenstand dieser Betrachtung sein. Das schließt nicht aus, daß wir ihn dabei dem andern, dem östlichen, deutsch-slawischen Typ und Begriff des Nationalismus gegenüberstellen müssen, damit er in seiner Eigenart deutlich hervortritt.
Auch hier aber ist es mötig, sich auf die unerläßliche methodische Haltung einer soziologischen Analyse zu besinnen: auf die zurückhaltende und späte Verwendung moralischer Werturteile. Denn auch hier ist das Bewußtsein der europäischen Gebildeten — auf Grund eben jener Erfahrungen mit dem exzessiven Nationalismus der letzten Jahrzehnte — auf bestimmte Wertungen festgelegt: Der westeuropäische Nationsbegriff, für den Ernest Renan die klassische Formel geprägt hat, er bezeichne ein „Plebiscite de tous les jours", eine tägliche Volksabstimmung, meint demnach die freie Willensentscheidung vernünftiger Bürger, an einem demokratischen Staatswesen nach bestimmten Spielregeln zusammenzuwirken. Dem in der Romantik und im Risorgimento entwickelten, an außerstaatlichen Merkmalen wie Sprache und Kultur orientierten Nationsbegriff der Deutschen und Osteuropäer haftet dagegen etwas Mystisches und Irrationales an, ein Glaube an schicksalhafte, vom Willen des einzelnen unabhängige Gegebenheiten und Kräfte, und damit eine Neigung zu totalitären Herrschafts-wie Gemeinschaftsformen. Dem Streben nach immer größerer demokratischer Freiheit des Bürgers, die immer wieder gegen die Anforderungen von Staat und Nation gesichert werden muß, scheint so das sachlidi-rationale, das Individuum zum Maß aller Dinge machende Verhältnis des Westeuropäers — und Amerikaners — zu Staat und Nation das politisch, intellektuell und sittlich überlegene zu sein, während der als mystisch-romantisch bezeichnete, den Deutschen und Slawen zugeschriebene Nationsbegriff und Nationalismus die Gefahr aller jener nationalistischen Exzesse zu enthalten scheint, unter denen wir in unserem Jahrhundert so sehr gelitten haben.
Übereinstimmung von Nation und Staatsbevölkerung in Westeuropa
So einfach liegen die Dinge nun allerdings nicht. Eine mit historischem Material arbeitende soziologische Analyse zeigt, daß die beiden hier in Rede stehenden Typen des Nationsbegriffs und Nationalismus viel zu differenziert sind, um einem so summarischen Urteil über ihre politische Moral und intellektuelle Reife unterworfen zu werden — einem Urteil, das gleichwohl unter den gebildeten Westeuropäern, und jetzt auch den Deutschen, sehr verbreitet ist und mit viel Intoleranz verkündet wird.
Abgesehen davon, daß jede Typologie eine gewisse Gefahr der Simplifikation enthält, handelt es sich bei den beiden hier gegenübergestellten Typen des Nationalismus — dem westeuropäisch-rationalen und dem deutsch-slawischen, romantisch-irrationalen — um zwei sozialgeschichtlich bedingte Strukturmodelle der Gesellschaft, die zunächst — will man ihnen gerecht werden — auf ihre Konstruktion und Rolle hin untersucht und verglichen werden müssen, ehe man ein Urteil über ihre Moral und politische Reife wagen darf. Eine solche gewissermaßen technologische Untersuchung der beiden Gesellschaftsmodelle sei hier in der gebotenen Kürze skizziert. Dazu ist es zunächst notwendig, ihren historisch-psychologischen Wurzeln nachzugehen. Wer wie Hobbes und Locke, Montesquieu und Rousseau eine nationale Gesellschaft nur als die einer bestimmten Regierung unterwor8 fene, durch die Machtgrenzen dieser Regierung abgegrenzte Bevölkerung erlebt hatte, der machte sich Gedanken darüber, wie diese Bevölkerung gegen Gefahren von außen zu schützen, mit Gewissens-und Handelsfreiheit im Innern auszustatten, zu einem Zusammenwirken im Interesse einer möglichst großen Zahl ihrer Glieder zu veranlassen sei. Diese Bevölkerung, Objekt, Partner oder Auftraggeber einer solchen Regierung, war für ihn die Nation. In der Vorstellungswelt solcher Denker und der von ihnen beeinflußten Gesellschaft mußten sich demzufolge Nation und Staatsbevölkerung decken. Wechselten bestimmte Bevölkerungsteile, wie das im Zeitalter der Kabinettspolitik üblich war, ihre Regierung, indem sie von der einen an eine andere abgetreten wurden, dann wechselten sie gleichzeitig ihre Nationalität; sie wurden Glieder einer anderen Nation, Untertanen, Partner oder Auftraggeber einer anderen Regierung. Dieses Denkmodell galt noch im 18. Jahrhundert in Europa allgemein. Nach den Teilungen glaubten die Polen, zu Österreichern, Russen oder Preußen geworden zu sein, und gaben dem in Klageliedern Ausdruck. Erst ein langwieriger Denkprozeß und eben der Einfluß jenes romantischen Volksbegriffs machten ihnen bewußt, daß ihr Charakter als Nation doch an anderen Kriterien hängen müsse als an der Staatszugehörigkeit, die — wie man es erlebt hatte — über Nacht und ohne eigenes Zutun so schmählich wechseln konnte.
