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Die Begründung des Norddeutschen Bundes | APuZ 25/1966 | bpb.de

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APuZ 25/1966 Die deutschen Mittel-und Kleinstaaten 1866 Das Ende des Deutschen Bundes Die Begründung des Norddeutschen Bundes

Die Begründung des Norddeutschen Bundes

Werner Pöls

Preußische Machtpolitik und deutsch-nationale Zielsetzung

Als der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck auf die unter dem Vorbehalt des Beitritts Preußens geschlossenen Vereinbarungen des Frankfurter Fürstentages in seinen drei „Präjudizialforderungen" vom 15. September 1863 antwortete und den österreichischen Plan einer Einberufung eines aus den einzelstaatlichen Landtagen zusammengesetzten Delegiertenparlaments mit dem Vorschlag zurückwies, eine „wahre, aus direkter Beteiligung der ganzen Nation hervorgehende Nationalvertretung" zu bilden legte er den Grundstein für eine Politik, die die Zukunft Preußens aufs engste mit der ungelösten Frage der deutschen Einheit verknüpfte. Auch wenn diese Forderung zu diesem Zeitpunkt ein taktisches Mittel in der sich ständig zuspitzenden Auseinandersetzung mit Österreich darstellt, so ist ihre zukunftsweisende Bedeutung doch nicht zu übersehen Sie bleibt ein revolutionärer Akt, der den politischen Horizont schlagartig veränderte, denn es ist historisch und politisch bedeutsam, daß auf dieser Ebene eine Begegnung zwischen realer staatlicher Macht und nationaler Bewegung möglich wurde, und zwar obwohl der moralisch-politische Kredit des preußischen Staates und seines leitenden Staatsmannes auf dem Tiefpunkt angelangt war.

Die zeitgeschichtlichen Umstände und Bedingungen, die zu der Bismarckschen Konzeption beigetragen haben, können das Grundsätzliche dieser Konzeption nur vordergründig verdekken, ebenso wie die zunächst allenthalben geäußerte Skepsis gegenüber dem preußischen Konfliktminister in der Öffentlichkeit nur periodisch geblieben und regional wirksam geworden ist. Den Kern des Bismarckschen Vorschlages, eine deutsche Nationalrepräsentation ins Leben zu rufen, bildet vielmehr die Erkenntnis, daß eine Erweiterung der preußischen Einflußsphäre in Deutschland, also groß-preußische Politik, mit der Lösung der deut-B sehen Frage identisch war. Mit dem österreichischen an der Tradition orientierten Reform-plan suchte „noch einmal die deutsche Vergangenheit den Weg zur Zukunft" während der preußische Ministerpräsident seine konservative, staatsegoistisch und machtstaatlich ausgerichtete Politik mit dem „nationalplebiszitären Element" verband. Diese Verbindung von preußischem Interesse und nationalstaatlicher Politik ist politisch wirksam geworden und hat nach zeitweiliger Erschütterung durch Bismarcks Schleswig-Holstein-Politik spätestens seit dem Wiener Vorfrieden mit Dänemark zu neuen politischen Gruppierungen innerhalb der oppositionellen liberalen Öffentlichkeit geführt. Der eigentliche Meinungsumschwung, freilich zugleich verbunden mit einer tiefgehenden Meinungsspaltung, vollzog sich in der Zeit des erkennbar zunehmenden Zwiespalts zwischen Preußen und Österreich, der sich an der Schleswig-Holstein-Frage entzündete. Zwischen dem Wiener Vorfrieden und der deutschen Krise von 1866 zeichneten sich die Linien ab, die in der Schlacht von Königgrätz kulminierten, im Frieden von Nikolsburg und Prag neue politische Formen vorzeichneten und in der Begründung des Norddeutschen Bundes zunächst ihren Abschluß fanden.

Allerdings ist die Annahme einer folgerichtigen Entwicklung bis zu diesem politischen Akt einer partiellen Staatsgründung ein Irrtum. Schon Heinrich von Sybel hat in seinem — bei aller Zeitgebundenheit — großen Werk über die Reichsgündung die große Variationsbreite in der Konzeption Bismarcks bemerkt und darauf hingewiesen, daß „eine wirkliche Beherrschung Deutschlands gemeinsam mit Österreich, eine geographische Theilung wenigstens der deutschen Militärkräfte zwischen beiden Mächten, endlich ein Hinausdrängen Österreichs aus dem Bunde und Vereinigung des übrigen Deutschland unter preußischer Leitung" im Bereich des politisch Denkbaren und Möglichen lagen, und zwar ohne doktrinäre Vorliebe für irgendeines dieser Systeme

Erst die Zuspitzung des preußisch-österreichischen Verhältnisses hat das Bismarcksche Konzept zunehmend eingeengt und schließlich den Ausschluß Österreichs aus Deutschland herbeigeführt. Zugleich vollzog sich bei aller gebotenen Aufmerksamkeit für die dauernd vorhandene und wirksame preußische Komponente in der deutschen Politik Bismarcks eine Hinwendung zu einer deutschen Mission Preußens und damit zu einer Basis für das Bündnis zwischen staatlicher Macht und nationaler Bewegung, für „die Annäherung der preußischen Machtpolitik an die deutsch-nationale Zielsetzung“

Aber eine solche Feststellung wird sogleich eingeengt durch den Hinweis, daß bei aller politisch-zeitgeschichtlich bedingten Offenheit für die nationalstaatlichen Tendenzen der Meinung in der Öffentlichkeit der Orientierungspunkt der preußische Staatsegoismus in einem wohlverstandenen Sinne blieb, daß das preußische Interesse dem deutschen Ziel vorgelagert war. Diese Auffassung schließt freilich den Gedanken ein, daß es eine rein großpreußische Lösung auch für Bismarck nicht mehr gab, sondern daß das großpreußische Ziel mit einem (klein-) deutschen identisch war. Das will sagen, daß es zum Zeitpunkt der konkreten politischen Entscheidung keine echte Entscheidungsfreiheit mehr gab.

Als die Würfel über die zukünftige Rolle Preußens in Deutschland nach dem Kriege von 1866 — von vielen Zeitgenossen als deutsche Katastrophe empfunden — gefallen waren, war zu keinem Zeitpunkt mehr davon die Rede, den preußischen Sieg ohne eine nationale Komponente zu vollenden. Die Frage war nicht die Begründung der staatlichen Einheit wenigstens eines begrenzten Teiles Deutschlands an sich, sondern das Maß der Einheit in diesem neuen Staatsgebilde. Die Lösung dieses Problems war ein Politikum ersten Ranges, auch und gerade im Hinblick auf eine gesamtstaatliche Einigung Deutschlands unter Einschluß des Südens.

