Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Totalitärer, marxistischer oder demokratischer Sozialismus? | APuZ 28/1966 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 28/1966 Totalitärer, marxistischer oder demokratischer Sozialismus?

Totalitärer, marxistischer oder demokratischer Sozialismus?

Günter Bartsch

Die innersozialistischen Schismen

Wir haben anfangs die Frühgeschichte des Sozialismus skizziert, sodann seine zeitweilige Verbindung mit dem Kommunismus erörtert und schließlich das sozialistisch-kommunistische Schisma geschildert. Bei den innerkommu-nistischen Schismen wurde die weitere Entwicklung der sozialistischen Bewegung nur noch gestreift. Es ist nun an der Zeit, zu ihr zurückzukehren und den Faden wieder aufzunehmen. Der gewaltige Umweg über die inneren Probleme des Kommunismus war aber nötig, weil sich die Wandlungen des Sozialismus an erster Stelle aus der Geschichte des Kommunismus ergaben.

Die Trennung von den Kommunisten ist jedoch nur eine Seite des Schismas gewesen, das die Sozialisten aus einer gefährlichen Umarmung löste. Sie bereitete auch eine Aufspaltung innerhalb des Sozialismus vor. Wir erwähnten bereits, daß die Kettenexplosion der kommunistischen Schismen eine Parallelerscheinung hervorgebracht hat. Auch das sozialistischkommunistische Schisma hat sich bis zu einem gewissen Grade in den sozialistischen Parteien fortgepflanzt. Diesen Parallelen innerhalb des Sozialismus soll nun nachgegangen werden.

9. Spaltung in marxistische und liberale Sozialisten

Im Ergebnis des sozialistisch-kommunistischen Schismas trennten sich zwar die Kommunisten von den sozialistischen Parteien, aber der Marxismus blieb. Dies aus verschiedenen, doch zusammenhängenden Gründen, deren Geflecht freigelegt werden muß. a) Die Wurzeln des Marxismus in den sozialistischen Parteien Die geistigen Wurzeln Der Marxismus hatte sich nicht nur innerhalb des Kommunismus, sondern auch in den sozialistischen Parteien weithin durchgesetzt. Einmal, weil er einleuchtender als die anderen Doktrinen erschien und anscheinend die geeignetsten Mittel wies, um die sozialen Übel auszuroden. Zum anderen, weil er sich speziell an die Arbeiter wandte, die den sozialen Grundstock der sozialistischen Bewegung stellten. Ferner, weil er den revolutionär gesinnten Intellektuellen die Möglichkeit bot, zum Kopf des massiven Körpers der Arbeiterbewegung zu werden und die Theorie mit der Praxis zu vereinen.

Der Sozialismus war eine Sozialrevolutionäre Bewegung, eine Arbeiterbewegung und eine intellektuelle Bewegung zugleich. Marx gab allen drei Komponenten die Losung. Der Sozialrevolutionären schon durch den Satz: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte vom Klassenkämpfen'' denn aus ihm ergab sich, daß sich auch der Sozialismus nur auf dem Wege des Klassenkampfes durchsetzen könne. Dem Proletariat rief Marx zu:

„Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein." Für die Intellektuellen prägte er den faszinierenden Satz: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern."

Aber noch eine weitere marxistische These drang tief in den Sozialismus ein: Daß „nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse" sei und dazu berufen, alle Unterdrückten zu befreien, indem es sich erhebe und hierbei den gesamten überbau der bestehenden Gesellschaft in die Luft sprenge.

Die Idee des Klassenkampfes, die Idee der Selbstbefreiung, die Idee von der Machbarkeit der menschlichen Geschichte und die Idee der Arbeiterbewegung als revolutionärer Elite mit weltgeschichtlicher Mission — das sind die vier wichtigsten Grundsätze gewesen, mit denen Marx den Sozialismus bis zu einem gewissen Grade umgemodelt hat. Nach dem Frühsozialismus begann die marxistische Periode des Sozialismus; nicht allein der Kommunismus ist marxistisch geworden. Der marxistische Sozialismus unterschied sich vom frühsozialistischen insbesondere durch sein Postulat der Sozialisierung. Auch er kannte zwei Etappen: die erste sollte durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel, die zweite durch ihre Vergesellschaftung gekennzeichnet sein.

Das antikapitalistische und antibürgerliche Ressentiment Die psychische Basis des marxistischen Abschnitts in der Geschichte des Sozialismus war das antikapitalistische Ressentiment, das heißt der Glaube, der Kapitalismus sei das fluch-beladene Endprodukt der bisherigen Menschheitsgeschichte und nicht viel besser als die Sklaverei, weshalb er über die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln durch eine klassenlose Gesellschaft ersetzt werden müsse.

Mit dieser Kapitalismus-Kritik war Marx mehr ein Maschinenstürmer als ein Theoretiker der industriellen Gesellschaft gewesen. Welch ein Unterschied zu Saint Simon, dem Begründer des frühen Sozialismus, der die Heraufkunft der industriellen Gesellschaft gefeiert, Industrielle und Arbeiter gleichermaßen als Produzenten gegen die Müßiggänger abgegrenzt und von den Produktionsmitteln nur verlangt hatte, daß sie sich in fähigen Händen befinden müßten oder, soweit das nicht der Fall sei, in die Hände Fähiger gelegt werden sollten. In dieser Hinsicht ging Marx hinter den Früh-sozialismus zurück. Aber Keime des antikapitalistischen Ressentiments hatten sich schon bei diesem gebildet. Nach Saint Simon waren Kapitalisten jedoch nur solche Kapitaleigentümer, die sich nicht mit industrieller Tätigkeit befaßten. Bei Fourier sahen wir den Haß auf den Handel und bei Owen die Abneigung gegen das Tauschmittel Geld. In allen drei Fällen ist es speziell das Handelskapital statt des Industriekapitals gewesen, das der Früh-sozialismus bekämpfte. Als Müßiggänger und Parasiten erschienen den Frühsozialisten vor allem jene, die, statt selbst an der industriellen Tätigkeit beteiligt zu sein, durch den Handel profitierten. Ihr Antikapitalismus war von der doppelten Befürchtung stimuliert, daß sowohl der Industrielle als auch der Arbeiter durch den Handel geschädigt würden. Deshalb lief das genossenschaftliche Sozialismus-Modell nicht auf die Beseitigung des Privateigentums, sondern auf die Abschaffung des Handels oder Zwischenhandels hinaus — auf das überflüssigmachen der anscheinend überflüssigen Handelsklasse, die als schmarotzerhafte Wucherung der jungen industriellen Gesellschaft erschien.

Die frühsozialistische Vorstellung vom Händler als dem „Rahmabschöpfer" ist noch heute in der Arbeiterschaft weitverbreitet; sie wurde aber lange Zeit durch den Marxismus überla-gert oder verdrängt. An die Stelle des Händlers schob sich der Industrielle. Marx teilte die Produzenten in zwei feindliche Klassen. Nach ihm werden die materiellen Werte allein durch die Arbeiterschaft oder bestenfalls in Gemeinschaft mit den Technikern erzeugt, während der Industrielle damit beschäftigt sei, durch Nichtbezahlung von Arbeitszeit den Mehrwert zu ernten. Die Ausbeutung finde also nicht in der Handelssphäre, sondern in der Produktionssphäre statt. Bourgeoisie — das war für Marx und schließlich auch die Mehrheit der Sozialisten nicht mehr die Gesamtheit der Händler, sondern die Gesamtheit der Industriellen, die aber wiederum nur die Creme der bürgerlichen Klasse, ihre reichsten, ausbeuterischsten und die Arbeiter am meisten unterdrückenden Vertreter wären.

In dem so geformten antikapitalistischen Ressentiment flossen drei Elemente — Arme gegen Reiche, Unterdrückte gegen Unterdrücker, Ausgebeutete gegen Ausbeuter — zu einem mächtigen und dunklen Strom zusammen, der sich gleichsam Tag und Nacht durch das Unterbewußtsein der Sozialisten zu wälzen begann.

Das Entscheidende bei Marx war der antibürgerliche Effekt des Ressentiments, das er in die Seele der Sozialisten senkte. Im engeren Sinn fiel die Bourgeoisie nun mit den Industriellen, im weiteren Sinn mit dem gesamten Bürgertum zusammen, so daß den Sozialisten auch der kleinste Fabrikant und sogar der selbständige Ladenbesitzer, der ohne fremde Arbeitskräfte auskam, verdächtig zu werden begannen. Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft waren nach dem Marxismus ein und dasselbe. Obwohl der Kapitalismus nur als ein neuer und spezifischer Wirtschaftsstil zwischen den handwerklichen und merkantilistischen Stilen heranwuchs, ohne sie völlig verdrängen zu können, blähte er sich in den politischen Visionen von Marx zu einer eigenständigen „Gesellschaftsordnung" auf, die wie eine riesige Krake mit Tausenden von Saugarmen alles Lebendige umschlang, an sich heranzog, seiner Lebenskraft beraubte und dann einfach fallen ließ. Der Marxismus war von Verfol-INHALTdei Ausgabe Nr. 31 vom 4. 8. 1965:

1. Rahmen und Begrenzung des Themas Die geschichtliche Entwicklung von Kommunismus und Sozialismus 2. Gehören Sozialismus und Kommunismus historisch zusammen?

a) Der vormarxistische Kommunismus b) Sozialistische Idee, Aktion und Organisation vor Marx c) Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Prühkommunismus und Früh-sozialismus 3. Die Gegensätze werden vereinigt Inhalt der Ausgab: Nr. 3 vom 19. 1. 1966:

Die beiden ersten Schismen 4. Das kommunistisch-anarchistische Schisma a) Der geistesgeschichtliche Ursprung b) Der theoretische und polit. Konflikt c) Die Bedeutung des Konflikts 5. Das sozialistisch-kommunistische Schisma a) Der Schnittpunkt des Staates b) Klassendiktatur oder Demokratie?

c) Die Kriegskredite u. ihr Hintergrund Die innerkommunistischen Schismen 6. Das stalinistisch-trotzkistische Schisma a) War es wirklich ein Schisma?

b) Der Bolschewismus u.seine Gefahren c) Das sozialistische Vorspiel Inhalt der letzten Ausgabe:

d) das anarchistische Vorspiel e) Angriff auf den Staatskommunismus 7. Das nationalkommunistisch-sowjetische Schisma a) Zur Vorgeschichte b) Das jugoslawische Modell c) Staatskommunistischer Zentralismus oder Arbeiterselbstverwaltung?

d) Djilas oder der Widerspruch im Nationalkommunismus 8. Das sowjetisch-chinesische Schisma a) Die Verschiebung des weltrevolutionären Zentrums b) Worum es diesmal geht c) Staatskommunismus und Anarchokommunismus in China d) Totalitärer und demokratischer Kommunismus Inhalt dieser Ausgabe:

