1. Von der Kirchenschule zur Staatsschule
Das Mittelalter ist über Ansätze zu einem Schulwesen nicht hinausgekommen: Kloster-und Stiftsschulen der Kirche, Rats-und Klipp-schulen der Städte. Humanismus und Reformation bringen weitere Anstöße, aber erst mit Pietismus und Aufklärung beginnt in Deutschland die Geschichte der allgemeinen Volksschule als der Basis eines öffentlichen Schulwesens.
Besitz von den Schulen ergreift nun der Staat, der Staat des aufgeklärten Absolutismus. „Es soll der höchst schädlichen und dem Christentum unanständigen Unwissenheit vorgebeugt und abgeholfen werden, um auf die folgende Zeit in den Schulen geschicktere und bessere Untertanen (zu) bilden und (zu) erziehen." So steht es im Generallandschulreglement Friedrichs des Großen von 1763, und in einer königlich preußischen Circular-Verordnung von 1799 heißt es: „Wahre Aufklärung soviel zu seinem und dem allgemeinen Besten erfordert wird, besitzt unstreitig derjenige, der in dem Kreise, worin ihn das Schicksal versetzt hat, seine Verhältnisse und seine Pflichten genau kennt, und die Fähigkeit hat, ihnen zu genügen. Auf diesen Zweck sollte daher der Unterricht in allen Volksschulen eingeschränkt werden."
Die Unwissenheit der Untertanen widerspricht der Vernunft; ihre größere Geschicklichkeit soll auch ihr irdisches Glück fördern, aber obenan stehen Macht und Wohlfahrt des Staates. Das Ideal der Aufklärungsphilosophie ist der vernünftige Mensch, aber über ihn und sein Glück erhebt sich — bedingt durch die Staatsräson — die höhere Vernunft des Staates. Er ist die „überragende und zwingende Lebensmacht", er kann Mittel anwenden, „die die für das einzelne Individuum geltende Ethik verurteilt"
Exemplarische Bedeutung für das 18. Jahrhundert hat das Lebenswerk Friedrichs des Großen. Er entwickelt sich vom Philosophen zum Herrscher der Staatsräson. „Der Imperativ der Staatsnotwendigkeit .. . siegte jedes-mal ... auch über die Ideale seiner Aufklärungsphilosophie."
Wohl soll dieser Staat ein Kultürstaat und Rechtsstaat sein, ja später — bei Hegel — darüber hinaus die Verkörperung der sittlichen Idee, womit ein möglicher Gegensatz zwischen dem wirklichen und dem vernünftigen Staat einfach geleugnet wird; aber immer ist dieser Staat zuerst Macht, und immer wird er hier als losgelöst von den Individuen und über ihnen, den Untertanen, sich erhebend verstanden. Auch steht neben der allgemeinen Schulpflicht die allgemeine Wehrpflicht; es sind somit „zwei Prinzipien, mit deren Hilfe sich das Fundament . ..des neuzeitlichen Nationalstaates .. . begründen ließ"
Dreizehn Jahre nach Erlaß des Generallandschulreglements wird in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 zum ersten Male in der Geschichte das Streben nach Glück, „pursuit of happiness", zu einem der unveräußerlichen Rechte der Men-sehen erklärt und die Regierung als zur Sicherung dieser Rechte eingesetzt bestimmt. Damit manifestiert sich eine radikal andere Auffassung von Gesellschaft und Staat.
Landesgesetzliche Regelungen (in Preußen 1794 mit dem Allgemeinen Landrecht) erklären die Schulen für Veranstaltungen des Staates und schaffen den gesetzgeberischen Rahmen für Schulpflicht, Verwaltung und Einrichtung der Schulen, für Lehrpläne und Ausbildung der Lehrer und für die Aufsicht über sie. Dabei überträgt der Staat einige seiner Rechte an die Kirchen oder überläßt ihre Ausübung der schon bestehenden Kirchenordnung. (Die endgültige organisatorische Trennung von Staat und Kirche erfolgt in Preußen erst 1872) Dieser Zustand ist um 1800 etwa in allen deutschen Staaten erreicht.
Doch die realen schulischen Verhältnisse bessern sich nur sehr langsam und bleiben abhängig von der politischen und wirtschaftlichen Lage der Staaten, vom Wohlwollen und Verständnis der Herrscher oder von der Tat-kraft einzelner Minister. Immer wieder füllen Klagen über erbarmungswürdige Zustände die Darstellungen der Zeit
2. Vom Schulmeister-Katecheten zum Beamtenlehrer
In den Schulen des Mittelalters unterrichten Geistliche, Studierende, Vaganten und Winkelschulmeister, und erst im Humanismus entwickeln sich die Anfänge eines weltlichen Lehrerstandes. Mit der Einrichtung der Staats-schule aber beginnt die Geschichte des Beamtenlehrers, denn das Unterrichten in den Schulen wird zu einer hoheitsrechtlichen Aufgabe. („Die Lehrtätigkeit an öffentlichen Schulen und Hochschulen gilt als hoheitsrechtliche Aufgabe."
Das Berufsbeamtentum kontinentaler Prägung, dessen Formen im absolutistischen Staat des 18. Jahrhunderts ertwickelt werden, beruht „auf dem Prinzip der lebenslänglichen Anstellung, auf strenger Weisungsgebundenheit, starker Kontrolle von oben nach unter, fester Besoldungsordnung und ausschließlicher Ernennung durch den Monarchen oder seinen Beauftragten"
Gleichzeitig bilden sich für die juristische, dann kameralistische Ausbildung der Fach-beamten die entsprechenden Normen heraus, und mit den Ausbildungsnormen hängt nun sehr wesentlich die unterschiedliche Entwicklung der beiden großen Lehrergruppen — der Lehrer an höheren und niederen Schulen — während der nächsten 100 Jahre zusammen. Ein typisches Beispiel für die Begründung einer Beamtengruppe durch eine entsprechende Prüfungsordnung sind die Gymnasiallehrer. Nachdem schon das Allgemeine Land-recht die Lehrer an Universitäten und Gelehrtenschulen zu Staatsbeamten erklärte
Auch hier bleibt noch vieles im argen. Sie sind „ein rührendes Geschlecht, an Entsagungen gewöhnt, häufig mit einem kränklichen Körper behaftet, Folge des harten entbehrungsvollen Lebens, durch welches sie sich heraufgearbeitet hatten."