Die Begründung des Norddeutschen Bundes als die Verwirklichung einer partiellen staatlichen Einigung Deutschlands nach den militärischen und politischen Entscheidungen des Jahres 1866 war das Ergebnis einer Kette diplomatischer Bemühungen sowohl im innerstaatlichen Bereich Deutschlands als auch auf internationaler Ebene. Die Lösung des deutschen Problems war ja von vornherein zugleich auch eine europäische Angelegenheit, weil die Begründung eines deutschen Nationalstaates im Zentrum Europas das europäische Gleichgewicht berührte. Dieser Gesichtspunkt war bei aller politischen Planung immer mit im Spiele und hat dem Streben nach einem deutschen Nationalstaat jederzeit feste Grenzen gesetzt — nicht erst seit 1866.

Preußische Bundesreformpläne

Die eigentliche politische Aktivität in Deutschland setzte ein, als Bismarck in seinem Runderlaß an die preußischen Gesandten bei den deutschen Regierungen vom 24. März 1866 für den Konfliktfall sondierte und zugleich Bundesreformpläne ankündigte. Der Bundestags-antrag vom 9. April griff mit seiner Forderung nach einer Nationalrepräsentation auf ältere Gedanken von 1863 zurück. Das Ziel dieser politischen Aktivität war, „die deutsche Stellung Preußens" zu festigen, und zwar, wie Bismarck in der für Moltke aufgesetzten italienischen Verhandlungsinstruktion vermerkte, „in der Weise, daß wir wenigstens in Norddeutschland diejenige Stellung erstreben, welche durch die Reichsverfassung von 1849 der deutschen Zentralgewalt zugeordnet war"

Bisher handelte es sich um diplomatische Vorstöße mit allgemeinen Ausführungen über die Ziele einer preußischen Bundesreform. Am 10. Juni 1866 dagegen legte die preußische Regierung diese Ziele in den „Grundzügen zu einer neuen Bundesverfassung" fest und wandte sich mit ihnen direkt an die Bundesgenossen mit der Bitte, „sie einer sorgfältigen Erwägung zu unterziehen und sich zugleich über die Frage schlüssig machen zu wollen, ob sie eventuell, wenn in der Zwischenzeit bei der drohenden Kriegsgefahr die bisherigen Bundesverhältnisse sich lösen sollten — einem auf der Basis dieser Modifikationen des alten Bundesvertrages neu zu errichtenden Bunde beizutreten bereit sein würden"

Mit dieser Anweisung an die preußischen Gesandten bei den deutschen Regierungen wurde die Diskussion über das zu begründende Bundesverhältnis mit den deutschen Staaten eingeleitet. Die „Grundzüge" vom 10. Juni sahen bereits den Ausschluß Österreichs vor, sie enthielten aber keinerlei Begrenzung auf den norddeutschen Bereich. Im Gegenteil, Bayern erhielt eine Vorrangstellung dadurch, daß der König von Bayern neben dem König von Preußen im Norden als Bundes-Oberfeldherr über die Südarmee vorgesehen war. Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich ja noch um eine — freilich durchgreifende — Reform des alten Deutschen Bundes, mit der Preußen um Bundesgenossen oder um Neutralität für den drohenden Kriegsfall warb.

Es ist nun in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß neben der Vereinbarung zwischen den einzelnen deutschen Staaten auf diplomatischer Ebene ausdrücklich und sehr viel gewichtiger als bisher, aber auch viel weiterreichend, als es dann schließlich geschah, die Vereinbarung mit dem auf der Grundlage des Wahlrechts vom 12. April 1849 gewählten nationalen Parlament gleichberechtigt in Aussicht genommen war. Es handelt sich dabei um die zwar unerwünschte, in der Bismarck-sehen Konzeption aber vorgesehene politische und taktische Variante bei partikularer Störung der nationalen Zielsetzung der preußischen Politik. Ebenso wie die Empfindlichkeit Bayerns gegenüber Einschränkungen seiner Souveränität berücksichtigt worden ist, um seine Bündnisbereitschaft zu fördern, wurde das Bündnis mit den nationalen Bewegungskräften auf diese Weise sorgfältig vorbereitet.

Staatliche Neuordnung Deutschlands durch Preußen

Der Ausbruch des Krieges mit Österreich hat die Situation grundlegend verändert, denn die süddeutschen Staaten traten auf die Seite Österreichs. Mit den militärischen Entscheidungen zugunsten Preußens ergaben sich zugleich neue politische Voraussetzungen. Das alte Bundesverhältnis, wie es seit dem Wiener Kongreß bestand, war aufgelöst. Preußen, als Sieger aus dem Kriege hervorgegangen, hatte nunmehr die alleinige Entscheidung über die politischen Konsequenzen. Ihm war die Führungsrolle in Deutschland zugefallen und damit zugleich die nicht mehr bestrittene Aufgabe seiner staatlichen Neuordnung.

Der Sieg der preußischen Waffen hatte aber auch außenpolitische Folgen. Zwar war eine Machtausdehnung Preußens in Mitteleuropa unvermeidlich geworden, aber ihr Umfang war eine Frage, die den innerdeutschen Rahmen sprengte. Mindestens seit der auf Ersuchen Österreichs zurückgehenden Intervention Frankreichs in der Rolle des Friedensmittlers waren den politischen Zielsetzungen Grenzen gesetzt. Auch wenn Frankreich sich zu diesem Zeitpunkt politisch und militärisch in keiner glänzenden Lage befand, hatte es durch die Vermittlerrolle doch direkten Einfluß auf die bevorstehenden Verhandlungen und Entscheidungen in Deutschland gewonnen. In diesem Zusammenhang muß die Reduzierung der „Grundzüge" auf den norddeutschen Bereich gesehen werden.

Den Friedensverhandlungen mit Österreich gingen zweiseitige Verhandlungen zwischen Preußen und Frankreich voraus, um die Friedensbedingungen Preußens zu ermitteln. Aus den Verhandlungen ging das Kompromißprogramm vom 14. Juli 1866 hervor. Dieses Programm sah die Auflösung des Deutschen Bundes und die Anerkennung eines Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung vor. Österreich schied aus Deutschland aus; den süddeutschen Staaten blieb es überlassen, einen unabhängigen Südbund zu bilden, dessen Beziehungen zum Norden „durch ein freies gemeinsames Einverständnis" zu regeln waren. Man spürt etwas von der Größe des historischen Moments in der Äußerung des französischen Historikers und Politikers Adolphe Thiers, daß Frankreich seit 400 Jahren von keinem größeren Unglück betroffen worden sei als von der Errichtung des Norddeutschen Bundes Sowohl die Tiefe der Erschütterung breiter Schichten in Frankreich wie auch der schwierige Weg bis zum Verhandlungsergebnis wird darin eindrucksvoll manifestiert.