Die innersozialistischen Schismen 9. Spaltung in marxistische und liberale Sozialisten a) Die Wurzeln des Marxismus in den sozialistischen Parteien b) Die Lösung vom Marxismus 10. Die Trennung von Sozialisten und Sozialdemokraten a) Die Parallelparteien b) Verzögerte Industrialisierung und gebremste Evolution c) Was liegt dem neuen Schisma zugrunde? 11. Schlußbetrachtung gungswahn befallen, und die Sozialisten wurden von ihm angesteckt. Das Gespenst des Kapitalismus sucht sie vielfach noch heute heim. Dabei ist das antikapitalistische Ressentiment, von Marx gleichsam mit Widerhaken in den sozialistischen Seelen befestigt, vor allem ein Ausfluß des kommunistischen Ressentiments gegenüber dem Privateigentum gewesen: eine eigentümliche Variante oder Fassung desselben unter den Verhältnissen des 19. Jahrhunderts, dem allerdings gewisse, jedoch andersgeartete Ansätze im Frühsozialismus entgegenkamen. Was bei den Frühsozialisten nur ein recht verschwommenes Gefühl der Abneigung war, hat der Marxismus zu einem Grundgefühl gemacht, das allmählich alle sozialistischen Aktivitäten durchdrang und den Spalt zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum noch vertiefte. Denn der Frühsozialismus hatte alle Arbeiter zu Unternehmern und damit auch zu Bürgern machen wollen; unter den Aspekten des Marxismus waren umgekehrt alle Bürger in Arbeiter zu verwandeln. Diskriminierung und Verfolgung Die Sozialisten waren gesellschaftlich diskriminiert. Sie sahen sich im 19. Jahrhundert meist derselben Mißachtung, ja Verachtung ausgesetzt wie heutzutage die Kommunisten in vielen Ländern Europas. Daher waren sie auf gegenseitigen Rückhalt, auf Solidarität angewiesen. In der Atmosphäre der Diskriminierung einerseits und des Solidaritätszwangs andererseits bildete sich eine neuartige Parteiform, die Mitgliederpartei heraus, und zwar mit einer fast autoritär erscheinenden Disziplin, die aber vor allem die Funktion eines Gegendrucks hatte. Diese Disziplin konnte erst hinfällig werden, nachdem die gesellschaftliche Integration der Arbeiterschaft als Ganzes erreicht, also die Mauern der Diskriminierung gefallen waren. Bis dahin blieben Hunderttausende von Sozialisten bereit, ihre privaten Interessen denen der Partei unterzuordnen. Das war die Quelle des sozialistischen Kollektivismus, der aus der Überzeugung entsprang, daß das Schicksal des einzelnen Arbeiters von dem der gesamten Arbeiterschaft und von den Erfolgen „der Partei" abhängig sei.

Nicht zufällig kam der Begriff „die Partei" auf — für die Sozialisten gab es nur eine, nämlich die ihre. Diese Partei nahm den Charakter einer Heimstätte an, da sich der Sozialist im Staat, der groß und kalt und ihm meistens feind war, nicht wohlfühlen konnte. So wurde die sozialistische Partei zu einem Ersatz-oder Kleinstaat, der Geborgenheit verlieh und nicht nur politische, sondern auch private Kräfte band. Wie viele parteilose Arbeiter sich in Kneipen trafen, ging die Mehrzahl der Sozialisten in die Parteilokale, um „unter sich“ zu sein. Aber eine solche Partei, die unvergleichlich mehr als ein Wahlverein oder eine Interessengemeinschaft, nämlich politische Heimat war, brauchte als ihr Ferment eine möglichst fugenlose Ideologie, die als Schild und Schwert zugleich dienen konnte. Keine unter den Doktrinen, die den Organismus der Arbeiterbewegung passierten, schien für diese Doppelfunktion besser als der Marxismus geeignet. Er besaß nicht nur ein klares Weltbild und eine überzeugende Geschichtstheorie, sondern war auch schwer zu widerlegen — ein Marxtöter nach dem anderen biß sich die Zähne an ihm aus. Marx war ein sehr gelehrter und gebildeter Mann mit schneidendem Intellekt und hoher Sprachkunst. Viele Sozialisten waren stolz darauf, einen Marx an ihrer Seite zu wissen.

In Zeiten der Verfolgung, wie unter dem Sozialistengesetz im Bismarck-Reich, nahm die integrierende Bedeutung des Marxismus für die Sozialisten noch zu. In solchen Zeiten grub sich seine Vision einer klassenlosen Gesellschaft, welche die kapitalistische mit eiserner Notwendigkeit ablösen würde, besonders tief in die Sozialisten ein. Je dunkler die Nacht der Verfolgung, desto heller strahlte das Licht der eschatologischen Hoffnung auf eine glänzende Zukunft, in der alle Übel der Welt ausgelöscht wären. Auf diese Weise nahm der Marxismus den Charakter einer Ersatzreligion an, zumal sich das Christentum auf die Seite der Reichen und des Staates zu stellen schien. Der Kern dieser Ersatzreligion war eine spezifische Idee der Erlösung. Der Marxismus wölbte sich zu einer Katakombe, in der sich die Bruderschaft der Sozialisten wie zum Gebet vereinte und neue Kraft schöpfen konnte. Wo eine Verfolgungszeit zu Ende gegangen war, reflektierte sie sich gleichwohl meist noch einmal in einem besonders marxistischen Programm, das dann den Charakter eines Echos besaß, also mehr auf die Vergangenheit als in die Zukunft wies. (Man vergleiche etwa das Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokratie mit dem Erfurter Programm, das im Anschluß an die Aufhebung des Sozialistengesetzes beschlossen wurde. Ähnliches hat sich später im faschistischen Italien Mussolinis vollzogen. Unter dem Eis der totalitären Herrschaft des Nationalsozialismus über viele Länder Europas kam es sogar während des Zweiten Weltkrieges noch einmal im gesamteuropäischen Maßstab zu einem Rückgriff auf den ursprünglichen Marx, das heißt hinter Bernstein zurück.) Diskriminierungen, besonders aber Verfolgungen haben den Marxismus wie mit Hammerschlägen tiefer in den Sozialismus getrieben und die geistige Evolution innerhalb der sozialistischen Parteien teils gebremst, teils sogar rückläufig gemacht.

Dankbarkeit gegenüber Marx Marx hat großen Anteil am Aufblühen der sozialistischen Bewegung, an ihrer organisatorischen Ausbreitung, geistigen Festigung und internationalen Verbindung gehabt. Die Schriften von Marx, auch das Kommunistische Manifest, halfen nicht nur dem Kommunismus, seinen Einfluß auszudehnen, sondern haben mit der Zeit auch zur Anwerbung Hundert-tausender von Sozialisten geführt, die bei gleichzeitiger Ablehnung des Kommunismus viele Gedanken von Marx als richtig und treffend empfanden.

Außerdem stand Marx den sozialistischen Parteiführern stets beratend zur Seite, ohne Zeit und Mühe zu schonen. Im gewissen Sinne kann man sogar sagen, daß er sich nicht nur für den Kommunismus, sondern auch für die Sozialisten geopfert hat, ja jahrzehntelang ein Leben am Rande des Existenzminimums führte, weil das meiste, was er schrieb und an politischen Aktivitäten trieb, nicht bezahlt werden konnte. Als Wissenschaftler fern der Politik hätte es Marx wahrscheinlich zu hohen Ehren und Titeln gebracht, aber zugunsten einer politischen Tätigkeit und nicht zuletzt auch zugunsten der sozialistischen Arbeiterbewegung verzichtete er auf persönliche Vorteile.

Daher mußte die Abkehr von Marx für viele Sozialisten wie ein Vertrauensund Treuebruch erscheinen. Die Vereinsamung, in der Bernstein starb, obwohl er zweifellos zu den Klassikern des Sozialismus gehört, war bezeichnend und tragisch.

Es gab auch eine emotionale Bindung des Sozialismus an Marx. Sie stand der kritischen Durchleuchtung des Marxismus im Wege und hat sie behindert.

Marxistische Bildung als Befähigungsnachweis Viele Sozialisten kannten von Marx nur einzelne Sätze, Formeln oder Thesen, aber die geistige Atmosphäre der Partei, in der sie einen Teil ihres Lebens verbrachten, wurde zunehmend marxistisch. Der Marxismus erlangte den Rang der offiziellen Parteidoktrin. Da die Sozialisten meist nur die eigene Partei-zeitung lasen und da deren Redakteure in der Regel marxistische Intellektuelle waren, verleibten sie sich mit jedem Artikel, den sie lasen, einen marxistischen Gedankenzug ein.

Die überzeugten Marxisten stellten zwar nur eine Minderheit in den sozialistischen Parteien — da der Marxismus als philosophische und politische Theorie nicht jedermann zugänglich war —, aber zugleich deren Elite. Zu einem sozialistischen Funktionär gehörte ein Minimum marxistischen Wissens, das neben dem obligaten organisatorischen Talent sein theoretischer Befähigungsnachweis war. Je höher man die Funktionärsleiter hinaufstieg, eine desto bessere marxistische Bildung ließ sich erwarten, obwohl es natürlich Ausnahmen gab. Nach der populären Darlegung des Marxismus durch Engels in seiner Schrift gegen Dühring, die 1878 veröffentlicht wurde, drangen die marxistischen Ideen — am meisten in Deutschland — auch in die Köpfe der einfachen Mitglieder ein, um sich in ihnen niederzulassen. Nur in England blieben die marxistischen Ideen auf Grund besonderer Umstände schon in der Oberfläche des Sozialismus stecken, außerhalb Europas auch in den USA; diese Sonderfälle wollen wir jedoch übergehen.

Der marxistische Revisionismus Der Marxismus war sogar noch im Revisionismus verwurzelt. Selbst die Revisionisten fühlten sich keineswegs als Antimarxisten und waren es auch nicht. Diese Tatsache, die von besonderer Tragweite war, trat sogar bei Bernstein hervor. Er hatte schon in seinen „Voraussetzungen" darauf hingewiesen, daß er selbst der marxistischen Schule des Sozialismus angehöre. Gegen den Vorwurf, ein Revisionist zu sein, hatte er sich mit dem Argument verteidigt, daß Marx und Engels „die größten Revisionisten (gewesen wären), welche die Geschichte des Sozialismus kennt. Revisionismus ist jede neue Wahrheit, jede neue Erkenntnis, und da die Entwicklung keinen Stillstand kennt, wird es auch immer in Praxis wie Theorie Revisionismus geben." Demnach sah sich Bernstein als ein Schüler statt als Antipode von Marx, wenn auch als kritischer Schüler.

Das ist nach dem Ersten Weltkrieg noch mehrfach deutlich geworden. Wenn man Bernsteins besagte Hinweise in den „Voraussetzungen" noch als taktisch bewerten konnte, so beweisen seine späteren Reden und Schriften, daß sie durchaus ernst gemeint waren. Beispielsweise hielt er Ende 1918 in Berlin eine Rede über das Thema „Was ist Sozialismus?". Bei dieser Gelegenheit wies er einerseits die Marxsche These vom Sozialismus als Vorstufe des Kommunismus zurück, gab aber andererseits eine eindeutig marxistische Erklärung der Entstehung von Ideen: „Mit Ideen steht es so, daß sie ursprünglich hervorgerufen sind durch materielle Kräfte, die in dem Schoße der Entwicklung sich vollziehen." Er fügte zwar hinzu, daß Ideen auch die Tendenz besäßen, sich von ihren Ursprüngen zu lösen und über die eigene Form der Verwirklichung hinauszutreiben, aber selbst seine neuartige Definition des Sozialismus besaß einen marxistischen Geschmack: „Wenn ich zusammenfassen soll, dann ist Sozialismus die Summe der sozialen Forderungen der zur Erkenntnis ihrer Klassenlage und der Aufgaben ihrer Klasse gelangten Arbeiter in der modernen kapitalistischen Gesellschaft." Bernsteins Definition des Sozialismus schloß also die zentrale marxistische Idee des Klassenkampfes ein; er hatte schon in den „Voraussetzungen" weder die Gültigkeit der marxistischen Mehrwerttheorie noch der Lehre vom Klassenkampf bezweifelt, sondern vom Klassenkampf nur gesagt, daß er durch die Ausbreitung der Demokratie zwar nicht beseitigt, aber doch humanisiert werden könne.