Nationsmodell der Französischen Revolution
In jenem rationalen, in Westeuropa bis heute gültigen Nationsbegriff waren nur zwei Kategorien vorgesehen: der Staat und das Individuum. Dem aus allen übrigen Bindungen befreiten Individuum eine möglichst große Sphäre der Freiheit innerhalb des Staates zu sichern, war das vornehmste Ziel der geistigen Begründer der Demokratie. Jede andere Bindung, die an Familie, Kirche, Sprachgemeinschaft, Stand, Zunft oder Grundherrschaft, mußte das einfache Gegenüber von Staat und Individuum komplizieren und verwirren. Sie schien darum den in dieser Alternative Denkenden bedeutungslos oder verdächtig. Auch heute halten viele die Demokratie erst dann eigentlich für gesichert, wenn gleiche, gleichberechtigte und freie Individuen dem Staat unmittelbar gegenüberstehen und, durch seinen Machtbereich abgegrenzt, die Nation bilden.
Dieses Strukturmodell lag der Französischen Revolution zugrunde. Es war auch für die aus der englischen Machtsphäre zur Selbständigkeit drängende Nation der dreizehn Kolonien in Amerika maßgebend. Hier wie in Frankreich stand der herrschenden Gewalt keine neue und anders abgegrenzte Gruppe gegenüber als die ihr ohnehin untertane Staats-bevölkerung.So wie sie schon von den Königen durch jahrhundertelange Erziehung zu einer Nation integriert worden war, erhob sie sich gegen deren Herrschaft und ersetzte sie durch eine andere, aus ihrer Mitte gewählte. Zu diesem Akt der Befreiung oder Nationsbildung bedurfte es neben der Staatszugehörigkeit keines anderen Kriteriums, keiner weiteren Integrationskraft. Aus dem Untertan wurde ein Bürger im gleichen Staat. Die Selbstidentifizierung des Dritten Standes mit der Nation bedeutete doch nur, daß ein Teil der Bevölkerung das ganze Haus in Anspruch nahm und besetzte, nicht aber, daß ein anderes Haus zu bauen war. Dieses eine Motiv, die Änderung des Verhältnisses zwischen Individuum und Herrschaft, das in allen übrigen Prozessen des nationalen Erwachens eines der Grundmotive bildete, hat die Französische Revolution ihnen allen vorexerziert. Darin wurde sie das große Vorbild, der mächtige Impuls für die später erwachenden Völker Europas und der übrigen Welt. Die Nationalstaaten, die diese Völker erstrebten, waren nach diesem Modell konstruiert. Das ging so weit, daß sie, noch 130— 150 Jahre später, die französische Verfassung und die Leitgedanken der Französischen Revolution dabei zugrunde legten.
Mittel-und osteuropäischer Nationsbegriff: Sprache und Kultur
Aber es war eben nur das eine der möglichen Modelle. Für die komplizierten Siedlungsund Bevölkerungs-wie Herrschaftsverhält-nisse in Mittel-und Osteuropa reichte es nicht aus. Das zeigt schon jenes Beispiel der Polen nach den Teilungen. Wie hätten sie durch 120 Jahre, von 1795 bis 1918, ohne eigenen Staat auf drei Großmächte aufgeteilt, den Charakter einer staatsfähigen Nation bewahren können, hätten sie sich nicht auf jene außer-staatlichen Merkmale besonnen, die sie zur Nation integrierten: auf Sprache und Abstammung, Kultur-und Geschichtsbewußtsein, auf eine Sendungsideologie, ja eine Art Messianismus! Wie hätte sich überhaupt in Mittel-und Osteuropa, wo keines der dynastischen Reiche ein gemeinsames Nationalbewußtsein seiner Völker und Volksgruppen entwickelt hatte, eine demokratische Gesellschaft ausbilden sollen, ohne ihre Zusammengehörigkeit auf anderen als staatlichen Kriterien — eben auf Sprache und Kultur — zu begründen! Solche Elemente und Kräfte entdeckt und politisch relevant gemacht zu haben, darin eben besteht die Leistung jenes romantischen Volks-begriffs, wie er aus dem Anschauungsmaterial der bunten Völkerwelt und der wechselnden Staatsgewalten Ostmitteleuropas entwickelt worden ist.
Durch die unterscheidende Wirkung dieser Betrachtungsweise ist Europa in zwei Bereiche mit verschiedener Struktur seiner nationalen Gesellschaften geteilt worden, in jene zwei Bereiche, von denen hier die Rede ist: einen westlichen, in dem der Begriff der Nation auf die politische Zusammengehörigkeit, auf das Zusammenwirken im gleichen Staate aufgebaut ist, und einen östlichen, in dem Sprache und Kultur die entscheidenden Merkmale des Nationsbegriffes darstellen.