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß die Grundzüge der politischen Neuordnung Norddeutschlands festgelegt wurden auf Grund diplomatischer Verhandlungen. Die Tatsache der Errichtung eines Bundes in Norddeutschland sowie dessen Ausmaß und staatliche Form standen fest, ehe ein deutsches Par-lament sich mit der Gestaltung der inneren Verhältnisse befassen konnte. An diesem Punkt wird sichtbar, wie wenig der Traum der deutschen Einheitsbewegung von einem deutschen Nationalstaat noch gemeinsam hatte mit der praktischen Politik, die zu dieser staatlichen Einigung auf dem Wege zwischenstaatlicher Vereinbarungen führte.

Auf der Grundlage der preußisch-französischen Abmachungen fanden die Verhandlunggen Bismarcks mit dem österreichischen Bevollmächtigten einen verhältnismäßig schnellen Abschluß, so daß es bereits am 26. Juli 1866 zum Präliminarfrieden von Nikolsburg kam. Die Schwierigkeiten fand der preußische Staatsmann im eigenen Lager, wo König Wilhelm I.den preußischen Sieg mit Landabtretungen der besiegten Gegner und mit einem triumphalen Einzug in Wien zu krönen wünschte. Diese Auseinandersetzungen brachten den „grundsätzlichen Gegensatz zwischen Wilhelms fürstlichem Standesgefühl und Bismarcks Staatsräson zum Ausdruck" konnten aber an der Zielsetzung der Bismarckschen Politik, „nur zu erstreben, was politisches Bedürfniß ist" nichts ändern. Der preußische Ministerpräsident hatte die „späteren Beziehungen zu Österreich" im Auge und wollte Wien schonen, „wenn es sich ohne Beeinträchtigung unserer deutschen Politik tun ließ" Sehr eindringlich hat er diesen Gedanken gegenüber dem König auf dem Höhepunkt der Krise vertieft mit der Bemerkung, Preußen habe „nicht eines Richteramtes zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben. . unsere Aufgabe sei Herstellung oder Anbahnung deutsch-nationaler Einheit unter Leitung des Königs von Preußen" Dieselbe Haltung gilt sinngemäß tüi die Behandlung der anderen deutschen Staaten, die gegen Preußen Krieg geführt hatten, mit Ausnahme Hannovers, Kurhessens, Nassaus und der Stadt Frankfurt, die der preußischen Annexion verfielen.

Der Nikolsburger Präliminarfriede vom 26. Juli 1866 hatte als staats-und völkerrechtliches Dokument zugleich rechtspolitisch verbindliche Folgen im Hinblick auf die zukünftige Gestaltung Deutschlands, die hauptsächlich in den Artikeln 11 und V festgelegt sind. Im Artikel II gibt der Kaiser von Österreich seine Zustimmung „zu einer neuen Gestaltung Deutschlands ohne Beteiligung des Oesterreichischen Kaiserstaates" unter gleichzeitiger Anerkennung der Auflösung des bisherigen Deutschen Bundes. Weiter spricht der Vertrag von einem „engeren Bundesverhältnis", das Preußen „nördlich von der Linie des Mains begründen wird"

Mit diesem Vertrag waren die Grundzüge für die zukünftige politische Landkarte Deutschlands vorgezeichnet. „Nördlich von der Linie des Mains" sollte ein engeres Bundesverhältnis entstehen. Ferner wurde vereinbart, „daß die südlich von dieser Linie gelegenen deutschen Staaten in einen Verein zusammentreten, dessen nationale Verbindung mit dem Norddeutschen Bunde der näheren Verständigung zwischen beiden vorbehalten bleibt" Die Ergänzung dieses Artikels durch die ne-ben den einzelnen Friedensverträgen mit den Südstaaten abgeschlossenen Schutz-und Trutzbündnisse stellt freilich bereits „die militärische Überwindung der Mainlinie" dar

Die Annexionen

Der Prager Friede vom 23. August 1866 hat im wesentlichen die Vereinbarungen des Nikolsburger Vorfriedens bestätigt. Immerhin ist eine bemerkenswerte Erweiterung hinzugekommen dadurch, daß dem vorgesehenen süddeutschen Bund „eine internationale unabhängige Existenz" zugesprochen wird. Diese zweifellos einschränkende Formel wird freilich korrigiert durch die bereits abgeschlossenen Schutz-und Trutzbündnisse, so daß ihr eine vorwiegend rhetorische Bedeutung zukommt. Wesentlicher ist die vertraglich im Artikel VI des Prager Friedens getroffene Bestimmung: „Der Kaiser von Österreich verspricht, die von Seiner Majestät dem Könige von Preußen in Norddeutschland herzustellenden neuen Errichtungen, einschließlich der Territorial-y/eränderungen anzuerkennen" Damit ist die inzwischen auch mit Frankreich vorgeklärte Frage der preußischen Annexionen berührt. Ihre Bedeutung sollte nicht unterschätzt werden, denn es ist für den hier in Frage stehenden Zeitraum noch etwas Ungeheuerliches, die Staatsräson über dynastisches Fürstenrecht zu stellen, wie Bismarck das tat. Es ist ein schlechthin revolutionärer Akt, auch wenn er unter der Devise stand, „was für den preußischen Staat eine Notwendigkeit sei". Die Auseinandersetzungen mit Wilhelm I. standen nicht zuletzt unter dieser Belastung.

Wir stellen also noch einmal fest, daß die Begründung des Norddeutschen Bundes eine staatsund völkerrechtlich untermauerte Tatsache war, als die Frage seiner inneren Gestaltung zur Debatte stand. Die Annexionen Hannovers, Hessens, Nassaus und Frankfurts werfen allerdings auf dieses Problem ein grelles Licht. Gewiß wurde mit ihnen eine Arrondierung Preußens im Sinne einer geographischen Geschlossenheit vorgenommen; ohne Zweifel hat auch der Standpunkt einer zeitgeschichtlich durchaus begründeten Maßregelung dieser Staaten eine Rolle gespielt. Die revolutionäre Tatsache der Absetzung von Fürstenhäusern bleibt dennoch bestehen. Das bisher gültige Legitimitätsprinzip jedenfalls hatte seine Unantastbarkeit eingebüßt. Uns will scheinen, als ob es für einen solchen folgenschweren Akt eine tiefere Begründung als die der Herstellung eines geschlossenen preußischen Staatsterritoriums geben müßte. Anders wäre der in der fürstlichen Tradition so verwurzelte Wilhelm I. kaum von der Notwendigkeit zu überzeugen gewesen.