Im Jahre 1924 hielt Bernstein einen weiteren Vortrag, diesmal direkt zu dem Thema: „Was ist Marxismus?". In ihren Kerngedanken, so sagte Bernstein, „ist die Marxsche Lehre längst von den Sozialisten aller Länder akzeptiert, liegt sie den Programmen aller sozialistischen Parteien zugrunde." Diesmal gab er eine marxistische Darstellung der geschichtlichen Triebkräfte. „Denn mit den Wandlungen der Produktion . . . gehen Hand in Hand Veränderungen in der Gliederung der Gesellschaft nach Klassen . . .der Marxismus ist die wissenschaftliche Grundlage jeder den Tatsächlichkeiten auf materiellem und geistigem Gebiet gerecht werdenden sozialistischen Politik." Aber er sei auch eine organische Entwick-lungstheorie, die nicht nur einen revolutionä-ren Ausweg kenne, sondern auch die Möglich-keit einer Entwicklung zum Sozialismus „auf organischem, das heißt unblutigem und von Zerstörung freiem Wege" Gleichwohl bleibe er, wenn auch nicht als Umsturztheorie, so doch als Konzeption einer „neuen Gesellschaft und der Erziehung einer neuen Menschheit von Grund auf revolutionär im besten Sinne dieses Wortes"

Bernstein bejahte also den Marxismus grundsätzlich noch immer, ja er legte sogar ein öffentliches Bekenntnis zu ihm ab, gab ihm aber teilweise eine andere Fassung und Deutung, als er ursprünglich hatte. Bernstein war zugleich Marxist und Antimarxist. Nicht allein der Kommunismus litt an einem inneren Gegensatz, nicht nur der Marxismus krankte an einem Dualismus widerstreitender Tendenzen, auch der Revisionismus hatte seinen Widerspruch.

Schon am Ausgang des vorigen Jahrhunderts hatte Bernstein in seiner Artikelreihe über „Probleme des Sozialismus" beklagt, daß sich noch niemand die Mühe gemacht habe, „die Marxsche Theorie über den Punkt hinaus zu bilden, wo der große Denker sie gelassen“ Und während es Kautsky wie andere sozialistische Theoretiker im wesentlichen bei Interpretationen oder Variationen des Marxismus beließ, unterzog er sich schließlich selber der Mühe, die marxistische Theorie in Zusammenhang mit der sozialistischen Praxis unter den neuen Bedingungen weiterzuführen. Unter diesem Gesichtspunkt des Weiterdenkens war Bernstein der Marx am Ende des 19. und noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Unter dem Gesichtspunkt des Revisionismus, also des angestrengten Bemühens um selbständiges Denken, entzündete er gleichzeitig die Revolte wider den Marxismus. Bernstein bejahte Marx sein Leben lang, soweit dieser Sozialist und Wissenschaftler war, aber er wurde zunehmend kritischer ihm gegenüber, soweit Marx Kommunist und Utopist war. In-* sofern übertrug sich die Marxsche Ambivalenz auf den Revisionismus. Hier ist die Wurzel seines Widerspruchs zu suchen.

Doch zunächst hat Bernstein gemeinsam mit Kautsky zu den wichtigsten Rezeptoren des Marxismus in Deutschland und anderen Ländern gehört. Aber der Marxismus blieb nach dem Tode seines Begründers stehen — auch Engels hat ihm nur noch einige, wenn auch sehr bemerkenswerte Fußnoten angehängt —, während die Geschichte und Bernstein weitergingen. Darin, im Einklang mit der geschichtlichen Entwicklung zu sein, die wichtige Veränderungen der europäischen Gesellschaft einbeschloß, lag die Vitalität des Revisionismus, während Bernstein als Persönlichkeit ein Mann mit brüchiger Stimme war — alles andere als ein Volkstribun — und mit Marx, diesem menschlichen Löwen, nicht zu vergleichen. Das Gefühl der Unterlegenheit, das Bernstein Marx gegenüber verspürte, hat sich nach dem Tode von Marx in eine gewisse Unsicherheit umgewandelt. Ein skeptischer Ton irrt durch die Broschüren und Bücher, die er schrieb: der Zweifel an sich selbst, ein Zweifel, der Marx völlig fremd war. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Kette der Revolutionen, die ihm folgten, mußte die Selbstskepsis des Revisionismus noch vertiefen: Sah es nicht so aus, als ob die Möglichkeit des friedlichen Weges entweder nur eine Fiktion gewesen wäre oder sich schon wieder verschlossen hätte? Höhnisch schrieb Radek, der Anhänger Lenins, in einer 1919 veröffentlichten Broschüre, die von der KPD herausgebracht wurde: „Seit den achtziger Jahren fielen die Getreidepreise dank der Entwicklung der amerikanischen Landwirtschaft, und jetzt begannen die Löhne unter dem Einfluß des flotten Geschäftsganges zu steigen. Die Vorderreihen der Arbeiterschaft, die Arbeiteraristokratie, sah den Himmel voller Geigen . . ., und da setzte sich in ihr die Auffassung fest, die Revolution sei eine überwundene Phase der bürgerlichen Entwicklung." Aber der Krieg habe diese Illusionen wie Seifenblasen platzen lassen. Die russische Oktoberrevolution habe den gewaltigen Schritt von der marxistischen Wissenschaft zur Tat gemacht. Nun erhebe die westeuropäische Reaktion wieder ihr Haupt, was „ihrerseits auf die Arbeitermassen wie ein Sturmzeichen" wirke und abermals beweise, „daß nicht der revolutionäre Kommunismus, sondern umgekehrt der angeblich . reale'Reformismus eine Utopie war. ... Nur in der Revolution können die Vorderreihen der Arbeiterschaft die Volksmassen mit sich reißen. . ., aber die Revolution besteht eben darin, daß sie ein Bürgerkrieg ist, und Klassen, die sich mit Kanonen und Maschinengewehren bekämpfen, verzichten auf das homerische Rededuell. Die Revolution diskutiert nicht mit ihren Feinden, sie zerschmettert sie, die Konterrevolution tut dasselbe, und beide werden den Vorwurf zu tragen wissen, daß sie die Geschäftsordnung des deutschen Reichstags nicht beachtet haben".

Es sollten noch andere Ereignisse wie Stürme am Baum des Revisionismus rütteln, aber schon der Erste Weltkrieg und die deutsche Novemberrevolution genügten, um gewisse Schwankungen der revisionistischen Theoretiker und noch mehr ihrer Anhänger herbeizuführen, während sich die orthodoxen Marxisten in ihren Ansichten bestätigt fühlten. Die marxistischen Wurzeln, vorübergehend geschwächt, begannen von neuem zu erstarken, auch innerhalb des Revisionismus selbst.

Jedoch hatte sich Bernstein von Anfang an mehr gegen die Erstarrung des Marxismus als gegen ihn selbst gewandt, indem er als erster den Geist von Marx gegen den Buchstaben des Marxismus beschwor. So war der Revisionismus teilweise aus marxistischen Baumaterialien geformt.

Eine seiner größten Schwächen war, daß er sich weitgehend auf eine Kritik des Marxismus beschränkte, ohne ihm eine neue Theorie entgegenzustellen. Bernstein verhielt sich etwa wie ein Marx, der bei seiner „Kritik der politischen Ökonomie" stehengeblieben wäre, ohne das „Kapital" zu schreiben. Bernsteins „Voraussetzungen" glichen dieser „Kritik", das heißt einem großen Entwurf, aber sein „Kapital" hat er niemals geschrieben. Noch in den „Sozialistischen Kontroversen", die 1904 als III. Teil seiner „Theorie und Geschichte des Sozialismus" erschienen, beschränkte er sich auf die Verteidigung dessen, was in den „Voraussetzungen" stand. Nur in einem Vortrag, wie wissenschaftlicher Sozialismus möglich sei, holte er noch einmal aus, ohne indessen viel Neues zu sagen. Bezeichnend war die Enttäuschung einer Anhängerin, die den Vortrag hörte und Bernstein am Rednerpult beobachten konnte. „Wir hatten den Propheten einer neuen Wahrheit erwartet und sahen statt dessen einen Zweifler vor uns." Diese Anhängerin, Lily Braun, fühlte sich als Bernsteinistin. Es gab aber keinen Bernsteinismus, der an die Stelle des Marxismus treten konnte. Bernstein hat gegenüber dem Marxismus keine neuen Wahrheiten, sondern alte Wahrheiten zur Geltung gebracht, zum Beispiel die Menschenrechte, die für alle gleich sein müßten. Eine neue Konzeption skizzierte er bestenfalls als einen Entwurf, der seiner Ausarbeitung harrte, ja im Grunde noch immer auf sie wartet. Das Bernstein-Archiv findet jedoch erstaunlicherweise viel weniger Interessenten als beispielsweise das Trotzki-Archiv. Der Klassiker Bernstein hat noch keine Gesamtausgabe seiner Schriften erfahren; ein Hauch der Verfemung streicht über sein Grab. In mancher Hinsicht hat Marx noch posthum über den großen Revisionisten gesiegt. Das sollte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg ändern.

Der Revisionismus hatte also, kurz gesagt, nicht nur eine liberale, sondern auch eine marxistische Wurzel. Trotz alledem hat mit Bernstein eine neue Periode in der Geschichte des Sozialismus eingesetzt, die man von der marxistischen nur sehr bedingt abgrenzen kann, da sie in ihrem Schoße und auf ihrem Höhepunkt begann. Indem Bernstein den Marxismus weiterdachte, trieb er ihn über die von Marx gezogenen Grenzen hinaus. Der Revisionismus legte jedoch vom Ufer des Marxismus ab, ohne das andere Ufer zu erreichen. Vielleicht war das im gebrechlichen Boot der reinen Theorie auch nicht möglich. Gleichwohl ist es falsch zu behaupten, daß er gescheitert oder „fehlgeschlagen" wäre. Eher ließe sich sagen, daß er zwischen dem Marxismus und der neuen Welt gelandet sei, um die Geburt eines neuen Sozialismus vorzubereiten, der letzten Endes auch über ihn selber hinausging. Früh-sozialismus, marxistischer Sozialismus und Bernsteinscher Sozialismus — jeder mit einem bestimmten Sozialismusbegriff bewaffnet — sind in gewisser Hinsicht Stufen gewesen, über die der Sozialismus im Zuge seiner Wandlungen und im Verlaufe seiner Geschichte schritt. Jede Stufe war die Plattform einer Häutung, bis schließlich der Gestaltwandel, die Metamorphose, herangerückt war, die dem Sozialismus eine Form geben sollte, in der zwar bestimmte frühsozialistische Züge wiederaufgetaucht sind, deren Aussehen aber so neuartig ist, daß man vielerorts von Sozialismus kaum noch zu sprechen wagt.

b) Die Lösung vom Marxismus Wer das Vorstehende berücksichtigt, wird sich nun vorstellen können, welch gewaltiger Anstrengungen es bedurfte, um die Wurzeln des Marxismus wieder aus dem Sozialismus zu lösen, ohne daß er große Teile des sozialistischen Erdreichs mitriß.