Dagegen gerät der Lehrer der niederen Schule in eine Zwitterstellung, die für das Selbstverständnis dieser größten Lehrergruppe, für ihren dann in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzenden standespolitischen Kampf und für das Ansehen in der Gesellschaft von großer Bedeutung wird.
Die typische Gestalt des gemeinen Lehrers noch in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts ist der Schulmeister-Katechet
Zieht man die oben erwähnten Kriterien für das Berufsbeamtentum noch einmal heran, so treffen von ihnen für den Schulmeister-Katecheten zu: die strenge Weisungsgebundenheit durch Staat und Kirche, die straffe Kontrolle von oben und die Ernennung durch staatliche Organe nach einer vom Staat bestimmten, wenngleich armseligen Ausbildung. Was dem gemeinen Lehrer vorenthalten wird, ist die wirtschaftliche Sicherstellung. Er arbeitet vielfach nebenberuflich, und über seine Einkünfte bestimmen, von einem staatlichen Zuschuß abgesehen, die Gemeinden
Für die grundsätzliche, noch später zu erörternde Frage nach der Zweckmäßigkeit des Beamtenstatus für den Lehrer muß hier gesagt werden, daß die wirtschaftliche Sicherung ein wesentliches Motiv für die Lehrerschaft war, nach diesem Status zu streben.
Unzureichende Ausbildung und ungesicherte Existenz geben auch die Anstöße für die ersten Vereinigungen der Lehrer. Die ersten bilden sich bereits vor 1800. Es sind Selbsthilfe-einrichtungen, die der Weiterbildung und der gegenseitigen Hilfe dienen. Gemeinsame Sorgen und Wünsche bringen die Angehörigen eines neuen Standes zu gemeinsamem Handeln. So begleiten die Vereine die Sozialgeschichte der Lehrerschaft von Beginn an.
3. Volksbildung und Obrigkeitsstaat
Volksbildung, heute ein Begriff der Erwachsenenbildung, soll hier im Sinne Wilhelm von Humboldts verstanden werden, „daß Bildung, Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein als möglich . . . herrschen"
Bezeichnend ist ein Zitat Basedows von 1771 „auf einer Reise zur Beförderung des Elementarwerkes und der Schulverbesserung": „Dieses Jahrhundert ist die Zeit der Gährung des Guten mit dem Bösen. Das letzte wird sinken. Alsdann wird das 19.des Segens gereinigter Einsichten und Sitten genießen."
Erziehung und Bildung werden dabei als Ergebnis des Strebens jedes einzelnen Individuums verstanden — fern von staatlicher Einflußnahme. Dem jungen Humboldt erscheint (1792) „vom Staat angeordnete und geleitete Erziehung" bedenklich
Der Gegensatz von absolutistischem Macht-staat und weltbürgerlicher Kultur ist noch evident. „Hier ein scharf berechnender Nützlichkeitssinn, eine nüchterne Verständigkeit und eine trockene Tugend, dort eine ungezwungene, freudige Erhebung der Seele, ein freies Emporblühen aller inneren Kräfte."
Andererseits tangieren die Konsequenzen einer allgemeinen Volksbildung die absolutistische Machtstruktur unmittelbar. Durch den Appell an die Kraft der Vernunft im Menschen wird ein folgenschwerer Prozeß in Gang gesetzt, der — indem er die Selbstbefreiung des vernünftigen Menschen anstrebt — zum Zusammenstoß mit der herrschenden Staatsform führen muß.
Dieser Prozeß spielt sich ebenfalls in der Schule ab, in der Schule, die sich unter den Forderungen der Staatsräson und bedingt durch die Herrschaftsstruktur des Absolutismus zur Staatsschule entwickelt hat.
Auch den Raum, der der Kirche verblieben ist, bedroht die Vernunft, ja gegen die kirchliche Bevormundung richtet sich die Autoritätsfeindschaft der Aufklärung zuerst. Nach langem gegeneinander um den Vorrang geführten Kampf stehen Staat und Kirche nebeneinander. Die Kirche betont die gemeinsame Ableitung beider Gewalten von der göttlichen Macht (Thomas von Aquin) und fordert den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit (Luther), auch einer bösen Obrigkeit, während der absolutistische Staat Schirmherr der Staatskirche und Vollstrecker der Ordnung Gottes auf Erden ist und der Monarch seine Macht von der göttlichen Gnade ableitet und sich anmaßt über die Konfession seiner Untertanen zu bestimmen
So kämpfen Staat und Kirche in einem Zweck-bündnis zusammen, wenn sie mit der Volks-bildung die Gefahr der Revolution und der Gottlosigkeit heraufziehen sehen. Ihre Mittel sind Lehrstoff und Lehrplan, ihr Werkzeug ist der Beamtenlehrer. Die Folgen der Reglementierung und des Dirigismus sind eine Schule, in der in äußerlich erbärmlichen Zuständen der freie Geist verkümmert, eine Schule, die als ein Instrument des Staates einen wesentlichen Beitrag zur Heranzüchtung von Untertanen leisten muß, und ein Lehrerstand, der zum Kriechertum verurteilt ist
Dabei soll nicht übersehen werden, daß der Prozeß der menschlichen Selbstbefreiung die Gefahr der Anarchie und des Atheismus in sich birgt. Das zeigt bereits die Französische Revolution. Gott, als primum movens in der Aufklärung schon entthront, wird hier ersetzt durch einen Kult der Vernunft, und der erste Versuch einer plebiszitären Demokratie endet mit einer totalitären Schreckensherrschaft. Das muß verhindert werden; doch „die Flucht vor der Aufklärung" ist unmöglich, denn „diese wird nicht abgeschlossen sein, solange der menschliche Gedanke fortfährt...“ Das Ergebnis braucht nicht das Chaos zu sein, sondern kann eine Humanisierung durch „Intellektualisierung" sein
Die Auswirkungen der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft bringen eine bedeutungsvolle Annäherung zwischen den geistigen und politischen Kräften in Deutschland zustande. Einerseits entsteht in der Revolution „das aufgeklärte schulpädagogische Grundmodell"
Die realen Ergebnisse werden im Enthusiasmus dieser Jahre überschätzt (so wenn das Edikt zur Aufhebung der Erbuntertänigkeit der Bauern von 1807 zur Habeas Korpus-Akte Preußens erhoben wird), oder sie bleiben Torso wie Steins Allgemeiner Erziehungsund Schulplan
In der Polarität zwischen liberalstaatlichem und machtstaatlichem Denken setzte sich die Machtstaatsidee durch. So urteilt Spranger über Humboldt als Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium: „Es ist seltsam, daß gerade Humboldt nicht berufen war, die liberale Seite seines Programms durchzusetzen."