Solche Überlegungen führen zu der Frage, wieweit die Annexionen im Zusammenhang mit der inneren Ausgestaltung des neuen Bundesstaates stehen, gleichsam in der Funktion einer unitarisch-hegemonialen Stütze des in der politischen Praxis vertretenen föderativen Prinzips. Anders als Otto Becker in seinem großen Werk über „Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung" möchten wir die Frage der Annexionen in den Zusammenhang der Verfassungsfrage und der zukünftigen Gestaltung der Bundesverhältnisse einordnen. Preußen mußte in einem Staatenbund von 22 Klein-und Mittelstaaten gleichsam das Prinzip der Einheit verkörpern, um das Bundesverhältnis funktionsfähig zu machen. Die Voraussetzung dafür war sein faktisches Übergewicht, das verfassungsrechtlich nicht zu verankern war, ohne die Partner zu verschrecken.

Das Einigungswerk und die deutsche Einheitsbewegung

Mit der Frage nach der inneren Ausgestaltung des Norddeutschen Bundes kehren wir an unseren Ausgangspunkt zurück. Die Gestaltung der innerstaatlichen Verhältnisse war ja nicht allein eine Angelegenheit vertragschließender Einzelstaaten, sondern seit den Grundzügen vom 10. Juni 1866, die als Beratungsgrundlage immer wieder zitiert wurden, war daran eine Nationalrepräsentation zu beteiligen. Mochte auch das Maß dieser Beteiligung umstritten sein, so war doch die Mitwirkung eines aus allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangenen Parlaments zu keiner Zeit fraglich. Die Initiative aber ging abermals von dem Repräsentanten staatlicher Macht, Preußen, aus, und nicht von einem Gremium, das einen irgendwie gearteten Status als Volksvertretung beanspruchen konnte. Gleichwohl blieb dem Parlament genügend Spielraum zur Mitwirkung. Allerdings fällt es schwer, die Situation der Jahre 1866/67 nachzuvollziehen, denn die parlamentarische Mitwirkung war gleichsam weisungsgebunden durch das Bestehen staatsund völkerrechtlicher Abmachungen. Die Ausgangssituation ist also gekennzeichnet durch eine staatliche Priorität und nicht durch eine demokratische, nationale Initiative. Damit liegt — von dem Verlauf unserer Geschichte her gesehen — eine starke Belastung auf dem deutschen Einigungswerk Bismarcks. Es ist sowohl dem Ursprung wie dem Ziel nach das Ergebnis einer interessengerichteten deutschen Politik Preußens, das mit der das 19. Jahrhundert so stark bewegenden deutschen Einheitsbewegung nur mehr wenig zu tun hat.

Und doch ist das Bündnis zwischen nationalliberaler Bewegung und preußischer Staatsmacht für die zukünftige Gestaltung der deutschen Frage entscheidend geworden. Der Erfolg der zunächst so sehr umstrittenen Bismarckschen Politik und vor allem der Erfolg der preußischen Waffen vollzog und vollendete eine „Wandlung des Urteils über die Bismarcksche Politik, der sich eine Reihe führender Liberaler bereits seit den schleswigholsteinischen Erfolgen genähert hatte" „Erfolg" wird zu einem zeitgeschichtlich höchst interessanten und bemerkenswerten Schlagwort. Mit ihm bahnte sich jene Bewegung an, die rechtsstaatlichen Rigorismus mit realpolitischem Erfolg zu verbinden suchte.

Freilich sind bei dieser Wandlung, die zugleich eine innere Krisis des deutschen Liberalismus darstellt, verschiedene Abstufungen zu beobachten. Auf keinen Fall wird man von einer einfachen Hinwendung zum Glanz des Erfolges sprechen dürfen, sondern umgekehrt, die Hinwendung zum Glanz des Erfolges ist das „Ergebnis ernster Gewissenskämpfe sowie einer gründlichen Überprüfung der veränderten politischen Situation" Die Folge dieser Wandlung war eine allmählich sich vollziehende Spaltung des Liberalismus. Den Anlaß dazu bot die Abstimmung über die Indemnität am 3. September 1866 im preußischen Abgeordnetenhaus. Während ein Teil der Liberalen gegen das Gesetz stimmte, war eine starke Gruppe um Eduard Lasker bereit, der Regierung für die seit 1862 ohne Staatshaushaltsgesetz geführte Verwaltung Indemnität zu erteilen. In dieser Abstimmung wurden gleichsam die Weichen gestellt für den zukünftigen Verlauf der deutschen Entwicklung. Man spürt etwas von der spannungsgeladenen Atmosphäre, in der die Entscheidung fiel, in der bangen Frage Virchows an die Abgeordneten, „ob Sie gegenwärtig, unter dem Druck der größten und bewundernswürdigsten Erfolge, nicht zu weit gegangen sind in Ihren Voraussetzungen in Beziehung auf die Zukunft".

Der Widerstreit der Meinungen wird offenbar in der einerseits zum Ausdruck gebrachten Bewunderung für den politischen Erfolg der Bismarckschen Politik, andererseits aber in der Skepsis „in Beziehung auf die Zukunft". Virchow bezeichnete dann auch den Kern der Problematik, als er auf sein politisches Ziel verwies, das „gleichzeitig die Einheit und die Freiheit im Sinne hatte" Virchow und mit ihm eine große Zahl von preußischen Abgeordneten versagten der neuen politischen Wirklichkeit die Anerkennung, weil sie ein für sie wesentliches Merkmal, das Merkmal der Freiheit in einem ganz umfassenden, freilich zeitgemäßen Sinne nicht enthielt, und umgekehrt verdeutlicht eine Gestalt wie etwa Johannes von Miquel die historisch-politische Landschaft, wenn er sich in Wort und Schrift zu dem Ergebnis der Bismarckschen „Revolution von oben", der endlichen und schließlichen Begründung eines deutschen Nationalstaates, auch in der territorialen Begrenzung des Norddeutschen Bundes, bekennt, und zwar nicht nur aus besserer politischer Einsicht in die politische Wirklichkeit, sondern ganz bewußt und gewollt im Sinne praktischer Politik, die das Nahziel nicht verstößt, weil das auch ihm am Herzen liegende Fernziel einer freiheitlich-demokratisch-parlamentarischen Einheit nicht zugleich erreicht ist. „Wir aber, praktische Politiker" .. . hatte Miquel gesagt, und ein solches Selbstzeugnis hat durchaus programmatischen Charakter. Es enthält die bewußte Hinwendung zur politischen Wirklichkeit, die die Grundlage abgab für „den maßgeblichen Anteil am inneren Ausbau des werdenden Deutschen Reiches" Miquel selbst hat das unübertrefflich formuliert, als er in einer Osnabrücker Rede nach der Entscheidung von 1866 sagte: „Die Zeit der Ideale ist vorüber. Die deutsche Einheit ist aus der Traumwelt in die prosaische Welt der Wirklichkeit hinuntergestiegen. Politiker haben heute weniger als je zu fragen, was wünschenswert, als was erreichbar ist."

