I. Entstehungsbedingungen
Die Entwicklung der Menschen-und Bürger-rechte, der Rights, Liberties, Freedoms, wie sie sich seit der Höhe der vernunftrechtlichen Epoche des 18. Jahrhunderts entfaltet und im 19. Jahrhundert in vielen Verfassungen reale Gestalt angenommen haben, ist zwar historisch bei weitem noch nicht zureichend untersucht; gerade in Deutschland ist sie von der Forschung lange vernachlässigt worden
Grundstruktur nur sozialstaatlich umfunktioniert, nicht aber im Kern verändert wird.
Fragen wir nach den Entstehungsbedingungen und Bildungsprinzipien jener Menschen-und Bürgerrechte des späten 18. und 19. Jahrhunderts, so stoßen wir auf zwei einander ergänzende, sich wechselseitig steigernde Grund-antriebe. Auf der einen Seite ein wachsendes Ungenügen an den alten festgefügten Lebens-ordnungen, aus denen man allerorten heraus-strebt, ob es sich nun um Zünfte handelt oder um standesmäßige Schranken, um politische Verfassungen oder um kirchliche Bindungen: ein emanzipativer Wille, getragen von der primitiven Freiheitssehnsucht eingeengter einzelner oder vom verletzten Selbstgefühl wirtschaftlich mächtiger, politisch aber unterberechtigter bürgerlicher Schichten. Auf der anderen Seite, als geistige Begründung und Motor dieser Emanzipationsbewegung, das moderne Naturrecht
Vereinfachend kann man sagen, daß durch beide Bewegungen, die Emanzipation des Bürgertums und das Naturrecht der Aufklärung, der Grundrechts-und Rechtsstaatsgedanke der älteren Zeit — als Wille zur Schonung wohlerworbener Rechte und Verpflichtung des Staates auf den Gerechtigkeitszweck immer schon latent vorhanden — nun, am Ende des 18. Jahrhunderts, sich auch soziologisch verfestigt und zugleich juristisch im Sinne eines Gegenübers von individueller Freiheitssphäre und Staatsmacht verallgemeinert und systematisiert wird: Entstammen noch die älteren Grundrechte der Bemühung, „fundamentale menschliche Bereiche mit wirksamen Sicherungen zu umgeben"
Kein Zweifel, daß mit dieser Schilderhebung der abstrakten Freiheit ungeheure Kräfte individuellen Aufstiegswillens entbunden werden: Jeder ist jetzt „seines Glückes Schmied", jeder kann seine Kräfte frei regen und entwickeln, jeder trägt „seinen Marschallstab im Tornister". Aber dies alles ist auf der anderen Seite erkauft dadurch, daß man, wie F. von Hippel es formuliert hat, die „ursprüngliche wechselseitige Asozialität zum naturrechtlichen Ausgang" gemacht hat, indem man im Verhältnis von Person zu Person eine gänzliche Unverbundenheit aller Beteiligten proklamierte und eine ursprüngliche Obhuts-und Sorgepflicht für den Nächsten jedenfalls von Rechts wegen nicht gelten ließ. „Bis zum Pathologischen beginnt man sich und den anderen klarzumachen, daß die . Grundidee des Rechts'und damit auch die gesamte Rechtsgrundlage der eigenen Zunft ganz allein’ in der Anerkennung und Vereinigung der beiden Sätze beschlossen liege: , Ich bin frei’ und . Alle anderen sind auch frei’. . . Nur durch freiwillige Einigung der jeweils Beteiligten im . Vertrag’, der neben dem Delikt zum zweiten Hauptbegriffe dieses ganzen Zeitalters wird und werden muß, kann sich das von Unrechts wegen derart Getrennte ohne Freiheitsverletzung jeweils wieder zusammenfinden. Ohne eine solche zusätzliche Rechtsgrundlage aber befindet man sich wechselseitig in einem Zustande notwendiger Unverbundenheit"