Schon der Sprachgebrauch deutet auf diese Verschiedenheit hin. Dem Engländer und Franzosen bedeutet der Ausdruck „Nation", „national" etwas, was wir als staatlich, gesamtstaatlich bezeichnen würden. Sein nationales Denken und Fühlen würden wir mit patriotisch oder vaterländisch übersetzen. Die verpflichtende Gemeinschaft ist für den Franzosen und Engländer die in einem Staate zusammengefaßte politische oder Staatsnation.
Anders im deutsch-slawischen Osten. Hier bedeutet „Nation", „national" die Zusammengehörigkeit von Sprache und Kultur. Staat und Nation stehen nicht selten im Widerspruch zu einander. Das Nationalgefühl verbindet den einzelnen mit seinen Sprachverwandten in einem anderen Staat und trennt ihn oft von dem Staat, dem er angehört. Dem Westen Europas scheint die Höherschätzung des sprachlichen und kulturellen Zusammenhanges, wie sie dem östlichen Volksbegriff entspricht, ein Rückstand primitiven, biologischen Denkens zu sein. Den politischen Volksbegriff hält er für den höheren, fortschrittlicheren. Er setzt, seine staatliche Tradition zu Unrecht in diesen Raum übertragend, bei den Angehörigen der mittel-und osteuropäischen Völker ein sittliches Verhältnis zu ihrem Staat voraus, das sie gar nicht haben können, weil solche Staaten oft nur einer zufälligen Konstellation entsprechen und sich an Tradition und Würde, und darum auch an Integrationskraft, mit den Nationalstaaten Westeuropas nicht messen können.
Zwei Strukturmodelle stoßen aufeinander
Diese Verschiedenheit des Verhältnisses zum eigenen Staat spüren wir Deutschen am eigenen Leibe; denn durch das deutsche Volk geht die Grenze zwischen ost-und westeuropäischem Nationsbegriff mitten hindurch. Als Folge der Vertreibungen von 1945 leben nunmehr Deutsche aus dem Bismarckreich und solche, die früher außerhalb von dessen Grenzen wohnten, zusammen. Jene stammen aus dem Bereich des westeuropäischen, diese aus dem Bereich des romantischen Nationsbegriffes. Damit sind — so ergibt es sich zu beiderseitigem Erstaunen — zwei Welten aufeinandergestoßen. Der Deutsche des Bismarckreiches hat lange Jahrzehnte in einem Nationalstaat gelebt. Ihm ist der Staat kein Problem. Ihm kann er noch, wie Hegel, als der übergeordnete Begriff, als Träger und Hüter des Rechtes und der Sittlichkeit erscheinen. Der Staat ist jedenfalls — im Vergleich zum Volk — der höhere, geistigere Begriff. Ein Konflikt entsteht nur, wenn der Staat Unsittliches verlangt. Dann ist der Staatsangehörige zum Widerstand berechtigt und — im Rahmen des Möglichen — verpflichtet. Anders der Deutsche des Ostens und Südostens, der außerhalb des Bismarckreiches lebte. Der Staat, dem er angehörte, war nicht sein Nationalstaat. Er schützte ihn nicht und verweigerte ihm verschiedene Hilfen, die der Nationalstaat einem Bürger leistet. So gewann dieser Deutsche eine größere Distanz vom Staat. Er baute sich sein wirtschaftliches und geistiges Leben selber auf. Das aber konnte er nur aus einer Quelle, die er „Volkstum“ nannte. Darin fand er die Kräfte, aus denen die Völker und Staaten leben. Das war für ihn ein Begriff, der ihm tiefer und heiliger und viel mehr die Quelle des Sittlichen schien als der Staat, der Menschenwerk und zufällig war und ihn nicht selten ungerecht behandelte, ja zu entnationalisieren versuchte. Dieser Deutsche ist nun sehr erstaunt, wenn er seinen Volksbegriff als biologisch und antidemokratisch, dagegen den Staat und jenes westeuropäische Strukturmodell, in dem der einzelne unmittelbar dem Staat gegenübersteht, als das höhere und sittlichere gespriesen findet. Er empfindet im Gegenteil seinen Volksbegriff als demokratischer, geistiger, den Staat dagegen als mechanisch, als bürokratischen Apparat.
So hat jedes der beiden, hier im Nachkriegsdeutschland sogar im gleichen Raum aufeinanderstoßenden Strukturmodelle der nationalen Gesellschaft seine Vorzüge und seine Probleme. Auch das westliche, dem hier unsere besondere Aufmerksamkeit gilt, ist davon nicht frei.