Die größte, fast unüberwindbar dünkende Schwierigkeit hat darin bestanden, daß der Marxismus für viele Sozialisten aus einer politischen Theorie, die mit anderen Theorien wie dem Proudhonismus, dem Bakunismus oder den Anschauungen Dührings konkurrierte, zu einer Glaubensgewißheit geworden war. Er war mit anderen Worten vom kritischen Bewußtsein ins Unterbewußtsein geglitten, von wo er das Denken und Handeln der Sozialisten lenkte, ohne daß sie sich dessen noch bewußt gewesen wären. Daher blieben auch die sozialistischen Programme trotz sozialistisch-kommunistischen Schismen und ungeachtet des Revisionismus meistens marxistisch.

Wir wollen uns der tiefen Bedeutung dieses Umstands vergewissern. Solange eine politische Theorie nur das Bewußtsein der Menschen durchdringt, bleibt sie durch den von Natur aus kritischen Intellekt, der auch in allen „nichtintellektuellen" Menschen tätig ist, einer Kontrolle unterworfen. Sobald sie aber in das Unterbewußtsein hinabsinkt, stellt der Kontrollmechanismus des Intellekts seine Betriebsamkeit ein. Nun kann es sogar dahin kommen, daß der Intellekt zum Exekutivorgan des Glaubens wird. Nur der Umstand, daß sich der Mensch — weil er in der Regel verschiedene und oft sogar gegensätzliche Werte bejaht — selten auf eine einzige Glaubensgewißheit festlegt und daß diese unterschiedlichen Glaubensgewißheiten oft konkurrieren — nur diesem Umstand ist es zu verdanken, daß die politischen und sonstigen Fanatiker in normalen Zeiten kleine Minderheiten oder exentrische Sonderfälle bleiben.

Generell muß jedoch festgestellt werden, daß im gleichen Maße, wie sich eine Theorie in eine Glaubensgewißheit umformt, auch der Intellekt aus einem Kontrolleur in einen Diener derselben verwandelt werden kann. Dieser Prozeß ist zwar umkehrbar — wie in bezug auf den Kommunismus vor allem die Ereignisse in Ungarn und Polen bewiesen haben —, aber nur für den Fall, daß die betreffende Glaubensgewißheit mit der politischen Praxis kollidiert, daß sie in ein Spannungsverhältnis auf Biegen und Brechen mit einer anderen Wertung gerät oder durch ein politisches Erdbeben erschüttert wird. Was den Marxismus angeht, so sind alle diese Bedingungen nicht nur eingetroffen, sondern haben auch in Gemeinschaft zusammengewirkt.

Aber eingangs der Loslösung vom Marxismus stand, daß der Revisionismus weder Selbstzweck noch lediglich eine theoretische Kontroverse war, sondern ein so gut wie unbewußtes Mittel zu dem Zweck, Sozialisten und Kommunisten wieder zu scheiden. Darin hat der historische Sinn des Revisionismus bestanden. Da jedoch der Marxismus nun einmal die Klammer gewesen war, die Sozialisten und Kommunisten verbunden hatte, mußte der organisatorischen Trennung von den Kommunisten die geistige Lösung vom Marxismus fol-gen. Andernfalls blieb man auf der Hälfte des Weges unschlüssig stehen.

Doch auch dieser zweite historische Sinn war in Nebeln versteckt. Viele Sozialisten hielten sich nämlich gegenüber dem Kommunismus für die „wahren" Marxisten. Wie sollte das nicht der Fall gewesen sein, da ihnen doch selbst Bernstein persönlich voranging? In seiner Rede von 1924 über den Marxismus sagte er: „Nichts wäre falscher als den Bolschewismus für eine Anwendung des Marxismus zu erklären. Er ist als Theorie ein Bastardgebilde aus marxistischen und antimarxistischen Ideen, in seiner Praxis aber eine Parodie des Marxismus.“

Das war die gefährlichste Klippe. Mag es auch wahr sein, daß Lenin den Marxismus entstellt und brutalisiert hat, gleichzeitig hat er ihm jedenfalls eine ebenso selbständige Deutung und Fassung wie Bernstein gegeben. Beide waren Schüler von Marx, und beide strebten nach geistiger Souveränität. Was aber das „Bastardgebilde" anging, so enthielt auch der Revisionismus antimarxistische Ideen (insbesondere liberalen Ursprungs). Man konnte den Bolschewisten nicht verweigern, was die Revisionisten selber taten, und man konnte auch schwerlich bestreiten, daß sie auf ihre Art versuchten, den Marxismus in die Tat umzusetzen. Mochte dies auch unter Strömen von Blut geschehen — in Rußland enthüllte der Marxismus sein Janushaupt, das aber nur die Materialisierung jenes theoretischen Dualismus war, den Bernstein schon um 1890 erkannt hatte und der ihn in den Revisionismus trieb.

Drei Wege der Emanzipation Der Marxismus wurde zunächst vor allem pragmatisch überwunden. In den meisten sozialistischen Parteien, vor allem Europas, gab es einen ständigen Konflikt zwischen revolutionärer Theorie und reformerischer Praxis, der sich im gleichen Grade versteifte, wie die parlamentarische und konstruktive Tätigkeit der Sozialisten diese oder jene Erfolge erzielte, die sich allmählich summierten und die Reform zur Alternative der Revolution werden ließen. Für den Marxismus war hingegen die Reform nur ein Mittel, um die Revolution vorzubereiten, da er innerhalb der bestehenden Gesellschaft lediglich eine sehr beschränkte Anhebung des Lebensstandards der Arbeiterschaft für möglich und erreichbar hielt.

Unter diesen Umständen setzte sich, ausgehend von Bernstein, in den sozialistischen Parteien eine Umbewertung des Staates und insbesondere der demokratischen Staatsform durch. Wenn bis dahin das sozialistische Den-ken allein um die Achse des Sozialismus kreiste, so schwang es nun auch um die Demokratie als zweiten Hochwert. Bernsteins theoretisches Verhältnis zur Demokratie wurde also schrittweise in die Praxis transformiert. Doch war das Verhältnis der beiden Werte zunächst mehr durch Konkurrenz als durch Ergänzung bestimmt. Denn es schien den Sozialisten unmöglich, die Demokratie als Staatsform vom jeweiligen Staat zu trennen, in dem sie lebten und der ihnen oft noch recht übel gesinnt war. Nicht nur die marxistische Tradition, sondern auch die Sozialistenfeindschaft vieler Regierungen wirkten sich als hemmende Einflüsse aus, die es den Sozialisten erschwerten, ein völlig positives Verhältnis zur Demokratie zu gewinnen — also nicht nur in der Theorie, sondern auch in der politischen Praxis.

Die Entscheidung fiel im Grunde erst mit dem Aufkommen der totalitären Systeme in Italien und Deutschland, die den Sozialismus auszurotten versuchten, obwohl sie sich selber sozialistisch maskierten. Fast alle sozialistischen Parteien Europas wurden zerschlagen oder in die Illegalität getrieben. Der Marxismus als Theorie des Klassenkampfes wie als Denkmethode erwies sich jedoch als unbrauchbar, das totalitäre Phänomen zu erklären. Zeichne12 ten sich doch der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus gerade dadurch aus, daß sie die ersten — wenn auch negativen — Volksparteien waren, weil sie das Klassenschema nach allen Seiten durchbrachen. Daneben nahm auch der Kommunismus unter Stalin Züge an, die aus dem Rahmen des Marxismus fielen. Selbst unter diesen Gesichtspunkten zeigte sich, daß der Marxismus veraltet war, wenngleich es natürlich auch Sozialisten gab, die umgekehrt seine Renaissance erstrebten. Die gleichzeitig lähmende und befreiende Erkenntnis in den sozialistischen Parteien lag jedoch darin, daß man die Wesensverwandtschaft zwischen Faschismus und Nationalsozialismus auf der einen Seite und dem Kommunismus auf der anderen zu begreifen begann. Die meisten Sozialisten haben aus dieser Erkenntnis die Konsequenz gezogen, daß der Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus gegenüber dem von Demokratie und Totalitarismus sekundär sei, was wiederum ein Bündnis der Sozialisten mit allen anderen demokratischen Kräften nötig mache. Damit war ein großer Schritt vom Marxismus weg getan, der ja stets die Gemeinsamkeiten der „Arbeiterparteien" betonte, während er die Demokratie für ein „bürgerliches“ Phänomen hielt. Die Erkenntnis der Wesensverwandtschaft etwa Hitlers und Stalins, obwohl sie nach außen hin Todfeinde waren, hat mit der Lösung vom Marxismus auch die Abgrenzung der Sozialisten von den Kommunisten entscheidend gefördert und bis zu einem gewissen Grade bereits unwiderruflich gemacht.

Aber sowohl die pragmatische als auch die demokratische und die totalitarismuskritische Lösung vom Marxismus zogen gleichzeitig einen Schnitt durch die sozialistischen Parteien.

Das Scheidewasser der Sozialisierung Bernstein hat zwar nur den Bolschewisten die Verkennung der liberalen Ideen vorgeworfen, aber auch die marxistischen Sozialisten verstanden den Sozialismus als eine antiliberale Bewegung. Daher mußte es früher oder später zu einem Zusammenstoß zwischen den marxistischen und liberalen Sozialisten kommen. Er entzündete sich, wie es in politischen Bewegungen fast immer der Fall zu sein pflegt, an einer praktischen Frage, in der allerdings alle Fäden der marxistischen Theorie zusammenliefen. Während die Marxisten das Privateigentum, besonders an den Produktionsmitteln, für die Quelle aller Übel hielten, faßten die liberalen Sozialisten das Privateigentum zunehmend als ein Menschenrecht auf, das zwar eingeschränkt werden könne und sogar sozial gebunden werden müsse, aber grundsätzlich nicht aufgehoben werden dürfe. Dies ist der Ausgangspunkt gewesen, über den zwar nur selten gesprochen wurde, der aber stets im Hintergrund stand, wenn es um das Problem der Verstaatlichung oder Sozialisierung ging. Denn für die marxistischen Sozialisten fiel der Sozialismus vor allem mit der Überführung des Privateigentums an den Produktionsmitteln in Gemeineigentum zusammen, während die liberalen Sozialisten im Gemeineigentum lediglich ein Mittel zu dem Zweck sehen konnten, den kapitalistischen Tendenzen der Ausbeutung und dem Mißbrauch wirtschaftlicher Macht zu politischen Zwecken entgegenzutreten.

An diesem Problem haben sich Tausende von Diskussionen innerhalb der sozialistischen Parteien entzündet und sind nicht zuletzt auf den Parteitagen ausgetragen worden. Für die Marxisten hörte der Sozialismus auf, sozialistisch zu sein, sobald er auf die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln zu verzichten begann. Für die liberalen Sozialisten wurde der Sozialismus jedoch im gleichen Maße dogmatisch, wie er sich auf die Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der Produktionsmittel auch dann noch festlegen ließ, wenn sich herausstellen sollte, daß man auch ohne sie auskommen oder wenigstens auf die Sozialisierung der Schlüsselindustrien beschränken könne, denn sie hielten das Gemeineigentum für einen (vertauschbaren) Weg statt für den Sinn des Sozialismus, den sie zunehmend in der Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit sahen. Die? Auseinandersetzungen über diese Fragen sind im allgemeinen so bekannt, daß wir nicht näher auf sie einzugehen brauchen. Doch wird es nützlich sein, den Umschlag vom marxistischen zum liberalen Sozialisten (der allerdings zu spät kam, um noch nennenswerte Früchte zu tragen) bei Karl Kautsky zu rekonstruieren.