Die politischen Parteien

Die Spaltung der Liberalen wurde vollzogen durch die von Eduard Lasker entworfene Septembererklärung, die die im November 1866 vollzogene Konstitution der „neuen Fraktion der nationalen Partei" vorbereitete. Sie verband die Bereitschaft zur Unterstützung der Regierung mit den „Pflichten einer wachsamen und loyalen Opposition". Aus der Verbindung dieser liberalen Gruppe mit den liberalen Abgeordneten der annektierten Provinzen, die bereits Ende 1866 unter der Führung Rudolf von Bennigsens in Hannover die Nationalliberale Partei gebildet hatten, ging jene politische Partei hervor, die während des ersten Jahrzehnts wesentlich am inneren Ausbau des Reiches beteiligt sein sollte.

Dieser Partei gegenüber spielten die Konservativen eine vergleichsweise geringe Rolle, zumal sich von ihnen eine Reihe gemäßigter Parteigänger mit dem Grafen Bethusy-Huc an der Spitze abspalteten und fortan die freikonservative Partei (ab 1871 Deutsche Reichspartei) entwickelte. Man hat sie mit Recht zuweilen ironisch „die Partei Bismarcks sans phrase" genannt, denn sie wurde und blieb Bismarcks sicherste parlamentarische Stütze. Mit der Fortschrittspartei, der von ihr abgespaltenen, dann mächtigeren Nationalliberalen Partei, den Altliberalen, den Altkonservativen und den von ihr getrennten Freikonservativen sind die wichtigsten Parteien genannt, denen die Aufgabe zufiel, den durch Verhandlungen und Verträge zustande gekommenen Norddeutschen Bund innerlich mitzugestalten.

Am 18. August 1866 wurde mit der Unterzeichnung der Bündnisverträge zwischen Preußen und den norddeutschen Kleinstaaten die rechtliche und politische Grundlage für den Norddeutschen Bund gelegt, auch wenn es sich noch um ein Bündnis, noch nicht aber um einen Bund handelte. Dem Programm dieser Bündnisse nach darf man durchaus von einem „Vorvertrag für die Errichtung eines Bundesstaats" sprechen Nach Abschluß des Friedensvertrages trat das ebenfalls von der Annexion bedrohte Königreich Sachsen am 21. Oktober 1866 dem Bunde bei. Ziel dieser Staatsgründungsverträge war die „Erhaltung der Unabhängigkeit und Integrität, sowie der inneren und äußeren Sicherheit ihrer Staaten". Ferner verpflichteten sich die Vertragspartner, „gleichzeitig mit Preußen die auf Grund des Reichswahlgesetzes vom 12. April 1849 vorzunehmenden Wahlen der Abgeordneten zum Parlament anzuordnen und letzteres gemeinschaftlich mit Preußen" einzuberufen Die Wahlen fanden am 12. Februar 1867 statt. Aus ihnen ging der Norddeutsche Reichstag mit 297 Mitgliedern hervor, dem die verbündeten Regierungen am 4. März den Bundesverfassungs-Entwurf zur Beratung vorlegten.

Der Verfassungsentwurf

Die Grundzüge dieses Verfassungsentwurfs gehen — wie wir seit Otto Beckers Forschungen sicher wissen — im wesentlichen auf Bismarck selbst zurück. Becker hat auch auf das Kernproblem der Verfassungsüberlegungen hingewiesen, „einen zusammengesetzten Staat zu schaffen, in dem ein Staat soviel größer war als alle übrigen zusammen. In der Geschichte gab es kein Vorbild für diese Aufgabe" In den von Becker aufgefundenen vollständigen Putbuser Diktaten hat Bismarck seine an frühere Gedanken anknüpfenden Verfassungsideen entwickelt, die „taktisch fein berechnete diplomatische Weisungen" enthalten. Sie sind gleichsam die politischen Richtlinien für die einzuleitende breitere verfassungspolitische Diskussion auf mehreren Ebenen. Sie ha-ben den Rahmen abgegeben und die politischen Grenzen abgesteckt, aber sie waren elastisch genug „für weitere Erfahrungen", ohne sich „zu früh für die kommende Entwicklung" festzulegen

Diese Haltung bezeugt jene politische Vorsicht, die gegenüber der sowohl historisch wie politisch gefestigten deutschen Staatenwelt — auch außerhalb der Bündnispartner des norddeutschen Bereichs — zu üben war. In diesem Sinne ist Bismarcks Rede vor der Adreßkommission des preußischen Abgeordnetenhauses vom 17. August 1866 zu verstehen, wo er von „Grenzen des Möglichen“ sprach, „ohne die Zukunft zu kompromittieren". Wie sehr er sich mit diesem Gedanken an die Adresse der süddeutschen Staaten wandte, zeigt die Formulierung, daß gerade dort der „Glaube an unsere politische Redlichkeit von großem Gewicht" sein werde Der in diesem Zusammenhang enthaltene Hinweis auf ein „starkes Preußen" verweist allerdings zugleich auf das Ziel „einer hegemonialen Lösung der norddeutschen Verfassungsfrage" ohne freilich diese Zielsetzung erkennbar aufzudecken.