F. von Hippel hat aus der deutschen Naturrechtsliteratur des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts eine Fülle von Belegen für diese Auffassung zusammengetragen. Ich führe nur einige besonders bezeichnende Stellen an: „Niemand hat ein ursprüngliches Recht auf die Person und die Güter eines andern“ (J. G. Buhle, Lehrbuch des Naturrechts, 1789). „Niemand hat ein Zwangsrecht, mir vorzuschreiben, wieviel ich von meinen Kräften zum Besten anderer anwenden und wem ich die Wohltat davon angedeihen lassen soll" (Moses Mendelssohn, Jerusalem, 1783)." „Es wird sich nun beweisen lassen, daß in dem ursprünglichen Stande der Natur ein Mensch von dem anderen mit Gewalt weiter nichts fordern könne, als daß er ihm kein Leid tue, daß also die vollkommenen Rechte und Pflichten dieses Standes alle nur negativ sind" (Joh. G. H. Feder, Lehrbuch der Praktischen Philosophie, 1770)
Gelten diese Prinzipien allgemein für Recht und Rechtsverständnis der vernunftrechtlichen Epoche, zumal im Bereich des kontinentalen Staates — auf die charakteristischen Abweichungen des angelsächsischen Rechtsbereichs kann hier nicht eingegapgen werden —, so ist für das Grundrechtsverständnis im engeren Sinne noch ein weiterer Gesichtspunkt wichtig. Die Freiheit, die hier in Anspruch genommen wird, wird weithin, ja fast ausschließlich als Freiheit vom Staat und vom Politischen, als eine apolitische Reservatfreiheit verstanden — nicht aber als Freiheit zur Teilnahme und Teilhabe an der Staatsregierung, wie in den angelsächsischen Ländern und im Bereich der alten Gemeindedemokratien Hollands und der Schweiz. So versteht zum Beispiel Ernst Ferdinand Klein, der Mitarbeiter des Svarez am Preußischen Allgemeinen Landrecht, den nach Rechtsgesetzen verfaßten Staat als bloße Garantie gegen Eingriffe in „Freyheit und Eigentum" des Bürgers (in Kleins gleichnamiger Schrift von 1790 taucht die berühmte ständische Vorbehaltsformel zum erstenmal auf); bürgerliche und politische Freiheit werden in bezeichnender Weise geschieden, die politische Freiheit als irrelevant für die bürgerliche erklärt. Niemand habe Grund, sich über den Mangel der politischen Freiheit zu beklagen, solange er die bürgerliche Freiheit genieße. „Wer also in einer Monarchie lebt, worinn die bürgerliche Freyheit gehandhabt wird, wird kein Verlangen tragen, ein Republicaner zu werden."
So wachsen die Grundrechte in Deutschland im 19. Jahrhundert unter der Decke eines formal-rechtsstaatlich fortgebildeten Obrigkeitsstaates empor, ohne daß sie — im Sinne der angelsächsischen rule of law — die Mitregierung und Mitbestimmung des Bürgers, die Teilnahme am Staat einschließen. Im Gegenteil: Die bürgerliche Bewegung gibt sich, aufs Ganze gesehen, mit privatrechtlicher oder grundrechtlicher Emanzipation vom potentiell allmächtigen Staatsapparat zufrieden. Nicht anders ist es zu erklären, daß später, im Zeitalter des Rechtspositivismus, die Grundrechte als „subjektive öffentliche Rechte", als „Unterlassungsanspruch" des Bürgers an den Staat konstruiert werden.