Kautsky war jahrzehntelang der Gralshüter des Marxismus in der deutschen Sozialdemokratie und selbst in der II. Internationale, und sogar Lenin hat ihn verschiedentlich wohlgefällig zitiert. Doch das Erlebnis des russischen Kommunismus stürzte Kautsky in eine tiefe geistige Krise. Schließlich widerrief er sich selbst, als er 1918 in seiner gegen Lenin und den Bolschewismus gerichteten Broschüre „Die Diktatur des Proletariats" wörtlich schrieb: „Würde uns nachgewiesen, daß . . . die Befreiung des Proletariats und der Menschheit auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln zu erreichen sei, dann müßten wir den Sozialismus über Bord werfen, ohne unser Endziel im geringsten aufzugeben, ja wir müßten es tun, gerade im Interesse des Endziels."

Viele marxistische Sozialisten konnten jedoch Kautsky nicht folgen oder waren einfach nicht bereit, das Prinzip der Sozialisierung zu op-fern. Ebenso war Kautsky nicht imstande gewesen, Bernstein zu folgen, bis er zwei Jahrzehnte später durch den Kommunismus gezwungen wurde, nun selbst die Grundlagen des Marxismus zu überprüfen. Für eine stattliche Zahl von Sozialisten sollte es weitere zwei Jahrzehnte dauern, bis Kautskys Wahrheit in ihnen aufzuleuchten begann. Vielleicht ist hieran zu ermessen, wie weit Bernstein dem Gros der sozialistischen Bewegung voraus war und wie wenig er damit rechnen konnte, theoretisch verstanden zu werden. Die Ernte seines Wirkens wird erst seit dem Zweiten Weltkrieg eingebracht, im Grunde sogar erst im letzten Jahrzehnt.

Die SAP-Tendenz Ein erster Keim des marxistischen Schismas hatte sich aber schon 1884 in England gezeigt, wo gleichzeitig eine „Revolutionäre sozialdemokratische Föderation" und die Fabiergesellschaft entstanden. Die Mitglieder der Föderation griffen auf Marx und Bakunin, die Fabier aber auf Bentham und Stuart Mill zurück. Eine ähnliche Differenzierung zwischen marxistischen und liberalen Sozialisten gab es kurz nach dem Ersten Weltkrieg im jüdischen „Bund" von Rußland und Polen. Sie ist später in der Konfrontierung von Mapam und Mapai in Israel manifest geworden. Demgegenüber hing die Abspaltung der USPD von der SPD im Jahre 1917 insbesondere mit den Kriegskrediten zusammen.

Im internationalen Maßstab begann das marxistische Schisma am 7. Dezember 1920, als sich verschiedene sozialistische Parteien separat von den anderen zu einer Vorkonferenz trafen, um auf marxistischer Basis eine eigene Internationale zu gründen. In einer Publikation der Sozialistischen Internationale heißt es hierüber: „In den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg waren die Fernwirkungen der bolschewistischen Offensive freilich noch groß genug, um ein negatives Ziel zu erreichen: die Wiederbegründung der Sozialistischen Internationale zunächst zu verhindern. Dieser Versuch, der 1920 unternommen wurde, scheiterte am Widerstand jener linkssozialistischen Parteien, die eine Internationale aus Sozialisten und Kommunisten erstrebten. Als diese Parteien jedoch feststellen mußten, daß die Kommunisten nicht eine gemeinsame Internationale, sondern eine kommunistisch dirigierte Internationale wollten, gründeten die Linkssozialisten ihre separate . Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien'" , Zweifellos ist diese Arbeitsgemeinschaft weniger das Resultat einer bolschewistischen Fernwirkung als des Versuches gewesen, sich sowohl von den kommunistischen Parteien als auch von den Parteien der II. Internationale abzugrenzen. Dies läßt sich deutlich an dem Aufruf der Wiener Internationale — wie die Arbeitsgemeinschaft genannt worden ist — an die sozialistischen Parteien erkennen, der von ihrer Vorkonferenz verabschiedet wurde. Die marxistischen Sozialisten bekannten sich sowohl zur proletarischen Weltrevolution als auch zur Räteidee. Aber „die Kommunistische Internationale drängt die Methoden, die die Bolschewiki in der proletarisch-bäuerlichen Revolution Rußlands angewendet haben, den Arbeiterparteien aller anderen Länder als Schablone auf." Die aus den „reformistischen und nationalistischen Flügeln der Arbeiterbewegung" gebildeten Parteien hingegen, die sich als II. Internationale bezeichnen, „verkennen theoretisch die historischen Notwendigkeiten des revolutionären Klassenkampfes, indem sie das Prolatariat ohne Rücksicht auf die Besonderheiten der einzelnen Länder und der einzelnen Entwicklungsphasen auf die demokratischen Methoden beschränken"

Die Kommunisten sind also zu diktatorisch und die Sozialdemokraten zu demokratisch, und beide handeln nach Schablonen, während der wahre Marxismus je nach den Umständen sowohl diktatorische als auch demokratische Methoden anwenden muß. Damit waren die Grenzen und das Wesen des marxistischen Sozialismus schon abgesteckt: eine „dritte Kraft" zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie zu sein, die sich als wahrer Marxismus empfand. In dem besagten Aufruf trat der Zwittercharakter des marxistischen Sozialismus bereits deutlich hervor. Zwischen demokratische und totalitäre Tendenzen gestellt, versuchte er ihre Synthese. Das Fiasko einer solchen Strömung war vorauszusehen, obwohl sie anfangs erhebliche Massen mitriß und scheinbar eine Alternative sowohl im Verhältnis zum Kommunismus als auch zum „Reformismus" verkörperte. Eine Zwitterstellung war auf die Dauer nicht möglich, mochte sie auch durch die politischen Verhältnisse zeitweilig begünstigt werden.

Nachdem der Versuch einer marxistischen Internationale zwischen der Sozialistischen und der Kommunistischen nach wenigen Jahren gescheitert war — im Mai 1923 wurde die II. Internationale unter Einschluß der Wiener als Sozialistische Arbeiterinternationale neu begründet —, verlagerte sich das Gewicht der schismatischen Tendenz in die einzelnen sozialistischen Parteien. Es wäre zu zeitraubend, alle Einzelfälle zu schildern. Wir beschränken uns auf ein exemplarisches Beispiel, auf das der „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands" (SAP).

Wie die USPD ging auch die SAP aus der deutschen Sozialdemokratie hervor. Ihre Absplitterung erfolgte am 4. Oktober 1931 und ihr Ansatzpunkt war das ernste Bemühen, durch ein radikalsozialistisches Programm „das Abströmen der Arbeitslosen zu den Kommunisten wie des verzweifelten Kleinbürgertums zu den Nationalsozialisten wirksam einzudämmen" Viel Erfolg hatte sie hierbei freilich nicht, da sie keine größere Ausstrahlung zu entfalten vermochte. Aber wir wollen ohnehin nur einige Sätze aus ihrer Prinzipienerklärung von 1932 zitieren. Schon die Präambel war klassischer Marxismus: „Die Sozialistische Arbeiterpartei erstrebt einen Gesellschaftszustand, in dem das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufgehoben und diese in die Hände der Gesellschaft übergeleitet sind; in dem es deshalb keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und keine Klassen mehr gibt und der Staat, die organisierte Gewalt in den Händen der herrschenden Klasse, beseitigt ist.“ Auch in der demokratischen Republik sei der Staat nichts anderes als ein Klasseninstrument. „Da die ungeheure bürokratische und militärische Organisation des kapitalistischen Staates und das parlamentarische System vollkommen den Herrschaftsbedürfnissen der Bourgeoisie angepaßt sind, können sie von der siegreichen Arbeiterklasse nicht übernommen werden." Der SPD sei durch ihre bisherige Politik „die Rückkehr zum Klassenkampf für immer verbaut", während der Kommunismus „durch die Aufhebung der Parteidemokratie und das ganze organisatorische System, das sich in der Komintern herausgebildet hat. . ., die Gesundung der revolutionären Arbeiterbewegung außerordentlich erschwert."

Wieder das Dazwischen und die Eliteidee, abermals nach beiden Seiten die Berufung auf Marx, doch wiederum im großen und ganzen vergebens. Aber wie die Arbeiterparteitendenz bei den Kommunisten, so hat sich auch die Arbeiterparteitendenz bei den Sozialisten wie ein Funke unter der Asche gehalten, als die über ihr errichteten Parteien schon in sich zusammengebrochen waren. Ein Ausläufer ist die winzige „Sozialistische Arbeiterpartei" (Linkssozialisten) in Österreich. Seit 1957 gibt es allerdings den Versuch, in Westeuropa nach dem Modell der SAP unter dem Begriff „Neue Linke" neue marxistische Parteien zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie ins Leben zu rufen. Ein Jahr zuvor hatte Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU die Entstalinisierung eingeleitet, was die Phantasie und Energie der marxistischen Sozialisten bis zu einem gewissen Grade noch einmal belebt hat. Abgesehen von dem Ausnahmefall in Dänemark sind die marxistischen Gruppen der „Neuen Linken" jedoch, bisher jedenfalls, auffallend schmalbrüstig geblieben.

Der marxistische Sozialismus versiegt Der marxistische Sozialismus, einst die vorherrschende Strömung in den sozialistischen Parteien, ist heute in Europa an ihre Peripherie abgedrängt. Umgekehrt sind die Exmarxisten und nichtmarxistischen Sozialisten, die einst in der Minderheit waren, in vielen Parteien zur Mehrheit geworden, obwohl sie sich dem Einfluß der marxistischen Tradition oft nicht ganz entziehen können.

So hat sich das Verhältnis von „Linkssozialismus" und „Rechtssozialismus", das heißt von marxistischen und liberalen Sozialisten, grundlegend verschoben. In einigen Ländern ist das mehr, in anderen weniger der Fall, am meisten in Holland und der Bundesrepublik, wo sich die marxistischen Sozialisten am offensichtlichsten außerhalb der Sozialdemokratie sammeln — in Holland in der „Pazifistisch-Sozialistischen Partei", in der Bundesrepublik im „Sozialistischen Bund", der mit dem „Sozialistischen Studentenbund" liiert ist. Die holländische und deutsche Sozialdemokratie haben Marx so weit hinter sich zurückgelassen, daß die marxistischen Sozialisten kaum noch eine Möglichkeit zur Mitarbeit sehen. Gleichzeitig sind sie als autonome Gruppen anscheinend nicht mehr imstande, über den Rahmen von Sekten oder Kleinparteien hinauszugelangen. Aber nicht nur in den besagten beiden Ländern, sondern in ganz Westeuropa — der italienische Sonderfall wird im nächsten Kapitel berührt — zieht sich der marxistische Sozialismus in das Schneckengehäuse von Sekten zurück. Das ist beispielsweise auch bei dem „Sozialdemokratischen Bund" in Finnland der Fall, der, 1957 aus oppositionellen Sozialisten entstanden, ausdrücklich die Tradition der alten Arbeiterpartei, die von 1899 bis 1918 bestand, fortführen will. Daneben wollen wir nur noch die französische PSU (die kleine Halbpartei der „unabhängigen Sozialisten) erwähnen, die 1957 vornehmlich aus sozialistisch-marxistischen Splittergruppen hervorgegangen ist. Während also die marxistischen Sozialisten einem Schrumpfungsprozeß unterliegen und nur noch gelegentlich etwas Ost-oder Westwind in ihre aufgespannten Segel bekommen, weitet sich die Sozialdemokratie gleichzeitig zur Volkspartei aus, indem sie die geistigen und organisatorischen Schranken des alten Sozialismus sowie der ehemaligen Arbeiterbewegung durchbricht.