Überwindung des preußischen Partikularismus

Die erste und wohl schwierigste Hürde war noch im vorparlamentarischen Bereich zu neh-men. Zunächst ging es darum, den Entwurf den preußischen Gewalten annehmbar zu machen, denn wenn sich „die Festung des preußischen Partikularismus widersetzte, so war sie noch schwerer zu nehmen als die Hindernisse, die die verbündeten Regierungen oder der Reichstag dem Staatsmann in den Weg legen konnten" In diesem Zusammenhang hat Otto Becker mit Recht darauf hingewiesen, daß es sich schon aus diesem Grund nicht um einen „vollendeten" Verfassungsentwurf handeln durfte, sondern nur um einen Rahmen, der genügend Spielraum ließ, denn „zum Genialsten an Bismarcks Entwurf gehört das, was in ihm nicht gesagt, aber für die Zukunft angebahnt und offengehalten war" In immer neuen Konferenzen wurde der Entwurf besprochen, um den „preußisch-dynastischen Partikularismus" des Königs ebenso zu überwinden wie die „preußisch-partikulare Gedankenwelt" des Staatsministeriums. Waren es auf dieser Seite einseitig preußische Gesichtspunkte, die ein Zuviel an bundesstaatlicher Regelung zu verhindern suchten, so empfand der preußische Kronprinz schmerzlich das Zuwenig an bundesstaatlicher Einheit, denn er „harre immer noch der wirklichen Lösung der deutschen Frage, die durch Preußens gegenwärtiges Verhalten wahrlich nicht erreicht werden wird"

Aber der Entwurf passierte unter Berücksichtigung einzelner Ergänzungen und Erweiterungen sowohl die vorberatenden Sitzungen des Staatsministeriums als auch am 14. Dezember 1866 den Kronrat, freilich unter dramatischeren Umständen, als es die nüchternen Protokolle wiederzugeben vermögen. Schon einen Tag später, am 15. Dezember, begannen die Konferenzen mit den Bevollmächtigten der Einzelstaaten des künftigen Norddeutschen Bundes. Sie kamen zusammen, um „nach Maßgabe der Grundzüge vom 10. Juni d. J. (1866) den Bundesverfassungs-Entwurf festzulegen, welcher dem Parlament zur Berathung und Vereinbarung vorgelegt werden soll“, wie es in Artikel V des Bündnisvertrages vom 18. August 1866 vertraglich vorgesehen war

Harte Verhandlungen mit den Verbündeten

Als Bismarck am Abend des 15. Dezember 1866 die Verfassungsverhandlungen mit den Bevollmächtigten der verbündeten Regierungen eröffnete, kannte keiner von ihnen den preußischen Entwurf. „Seitdem die Bombe geplatzt ist, habe ich nur erst wenige der Verwundeten gesprochen“, so schilderte der Hamburger Vertreter die Stimmung nach den Eröffnungen Bismarcks und nach der ersten Kenntnisnahme des Entwurfs. Der oldenburgische Minister von Rössing sprach sogar von einer Panik; auch das Wort von der Möglichkeit eines „kläglichen Fiaskos" ist gefallen Ensprechend diesem Stimmungsbild zogen sich die Verhandlungen hin, und noch in der zweiten Januarhälfte war es fraglich, ob eine Verfassung zustande kommen würde. Es war jedenfalls von Anfang an klargeworden, daß die verschieden gelagerten Interessen der Verhandlungspartner nicht ohne Not auszubalancieren waren. Es gehört zu den großen geschichtlichen Leistungen Bismarcks, „daß er sich schließlich der verbündeten Regierungen sogar als einer geschlossenen Front gegen den Reichstag bedienen konnte"; denn es galt ja bei allen diesen Verhandlungen, „die preußische Macht gegen die Verbündeten, diese gegen den preußischen Partikularismus, den Reichstag gegen beide und beide gegen den Reichstag auszuspielen und nicht zuletzt die Verbündeten gegeneinander"

Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand die Frage des Verhältnisses zu Preußen und der Verdacht, daß preußisch-partikula-ristischer Selbstzweck sei, was sich als deutsche Politik Preußens ausgab. Damit war das Problem der preußischen Hegemonie berührt, hinter der man „das Prinzip der Annexion oder der Vereinigung verschiedener Staaten unter der bleibenden Übermacht eines Staates" vermutete Daß eine Reihe kleinerer Staaten, vor allem die thüringischen, sofort an eine gegen angemessene Entschädigung vorzunehmende Mediatisierung zugunsten des Bundes oder Preußens dachten, unterstreicht das Ausmaß der Verwirrung.

Man gerät angesichts solcher Komplikationen leicht in Versuchung — und Otto Becker unter-liegt ihr mit dem Hinweis, keiner habe in Bismarcks Verfassungskonzeption das „Mittel für die Erfüllung der deutschen Mission des preußischen Staates" erkannt —, partikularisti-

sehen Eigensinn anzunehmen, wo eigenes nationalpolitisches Interesse vorlag. Man unterschätzt die Bundesbereitschaft der deutschen Verbündeten Preußens, wenn man ihre Einwände als partikularistischen Eigensinn auslegt. Es wäre geradezu widersinnig, von ihnen die Zustimmung zu einer großpreußischen Lösung des deutschen Problems anstelle einer sogenannten kleindeutschen Lösung des Problems Preußen zu erwarten. Es ist zugleich die Frage nach verbrieften, also nach rechtlichen Garantien, die im Hintergründe steht. Die deutschen Fürsten — jedenfalls der überwiegende Teil von ihnen — waren wohl bereit, sich einem Bundesverhältnis einzuordnen, nicht aber, sich einem Bundespartner unterzuordnen. Diese Problematik liegt jedenfalls der Denkschrift des Großherzogs von Oldenburg über „eine neue deutsche Verfassung" vom Juli 1866, die im Dezember 1866 in Einzelheiten modifiziert wieder aufkam, zugrunde, wenn er dort „das Aufgehen Preußens in Deutschland" fordert. Dieses „Aufgehen Preußens in Deutschland" ist ihm die Voraussetzung für eine „ Reichs " gründung, der es nicht um preußischen Machtzuwachs, sondern um deutsche Interessen schlechthin gehe. Eine solche Lösung verzichte auf eine „Unterordnung" unter einen Bundesstaat, sie akzeptiere aber eine „Unterordnung" unter ein Reichs-Oberhaupt mit dem Titel Kaiser