In der Philosophie aber vollzieht sich gleichzeitig in diesen Jahrzehnten die Hinwendung zum Staatsidealismus, zur philosophischen Überhöhung des Staates. Jetzt wird der Staat „die Totalität der menschlichen Angelegenheiten" (Adam Müller) oder die „Verkörperung des immanenten absoluten Geistes" (Hegel). Damit werden auch für die Philosophie Schule und Erziehung zu staatlichen Aufgaben. „An die Stelle der Menschheit trat der Staat, an die Stelle des Weltbürgertums das Staats-bürgertum. Die Bildung des Staatsbürgers, nicht des Menschen wurde das Ziel der Erziehung."
Damit gab es auch keine geistige Schranke mehr gegenüber dem Zugriff der Reaktion auf das Schulwesen. Zunächst richtet sich diese gegen die Universitäten; der Höhepunkt der restaurativen Schulpolitik liegt nach 1848. Berühmt bleibt die Rede Friedrich Wilhelm IV. im Januar 1849 vor seinen Seminardirektoren: „Als das Elend, das im vergangenen Jahr über Preußen hereingebrochen ist, ist Ihre, einzig Ihre Schuld, die Schuld der Afterbildung, der irreligiösen Massenweisheit, die Sie als echte Weisheit verbreiten, mit der Sie den Glauben und die Treue in dem Gemüte meiner Untertanen ausgerottet und deren Herzen von mir abgewandt haben."
Als Gegenmittel werden der Staatsschule die Regulative diktiert (1854 für Preußen; ähnliche Maßnahmen erfolgen in den anderen deutschen Staaten). Danach gilt in Preußen bis 1872 folgender Wochenplan in den Volks-schulen: 3 Stunden Gesang, 6 Stunden Religionslehre, 5 Stunden Rechnen, 12 Stunden Lese-, Schreib-und Sprachunterricht
4. Das neuhunianistische Bildungsideal und die Industrialisierung
Dieses Bildungsideal, das in besonderer Weise für die Universität und die höhere Schule konzipiert wird und in seiner Ausformung eine „Monopolstellung im gesamten Bildungswesen" erhält
In einer bewußten Gegenbewegung stellt man ein anderes, ein normatives Bild des Menschen auf — den in seiner Individualität und seiner Totalität humanistisch gebildeten Menschen, und bettet diese Form in einen „universalen transzendenten Idealismus"
Für das Schulwesen bedeutet das die „Reduktion auf die kulturellen Aufgaben" (Schelsky), die Vernachlässigung der nützlichen Fertigkeiten (ein horror utilitatis entsteht in der Pädagogik)
Die Schule versteht sich so ausschließlich als Pflanzstätte der Bildung und der Kultur und betrachtet sich als autonom von den gesellschaftlichen Kräften. Hier ist eine Parallele zu der staatstheoretischen Konstruktion, der Staat sei als Rechts-und Kulturstaat von der Gesellschaft mit ihrem Egoismus und Interessenkampf zu trennen.
So kann die Schule in Deutschland als Instrument des Obrigkeitsstaates und auf Grund ihrer Bildungsidee ihre soziale Aufgabe bis in die jüngste Zeit nicht sehen und nicht wahrnehmen. Nur einzelne erkennen die „Erziehung als ein soziales Phänomen" (erstmalig Lorenz von Stein, ähnlich auch Schleiermacher) und „als Funktion der Gesellschaft" (Dilthey) und sehen das Illusionäre der klassischen Bildung (Nietzsche)
Doch sie finden keine Resonanz. Erst das politische Bewußtsein der Industriearbeiterschaft (Karl Liebknecht: Wissen ist Macht, ist Werkzeug zur Veränderung der Gesellschaft) und der optimistische Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen für die moderne industrielle Welt (Dewey: habit formation, Verhaltensformung durch Orientierung der Erziehung auf die Personen-und Sachwelt und der Zusammenhang von Democracy and Education) und der Beitrag der aufkommenden Sozialwissenschaften bringen der Pädagogik eine neue Sicht der Bildungsziele
So steht die Schule in Deutschland für lange Zeit im Spannungsbereich dieser beiden Divergenzen: zwischen der herrschenden Staats-idee und den gesellschaftspolitischen Veränderungen und zwischen der geltenden Bildungsidee und den wirtschaftspolitischen Umwälzungen. Dabei haben Staats-und Bildungsidee mehreres gemeinsam: Sie beruhen auf einem Irrationalismus, entwickeln einen unfruchtbaren „Konservierungswillen" (Alfred Weber) und bleiben hoffnungslos hinter dem eingetretenen Wandel zurück. Sie stützen sich gegenseitig. Die humanistisch Gebildeten bejahen die spezifische deutsche Staatsform als „die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grund gewollte Staatsform"
Die beiden letzten Kapitel implizieren die Fragen nach der Brauchbarkeit der Staatsschule und der Zweckmäßigkeit des Beamtenstatus für den Lehrer. Beide Fragen können hier nicht ausführlich untersucht werden, schon weil die herrschende Staatsform die Antworten wesentlich beeinflußt, sondern sollen nur für die besondere deutsche Situation der Vergangenheit beantwortet werden.
5. Die Brauchbarkeit der Staatsschule und das Verhältnis der Gesellschaft zu ihr
Es ist üblich und einfach, das deutsche Bildungswesen der Vergangenheit dafür zu loben, daß es relativ frühzeitig die Schulpflicht allgemein durchsetzt und allmählich ein differenziertes Schulsystem schafft. Industrialisierung und Ausbau von Handel und Verkehr in einer rasch wachsenden und sich ihrer Kräfte bewußt werdenden Nation sind ohne ein leistungsfähiges Schulsystem eben nicht möglich
Kosellek weist für Preußen nach, daß einerseits die führende Beamtenschaft ihre Schulpläne gegenüber der Ausnutzungstendenz vieler Unternehmer nicht durchsetzte („der Anspruch des Staates machte tatsächlich vor den Toren der Fabriken und den Hütten der Heimarbeiter halt") und andererseits nach 1840 die Kluft zwischen der ursprünglich liberalen Verwaltung und den Administrierten immer größer wurde, weil die restaurativen Kräfte dominierten
Statt dessen muß mitberücksichtigt werden, was hier im einzelnen zum Teil nur gestreift werden kann:
Die Motive der staatlichen Schulpolitik; sie gründen sich auf das Staatsinteresse, das nicht immer mit den Interessen der Gesellschaft zusammenfällt. Als Beispiel sei der preußische Kulturkampf erwähnt.