Ich bin mir bewußt, daß mit diesen Hinweisen nur die Hauptrichtung des Freiheits-und Grundrechtsverständnisses im 19. Jahrhundert bezeichnet ist. Eine genauere Darstellung müßte die nicht unerheblichen gegenläufigen Bewegungen gleichfalls berücksichtigen, die teils als konservative Unterströmung aus älteren Überlieferungen weiterwirken, teils aus der Bewegung der industriellen Gesellschaft im 19. Jahrhundert neu entstehen, wie die Proklamation sozialer Grundrechte, die Arbeiterbewegung, das Gewerkschaftswesen und anderes mehr. Aber im ganzen gilt doch, daß das liberale „Sozialmodell" (Wieacker) der Privatund Grundrechtsordnung durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch, ja bis zum Ende des Ersten Weltkriegs überwiegend in Kraft geblieben ist — und mit ihm der individualistische Anspruch, die vorwiegend emanzipative Stoßrichtung der Grundrechte. In diesem Sinne war der Vorschlag der Geistlichen in der Französischen Nationalversammlung 1789, die Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte durch eine solche der Menschen-und Bürgerpflichten zu ergänzen, ein letzter Nachklang des vorrevolutionären Sozial-und Rechtsdenkens
II. Heutige Problematik
Wie es zu diesem Umschwung gekommen ist
In Deutschland hat diese Entwicklung — nach deutlichen Vorspielen im Vormärz — mit voller Intensität erst in den sechziger-und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts eingesetzt. Die großen, im Zuge der Industrialisierung und des organisierten Hervortretens der Arbeiterbewegung nötig werdenden Sozialreformen — obwohl sie in der von Bismarck geschaffenen Form noch nicht auf eine einseitige Staatsintervention hinausliefen — stellten bereits einen massiven Einbruch in die Vorstellung einer immanent ablaufenden Ordnung der bürgerlichen Wirtschafts-und Erwerbsgesellschaft dar. Im 20. Jahrhundert haben sich Breite und Stärke dieser Bewegung mit unerwarteter Schnelligkeit gesteigert. Dem umfangreichen Verwaltungsapparat der Sozialversicherung stellte sich von 1914 an der nicht minder ausgedehnte der (vom Krieg hervorgerufenen und ihn überdauernden) Kriegswirtschaftsverwaltung an die Seite — eine Erscheinung, die sich vor, in und nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholte und in den umfassenden Maßnahmen zur Verteilung der Kriegsfolgelasten nochmals eine Steigerung erfuhr.
Die staatliche Mitwirkung an der Gestaltung der Arbeitsvertragsverhältnisse, erzwungen durch die verschärfte soziale Reibung der Vertragspartner und die in der Massenarbeitslosigkeit liegenden politischen Gefahren, führte zum Aufbau einer eigenen Arbeitsverwaltung. Die Sicherung elementarer Bedürfnisse des in der Großstadt lebenden Menschen, die Nötigung, den im arbeitsteiligen Prozeß immer mehr schrumpfenden „beherrschten Lebensraum" (Forsthoff) von außen zu ergänzen, ließ die Aufgaben der Verkehrs-, Städte-und Landesplanung sprunghaft anwachsen und zum Teil neu entstehen und erzwang die Entwicklung eines weitverzweigten Versorgungsnetzes für Wohnraum, Wasser, Gas, Elektrizität, Kanalisation und Müllabfuhr. Eingriffe des Staates in den Wirtschaftsablauf zwecks Verhütung wirtschaftlicher Machtballungen und die Ausdehnung der in die Privatautonomie eingreifenden sozialpolitischen Schutzbestimmungen, vor allem im Bereich des Miet-und Tarifrechts, kamen hinzu. Nimmt man noch die in die gleiche Richtung weisende Vermehrung der genehmigungspflichtigen Rechtsgeschäfte dazu, so zeigt sich eine äußerst weitreichende und folgenschwere Ausdehnung der staatlichen Tätigkeiten. Zugleich verlagerte sich der Schwerpunkt des Staatshandelns aus dem Be-reich der normsetzenden Legislative in den der unmittelbar handelnden, den Einzelfall regelnden Verwaltung, so daß man gegenüber dem „Gesetzgebungsstaat"