Freiwillige Bindung an eine homogene Staatsnation in Westeuropa
Hier im Westen ist es gelungen, die mehr oder minder zufällig in einen Staat zusammengefaßte Bevölkerung zur bewußten Trägerin des Staates zu machen. Durch die Möglichkeit einer Mitbestimmung haben die Völker dieses Westens ihren Staat als ihre eigene Sache betrachten gelernt. Sie sind am Staat lebendig interessiert. Daher ist es die Gemeinschaft der im Staat Vereinten und am gemeinsamen Staat Mitwirkenden, die die stärkste integrierende Wirkung üben konnte. Neben ihr hat die Gemeinschaft der Sprache, der Religion und Kultur nur geringe Bedeutung. Es erscheint dort im Gegenteil selbstverständlich, daß die staatliche Gemeinschaft allmählich von selbst auch zur Sprachgemeinschaft wird. Die Gemeinschaft der Religion hat in Frankreich und Spanien schon das absolute Königtum hergestellt. England hat nach heftigen Religionsverfolgungen schließlich die konfessionelle Zugehörigkeit freigegeben. Was die sprachliche Kultur anlangt, hat sich wenigstens im Bereich des höheren kulturellen und politischen Lebens eine Angleichung vollzogen. In diesem Bereich gehören auch der Bretone und Baske der französischen, der Waliser und Schotte der britischen Nation an, mögen sie im täglichen Umgang, in Familie und Kirche ihre heimische Mundart gebrauchen, ja mag sich sogar eine eifrige lokalpatriotische Pflege dieser Sprache oder Mundart entwickeln.
Es scheint also nicht eine besondere politische Begabung, eine im Volkscharakter angelegte stärkere Rationalität dafür verantwortlich zu sein, daß bei den westeuropäischen Nationen Sprache, Religion und Volkstum weniger als im Osten die Kriterien der nationalen Zugehörigkeit bildeten, dafür aber die freiwillige politische Entscheidung zur Mitarbeit an einem als das eigene anerkannten Staatswesen den Ausschlag gab. Es war einfach die Tatsache, daß es hier im Westen, von zielbewußten Dynastien vorgebildet, solche klar abgegrenzten und die Möglichkeit einer freiwilligen politischen Mitarbeit bietenden Staatswesen gab, in die sich der einzelne ohne gewaltsame Unterdrückung seiner Eigenart integrieren konnte, allerdings erst nach jahrhundertelangen Kämpfen, Unterdrückungen, Austreibungen und Morden. Die Albigenserkriege, die Bartholomäusnacht, das Schicksal der Hugenotten und der Terror der Jakobiner bezeichnen die Stufen dieses Selbstreinigungsund Homogenisierungsprozesses einer Staats-nation wie in England die Revolution Cromwells und die Ächtung der Katholiken.
In einer Gesellschaft, in der Individuum und Staat ohne störende Zwischenschicht von Sprach-und Religions-, Standes-und Zunft-gemeinschaft einander gegenüberstanden, konnte der Gedanke vom Gesellschaftsvertrag reifen, als einem freiwilligen gemeinsamen Entschluß einer homogenen Gruppe von Individuen, irgend jemand mit der Führung der Staatsgeschäfte zu beauftragen. War das „Volk" auf diese Weise souverän, dann war der einzelne viel stärker an Staat und Nation gebunden als vorher. Einst hatte der König Mittelpunkt und Ziel aller Bindekräfte dargestellt. Jetzt schien er eher ein Hindernis für die Entfaltung solcher Kräfte zu sein. In der Republik war der Staat des Bürgers eigene Angelegenheit, nicht die einer bestimmten Führungschicht oder eines von der Vorsehung ausgewählten Herrschers. Man liebte sein Vaterland, wie Voltaire sagte, aus dem einfachen Grund, weil man die eigene Sache mehr liebt als die seines Herrn. Daß erst in der Republik ein wahrer Patriotismus möglich sei, war ein häufig ausgesprochener und von vielen geteilter Glaube der Zeit.
Streben nach dem besten Staat
Dies alles zeigt, daß das westeuropäische, rational-republikanische Strukturmodell der nationalen Gesellschaft, die als Plebiscite de tous les jours zustande gekommene Nation, nicht loser gebunden sein mußte als jene auf Schicksals-und naturgegebenen Bindungen beruhende Gemeinschaft des romantischen Nationsbegriffs. Mit anderen Worten: der west-liehe Nationalismus war nicht notwendig schwächer oder weniger leidenschaftlich als der der Deutschen und der Slawen. Das hat der Nationalismus der Französischen Revolution mit seiner Intoleranz und Aggressivität, mit seinem frankozentrischen Weltbild und seinem Sendungsbewußtsein deutlich bewiesen. Aber dieser Typ des Nationalismus hatte auch seine besonderen Probleme: In der ganzen Entwicklung zum aufgeklärten Staatsnationalismus oder Patriotismus lag ein innerer Widerspruch. Das rationale Denken hatte den einzelnen inniger an den Staat gebunden als je zuvor. Das gleiche rationale Denken aber konnte zwischen den Staaten keinen grundsätzlichen Unterschied entdecken. Ja, die Hervorhebung eines Staates, einer besonderen Menschengruppe vor anderen Menschengruppen der gleichen Ordnung mußte diesem Denken als Vorurteil, als Ethnozentrismus erscheinen. Das Forschen und Streben der Aufklärungszeit galt dem besten Staat, dem, der die meisten seiner Bürger möglichst glücklich machte. Dem besten Staat anzugehören, war Grund zum Stolz, war erstrebenswert. Welcher von den Staaten aber der beste war, das konnte der Natur der Dinge nach nicht davon abhängen, welcher Sprache und Kultur seine Bewohner angehörten oder welcher Abstammung sie waren, sondern nur davon, ob die Verfassung des Staates gut war und gut funktionierte. Auch bei einem Uhrwerk fragt man nicht, ob es französisch oder englisch ist, sondern nur, ob es richtig geht. Nach dieser Logik war es gleichgültig, ob das Vaterland französisch oder englisch war: Hauptsache, es war der beste Staat.