Mit diesem Einwand des oldenburgischen Souveräns ist allerdings eine wichtige Frage gestellt. Sie setzt jedenfalls für ein gerechtes historisches Urteil die Klärung voraus, ob Bismarcks großpreußische Politik tatsächlich mit einer (klein-) deutschen Politik identisch war, eine Frage, die übrigens nicht erst von den Historikern erfunden wurde, sondern die die Zeitgenossen bereits lebhaft bewegte. Darüber besteht kein Zweifel, an ein „Aufgehen Preußens in Deutschland" hat Bismarck nie gedacht. Durch eine Fülle von Zeugnissen ist das belegt. Man wird aber sagen dürfen, daß an der nationalen Zielsetzung nicht zu zweifeln ist, auch wenn sie einen rein preußischen Ausgangspunkt hat. Man kommt der Frage auch näher, wenn man sie einmal unter der Möglichkeit des „kläglichen Fiaskos" und der für diesen Fall vorgesehenen Maßnahmen ansieht. Bismarck hat für diesen Fall davon gesprochen, auch vor den außerordentlichsten Maßregeln nicht zurückzuschrecken, und dabei an das Bündnis mit den nationalen Bewegungskräften gedacht. Der Kronprinz hat dazu gemeint, das heiße, „daß man nicht vor dem Aufwühlen der Revolution, falls es uns paßt, sich scheuen werde" Eine solche Politik „außerordentlichster Maßregeln" wäre freilich erst eingetreten nach Versagen aller anderen Möglichkeiten und Mittel, aber ihr politischer Hintergrund bleibt doch die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wegzudenkende nationale Einigung. Den Krisenpunkt erreichten die Verhandlungen der Bevollmächtigten, als am 21. Dezember 1866 eine Gruppe von Staaten unter der Leitung des weimarischen Bevollmächtigten von Watzdorf zu einer Konferenz zusammentrat, auf der der oldenburgische Minister von Rössing den Verfassungsplan seines Großherzogs vortrug und zwölf andere Staaten für ihn gewinnen konnte. Erst nach langwierigen Gesprächen ließ Rössing diesen Plan fallen, nicht zuletzt vor dem Hintergründe einer diplomatischen Offensive Bismarcks. Dabei ist zu betonen, daß es sich um national gesinnte Staaten handelte, die den Vorstoß zu einer gemeinsamen Frontbildung unternahmen. Wir werden deshalb ihre Gründe ernst zu nehmen haben. Zunächst ist zu sagen, daß es sich bei den einzelnen mittleren oder kleineren Bündnispartnern — das waren sie ja bereits seit dem 18. August 1866 — um verschiedene, regional bedingte Interessen und um ebenso verschiedene Motive handelte. Es ging sowohl um Macht-und Prestigefragen wie um Fragen der Existenz überhaupt; es ging um Fragen der Konsequenzen, die sich aus dem staatsrechtlichen Problem bundesstaatlicher Einheit ergaben, wie um das Problem der preußischen Hegemonie.

Dieser Problematik gegenüber ist die Position Bismarcks zu durchleuchten, der sich in der schwierigen Lage befand, den Ausgleich mit den verbündeten Regierungen in seinem Sinne finden zu müssen, um die partikularen Kräfte in Preußen und die höfische Opposition zu paralysieren, außerdem aber zugleich auf die diffizilen Verhandlungen mit dem Reichstag — dessen politische Zusammensetzung ja die große Unbekannte war — vorbereitet zu sein. Jener Plan eines Bündnisses zwischen Parlament und Kanzler bei unüberbrückbarem Gegensatz zu den Verbündeten blieb doch nur der unerwünschte letzte Ausweg, ein Pressionsmittel gleichsam gegen allzu starke Strapazierung der preußischen Geduld und Bereitschaft zur Nachgiebigkeit. Auf die außenpolitischen Folgen eines solchen Zusammengehens mit dem Parlament im Hinblick auf das Werben um den Zaren kann nur andeutungsweise hingewiesen werden, ebenso wie auf die Folgen innerpolitischer Kämpfe bei dem gespannten Verhältnis zu Napoleon III.

Der Abschluß der Verhandlungen mit den Verbündeten

Das Ziel der Bismarckschen diplomatischen Strategie war, den gemeinsamen, verschieden motivierten Widerstand der verbündeten Regierungen zu verwandeln „in ein gemeinsames Sich-Anklammern dieser bunten Vielgestaltigkeit an die starke preußische Monarchie, welche sanften Druck mit verständnisvollem Eingehen auf die besonderen Sorgen jedes einzelnen verband" Diese Verwandlung war ganz allmählich vor sich gegangen und machte sich in den ersten Januarsitzungen 1867 bemerkbar. Angesichts der drohenden gemeinsamen Front der Mehrheit der Verbündeten war Bismarck ausgewichen auf zweigleisige Verhandlungen. Alle wichtigeren Fragen wurden in Sonderverhandlungen mit den einzelnen Bevollmächtigten vorgeklärt, so daß den Vollsitzungen der Regierungsvertreter unter der Leitung Savignys nur noch zweitrangige Bedeutung zukam. Auf diese Weise wurde durch eine Reihe von Sonderzugeständnissen hauptsächlich in den militärischen Fragen der Widerstand des bedeutendsten Verbündeten, Sachsens, ausgeschaltet, ohne freilich das Prinzip der Verfassung anzutasten.

Für den 12. Februar 1867 waren die Wahlen zum Reichstag des Norddeutschen Bundes festgesetzt. Damit war ein weiteres Pressionsmittel gegeben, die Verhandlungen nicht endlos in die Länge zu ziehen. Nachdem am 5. und 6, Februar die Verständigung mit Sachsen gelungen war, traten die Ende Januar noch einmal kritisch gewordenen Verhandlungen in ihre entscheidende Phase ein. Nicht ohne dramatische Akzente verlief die zwecks Einverständniserklärung der Bevollmächtigten am 7. Februar 1867 einberufene Vollsitzung, auf der das ganze Gewicht des erzielten preußisch-sächsischen Ausgleichs voll zur Geltung kam. Vor diesem Hintergründe konnte Savigny als Beauftragter Bismarcks geradezu ultimativ das Ja oder Nein fordern, und zwar „namens ihrer Vollmachtgeber". Es spricht für sich, daß das Schlußprotokoll nicht eine „Zustimmung“ zu dem Verfassungsentwurf enthält, sondern nur seine „Feststellung"; es ist darüber hinaus bemerkenswert lür die dramatische Situation, daß es gegen den preußischen Widerstand gelang, in dem Schlußprotokoll Vorbehaltserklärungen durchzusetzen, von denen 15 Staaten Gebrauch machten. Es war also nur eine scheinbare Einigung erzielt. Was Bismarck erreicht hatte, „war nicht eine Billigung seines Entwurfs, sondern nur die Billigung, daß der Entwurf dem Reichstage vorgelegt werde" und doch war eine schwierige, gefahrvolle Wegstrecke des Einigungswerkes durchlaufen. Das von den Bevollmächtigten der verbündeten Regierungen „festgestellte" Verfassungswerk war politisch die Folge der Staatsgründungsverträge vom 18. August 1866 und staatsrechtlich die Voraussetzung für die Begründung des Norddeutschen Bundes. Es beruht auf der Grundlage vertraglicher Vereinbarung souveräner Staaten miteinander mit dem Ziel, staatsrechtliche Normen zu setzen für das neue Bundesverhältnis. Diese Normen bedurften — so sahen es die Staatsgründungsverträge vor — vor ihrem Inkrafttreten der Zustimmung des auf der Grundlage des Frankfurter Wahlrechts gewählten überregionalen Parlaments. Der Staatsgründungsakt von 1866/67 beruhte also auf einer Stufenfolge, die für die Staats-gründung selbst bezeichnend ist. Sein Ausgangspunkt sind die „Grundzüge zu einer neuen Bundesverfassung" vom 10. Juni 1866. Ihnen folgten auf der diplomatischen Ebene das mit Frankreich als Friedensvermittler ausgehandelte Kompromißprogramm vom 14. Juli 1866, die Friedensinstrumente von Nikolsburg vom 26. Juli 1866 und von Prag vom 23. August 1866, die die Grundgedanken der „Grundzüge" wiederholen und ihnen gleichsam einen völkerrechtlichen Rang verleihen. Diese Verträge wurden ergänzt durch die militärischen Schutz-und Trutzbündnisse mit den süddeutschen Staaten zwischen dem 13. und 22. August 1866. Als dritte Phase folgten dann, teilweise parallel laufend, die Staatsgründungsverträge vom 18. August 1866, von denen der eigentliche Staatsgründungsakt ausging, nachdem er völkerrechtlich gesichert war. Danach erst trat das Parlament in Aktion, um den von den verbündeten Regierungen „festgestellten", das heißt durchberatenen Entwurf einer Verfassung zu beraten. Man muß sich diesen Verlauf deutlich vor Augen führen, um zu erkennen, wie wenig die Bismarcksche Reichsgründungspolitik der sechziger Jahre noch gemeinsam hatte mit der nationalen Bewegung seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Die nationalen Bewegungskräfte des 19. Jahrhunderts waren nicht mehr die treibende und tragende Kraft, sondern die machtstaatliche Politik Preußens, die spätestens seit der Mitte der sechziger Jahre identisch war mit einem (klein-) deutschen Ziel.