Der Vorgang muß aber auch von der anderen Seite gesehen werden: von der einer zunehmenden Ermattung und Entmächtigung der autonomen privaten und gesellschaftlichen Gestaltungskräfte. Denn dem Zuwachs an öffentlicher Planung, Leitung und Fürsorge entspricht in den meisten Fällen ein ebenso tiefgreifender Verlust an unmittelbarer Autonomie und Selbstverantwortung der kleineren Lebenskreise, ob es sich nun um einzelne oder um Familien und Gemeinden handelt. Es liegt auf der Hand, daß mit dem Aufbau einer staatlichen Arbeits-und Sozialverwaltung ein großer Teil der Lebensrisiken vom einzelnen und der Familie auf den Staat übergeht — mit allen Folgen revolutionärer Bedrohung dieses Staates im Falle des Versagens seiner Daseinsvorsorge. Gleichzeitig erfordern die in den industriellen Ballungsräumen notwendig werdenden Planungen weitgehende Eingriffe in Eigentum und Baurecht, und mit dem Vordringen staatlicher Lenkungsmaßnahmen im Bereich der Boden-, Wohnungs-und Eigentumsordnung, ja selbst der Familienpolitik wird ein Gutteil der Privatautonomie im traditionellen Sinn stillschweigend oder ausdrücklich ad acta gelegt
Es wäre falsch, in den geschilderten Vorgängen eine Bewegung zu sehen, die heute schon ihren Höhepunkt überschritten hat oder durch die in den totalitären Systemen zutage getretenen Exzesse unvermeidlich zum Rückgang verurteilt sei. Das Gegenteil ist der Fall
Das berührt ein grundsätzliches Problem. Da sich für den in der Masse isolierten einzelnen Freiheit heute weniger in der Bewahrung einer (faktisch oft nur in bescheidenen Ansätzen vorhandenen) individuellen Freiheitssphäre ausdrückt als vielmehr in der Teilhabe an staatlichen Leistungen, am Fortschritt der Produktion und an den wachsenden Möglichkeiten des Konsums, wirkt das Freiheitsstreben des modernen Menschen nicht mehr in Richtung einer Entstaatlichung, sondern im Gegenteil einer Belastung des Staates mit neuen zusätzlichen Aufgaben, einer Ausdehnung und Intensivierung der staatlichen Verwaltung hin. Der private Individualismus, einst der stärkste Gegner der polizeistaatlich bevormundenden Verwaltung, hat gegenüber dem potentiell weit stärkeren modernen Staat und seiner Verwaltung seine eindämmende und regulierende Kraft fast völlig eingebüßt. Der individualistische Freiheitsgedanke wirkt nicht mehr als Schwungrad der Selbstbehauptung der einzelnen gegenüber den Mächten der Gesellschaft. Hierin liegt — neben der natürlichen Beharrungskraft der Verwaltung — der eigentliche Grund für das strukturelle Fortdauern des Verwaltungsstaates auch in einer Zeit der Normalisierung und des Nachlassens der sozialen Spannungen.
III. Konsequenzen für die Verfassungsordnung
Was bedeutet das für die Verfassungsordnung? Offenbar sehr viel. Denn die rechtsstaatliche Verfassung ist ja in ihrer ursprünglichen Grundintention — mag diese auch nie rein verwirklicht sein und gerade in Deutschland seit je bezeichnenden Einschränkungen unterliegen
Allerdings sind auch im Bild der Weimarer Verfassung schon zahlreiche Züge erkennbar, in denen sich eine Veränderung im Verhältnis von Staat und Individuum und dementsprechend ein stärkeres sozialpolitisches Engagement der staatlichen Verwaltung ankündigt. Die sozialprogrammatischen Artikel (Artikel 151 ff.) zeigen deutlich, daß die Schöpfer der Verfassung den Widerspruch zwischen der wesentlich auf Emanzipation gerichteten Tendenz der individuellen Freiheitsrechte und der veränderten sozialen Umwelt spürten und einer Auslegung der Grundrechte, die in ihnen nur die Sanktionierung privaten Eigennutzes und egoistischer Vereinzelung sah, durch die Betonung sozialer Pflichtbindungen vorzubeugen strebten. Ähnlich sind die zahlreichen sozialpolitischen Schutzbestimmungen (Art. 157, 158, 161, 164) sowie die Verfassungsartikel über die Verteilung von Grund und Boden (Art. 156) zu verstehen. Mit diesen Bestimmungen war die Geschlossenheit des bisherigen Grundrechtskatalogs
Blieb also die Verfassung, zumal in der herrschenden Auslegung des Positivismus, dem überlieferten Schema eines Gegenübers von staatlicher Hoheitssphäre und bürgerlichgesellschaftlicher Autonomie verhaftet, so machte sich andererseits im Bereich der Verwaltung der eben geschilderte Prozeß der Ausweitung und Intensivierung staatlicher Tätigkeiten im Lauf der Zeit immer stärker fühlbar. Hier kam es, ohne daß sich die Gesetzesbindung der Verwaltung änderte, einfach durch die Zunahme ihrer leistenden Funktionen, zu einer inneren Umwandlung der verfassungsmäßigen Ordnung. In der Krise um 1929 und den ihr folgenden revolutionären Erschütterungen stiegen die öffentlichen Leistungs- und Umverteilungsaufgaben auf ein solches Maß, daß die neutrale Rolle des Staates als eines bloßen Bürgen des gesellschaftlichen Status quo, wie sie der rechtsstaatlichen Verfassungstypik vorschwebte, immer illusorischer wurde.