Staat der Aufklärung eine Wahlheimat
Diesem Denken entspricht es, daß der Vaterlandsbegriff, der zu keiner Zeit häufiger erörtert und formuliert wurde als in der Aufklärung, vornehmlich den Charakter einer Wahlheimat hatte. Der Staat, in dem man wirkte, unter dessen wohltätigen Gesetzen man lebte — das war das Vaterland. So etwa formulierte das Friedrich Nicolai um 1760. Selbst Johann Gottlieb Fichte, der doch als einer der Propheten des deutschen Nationalismus gilt, war wenige Jahre vor seinen „Reden an die deutsche Nation" bereit, sich der französischen Republik als dem einzig möglichen Vaterland des rechtschaffenen — sprich: freiheitsliebenden — Mannes in die Arme zu werfen. Daß man dem Vaterland seine Kräfte, sein Leben weihte, war ein Akt der Dankbarkeit, eine Erstattung erwiesener Vorteile, nicht eine Erfüllung des Schicksals. Vor allem aber entspricht diesem Denken ein Kosmopolitismus, der uns in den Äußerungen der damaligen Zeit überall entgegentritt, über dem Staat und dem Volk steht immer die Menschheit, die Humanität. Da die Menschen grundsätzlich gleich sind, gibt es keine naturgegebenen Trennungslinien zwischen ihnen. Grenzen sind willkürliche, zufällige Linien, höchstens aus einer Zweckmäßigkeit, nicht aus der Natur zu begründen.
Dieser Kosmopolitismus blieb freilich meist theoretisch infolge jener eigentümlichen Veranlagung der menschlichen Natur, die sich so gern mit Selbsttäuschungen zufrieden gibt. Sie sorgte dafür, daß den meisten eben das eigene Vaterland als der beste Staat mit der besten Verfassung und den wohltätigsten Gesetzen erschien, da jeder in ihm die Freiheit und Gerechtigkeit am besten gewährleistet sah.
Das galt zunächst selbst für Rousseau, der von sich schrieb, wenn es irgendwo einen Staat gäbe, in dem Gerechtigkeit und Freiheit regierten, so sei er dessen Bürger. Lange Zeit hat er seine Vaterstadt Genf für diesen Staat gehalten. Erst als man dort sein Buch vom Gesellschaftsvertrag verbot, verzichtete er auf das Genfer Bürgerrecht, auf das er vorher so stolz gewesen war. So sehr war er aber andererseits von dem erzieherischen Wert des nationalen Klimas, Charakters und Regiments überzeugt, daß er die demoralisierende Wirkung des modernen, die nationalen Eigenarten verwischenden Europäertums beklagte.
Kosmopolitischer Rationalismus und handfester Ethnozentrismus
Am reibungslosesten stimmt der rationalisti-sche Kosmopolitismus mit einem gesunden Nationalstolz bei Thomas Jefferson überein, der für die Ausbildung des amerikanischen Nationalgefühls so entscheidend geworden ist. Ihm ist es gleichgültig, ob die Bürger von Nordamerika in einer oder mehreren Konföderationen zusammengefaßt sind. Er tritt für den Austausch der Bürgerrechte mit dem revolutionären Frankreich ein, also für eine Art Aufhebung der Staatsgrenzen. Trotzdem scheinen ihm nur die Vereinigten Staaten von Amerika wirklich frei, wirklich tolerant und fortschrittlich zu sein. In ihnen sieht er die Nation, die am besten die übernationalen Werte verwirklicht. Europa ist ein Irrenhaus, seine Menschen sind Tigern vergleichbar. Amerika dagegen ist die beste Hoffnung der Welt. Es hat die Sendung, den Völkern die wirkliche Freiheit vorzuleben. Ja, die Vereinigten Staaten sind das Nest, von dem aus ganz Amerika, Nord und Süd, bevölkert werden muß. Spanien mag seinen Kolonialbesitz so lange halten, bis die Vereinigten Staaten bereit sind, ihn zum Segen der Menschheit zu übernehmen.
Wenn das nicht ein Ethnozentrismus ist, wie er von heutigen Landsleuten Jeffersons an ihren zeitgenössischen Mitbürgern untersucht und als ein zu überwindendes Vorurteil in die geistige Nähe des Faschismus gebracht wird: um was in aller Welt handelt es sich dann? Auch hinter einem kosmopolitischen Rationalismus, der nichts von Eigenart und Unterschieden der Völker wissen will, dessen einziges Kriterium die Freiheit und Fortschrittlichkeit der Verfassung ist, kann sich offenbar ein handfester Nationalismus verbergen.