Die Folgen der restaurativen Schulpolitik; die Regulativpädagogik ist hier ein Beispiel. Die Ansätze und Beiträge außerstaatlicher Kräfte.
Vergleiche mit Ländern ohne Staatsschule können den Blick für die Mängel des deutschen Schulwesens schärfen und zeigen, daß ein gutes Schulsystem nicht nur mit staatlichem Zwang zu erreichen ist.
Die Vorteile der Staatsschule liegen in der Einheitlichkeit der inneren und äußeren Schulverhältnisse und in der klaren Abgrenzung der Zuständigkeit und Verantwortung. Hier soll aber nicht vergessen werden, daß die Nivellierung der Ansprüche und Anforderungen in einer Industriegesellschaft eine weitgehende Einheitlichkeit im Schulwesen erzwingt. Das ist etwa an der Entwicklung des englischen und amerikanischen Schulwesens, * besoners in den letzten Jahrzehnten, gut abzulesen
Die Gefahren, die der Schule als Staatsschule beim Fehlen eines demokratischen Regierungssystems drohen, sind: daß sie nicht den Erfordernissen der Gesellschaft entspricht, daß sie sich deren Impulsen verschließt und der Entwicklung nach-hinkt, daß sie nur verwaltet wird und keine pädagogische Autonomie besitzt, und daß sie „in erster Linie eine Hilfseinrichtung der Staatsmacht
Es ist nicht zu übersehen, daß diese Gefahren in der Vergangenheit eingetreten sind und das deutsche Schulwesen bis in die Gegenwart hinein mitbestimmt haben
Gab es außerstaatliche Kräfte, die an der Schule interessiert und gewillt waren, das Schulwesen mitzugestalten und zu tragen? Sucht man nach solchen Ansätzen und Beiträgen für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, so sind folgende Gruppen zu betrachten. (Die grundsätzliche Haltung der Kirchen wurde schon angedeutet.) a) Bürgertum und Wirtschaftskreise Sie entwickeln weitgehend selbständig das mittlere Schulwesen und das höhere Mädchen-schulwesen und fördern sehr den Aufbau der Berufsschulen. Durch ihre Initiative werden auch die Folgen der Regulative für das städtische Schulwesen wesentlich abgeschwächt
Eine hervorragende Erscheinung im fortschrittlich denkenden Bürgertum ist Friedrich Harkort (1793— 1880). Er ist Industrieller und 21 Jahre lang Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus. 1843 gründet er einen „Verein für die deutsche Volksschule und für die Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse", der es rasch auf 2500 Mitglieder bringt. Theodor Heuss nennt ihn „die vollkommene Prägung dessen . . ., was man unter deutschem Bürgersinn und Bürgertum des 19. Jahrhunderts verstehen mag."
Natürlicherweise gab es Gegenstimmen; eine für Auseinandersetzungen offene Gesellschaft bezieht keine einheitliche Stellung gegenüber so einschneidenden Veränderungen, wie sie die Schulpflicht mit sich brachte. So bestand in der Kinderarbeit ein großes Hindernis, solange man diese aus Profitstreben oder Not nicht glaubte entbehren zu können. Manche bezweifelten auch einfach den Bildungswillen der Masse
Dabei ist es für unseren Zusammenhang wichtig, festzustellen, daß Liberale und Sozialisten keine Alternative zur Staatsschule sehen. Die Liberalen verlangen gegen den kirchlichen Einfluß ein Staatsgesetz, die Sozialisten gegen die soziale Ungerechtigkeit der Klassengesellschaft die „allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat." Beide rufen nicht nach weniger, sondern nach mehr Staat — ein Symptom für die besondere Problematik der politischen Parteien in Deutschland
Der Staat in Deutschland baut seine Macht als einen der Gesellschaft übergeordneten Herrschafts-und Verwaltungsapparat im 18. und 19. Jahrhundert aus. Diese Macht wird — 1813 und 1848 nur vorübergehend erschüttert — ungebrochen in die konstitutionelle Monarchie überführt. Neben der faktischen Macht haben so Tradition und Kontinuität, der geschichtliche Erfolg (manifestiert in der Reichsgründung) und eine besondere, sich hier entwikkelnde Staatstheorie den Staatsapparat gewaltig verstärkt und im Bewußtsein aller Deutschen verankert, als die politischen Parteien sich etablieren. So entstehen Parteien, die „an Prinzipien ausgerichtet" sind und vor „der Empirie der Politik" (Ernst Fraenkel) versagen, weil sie sich in ihr nicht bewähren durften oder sie aus Doktrinarismus nicht erkannten. Für das Schulwesen bedeutete dies, daß die Parteien auf die als staatliches Instrument funktionierende Schule keinen Einfluß ausübten, bis 1918 der Machtapparat zerfiel.
Nur eine Partei, das Zentrum, tritt in ihren Programmen (1870 und 1871) für eine Beschränkung der staatlichen Machtbefugnisse im Schulwesen ein, indem sie fordert: „Staatsaufsicht und Einrichtung der Staatsschule nicht nach der Willkür der Staatsbehörden, sondern nach den realen, religiösen, geistigen und sittlichen Verhältnissen des Volkes." Hier zeigt sich erstmalig ein aktiver Gruppenwille, der dem Staat die volle Souveränität über die Schule bestreitet und pluralistische Interessen berücksichtigt sehen will
Mehrere in sich verschlungene Motive lassen sich hier unterscheiden, sicherlich symptomatisch für 1848. Volkserziehung und Volkserziehungswesen sind Ausdrücke des nationalen Gefühls dieser Monate. Man wünscht die Einheitlichkeit des Erziehungswesens, um über diese die Einheit der Nation zu stärken. „Das deutsche Volk erwacht . . ., vernehmen wir den Ruf nach einem einigen Deutschland," ruft Wander in seinem Aufruf zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Lehrervereins.