Wie weit die Umwandlung des „Gesetzgebungsstaates" in einen „Verwaltungsstaat" bereits im Endstadium der Weimarer Republik vorangeschritten war, zeigen die einleitenden Bemerkungen eines Vortrags, den Johannes Popitz im Oktober 1930 im Steuerausschuß des Reichsverbands der Deutschen Industrie über den Finanzausgleich hielt
Freilich erlaubt das Grundgesetz nicht, bei der Feststellung einer solchen Antithetik einfach stehenzubleiben oder sich mit einem Hinweis auf den parteiideologischen, daher letztlich unverbindlichen Charakter sozialprogrammatischer Äußerungen zu begnügen. Hiergegen sprechen sowohl verfassungsrechtliche wie politische Gründe. Schon die Bindung der vollziehenden Gewalt an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3) — worunter nach Art. 1 Abs. 3 auch die Grundrechte zu rechnen sind — und die Unterstellung des gesamten Verwaltungshandelns unter die Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4) machen es unmöglich, die leistende Verwaltung als einen gleichsam extrakonstitutionellen Bereich anzusehen, der vom Grundgesetz nur de facto anerkannt, nicht aber normativ geformt und „verfaßt" wird
Auf der Suche nach verfassungsmäßigen Nor-men für die Tätigkeit der Verwaltung hat sich die Diskussion in den letzten Jahren vor allem auf den Begriff des „sozialen Rechtsstaates" konzentriert. Trotz einer umfangreichen und immer noch anschwellenden Literatur zu diesem Thema
IV. Zur gegenwärtigen Diskussion
Die hier vorliegende Problematik zeigt deutlich, daß ein befriedigender Ausgleich freiheitlicher und sozialer Grundrechte, autonomer Freiheit des Individuums und gesellschaftlicher Bindungen auch im Grundgesetz noch nicht gefunden wurde. Man wird auch zweifeln dürfen, ob er gefunden werden kann, solange man — in der Begriffswelt des Liberalismus verharrend — Individuum und Staat, Freiheitsanspruch und Leistungsbedürfnis des einzelnen oder gar rechtsstaatliche Verfassung und sozialstaatliche Verwaltung einander wie geschlossene, logisch unvereinbare Blöcke gegenüberstellt. Wirkt doch in diesen Gegenüberstellungen unverkennbar die eingangs geschilderte historische Spannungslage des späten 18. Jahrhunderts nach — jenes emanzipative Freiheitsverlangen angesichts einer drückend gewordenen älteren Sozialverfassung, dem die Grundrechte als Katalog, System und Verfassungsanspruch ihre Entstehung verdanken. Lassen sich aber Freiheit und Grundrechte nur in jener prinzipiell vom individuellen Eigenrecht, vom Anspruch und der Position persönlicher Unverpflichtetheit des einzelnen gegenüber anderen ausgehenden Weise denken?