Alle diese Beobachtungen zeigen: Auch der westliche Typ des Nationsbegriffs, die rationale, nach schicksalhaften Gegebenheiten nicht fragende, der Theorie nach kosmopolitische, auf freiwilligem Entschluß zur Zusammenarbeit beruhende Bindung der diesem Nationsbegriff Anhängenden ist gegen eine einseitige und ungerechte, die eigene Gruppe oder Nation bevorzugende Ideologie, mit anderen Worten: gegen einen Nationalismus nicht gefeit. Wir konnten rührend naive Selbsttäuschungen über einen vermeintlichen Kosmopolitismus bei gleichzeitigem handfesten Ethnozentrismus bemerken, aber auch Exzesse des Nationalismus und nationalistischen Terror in einer sich selbst der Aufklärung, der Vorurteilslosigkeit und des Kosmopolitismus rühmenden Epoche.
Integraler Nationalismus in Frankreich nach 1871
Die jüngere Geschichte bringt noch deutlichere Beispiele für einen mitten aus der rationalen, individualistischen Gesellschaft Westeuropas hervorbrechenden Nationalismus: Es ist der im Frankreich der dritten Republik nach dem Zusammenbruch von 1871 aufflammende und dort auch mit dem klassisch gewordenen Namen „integral" bezeichnete Nationalismus, dessen Ähnlichkeit mit dem Nationalismus der Deutschen nach 1918 wir andeutungsweise schon festgestellt haben.
Dieser Nationalismus ist die Reaktion einer nationalen Gruppe auf ein Trauma des nationalen Selbstbewußtseins. Wenn eine Nation oder nationähnliche Gruppe am Rande ihres Untergangs steht oder zu stehen glaubt, wenn sie eine schwere Niederlage erlitten hat, die ihr Selbstwertgefühl verletzt und die Gefahr ihrer Desintegration heraufbeschwört, dann reagiert diese Nation mit einer Absolutsetzung ihres Wertes, eben mit jenem integralen Nationalismus. So haben die Franzosen auf ihre Niederlage von 1871 bis in alle Einzelheiten gleich reagiert wie die Deutschen auf die ihre von 1918: mit einer Dolchstoßlegende, mit dem durch die plötzliche Popularität von Gobineaus Rassentheorie symbolisierten und in der Dreyfus-Affäre gipfelnden Antisemitismus, mit dem Streben nach nationaler Erneuerung durch die Wiedergeburt vergangener, vermeintlich national echterer Zustände — die Franzosen des mittelalterlichen, königlichen Frankreichs, die Deutschen des vorchristlichen Germanentums —, schließlich, da rationale Kräfte für diese Erneuerung der Nation nicht auszureichen schienen, mit der Beschwörung mystischer Kräfte, wofür Maurice Barres die Formel fand „La terre et les morts", die genau der nationalsozialistischen Parole von Blut und Boden entspricht. Sogar in der Heraus-stellung eines charismatischen Führers, des allerdings kläglich gescheiterten Generals Boulanger, hat der integrale Nationalismus der dritten Republik die Tragödie des Nationalsozialismus vorweggenommen. Wir sind heute, da wir in der Welt überall, im Westen wie im Osten, in nationalen Krisen Vater-und Führerfiguren haben auftauchen sehen, nicht mehr so sicher wie noch kurz vorher, einen solchen Vater-und Führerkult ausschließlich dem irrationalen Nationalismus der Deutschen oder Slawen oder mancher Entwicklungsvölker zuzuschreiben.
Als Ergebnis des bisherigen Gedankengangs können wir nunmehr zusammenfassen: Der Unterschied der beiden hier in Rede stehenden Typen des Nationsbegriffs, der Strukturmodelle der nationalen Gesellschaften und ihres Nationalismus beruht offenbar nicht auf der Verschiedenheit der Volkscharaktere, des westeuropäischen einerseits, des deutschen und slawischen andererseits. Ähnlich können wir ja heute auch nicht mehr zwischen friedliebenden und kriegslüsternen Nationen unterscheiden, wie das in der Kriegspropaganda üblich war und heute noch zur Requisitenkammer der kommunistischen Propaganda gehört. Ob friedliebend oder aggressiv, das hängt nicht von einem — wissenschaftlich ohnehin fragwürdigen — Volkscharakter ab, als vielmehr von der Situation, die ein Volk oder eine Gruppe — welcher Art immer, friedlich oder aggressiv — weltbürgerlich oder nationalistisch reagieren läßt.