Die verschwommene Forderung nach einem Erziehungsrat aus Sachverständigen deutet das liberale Element an. Doch das für die Zeit entscheidende Verlangen heißt Unabhängigkeit der Schule und des Lehrers von der Kirche. Der verbliebene kirchliche Einfluß (er ist besonders auf dem Lande noch vorhanden) soll ersetzt werden durch einen vermehrten Einfluß des Staates. Hier zeigt sich, daß „die Auseinandersetzung mit der Kirche . .. eine Teilaufgabe der Emanzipation des Lehrerstandes darstellt"
Dabei erweist sich diese Forderung neben den politischen Gegensätzen als das Sprengmittel für die gerade proklamierte Einheit der Lehrerschaft. Schon auf der ersten Versammlung des Allgemeinen Deutschen Lehrervereins wird die Gegenforderung (in diesem Kreise aber überstimmt) erhoben, die Schule solle Kirchenanstalt sein und unabhängig vom Staate bleiben
Inwieweit diese Staatsschule eine Mitbeteiligung der Gemeinden noch einschließen soll, bleibt ungeklärt. Rissmann meint, die Mehrheit habe die reine Staatsschule unter Ausschluß aller anderen Kräfte gewollt
Ein weiteres Motiv in dem Leipziger Programm ist der Wunsch nach wirtschaftlicher Besserstellung, dessen Erfüllung man sich durch den Staat erhofft, das heißt durch Erlangung des vollen Beamtenstatus.
Nationalerziehung, Unabhängigkeit von der Kirche und wirtschaftliche Sicherung sind die Gründe dafür, daß die Mehrheit der organisierten Lehrerschaft 1848 die reine Staats-schule fordert. Die Gefahren, die der Schule als Staatsschule drohen, sieht sie nicht. Sie richtet keinen Anruf an die gesellschaftlichen Erziehungskräfte um Mitarbeit und um Hilfe — gar gegen den Staat.
Eine auffallende Ausnahme ist Friedrich Wilhelm Dörpfeld. In Schriften zur Schulverfassung und Schulpolitik betrachtet er die Familie als die Normalerziehungsanstalt für die Jugend, entwirft den Plan einer „gerechten, gesunden, freien und friedlichen Schulverfassung" und sieht deren Kern in einem „Verband von Familien zur gemeinsamen Erziehung der Jugend auf Grund des Elternrechts“. Seine Schule hat nur lose Beziehungen zum Staat, rechnet aber mit dessen Hilfe
So bleibt für diesen Abschnitt festzustellen, daß einerseits Bürgertum und Arbeiterschaft, obwohl sie Ansätze dafür zeigen, Verantwortuhg im Schulwesen zu übernehmen, keine Aussicht haben, gegenüber der Tradition und der Institution der Staatsschule Einfluß zu erlangen, und daß andererseits, wenngleich nicht ohne Ausnahmen, die politischen Parteien und die organisierte Lehrerschaft die Staatsschule unterstützen, ja ihren Ausbau fordern.
Daß es zur gleichen Zeil eine echte Alternative zur Staatsschule gibt, zeigt ein flüchtiger Blick auf die Schweiz und die USA. Allerdings sind hier die politischen Voraussetzungen grundsälzlich andere — aber diese Arbeit will ja gerade auf die Abhängigkeit des Schulwesens und des Lehrerstandes von den politischen Grundlagen hinweisen. e) Die Bürgerschule — als Alternative zur Staatsschule — in der Schweiz und in den USA
In der Schweiz, Heimat von Rousseau und Pestalozzi, entwickelt sich in den Gemeinden und Kantonen früh ein zwar uneinheitliches, aber reiches Schulwesen. Seine Grundlage ist die Volksschule, die von Schulgemeinden oder Schulgenossenschaften getragen und erst in der Bundesverfassung von 1874 für den gesamten Bundesstaat allgemein bestätigt wird.
Ein anschauliches Beispiel für das Funktionieren eines durch demokratische Gemeinwesen mit einem liberalen Bürgertum getragenen Schulsystems ist uns durch den Bericht von Karl Mathy überliefert
Aus dem Bericht ergibt sich: 1. Um 1837 besitzt jede Gemeinde des Kantons Solothurn Schule und Lehrer, erhält jedes Kind Unterricht.
2. Mathy selber unterrichtet als Protestant in einer katholischen Gemeinde.
3. Dadurch daß „nützliche Kenntnisse" vermittelt werden, gewinnt man das Interesse der Bürger für ihre Schule. 4. Durch die Bürger werden weiterführende Schulen eingerichtet. 5. Die Volksschule wird ein Mittelpunkt der Gemeinde: Erwachsenenbildung, Berufsberatung, kulturelle Betätigung setzen ein. 6. Eine Schülerselbstverwaltung beginnt.
Erst dann bittet man die Regierung um Prüfungsrichtlinien mit der bemerkenswerten Begründung: „Es werde der Schule nützen, wenn der Staat sie beachtet!" — Bekannter ist die Unterstützung, die Pestalozzi für seine Schulund Erziehungsversuche von einer wohlwollenden Regierung erhielt.
Eine solche „Mobilisierung des Bürgertums" (Wittram) zeigen die USA im großen Maßstab. Und während Mathy in Solothurn erkennt, daß die Schule auf das Leben bezogen sein muß, erlebt Tocqueville in der Nellen Welt, „daß die fortschreitende Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen den Menschen-geist auf die Suche nach dem Nützlichen führt"
Von den Aufgaben der Bildung aber schreibt er: „Ich sehe die Zeit kommen, da selbst die Freiheit, der Friede des Staates und die soziale Ordnung die Bildung nicht mehr werden entbehren können." Erziehung und Bildung werden hier als Voraussetzung für Freiheit und soziale Ordnung erkannt und gleichzeitig zum Schutze dieser Errungenschaften vor der Anarchie gefordert. Darum „bilde man sie um jeden Preis!" So geschrieben um 1835!
Und auf der Grundlage „der soziologischen Offenheit der amerikanischen Gesellschaft"
Da das amerikanische Schulwesen für die gesellschaftlichen Einflüsse offen stand, hat es allerdings eine einheitliche Bildungsidee nie gegeben, wohl aber ein besonderes Engagement der Nation. Education wird „eine magische Bedeutung beigemessen“
Ein gründlicherer Vergleich des Schulwesens verschiedener Länder im 19. Jahrhundert könnte bereits statistisches Material heranziehen und damit auch auf diese Weise der Frage nach der Brauchbarkeit der Staatsschule nachgehen.