10. Trennung von Sozialisten und Sozialdemokraten

Inzwischen hat sich ein weiteres Schisma angebahnt. Obwohl es in vielen Ländern noch nicht ausgereift ist, neuartige Formen annehmen und teilweise auch verhindert werden kann, läßt sich sein Umriß doch schon unschwer erkennen. Der aufgebrochene Gegensatz von marxistischen und liberalen Sozialisten hat sich unter der Oberfläche bis zur Gegenüberstellung von Sozialisten und Sozialdemokraten vertieft und erweitert.

Wiederum läßt sich keine eindeutige Abgrenzung vom vorangegangenen Schisma vollziehen, denn abermals war das neue im alten enthalten. Der theoretische Ansatz findet sich schon 'bei Bernstein, und der praktische zeichnete sich überall da ab, wo die Sozialisten begannen, eine konstruktive Politik im bestehenden Staat zu betreiben, indem sie Reformen vorschlugen und forcierten.

Die Keime wuchsen also schon im 19. Jahrhundert heran. Gleichwohl hat sich das neue Schisma im engeren Sinne in der Regel erst nach dem Zweiten Weltkrieg bemerkbar gemacht; genauer: seit 1957/58, wenn man von Italien absieht. Es handelt sich, wie gesagt, um einen Prozeß, der noch nicht abgeschlossen ist, sondern eben erst heranreift, weshalb Voraussagen über seinen Verlauf nur mit großer Vorsicht gemacht werden können, was wiederum der Grund ist, warum wir uns so kurz wie irgend möglich fassen. Wir haben es jedoch gleichzeitig mit einem Prozeß zu tun, der von großer Bedeutung für das Geschick der gesamten Menschheit sein dürfte und gleichzeitig die letzte Konsequenz der Geschichte des Sozialismus in sich birgt, also deren Fazit ist, weshalb wir ihn nicht übergehen können.

Zweifellos hängen sowohl die Zukunft der Demokratie als auch das Schicksal des Kommunismus in beträchtlichem Maße davon ab, welche Haltung die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien zu den politischen Grundproblemen beziehen. Die Mitglieder der Sozialistischen Internationale (der nicht alle sozialistischen Parteien angehören) repräsentierten 1965 13 Millionen Mitglieder und 65 Millionen Wähler — also eine gewaltige Kraft, die sich vor allem in Europa konzentriert. Die Sozialistische Internationale ist eine Weltmacht, die zumindest über das Schicksal Europas mitentscheidet.

Das neue Schisma berührt jedoch auch ihre Zukunft.

a) Die Parallelparteien Schon die Tatsache, daß sich die Sozialistische Internationale sowohl aus sozialistischen als auch aus sozialdemokratischen Parteien zusammensetzt (wobei sich die Namen allerdings oft mehr auf die Vergangenheit als auf die Gegenwart beziehen und daher als Unterscheidungsmerkmal schlecht eignen), ist ein Symptom. Die Bedeutung dieses Symptoms enthüllt sich, wenn man ins Auge faßt, daß der Internationale beispielsweise zwei japanische Parteien angehören: die „Sozialistische Partei“ wie die „Demokratisch Sozialistische Partei", und wenn man weiß, daß die letztere 1959 aus einer Abspaltung von der Sozialistischen Partei hervorgegangen ist.

Einen nicht weniger deutlichen Hinweis vermag der Umstand zu geben, daß von den drei sozialistischen Parteien Israels, die seit langem bestehen und zu denen neuderdings die Rafi Ben Gurions als vierte getreten ist, nur eine, nämlich die Mapai (also die Israel Labour Party), der Internationale angehört.

Ähnlich sind die Probleme in Italien gelagert, wo sich neben den Nenni-Sozialisten und der Sozialdemokratie Saragats im Januar 1964 eine dritte sozialistische Partei — der „proletarischen Einheit" — konstituiert hat. Von diesen Parteien ist nur die Sozialdemokratie Saragats, die 1947 aus einer Session von 52 sozialistischen Parlamentsabgeordneten hervorging, der Internationale angeschlossen. Auch die Nenni-Sozialisten gehörten ursprünglich der Internationale an, wurden aber später ausgeschlossen. In einer von der Sozialistischen Internationale herausgegebenen Broschüre wird hierzu erklärt: „Die Entscheidung, einen eindeutigen Trennungsstrich zwischen demokratischem Sozialismus und totalitärem Bolschewismus auch im organisatorischen Bereich zu ziehen, führte auch zum Ausschluß der Sozialistischen Partei Italiens unter der Führung von Pietro Nenni, die ausgesprochen pro-kommunistische Tendenzen zeigte und sich weigerte, den Pakt mit den Kommunisten zu lösen."

Der Ausschluß der Nenni-Partei deutete allerdings auch einen Trennungsstrich zwischen Sozialisten und Sozialdemokraten an. Die Sozialistische Internationale konnte ja Nenni nicht bestreiten, ein Sozialist zu sein, und sie hat das auch niemals getan. Inzwischen hat sich aber der Charakter der Sozialistischen Partei Italiens gewandelt, und zwar in einem Maße, der die Kommunisten von ihrer „Sozialdemokratisierung" sprechen läßt. Auf Grund dessen ist auch eine Wiederannäherung von Nenni-Partei und Sozialistischer Internationale zu bemerken.

In diesem Wechselspiel von Ausschluß und Wiederannäherung drücken sich die wichtigsten Tendenzen des neuen Schismas aus.

b) Verzögerte Industrialisierung und gebremste Evolution Es ist bemerkenswert, daß sich starke sozialistische Linksparteien nur in solchen Ländern bis in die Gegenwart behaupten können, die den Weg zur Industrialisierung verspätet betraten. Das war in Japan, Israel und Italien gleichermaßen der Fall. Ebenso wichtig erscheint, daß sich die sozialistischen Parteien Italiens und Japans nicht nur in der Form gespalten haben, daß sich die Kommunisten separierten, sondern auch durch Abzweigung von Gruppen demokratischer Sozialisten, die zu Grundzellen eigenständiger Parteien des demokratischen Sozialismus wurden. In Israel lagen die Dinge umgekehrt, weil die Kommunistische Partei schon 1920 vor Mapai (1929) und Mapam (1948) entstand und weil sich der Mapam-Kern aus der Mapai herausgeschält hat; doch das Gesamtbild ist dasselbe wie in Italien und Japan.

Offensichtlich wirkten stets zwei Faktoren zusammen. Einerseits verzögerte die verspätete Industrialisierung dieser drei Länder auch die Herausbildung sozialistischer Parteien um mehrere Jahrzehnte, andererseits führte die Zusammendrängung des Industrialisierungsprozesses auch zu verschärften Spannungen in den sozialistischen Parteien. Als Beispiel sei erwähnt, daß sich die Sozialistische Partei Italiens erst 1892, also neunundzwanzig Jahre nach der deutschen, gebildet hat — zu einer Zeit, da sich der Marxismus im internationalen Sozialismus längst durchgesetzt hatte und als Bernstein bereits offen mit revisionistischen Theorien hervortrat. Auf die italienischen Sozialisten drangen Marxismus und Revisionismus gleichzeitig ein; sie hatten keine Zeit zur geistigen Entwicklung und zum Durchdenken der Probleme wie ihre englischen, französischen oder deutschen Genossen gehabt, sondern wurden unmittelbar in jene innersozialistische Spannung hineingeschleudert, die dem Schisma voranging. Ebenso, ja noch ausgeprägter, war es in Japan, wo die Sozialistische Partei sogar erst 1901 entstand. Daher blieben der italienische und japanische Sozialismus hinter der allgemeinen Entwicklung des Sozialismus (besonders des mitteleuropäischen) zurück, ohne daß sie von seinen Spaltungstendenzen verschont geblieben wären. In Italien gab es den einmaligen Fall, daß sich Kommunisten und reformerische Sozialisten nahezu gleichzeitig von den (marxistischen oder maximalistischen) orthodoxen Sozialisten trennten, obwohl der demokratische Sozialismus noch nicht genügend Lebenskraft besaß, um sich als eigene Partei zu behaupten. Die inneren Probleme des Sozialismus hatten sich in Italien gleichsam zu einem Knoten geschürzt, denn sie waren aufs äußerste zusammengepreßt. Daher schoben sich auch das sozialistisch-kommunistische Schisma sowie die Trennung von marxistischen und liberalen Sozialisten ineinander, wenngleich die letzere nur provisorisch war, bis sie 1947 unter Saragat ihre endgültige Form annahm.

Infolge verspäteter Industrialisierung blieb die marxistische Basis in einigen Ländern sehr viel länger als in zahlreichen anderen erhalten, und die verzögerte Herausbildung sozialistischer Parteien bremste ihrerseits die geistige Evolution innerhalb der sozialistischen Bewegung. Daher kommt es, daß die soziali-

stischen Parteien Japans und Italiens noch immer erheblich stärker als die sozialdemokratischen sind, während sie gleichzeitig unvergleichlich stärkeren Spaltungstendenzen als die Sozialdemokratie unterliegen. Ihre Basis schwindet nämlich im gleichen Maße, wie Italien und Japan zu modernen Industriegesell-

schaften umgeformt werden. Der Sozialismus alten Typs findet im Boden dieser Gesellschaft keine hinreichende Nahrung mehr. Daher zeigen sich in seinen Parteien immer deutlicher Risse, und Sprünge. In Italien hat sich, wie schon erwähnt, der linke Flügel der Nenni-Sozialisten abgespalten und zur „Partei der proletarischen Einheit" formiert. In Japan hat der linke Flügel der Sozialistischen Partei auf dem letzten Parteitag (1964) die Wahl seiner Vertreter ins Zentralkomitee demonstrativ abgelehnt und eine „parteiinterne Opposition" gebildet In beiden Fällen stehen die „Linken" den Kommunisten näher als den Sozialdemokraten, obwohl auch sie den Totalitarismus bekämpfen.

Ein Teil der Sozialisten dieser Länder nähert sich den Kommunisten an, ein anderer Teil den Sozialdemokraten. Die verspäteten sozialistischen Parteien werden zwischen den Kommunisten und Sozialdemokraten wie zwischen zwei Mühlsteinen langsam zerrieben. Diesem Schicksal können die Sozialisten nur entrinnen, wenn sie sich in Sozialdemokraten verwandein. Nur soweit das der Fall ist, wird eine Einheitspartei von Sozialisten und Sozialdemokraten, wie sie vor allem in Italien geplant ist, von Dauer sein können. Andernfalls wird sie trotz entsprechender Pläne und Wünsche entweder nicht zustande kommen, wie in Israel, oder bei nächster Gelegenheit wieder auseinanderfallen, wie in Japan, wo es 1955 zur Wiedervereinigung und 1959 zur abermaligen Spaltung kam.