Das Minderheitenproblem
Für diese Abhängigkeit des Nationsbegriffs und des nationalen Verhaltens einer bestimmten Gesellschaft von der Situation, vom Erlebnishintergrund und also auch von der Geschichte und Erfahrung dieser Gesellschaft sind ihre Entwürfe und Haltungen zu besonderen Grenzproblemen des nationalen Lebens aufschlußreich. Ein solches Grenzproblem ist das Nationalitätenproblem, das sich aus dem Zusammenleben verschiedener sprachlicher, religiöser oder rassischer Gruppen in einem Staat oder aus der Verteilung einer solchen Gruppe über mehrere Staaten ergibt, mit allen daraus folgenden und nicht selten zu Ausbrüchen des Nationalismus führenden Spannungen und Konflikten. In seiner Beurteilung und in den Entwürfen zu seiner Lösung unterscheiden sich die beiden hier gegenübergestellten Nationsbegriffe und Typen des Nationalismus grundlegend.
Das westliche Modell der nationalen Gesellschaft kennt — wie gezeigt — im Prinzip nur das Individuum und den Staat. Seine Form der Demokratie, die Mehrheitsdemokratie, beruht ja gerade auf der Homogenität der im Staat vereinigten Individuen, also darauf, daß es darin keine konstanten, das heißt durch vorgegebene ethnische Merkmale festgelegten Mehrheiten bzw. Minderheiten gibt. Denn ein Nebeneinander von konstanten Mehrheiten und Minderheiten in einem Staat ist der Tod jeder Demokratie, es sei denn, die konstante Minderheit ist als Gruppe mit besonderem Rechtsstatus oder Autonomie gegen Majorisierung geschützt. Die Gesellschaft des Plebicite de tous les jours kann sich also — den Sonderfall Schweiz, wo die sprachliche Integrationskraft der staatlichen nicht gefährlich wird, ausgenommen — ein dauerndes Nebeneinander verschieden nationaler Gruppen im gleichen Staat gar nicht vorstellen. Wo es solche Gruppen — Nationalitäten, Minderheiten — dennoch gibt, dort ist ihre natürliche Bestimmung die Assimilation, das Aufgehen in der homogenen Schar der gleichen und am Staat in gleicher Weise interessierten und beteiligten Individuen. Diese Assimilation human, möglichst freiwillig, unter Wahrung demokratischer Spielregeln vor sich gehen zu lassen, ist nach dieser Auffassung der einzige Sinn aller sogenannten Minderheiten-oder Nationalitätenschutzbestimmungen. Der aus einem Raum voller Nationalitäten-probleme, voller Überschneidungen von ethnischen und staatlichen Grenzen stammende — vorhin als romantisch-irrational bezeichnete, an sprachlich-kulturellen Merkmalen orientierte — Nationsbegriff sieht das Problem völlig anders. Er kann sich auf eine solche Unterwerfung kulturell eigenartiger ethnischer, rassischer oder religiöser Gruppen unter das Prinzip einer Homogenität der Staatsbevölkerung nicht einlassen. Es würde — wie human und legal auch immer durchgeführt — das Auslöschen einer solchen Kultur, das Verschwinden einer Nationalität selbst bei Erhaltung aller ihrer Individuen bedeuten.
Die Minderheitenfrage auf der Versailler Friedenskonferenz
An einer für die ganze weitere Geschichte Europas entscheidenden Stelle sind die beiden Konstruktionsprinzipien aufeinandergeprallt: bei den Pariser Friedensverhandlungen von 1919. Und eben hier standen einander in Sachen der Minderheitenschutzverträge zwei Gruppen mit verschiedenem Erfahrungshintergund und mit der diesem genau entsprechenden Konzeption wie in einem genial angelegten Laboratoriumsversuch gegenüber.
Was die Sache für unsere Fragestellung heuristisch noch wertvoller macht, das ist der Umstand, daß es auf beiden Seiten jüdische Gruppen waren, also Gruppen der gleichen Nationalität, die einen aus Osteuropa, die anderen aus Westeuropa stammend, an denen die beiden Nationsbegriffe und Nationalitätenkonzeptionen und ihr Zusammenhang mit der jeweils erlebten Situation abzulesen ist.
Das östliche, heute auch in Deutschland als romantisch, rassistisch, ja mit dem Nationalsozialismus verwandt betrachtete Gesellschaftsmodell wurde hier in Paris vor allem von den amerikanischen Juden durch den von ihnen organisierten „American Jewish Con-gress" vertreten. In ihm hatte sich — gegen die alteingesessenen und assimilationistischen amerikanischen Juden — die spätere Einwanderung aus Osteuropa durchgesetzt. Sie hatte den Aufstieg durch Assimilation noch nicht erlebt. Sie kämpfte als Unterschicht mühsam um ihre Existenz. Das eigenständige Gruppen-leben mit ihren Volks-und Religionsgenossen aus dem Osten war ihr lebenswichtig. Sie war in ihrer Mehrheit zionistisch gesinnt. Die von ihnen beeinflußte, in Versailles vorgelegte „Jewish Bill of Rights" verlangte eine Autonomie der minderheitlichen Gruppen.