So gibt es zum Beispiel Angaben über den Prozentsatz der Analphabeten unter den Rekruten (Preußen 0, 8; Schweiz 0, 6; Dänemark 0, 4; Frankreich 7, 4), über die Schülerzablen im Verhältnis zu den Einwohnerzahlen und über die finanziellen Aufwendungen pro Schüler (Preußen 37, Schweiz 40, England 42)
6. Das Streben der Lehrerschaft nach dem Beamtenstatus und ihre Auffassung von Staat und Gesellschaft
a) Bindung an den Staat um jeden Preis Indem die organisierte Lehrerschaft mit ihrem „Mündigwerden" (so heißt es in einem Aufruf von 1848) für die Staatsschule eintritt, muß sie auch den Beamtenstatus bejahen. Sie tut es mit Entschiedenheit, ja kämpft darum bis zur endgültigen Verwirklichung nicht nur aus dem verständlichen Wunsch nach wirtschaftlicher Sicherung, sondern weil sie das „Leitbild Staatsbeamter ... als die optimale Lösung" für den Lehrer auch in beruflicher und rechtlicher Hinsicht ansieht
Auch während der Revolution von 1848 — es ist darauf hingewiesen worden — erhofft sich die Lehrerschaft alle Verbesserungen allein durch den Staat — Folge einer hundertjährigen Abhängigkeit und Konsequenz einer liberalen und idealistischen Auffassung vom Staat. Die Revolution scheitert, die alten Gewalten setzen sich durch — gegenüber den Staatsdienern auch mit Drohungen, Verboten und Strafen. Eine Minderheit verliert ihr Amt (in Sachsen 50 von 3200 Lehrern, darunter sind 6 Landtagsabgeordnete
So urteilt Diesterweg: „Die Mehrzahl der Lehrer ist es nicht besser wert; sieh nur, wie die Kerle . . . überall verstummen und unter-kriechen."
Allerdings gibt nach 1848 auch „das Bürgertum ...den Machtkampf sehr bald auf"
Damit ist eine verhängnisvolle Entwicklung verbunden. „Je wechselvoller das politische Schicksal der Nation nun wurde, desto wechselvoller auch der Gesinnungsdruck auf die Lehrerschaft, desto labiler deren politische Gesinnung." Und am Ende entsteht die „Si81 tuation, daß die Lehrerschaft in unserem Volk als einer der politisch willfährigsten Stände gilt"
Eine für diese Liberalen typische Erscheinung ist Diesterweg, der zuerst Gymnasiallehrer und dann Seminardirektor war. Er wird aus politischen Gründen vom preußischen Staat entlassen. Als ein maßgeblicher Führer der Volksschullehrerschaft geht er nach der Enttäuschung von 1848 bewußt in die Politik, wird Mitglied im Preußischen Abgeordnetenhaus (für sieben Jahre) und damit Prototyp eines modernen Verbandsführers, der durch verantwortungsbewußte parlamentarische Arbeit und nicht mit Vereinsaufrufen seine politischen Vorstellungen zu realisieren trachtet. Er erreicht nichts in diesem Scheinparlament, erlebt nicht einmal die Aufhebung der Regulative, doch Staatsschule und Beamtenstatus bleiben für ihn unverrückbare Ziele.
Diesterweg ist Abgeordneter der Liberalen Partei, dann der Fortschrittspartei, und sein Denken, soweit es aus seinem Kampf für Schule und Lehrerschaft ersichtlich ist, scheint symptomatisch zu sein für die besondere Formung und Weiterentwicklung der liberalen Ideen in Deutschland. Gegenüber den ursprünglichen Ideen von der Zurückdrängung des Staates auf die bloßen Schutzfunktionen
und dem Ausbau der individuellen Rechte ihm gegenüber, wird das konstitutionelle Element immer stärker, und damit wächst die Bereitschaft zum Zusammengehen mit den allen Gewalten. Uber diese Bereitschaft kommt es dann zur Spaltung und politischen Ohnmacht der Liberalen, übrig bleibt die bloße Idee des Rechtsstaates und die vage Hoffnung, daß sie sich allmählich ausbreiten wird, obwohl die Diskrepanz zwischen der Verfassungswirklichkeit und der liberalen Verfassungsvorstellung immer größer wird.
Auch in England, dem Ursprungsland des Liberalismus, sind die liberalen Ideen weiterentwickelt worden. „John Stewart Mill is the most complete example of how English democratic traditions . . . adjusted themselves to the challenge of a new industrial age."
Ist es verwunderlich, daß die Lehrerschaft Fichte als einen der ihren betrachtet? (Auf seinem Grabstein steht das Wort des Propheten Daniels: „Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz. Seine Reden werden zu einem pädagogischen Standardwerk, und mit seinem Werk verbreiten sich auch seine staatstheoretischen Vorstellungen. Bestimmt schon in seinem „geschlossenen Han-delsstaat" der Vernunftstaat über Arbeit und Bedarf aller, so wird in den Reden ein höherer Zweck des Staates konstruiert, höher als „den der gewöhnlichen Erhaltung des inneren Friedens, des Eigentums, der persönlichen Freiheit, des Lebens und Wohlseins aller.“ „Für diesen Zweck muß freilich die natürliche Freiheit des einzelnen auf mancherlei Weise beschränkt werden" (8. Rede).
Hier liegt eine Wurzel
Fichtes Werk gibt dem Beruf des Lehrers eine höhere Weihe, eine ideologische Überhöhung. Es macht ihn buchstäblich hoheitsvoll, rückt den Lehrer an den Staat heran und läßt ihn teilhaben an dessen Autorität und Macht.