Es sind zwei grundlegende Tendenzen erkennbar. Eine geht dahin, daß die Sozialdemokratie auf Kosten des alten Sozialismus wächst. Eine andere deutet auf einen Polarisierungsprozeß zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie hin, wie er in Schweden und der Bundesrepublik schon am weitesten voran-geschritten ist. Zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie haben letzten Endes nur noch kleine Sekten Platz, wie sie sowohl für den Frühsozialismus als auch für den Früh-kommunismus bezeichnend waren. Die Sozialisten repräsentieren die Vergangenheit, die Sozialdemokraten hingegen die Gegenwart des Sozialismus. Die Sozialisten sind das Mundstück der sozialistischen Tradition, während die Sozialdemokraten Reformer par excellence sind. Ein Teil des alten Sozialismus verwandelt sich in eine konservative Kraft, weil er in die Vergangenheit schaut, ein anderer Teil ist über verschiedene Stufen der geschichtlichen Entwicklung gefolgt und sozial-demokratisch geworden, er verschmilzt mit der Demokratie. Der Integration der Arbeiterschaft in die Gesellschaft folgt als logische Konsequenz die Intergration der Sozialdemokratie in die Demokratie. Damit kommt ein geschichtlicher Prozeß zum Abschluß, der sich bereits über 140 Jahre erstreckt.

c) Was liegt dem neuen Schisma zugrunde?

Vor allem dies, daß die Entwicklung der Demokratie wie die des Kommunismus die sozialistische Konzeption einer neuen Gesellschaft nunmehr selbst in Frage stellt.

Auch der Kommunismus hatte sich das Ziel einer neuen Gesellschaft gesteckt, deren erste Etappe der Sozialismus sein sollte. Aber was dabei herauskam, war so unerfreulich, daß die sozialistische Idee selbst erschüttert wurde.

Auf der anderen Seite hat sich in vielen westlichen Ländern — nicht zuletzt unter dem Druck der sozialistischen Bewegung — die Demokratie auf immer weitere Schichten der Völker ausgedehnt. Das Prinzip der individuellen Freiheit wurde über den Wohlfahrtsstaat mit dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit kombiniert.

Wenn der Kommunismus dazu zwang, die Konzeption der neuen Gesllschaft einer schonungslosen Überprüfung zu unterziehen, so hat die Erweiterung der Demokratie eine neue Gesellschaft überflüssig gemacht. Für die Sozialdemokraten bleibt nur die Aufgabe übrig, der bestehenden Demokratie und Gesellschaft eine möglichst soziale Färbung zu geben. So wird die Konzeption der neuen und sozialistischen Gesellschaft durch die Konzeption der sozialen Demokratie verdrängt. Der Sozialismus, soweit er im Fluß geblieben ist, verwandelt sich über die Metamorphose zur Sozialdemokratie in eine permanente Gesellschaftsreform. Wenn die Schneide des marxistischen Schismas Verstaatlichung oder Sozialisierung hieß, so ist das Zentralproblem des neuen Schismas im Verhältnis zu den Kommunisten und zur Demokratie zu erblicken. Die entscheidenden Kriterien des Sozialdemokraten sind die Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit mit den Kommunisten (soweit sie sich nicht ihrerseits zu demokratischen Sozialisten entwickeln und die Menschenrechte respektieren) und das vorbehaltlose Bekenntnis zur Demokratie, die nur noch in sozialer Hinsicht ergänzt werden soll. Mit anderen Worten: Für den Sozialdemokraten sind die endgültige Abgrenzung vom Kommunismus und die gleichzeitige Identifizierung mit der Demokratie charakteristisch.

Wo innerhalb einer Partei, mag sie sich sozialistisch oder sozialdemokratisch nennen, eine solche Klarheit besteht, ist das neue Schisma vermeidbar. Wo sich aber neue Tendenzen bemerkbar machen, mit den Kommunisten Wahlabkommen oder Aktionseinheitspakte zu schließen, oder wo das Bekenntnis zur Demokratie mit Vorbehalten durchtränkt ist, dort dürfte das Schisma unausweichlich werden. Mit Sicherheit geht vor allem die Sozialistische Partei Frankreichs einer schweren Belastungsprobe entgegen. Im allgemeinen ist aber, zumindest in Europa, die Tendenz festzustellen, daß sich Demokratie und Sozialismus neuen Stils immer weiter nähern und verschmelzen.

Dies gilt auch ungeachtet der Differenzierungen, wie sie sich etwa in der schwedischen Sozialdemokratie oder in der englischen Labour Party vollziehen. In Schweden haben sich Anfang 1964 bei einer Debatte über den Staatshaushalt 31 Abgeordnete zu einer oppositionellen Gruppe vereint, weil sie einen sinkenden statt steigendenVerteidigungsetat wünschten. In Großbritannien, wo die innerparteiliche Opposition ebenfalls 31 Abgeordnete (im Unterhaus) umfaßt, ist es im Dezember 1965 am Brennpunkt der Vietnam-Frage sogar zur Aufstellung eines eigenen Kandidaten der „Linken" (im Wahlkreis Hull-Nord) gegenüber dem offiziellen Labour-Kandidaten gekommen. In beiden Fällen denkt die Opposition eher pazifistisch als marxistisch. Wenn aber selbst die britische Labour Party, die niemals marxistisch war, von der Abspaltung ihres linken Flügels bedroht ist, so weist eben dies mit besonderem Nachdruck darauf hin, daß heute zwischen Sozialisten und Sozialdemokraten unterschieden werden muß. Die Grenze zwischen ihnen ist allerdings fließend. Viele Sozialisten — in Europa sogar die gewaltige Mehrheit — wurden zu Sozialdemokraten, wie sich umgekehrt manche Sozialdemokraten unter dem Eindruck außen-oder innenpolitischer Geschehnisse in Sozialisten (zuweilen sogar in marxistische Sozialisten) zurückverwandeln können.

Wie weit jedoch das neue Schisma zu gehen vermag, hat sich bei örtlichen Wahlen im März/April 1963 in Japan gezeigt, wo in der Stadt Kitakyushu die Sozialistische Partei einen gemeinsamen Kandidaten mit den Kommunisten, die Partei des Demokratischen So-zialismus aber einen gemeinsamen (Gegen-) Kandidaten mit der Liberaldemokratischen Partei nominierte. Wo der neuralgische Punkt einer politischen Zusammenarbeit mit den Kommunisten berührt wird, bricht die Gemeinsamkeit von Sozialisten und Sozialdemokraten letzten Endes unwiderruflich entzwei.

Allerdings hatte die Machtergreifung des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus sowie die terroristische Politik, die sie betrieben, in einer Reihe von Ländern zunächst zu einer neuerlichen Annäherung von Sozialisten und Kommunisten geführt. Wenn dies auch meist nur auf den unteren Ebenen geschah, so kam es doch in Italien, Spanien und Frankreich zu offiziellen Aktionseinheitspakten zwischen den sozialistischen und kommunistischen Parteien, die in den beiden letzteren Ländern bekanntlich zu Volksfrontregierungen führten.

Am längsten hat dieser Pakt in Italien — nämlich von 1934 bis 1956 — gewährt. Erst Chruschtschows Enthüllungen auf dem XX. Parteitag der KPdSU und die militärische Intervention der Sowjets in Ungarn lösten solche Schocks in der Sozialistischen Partei Italiens aus, daß sie zur Kündigung der Aktionseinheit schritt. Zu diesem Zeitpunkt war sie jedoch bereits aus der Sozialistischen Internationale wegen ihrer Zusammenarbeit mit den Kommunisten ausgeschlossen worden. Die italienischen Sozialisten haben später als die meisten anderen erkannt, daß zwischen Stalin und Hitler kein prinzipieller Unterschied bestand. Daher verzögerte sich auch ihre Lösung von den Kommunisten.

Jedoch wirkte in vielen sozialistischen Parteien eine Tendenz zur Aktionseinheit, wenngleich meist nur von einer Minderheit getragen, noch in die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hinein — eine Tendenz, die teilweise soweit ging, daß die Wiederherstellung der sozialistisch-kommunistischen Einheitspartei befürwortet wurde, zunächst, um dem Wiedererstehen totalitär-faschistischer Regime vorzubeugen, und später, um die Sowjetisierung der von sowjetischen Truppen besetzten Gebiete Europas zu verhindern. Das waren wenigstens die Hauptmotive jener Sozialisten, die sich noch immer oder wiederum Illusionen über den Kommunismus machten, seinen totalitären Charakter verkannten oder glaubten, er könne durch das Einströmen von Sozialisten — die vielleicht sogar in der Lage seien, die Oberhand in den neuen Einheitsparteien zu gewinnen — strukturell verändert werden.

Diese Sozialisten wurden größtenteils schon durch die Art und Weise belehrt, wie dann die Bildung der Einheitsparteien in Mitteldeutschland, Ungarn, der Tschechoslowakei und anderen Ländern vor sich ging Gleichwohl sah sich die Sozialistische Internationale genötigt, einen Trennungsstrich zu ziehen: „ 1948 war Klarheit darüber geschaffen, daß die dem Namen nach sozialistischen Parteien Ungarns, Bulgariens, der Tschechoslowakei und Rumäniens den kommunistischen Direktiven Moskaus unterstanden und nach ihrem Zwangszusammenschluß mit den kommunistischen Parteien weder frei noch sozialistisch waren."

Ungeachtet dessen sollte sich zeigen, daß die Neugründung der Einheitsparteien in einigen Ländern auch die sozialistischen Tendenzen in den kommunistischen Parteien reaktivierte. Die polnischen und ungarischen Ereignisse des Jahres 1956 offenbarten das mit besonderer Klarheit. Speziell in Polen gehörten ehemalige Sozialdemokraten zu den eifrigsten Befürwortern einer Demokratisierung. Wir wollen nur an die Professoren Hochfeld und Lange erinnern, aber selbst der Rapacki-Plan sollte einmal unter dem Gesichtspunkt gelesen werden, daß sein Verfasser einst der Sozialistischen Partei Polens angehörte. Was Mitteldeutschland betrifft, so sei nur der zeitweilige Justizminister Fechner erwähnt, der Zwangsmaßnahmen gegen die Streikenden vom 17. Juni 1953 unter Flinweis auf das in der „DDR" -Verfas-sung garantierte Streikrecht abzuwenden suchte und hierfür dann selbst ins Zuchthaus kam.

Wie es heute um das prinzipielle Verhältnis von Kommunismus und Sozialdemokratie steht — das heißt wie kompromißlos die Sozialdemokraten (nicht unbedingt auch die Sozialisten) nunmehr gegenüber dem Kommunismus als totalitärer Erscheinungsform eingestellt sind —, dafür zeugt die Antwort der SPD auf den an sie gerichteten „offenen Brief“ der SED Zu dieser eindeutigen Antwort sind keine Kommentare mehr nötig. Für die Sozialdemokraten ist das kommunistische Problem im Sinne einer möglichen Zusammenarbeit negativ entschieden und damit schlechthin erloschen.