Mir scheint, daß diese Frage heute bei uns in zunehmendem Maße die Forschung zu beschäftigen beginnt: nicht nur im Bereich der Grundrechtstheorie im engeren Sinne, sondern auch im Bereich der politischen Wissenschaft und der Rechts-und Verfassungsgeschichte. So sind wir durch die Untersuchungen von Welzel, Conze und Koselleck auf die Ursprünge des modernen emanzipatorischen Freiheitsbegriffs aufmerksam geworden 38), dessen Zusammenhänge mit dem aufklärerischen Naturrecht und dem Systematisierungswillen der Kodifikationen wiederum von Wie-acker und C. J. Friedrich in helles Licht gerückt worden sind
Noch deutlicher sind die Anzeichen für eine Neubesinnung auf die konstituierenden Momente von Rechtsstaat und Grundrechten innerhalb der Rechtswissenschaft, vor allem im öffentlichen Recht, aber auch in einzelnen Bereichen des Privatrechts 43). So läßt es aufhorchen, wenn heute in der Grundrechts-theorie vielfach von einem institutioneilen Charakter der Grundrechte (Hans Huber) oder einem im jeweiligen Freiheitsgrundrecht verborgenen institutionellen Gehalt (Peter Lerche) gesprochen wird; wenn die Betrachtung nicht mehr nur von dem in seinem Recht geschützten Individuum ausgeht, sondern zugleich von der Bedeutung der Grundrechte für den staatlichen Zusammenhalt; wenn Grundrechte als „Ordnungen“, „Lebensbereiche", „Lebensverhältnisse" verstanden werden. Prägnanten Ausdruck hat das „neue Denken" im Bereich der Grundrechtstheorie bei Peter Häberle gefunden, der sich in seiner Arbeit über die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG
Die Eigenart unserer modernen Staats-und Verfassungsprobleme hat zahlreiche Berührungen mit dem vorliberalen und vorkantischen Staatsdenken, die lange Zeit verloren schienen, wiederhergestellt. Die Fragen des „sozialen Rechtsstaates" und des älteren vor-liberalen Wohlfahrtsstaates treffen heute, im Zeichen der Rückkehr des Staates zur „wohlfahrtsfördernden Verwaltung" (Forsthoff), vielfach in einer echten Problemkongruenz zusammen. Aber nicht die institutioneile Typenverwandtschaft des spätabsolutistischen und des modernen Staates ist das Entscheidende, so sehr die öffentliche Statuierung von Pflichten, die zweckhafte Planung in sozialen Lebensbereichen, in denen die privatrechtlichen Steuerungsmechanismen versagen, Schicksal und Aufgabe des heutigen Gesetz-gebers geworden ist. Entscheidend für die Anknüpfung an die Tradition ist vielmehr die Tatsache, daß die ältere Rechts-und Staats-auffassung in einem ethischen Sozialprinzip begründet war und noch nicht in bloßem Anspruchsdenken aufging, daß sie ihren „naturrechtlichen Ausgang" von der Hilfs-und Ergänzungspflicht des Menschen nahm, nicht von einem „rein diesseitig und sozial-egoistisch aufgefaßten Individuellen" (F. von Hippel). Es scheint, daß die heutige Grundrechts-und Rechtsstaatdiskussion — bemüht vom Menschen, nicht vom abstrakten Individuum her zu denken — sich dem Punkte nähert, wo die Besinnung auf eine materiale Rechtsethik unausweichlich wird — eine Ethik, in der Anspruchs-und Pflichtenordnung ineinander verwoben sind und die einseitige Blickrichtung auf den Staat, die für die liberale Epoche typisch war, überwunden ist. Ob und inwieweit die ältere politische Tradition unser heutiges Denken und Handeln bei dieser Bemühung leiten kann — das ist die Frage, die sich am Ende unseres raschen Ganges durch die Wandlungen des modernen Rechtsstaatsund Grundrechtsverständnisses aufdrängt. Es ist die Frage nach der Bewahrung der personalen Freiheit und der mitmenschlichen Hilfspflicht unter den Bedingungen der Industriegesellschaft und unter dem Druck des massentümlichen Daseins.