Es soll hier nicht versucht werden, Fichte historisch verantwortlich zu machen, erhalten doch seine Ideen nach ihm ein Eigenleben. Sie werden weiter gedacht und führen erst viel später zu diesen Konsequenzen — zu Konsequenzen, die vielleicht gerade „dieser unbeugsame Charakter zornig verworfen hätte"
Wir fragten in diesem Abschnitt, warum die Lehrerschaft trotz Regulativpädagogik und staatlicher Schikane den Beamtenstatus erstrebte. Wir fanden als Antwort: Ihre Auffassung von Staat und Gesellschaft ließ sie trotz allem diesen Staat bejahen. Dabei wird es kaum reine Auffassungen gegeben haben, wie sie hier konstruiert werden mußten, eher mannigfaltige Verbindungen von kulturstaatlicher Auffassung als Konsequenz des humanistischen Bildungsdenkens, von liberal-und nationalstaatlicher Auffassung. Das Ergebnis dieses Denkens aber ist gleich: Der Lehrer begreift sich als Staatsbeamter, das heißt als eine Säule des autoritär-konstitutionellen Staates.
7. Die Zweckmäßigkeit des Beamtenstatus für den Lehrer
a) Gefahren im autoritär-konstitutionellen Staat In einem letzten Abschnitt soll versucht werden, die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Beamtenstatus für den Lehrer zu beantworten. Dabei ist auf die oben (S. 10) gemachte Ein-Schränkung verstärkt hinzuweisen. Die Frage erfordert die Erörterung des Zweckes. Dazu soll hier nur gesagt werden, daß der Zweck der Schule und damit die Aufgabe des Unter-richtenden sich im 19. Jahrhundert wesentlich erweitern und vertiefen. Neben die Vermittlung des Elementarwissens tritt die Absicht der Bildung und Erziehung, Schulunterricht wird zu einer „sozialen Aufgabe" (Ellwein), zu einem Teil der Daseinsvorsorge. Damit wachsen Bedeutung und Verantwortung des Lehrers.
Für wen hat er Bedeutung, wem ist er verantwortlich? In einer demokatischen Gesellschaft ist er ausschließlich ein Helfer des Kindes, ein „Partner der Eltern" (Wenke) und ihnen verantwortlich und darüber hinaus der Gesellschaft — selbst dann, wenn er direkt der staatlichen Verwaltung untersteht; denn «Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht" (Grundgesetz, Art. 6). Die staatliche Schulaufsicht koordiniert diesen Teil der Daseinsvorsorge, „verteilt" ihn nach dem Grundsatz der Egalität und verwaltet ihn. Werden Staat und Gesellschaft dagegen getrennt begriffen, ja als im Gegensatz zueinander stehend, so gerät der Lehrer als Staatsbeamter zwangsläufig in ein Dilemma, wenn deren Forderungen auseinandergehen. Nur für diese Situation soll hier von Zweckmäßigkeit gesprochen werden.
In ihr bestehen zwei Gefahren, daß sich der Lehrer der Gesellschaft entfremdet und vom Staat als Instrument seiner Politik benutzt wird. Auf die erstere wurde bereits verschiedentlich hingewiesen. Fehlende Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft, mangelnde Kommunikation mit ihr führen zur Verständnislosigkeit gegenüber dem gesellschaftlichen Wandel und zur Abkapselung des Lehrers.
Zahlreiche Beispiele gibt es hierfür. So hat J. Heinel einmal den Niederschlag der sozialen Frage in den Schul-und Studienbüchern für Seminaristen untersucht und geurteilt: „Eine ausführliche Darstellung der in der Großstadt lebenden Arbeiter, des Wohnungselends, der . . . Frauen-und Kinderarbeit findet sich nirgends."
Wichtiger erschienen den Behörden andere Dinge. So antwortete die Regierung in Schwerin 1906 auf eine Eingabe, „daß alle Seminaristen den von der Ritterschaft gewünschten Unterricht in Acker-und Gartenbau erhielten, . . . und daß die Erziehung der Lehrer zu Gottesfurcht und Tugend, besonders auch zur Höflichkeit und Bescheidenheit ein Hauptziel sei."
Auch das Entstehen von besonderen Lehrer-typen dürfte mit der gesellschaftlichen Abkapselung Zusammenhängen: z. B.der katechisierende Dorfschulmeister, der weltblinde Gymnasialpauker (Professor Unrat), der monarchistische Oberlehrer (Oberlehrer Kantorek in „Im Westen nichts Neues"). Gerade ihretwegen identifizierten große Teile der Jugend die Lehrerschaft mit dem Obrigkeitsstaat. Diese Jugend sieht „die Schule als Anstalt der Knechtung, deren Ziel es ist, die eigenwüchsigen jungen Menschen zu einer Massenware für Staatszwecke zu modeln."
Gegen die Autoritätsschule richtet sich auch der Zorn der Jugendbewegung. Andererseits loben die staatstreuen Elemente der Nation die Lehrerschaft für eine solche Erziehungsarbeit und nennen Königgrätz und Sedan Siege des preußisch-deutschen Schulmeisters.
Die Abkapselung wird noch durch die Unabsetzbarkeit des Beamtenlehrers und durch die allein vom Staat festgesetzten Prüfungs-und Beförderungsrichtlinien unterstützt, die das allgemeine Leistungsprinzip der Gesellschaft ersetzen.
Tritt aber eine weitgehende Entfremdung des Lehrers von der Gesellschaft ein, so kann er seinen „modernen Zweck" der Daseinsvorsorge für den jungen Menschen nicht erfüllen, denn diese zielt darauf hin, dem Schüler das notwendige Maß an „Verhaltenssicherheit in der Erwachsenengesellschaft"
Das alles hat die Lehrerschaft im Wilhelminischen Deutschland erfahren — ohne aber ihre Hinwendung zu diesem Staat aufzugeben
Handelte es sich dabei noch mehr oder weniger um Restriktionen eines obrigkeitlichen Staates, so war dessen voller Machteinsatz dort zu spüren, wo er sich durch gesellschaftspolitische Veränderungen bedroht sah _ so im Kulturkampf und im Kampf mit der Sozialdemokratie. In diesen Machtkämpfen setzte der Staat auch Schule und Lehrer als Machtmittel ein, und spätestens hier wurde deutlich in welchem Circulus vitiosus der Lehrer als Staatsbeamter im autoritären Staat steht. b) Die Situation der Lehrerschaft im Kultur-kampf und im Kampf gegen die Sozialdemokratie
Im Kulturkampf werden die Institutionen der Staatsschule und des Beamtenlehrers zumindest für den katholischen Bevölkerungsteil erschüttert. Dieser „war gezwungen, seine Kinder den Einrichtungen des Staates anzuvertrauen, den (er) als seinen ärgsten Feind betrachtete, und in die Hände von Lehrern, die wohl oder übel als Werkzeuge und gehorsame Diener dieses Staates gelten mußten."