Machten sich so die amerikanischen Juden zu Vorkämpfern des östlichen Volksbegriffs, so sprachen sich die jüdischen Gruppen aus Westeuropa strikt gegen alle Ansprüche auf nationale Gruppeneinheit und -autonomie aus. Denn diese Juden waren seit langem in Westeuropa ansässig, in ihrer überwiegenden Mehrheit assimiliert oder auf dem Wege der Assimilation. In dieser Assimilation sahen sie die Grundlage ihrer günstigen Stellung und die einzig richtige Lösung ihres Problems. Für den Zionismus hatten sie wenig Sympathien. Diesem Erlebnishintergrund entsprach auch ihre Staats-und Gesellschaftsauffassung: Die Schaffung autonomer Gruppen im Staate sahen sie als Rückfall in den ihnen unangenehmen Nationscharakter des Judentums an. Sie mußte die erstrebte Assimilation an das jeweilige Staatsvolk in Frage stellen. Darum wendet sich der in Versailles vorgelegte Entwurf der britisch-jüdischen Organisationen gegen die Schaffung von „Subnationalities". Die Selbstverwaltung der Minderheiten in religiösen, Bildungs-, Wohlfahrtsund Kulturangelegenheiten sei in Polen nur unter der Voraussetzung zu gewähren, daß die polnische Sprache in den Schulen obligatorisch ist. Gerade das also, was den Nationalitäten in Mittel-und Osteuropa wesentlich war, die Sicherung eines eigensprachlichen Schulwesens, war in den Augen der westeuropäischen Juden ein Hemmnis der Assimilation, während die Staats-sprache in den Minderheitenschulen die Assimilationshilfe darstellte, die sie ihren osteuropäischen Glaubensgenossen wünschten.
Zusammenhang von Erlebnishintergrund und Nationsbegriff
Außer diesem geradezu klinisch klaren Fall lassen sich noch zahlreiche andere Beispiele für den Zusammenhang zwischen Erlebnishintergrund und Nationsbegriff, zwischen der existentiellen Erfahrung einer Gruppe und dem von ihr akzeptierten, als allein richtig und moralisch wertvoll anerkannten Typ der nationalen Gesellschaftsstruktur und des Nationalismus anführen. Das frappierendste Beispiel dafür ist wohl die Entstehung jener Formel, die das hier vor allem betrachtete westeuropäische, rationale, am Staat orientierte Strukturmodell der Nation klassisch definiert: der Formel vom „Plebiscite de tous les jours".
Diese Formel nämlich ist von Ernest Renan nach 1871, nach dem Verlust von Elsaß-Lothringen geprägt worden, in einer Lage also, in der es galt, eine sprachlich nicht französische, aber dem politischen Willen nach zur französischen Nation neigende Bevölkerung für diese Nation zu reklamieren. Daß hier das sprachlich-kulturelle Merkmal der Nationalität abgewertet, der — unterstellte — politische Wille als einzig ausschlaggebend verkündet werden mußte, liegt auf der Hand. Anderswo, vor allem in den Nationalitätenverhältnissen Ostmitteleuropas, haben sich wiederum ethnische Gruppen, über Nacht in einen fremden Staat ge-preßt und dort von der Entnationalisierung durch das staatstragende Mehrheitsvolk bedroht, auf Sprache und Abstammung, Kultur und Geschichte als auf die objektiv gegebenen, unveräußerlichen Merkmale der nationalen Zugehörigkeit berufen.
Pädagogische Haltung dem Nationalismus gegenüber
Versuchen wir zum Schluß, diese Beobachtungen zur Theorie des Nationalismus und eine seiner Ausprägungen wie des ihr zugrunde liegenden, „westeuropäischen" Struktur-modells der nationalen Gesellschaft zu überblicken, so mag sich daraus eine gewisse Vorsicht in der Beurteilung der beiden, für Ost-und Westeuropa charakteristischen Typen des Nationsbegriffs und Nationalismus ergeben. Den einen allein als aufgeklärt und demokratisch zu proklamieren, den andern schlankweg in die Nähe des Faschismus zu rücken, ist auf Grund einer Analyse der beiden ihnen zugrunde liegenden Strukturen nicht möglich; ebenso wie die vorher übliche Abwertung des westlichen, „atomisierenden", „etatistischen" Gesellschaftsmodells einseitig und falsch war. Auch hier waltet — wie in dem als Integrationsideologie definierten Nationalismus — eine gewisse Ambivalenz.
Die beobachteten Zusammenhänge zwischen der Situation einer Gruppe und ihrem Nationalismus schließlich sollten die Politiker lehren, nach Möglichkeit Situationen zu vermeiden, auf die eine Gesellschaft, welcher Art und Veranlagung immer, mit Nationalismus reagiert. Das ist gewiß besser, als eine zu verzweifeltem Nationalismus getriebene Gruppe mit Sanktionen und moralischer Diskriminierung zu bestrafen. Vielleicht ist gerade das uns heute so enttäuschende Erlebnis der noch nicht gelungenen Überwindung des Nationalismus, von dem wir ausgegangen sind, geeignet, uns — statt moralischer Entrüstung — eine nüchterne Analyse und damit eine sachkundige, politische und pädagogische Haltung diesem Phänomen gegenüber anzuerziehen.