11. Schlußbetrachtung

Wer Sozialismus und Kommunismus am Maßstab der Macht, also daran mißt, in wieviel Ländern sie zur herrschenden Partei werden konnten, für den wird der Kommunismus erfolgreicher sein. Wer sie aber daran vergleicht, ob oder inwieweit sie ihre Ausgangsziele in die politische und gesellschaftliche Praxis umsetzen konnten, wird im Sozialismus die erfolgreichere Bewegung erkennen. Sozialstaat und politische Gleichberechtigung aller — diese beiden Grundforderungen schon des Früh-sozialismus haben sich vor allem in den westlichen Ländern, ohne daß es der „Machtergreifung" des Sozialismus bedurfte, teilweise schon seit langem durchgesetzt. Insofern ist der Westen sozialistischer als der kommunistische Osten. Er ist es deshalb geworden, weil die Demokratie elastisch genug war, die positiven Gehalte des Sozialismus in sich aufzunehmen, womit ihr gleichzeitig jene Ausweitung der politischen Basis gelang, die es ihr ermöglichen kann, künftig allen Stürmen zu trotzen, sofern die demokratischen Parteien über alle Unterschiede hinweg ihrer fundamentalen Gemeinsamkeiten eingedenk bleiben. Die Ausgangsziele des Kommunismus sind die Aufhebung des Privateigentums und des Staates gewesen. Aber wenn man seine Geschichte hinter den Fassaden studiert, dann läßt sich unschwer erkennen, daß er kurz nach der jeweiligen Machtergreifung seinen Zielen meistens sehr viel näher war, als dies heute der Fall ist. Man erinnere sich des sowjetischen Kriegskommunismus oder der ursprünglichen Form der chinesischen Volkskommunen, um dann die Reformen zu prüfen, die sich beispielsweise an den Namen Liberman knüpfen. Gewiß konnte und kann das Privateigentum gewaltsam oder auf dem Behördenweg enteignet werden, doch aus seinen ökonomischen, gesellschaftlichen und individuellen Wurzeln wächst es unablässig nach. Statt der Abschaffung des Staates aber sehen wir ein Anwachsen der Staatsmacht, was nicht verwunderlich ist, da sich die staatskommunistische Tendenz im Kommunismus als die stärkste erwies. Letzten Endes hat der Kommunismus in einer Reihe von Ländern nur die Macht ergreifen und behaupten können, aber es könnte sein, daß sie seinen Händen bald wieder entgleitet, ohne daß es seines gewaltsamen Sturzes bedürfte. Wenn die kommunistischen Parteien kein soziales und gesellschaftliches Bedürfnis mehr stillen, wie das bei der Industrialisierung zurückgebliebener Länder der Fall war, so höhlt sich ihre Macht von innen her aus. Als politische Bewegung dürfte der Kommunismus scheitern, weil er sich utopische und den heutigen Grundbedürfnissen widersprechende Ziele gesteckt hat. Als archetypische Idee wird er weiterleben und niemals zustört werden können. Eine Minderheit wird stets für den Kommunismus anfällig sein. Wie es immer Gründe für den Selbstmord gibt, so wird es immer Gründe geben, Kom-munist zu werden. Wie die Armut Kommunisten gemacht hat, so kann auch der Wohlstand Kommunisten gebären. Nun wohl, ein solcher Kommunist braucht keine Weltgefahr mehr zu sein.

Gegenwärtig wird die Geschichte des Kommunismus und des Sozialismus oft noch vom Schwänze her aufgezäumt. Wenn man nur unser Jahrhundert in Betracht zieht, dann ist der Kommunismus aus dem Sozialismus entstanden. Wer jedoch die Mühe auf sich nimmt, beide Bewegungen bis in ihre Ursprünge zurückzuverfolgen, der könnte eher noch die Hypothese wagen, daß der Sozialismus ein Kind des Kommunismus oder eine seiner Abzweigungen sei. Denn der Kommunismus ist ein uralter Greis im Verhältnis zum sozialistischen Jüngling, wenngleich dieser nun selbst einen Bart trägt und schon sein hundertjähriges Jubiläum gefeiert hat. Aber weder die eine noch die andere Meinung deckt sich mit dem wahren Sachverhalt, daß Kommunismus und Sozialismus autonome, teilweise verwandte, teilweise aber konträre Bewegungen sind, deren Berührungspunkte in der marxistischen Ehe ihren höchsten Grad erfuhren, sich aber inzwischen derart abgeschliffen haben, daß Gemeinsamkeiten im Grunde nur noch dort bestehen, wo die marxistische Tradition wirksam geblieben ist. Es sollte eigentlich unmöglich sein, dieser historischen Wahrheit noch länger den Respekt zu verweigern.

Aber in dieser Form ist sie natürlich sehr abstrakt und ohne ihren geschichtlichen Hintergrund nicht zu verstehen. Zwar haben wir uns niemals die Aufgabe gestellt, eine Geschichte beider Bewegungen oder auch nur einer von ihnen zu schreiben, doch war es nötig, Kommunismus und Sozialismus sowohl in ihrer Wechselbeziehung als auch in ihrer inneren Entwicklung durch eine lange Geschichtsperiode bis in die Gegenwart zu verfolgen. Hierbei zeigte sich nun, daß beide in verschiedene Richtungen und Strömungen aufgesplittert sind, die ihrerseits den Charakter mehr oder weniger selbständiger Bewegungen angenommen haben. Bis zu einem gewissen Grade haben sie sich auch miteinander vermischt.

Ein Teil der Sozialisten ist unter dem Eindruck von Marx und der russischen Oktoberrevolution von sich aus in die kommunistischen Parteien geströmt, ein anderer wurde später durchZwangsvereinigungen in den Kommunismus gepreßt, aber beide brachten Gärstoffe mit. Umgekehrt hat ein Teil der Kommunisten mit ihren Parteien gebrochen, um in die sozialistischen Parteien einzutreten. Die Exsozialisten und die Exkommunisten spielen auf beiden Seiten eine erhebliche Rolle, die allerdings noch niemand untersucht hat. Das gilt auch für das Phänomen des Ex-marxismus. Am Marxismus schieden sich die sozialistischen Geister, und das bestimmte auch ihr Verhältnis zu den Kommunisten wie der Demokratie gegenüber. Merkwürdigerweise hat der Marxismus sogar in den kommunistischen Parteien in nicht unerheblichem Maße zersetzend gewirkt. Wer immer die Geschichte des Kommunismus und die des Sozialismus studiert, wird früher oder später auf den marxistischen Schlüsselpunkt stoßen, weshalb wir gezwungen waren, ihm den größten Teil unserer Aufmerksamkeit zu widmen.

Sozialismus wie Kommunismus haben sich nach qualvollen Umwegen zu erneuern versucht. Dies, die Erneuerung, ist ihr heutiges Zentralproblem, und man beachte; auf welche Weise sie um seine Lösung bemüht sind.

Der Sozialismus hat sich zur Sozialdemokratie erneuert: zur Partei der sozialen Demokratie. Das ist, zumindest schon im europäischen Umfang, der Mehrheit der Sozialisten gelungen. Was nicht mehr erneuerungsfähig war oder ist, bleibt zurück und zerfließt, während die Sozialdemokratie zum sozialen (oder, wenn man will, zum linken) Flügel der Demokratie wird.

Beim Kommunismus hat die Erneuerung mit der Entstalinisierung eingesetzt, die ihn noch tiefer als die posthume Abwertung Stalins aufwühlt. Aber bisher ist es nur einer kleinen Minderheit von Kommunisten gelungen, sich vom Kommunismus alten Typs (zu dem auch der Leninismus gehört) zu lösen, nämlich den „demokratischen Kommunisten", für die Namen wie Djilas, Kolakowski oder Havemann stellvertretend geworden sind. Der europäische Kommunismus hat sich zwar dem Druck der Entstalinisierung, der von den Völkern und teilweise auch von den Parteimitgliedern ausgeht, im allgemeinen nicht entziehen können, aber die Kompromisse sind meist nur als Ventile oder Lockerungen statt als Struktur-reformen gedacht. Selbst Togliatti hat das Zögern auf diesem Wege in Osteueropa beklagt (obwohl auch die Kommunistische Partei Italiens keine demokratische Partei ist); außerdem macht sich bereits eine wachsende Tendenz zur Rehabilitierung Stalins in diesem Raume bemerkbar. Was aber den außereuropäischen Kommunismus betrifft, so stehen die Dinge noch schlechter. Wir brauchen nur an die um Peking gruppierten kommunistischen Parteien zu denken, für die man in Osteuropa schon viel zu weit gegangen ist.

Es scheint, als ob das Gros der kommunistischen Bewegung im Unterschied zu dem der sozialistischen zur Erneuerung bereits unfähig sei. Dieser Umstand würde das Schicksal des Kommunismus als politischer Bewegung und und Staatsform besiegeln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Karl Marx (Werke, Auswahl), Auswahl und Einleitung von Franz Borkenau, Frankfurt/Main 1958 (Fischer-Bücherei, 112), S. 98.

  2. Marx/Engels, Ausgewählte Schriften, Berlin (Ost) 1961, Band II, S. 25.

  3. Marx, S. 42.

  4. Marx, S. 107.

  5. Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Hannover 1964, S. 28.

  6. Eduard Bernstein, Was ist Sozialismus?, Berlin 1919, S. 10.

  7. Ebenda, S. 20.

  8. Eduard Bernstein, Was ist Marxismus?, Buchhandlung Vorwärts, Berlin 1924, S. 2.

  9. Ebenda, S 2.

  10. Ebenda, S. 2.

  11. Bernstein, Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus, Berlin 1904, III. Teil.

  12. Karl Radek, Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat, S. 4 und 20.

  13. Zitiert bei P. Gay, Das Dilemma des demokratischen Sozialismus, Nürnberg 1954, S. 188.

  14. Ebenda, S. 9

  15. Bernstein, Was ist Marxismus?, S. 3.

  16. Zitiert nach W. Eichler, Grundwerte und Grundforderungen im Godesberger Grundsatzprogramm der SPD, Bonn 1962, S 14.

  17. Deutschkron/Heine, Die Internationale, Hannover 1964, S. 52.

  18. J. Braunthal, Die sozialistische Internationale, Band 2/564.

  19. Ebenda, S. 563.

  20. Ebenda, S. 243.

  21. Der deutsche Kommunismus, S. 307

  22. Ebenda, S. 308.

  23. Ebenda, S. 308/09.

  24. Siehe „Vorwärts" vom 7. 4. 65 (Interview mit Pittermann).

  25. Deutschkron/Heine, Die Internationale, S. 76/77.

  26. Zum Beispiel Gruppi, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus, 1/65, S. 74.

  27. Vorwärts, 4. 3. 64; Frankfurter Allgemeine, 10. 4. 64.

  28. F. Schenk: Im Vorzimmer der Diktatur, Köln 1962, S. 20.

  29. Deutschkron/Heine, Die Internationale S. 76.

  30. Frankfurter Allgemeine, 22. 3. 66.

Weitere Inhalte

Günter Bartsch, freier Jpumalist, geb. 13. Februar 1927 in Neumarkt/Schlesien, von 1948 bis 1953 in leitenden Positionen der kom-munistischen Jugendbewegung, Bruch mit dem Kommunismus nach dem 17. Juni 1953.