Der Staat erwartet von seinen Staatsdienern aktive Unterstützung seiner Politik und nutzt die Ressentiments vieler Lehrer gegenüber der Kirche geschickt aus. Bismarck dankt (1872) den Mitgliedern des Standes, „welcher an unseren gemeinsamen Erfolgen so hervorragenden Anteil und an den Dank des Vater-landes so berechtigte Ansprüche hat" und nennt die Lehrer (1874) seine „treuen Kampfgenossen"
Schulpolitisch verstärkt Bismarck in Preußen durch den Kulturkampf die Macht des Staates (durch das Schulaufsichtsgesetz und den Ausschluß katholischer Ordensangehöriger vom Lehrberuf an öffentlichen Schulen), während er innenpolitisch sein Ziel, die Ausschaltung des Katholizismus als geeinte politische Kraft, nicht erreicht. Auf den Kulturkampf folgt der Kampf gegen die Sozialdemokratie
Darüber hinaus werden die Lehrervereine zur Mitarbeit aufgefordert, und in den Seminaren wird der Nachwuchs entsprechend „geschult". Gegen die persönliche Mitarbeit von Lehrern in der Sozialdemokratischen Partei, ja schon gegen ihre Anteilnahme wendet sich der Obrigkeitsstaat mit allen Mitteln. Dabei wird sozialistisches Denken mit atheistischem gleichgesetzt. Nachdem sich der Staat im Kulturkampf der antikirchlichen Affekte bedient hat, bemüht er sich jetzt wieder um die Einheit von Thron und Altar zur Abwehr der sozialen Revolution. Die Aschermittwochrede des preußischen Ministers von Puttkamer (11. 2. 1888) ist dafür ein Beispiel. Der Minister verweist auf „eine nicht unerhebliche Zahl von solchen (Straffällen), die auf eine tiefe moralische Versunkenheit einzelner Individuen (gemeint sind Lehrer) den Schluß zu ziehen uns nötigen", und er verlangt vom Beamtenlehrer „die Sorgen für die großen Gesichtspunkte . . .seinen Vorgesetzten zu überlassen und sich auf die Sphäre zu beschränken, die sein Beruf ihm zuweist"
So steht der Lehrer in diesen Jahren vor einem unlösbaren Widerspruch zwischen den Anforderungen seines Berufes (seiner Berufung!) und seines Diensteides — ein Widerspruch, der gleichzeitig die Antwort ist auf die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Beamtenstatus für den Lehrer im Obrigkeitsstaat. Bungardt sieht ebenfalls dieses Dilemma, und er folgert daraus: „Eine Lösung konnte nicht gefunden werden, solange der Staat die Schule als ein Instrument . . .seines Macht-und Herrschaftssystems betrachtete."
Uns scheint eine andere Folgerung richtiger zu sein. Solange Staat und Gesellschaft nicht zusammenfielen, nicht „ein Ganzes"
Um es konkret zu sagen in Hinsicht auf die Weiterentwicklung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts: Die Tatsache, daß eine im Sinne der preußisch-deutschen Beamtentradition verbeamtete Lehrerschaft vorhanden war, als die Umwandlung Deutschlands in eine parlamentarische Demokratie begann, war von erheblicher Tragweite und war eine der „historischen Vorbelastungen" (Fraenkel), die zum Scheitern eben dieser Demokratisierung beitrugen
8. Ausblick auf die heutige Situation
In unserer heutigen demokratischen Gesellschaft ist die Situation des Beamtenlehrers naturgemäß eine andere und ebenso die der Staatsschule. Das deutsche Volk hat sich „kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt" das Grundgesetz gegeben (Präambel). Damit „zerfällt . .. notwendig das Selbstverständnis des Beamtentums als Stand und Träger der Staats-idee"
Eine solche Umformung darf nicht allein von „administrativ-technischer oder juristisch-theoretischer Art"
Das gilt vielleicht mehr für den Verwaltungsbeamten, aber nicht nur für ihn. Selbst Pädagogen fragen sich, „ob dieBeamtung nicht mehr Unheil anrichtet als sie Segen einbringt"
Auch die innere Ordnung der Schule und das Schulleben verlangen Umgestaltungen und neue Ansätze, wenn sie propädeutisch für demokratisches Verhalten wirken sollen. Der Vorwurf des Deutschen Ausschusses: „Die deutsche Schule hat sich noch nicht aus den alten obrigkeitsstaatlichen Formen gelöst"
Hier aber scheint mir die besondere Problematik der heutigen Schule zu beginnen, daß sie nämlich, während sie noch auf der Suche nach neuen Formen in ihrem Innen-und Außenverhältnis ist und dabei behindert wird durch die Last ihrer Traditionen, aus gesellschaftspolitischen Gründen zu einer Ausweitung ihres Aufgaben-und Einflußbereiches und zu einer Verselbständigung als Folge einer „Institutionalisierung von Erziehungsund Bildungsaufgaben" (Schelsky) veranlaßt wird. Gegendarstellung In der Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament" erschienen am 18. 5. 1966 unter der Überschrift „Die kommunistische Tätigkeit in der Bundesrepublik im Jahre 1965" auf Seite 28, 2. Spalte, 4. Absatz, Ausführungen, die sich mit mir befassen.
Es heißt hier: „Kounalakis unterhielt auch Verbindungen zur KPD."
Das ist nicht wahr. Richtig ist vielmehr, daß ich keine Verbindungen zur KPD unterhalten habe.
Petros Kounalakis Anmerkung der Redaktion Der fragliche Absatz lautet:
„Gegen eine Anzahl von Gastarbeitern sind Strafverfahren wegen Geheimbündelei u. a. eingeleitet worden. So beispielsweise gegen den Griechen Petros Kounalakis, der die politische Arbeit der EDA [= „Eniea Dimokratiki Aristera", eine Ersatzorganisation der verbotenen KP Griechenlands] in der Bundesrepublik leitet. Kounalakis unterhielt auch Verbindungen zur KPD.“
Wir weisen darauf hin, daß gemäß § 11 des Pressegesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen die Verpflichtung besteht, eine Gegendarstellung abzudrucken, unabhängig davon, ob die in ihr enthaltenen Behauptungen der Wahrheit entsprechen oder nicht.