Grundzüge des Verfassungsentwurfs

Der Norddeutsche Bund war seiner staatsrechtlichen Form nach ein Bundesstaat, allerdings mit jener eigentümlichen Prägung, die das föderative Prinzip mit einer hegemonialen Stellung Preußens zu verbinden suchte. Das föderative Element fand in der Verfassung seinen Ausdruck in der starken Stellung des Bundes-rats. Er war ein permanenter Rat von wei-sungsgebundenen, instruierten Vertretern der einzelstaatlichen Bundesglieder, aber weder eine Erste Kammer noch ein Oberhaus oder gar ein Parlament. Er repräsentierte das höchste Regierungsorgan des Bundes mit eigener und eigentlicher Gesetzesinitiative, mit dem Recht aller exekutiven Gewalt und mit der Aufgabe der zwischenstaatlichen Meinungsbildung über die Bundespolitik. Ihm gegenüber stand gleichsam als zentrales unitarisches Organ der Norddeutsche Reichstag als Nationalrepräsentation. Mit seinem Mitwirkungsrecht an der Bundesgesetzgebung hatte er größeren — dann ständig wachsenden — Einfluß auf die innere Staatsausbildung, als man bisher anzunehmen bereit war Auch wenn ihm das heute selbstverständliche und unentbehrliche Recht zu eigener Initiative fehlte, hat er „negativ-schöpferisch" sein können, indem er hinderte und überwachte. Allerdings war er sowohl von der Regierungsbildung wie von der Regierungstätigkeit ausgeschlossen, ebenso wie alle Ansätze zu einer parlamentarischen Kontrolle der Regierungsgewalt sorgsam vermieden wurden. In diesem Sinne hat Erich Marcks den Reichstag mit Recht „als das Hilfsgebilde, nicht als das Kerngebilde der Verfassung" bezeichnet*

Man wird sich, um die Stellung des Norddeutschen Reichstags richtig einzuschätzen, immer seine politische Funktion in der Bismarckschen Konzeption vor Augen zu führen haben, gleichsam das Korrektiv gegenüber den partikularen Kräften zu sein, wie man allerdings umgekehrt diese Rolle auch für den Bundesrat gegenüber zu weitreichenden unitarischen Tendenzen des Reichstages konstatieren muß. An diesem Punkte wird übrigens sichtbar, wie sehr das auf den Putbuser Diktaten beruhende Verfassungswerk über seinen rechtsetzenden Charakter hinaus eine politische Entscheidung war, die zugleich das zeitgeschichtliche Nonplusultra umreißt.

Bundesrat und Reichstag waren — bei allem Übergewicht des Bundesrates — die beiden gesetzgebenden Organe. Die Klammer zwischen beiden bildete das Bundespräsidium, das der König von Preußen innehatte. Abgesehen von seinen weitreichenden militärischen Befugnissen als Oberster Bundesfeldherr hatte das Bundespräsidium eine starke Stellung durch seine Ausstattung mit dem Recht der völkerrechtlichen Vertretung des Bundes, der Entscheidung über Krieg und Frieden, der Überwachung der Bundestreue, der Auflösung und Berufung des Parlaments. Es ist kein Wunder, daß bei solchen Kompetenzen das Machtverhältnis zwischen Bundesrat und Bundespräsidium im Brennpunkt des Interesses stand. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die doppelte Stellung als Staatsoberhaupt einerseits und Bundesmitglied andererseits. Der König von Preußen war als Bundespräsidium zwar mit einigen bedeutenden Vorrechten ausgestattet, aber er war in seiner fürstlichen Stellung nicht Vorgesetzter der verbündeten Fürsten, sondern nur Primus inter pares. Ein faktisches Übergewicht gewann er durch sein uneingeschränktes Recht der Berufung des Bundeskanzlers, der in zunehmendem Maße in der Verfassungswirklichkeit der ihm verantwortliche Leiter der Bundespolitik wurde.

Mit dem Bundesrat und dem Reichstag, dem Bundespräsidium und dem ihm verantwortlichen Bundeskanzler sind diejenigen Institutionen bezeichnet, auf denen der Norddeutsche Bund beruhte. Sie waren mit ihren verschiedenen rechtlichen und politischen Kompetenzen die Träger des Bundesstaates.

Die Debatte im Norddeutschen Reichstag

Mit großer Spannung wurde der Zusammentritt des am 12. Februar 1867 gewählten Norddeutschen Reichstags erwartet. Am 24. Februar erfolgte nach einem feierlichen Gottesdienst in der Schloßkapelle die Eröffnung im Weißen Saale des Berliner Schlosses. Wilhelm I. verlas „mit viel Ausdruck und sichtlich ergriffen" seine Thronrede und appellierte an die Volksvertreter, „die Einigung des deutschen Volkes an der Hand der Tatsachen zu suchen und nicht wieder das Erreichbare dem Wünschenswerten zu opfern" Die Anspielung auf das gescheiterte Verfassungswerk der Frankfurter Paulskirche ist zugleich auch zu verstehen als Ermahnung, die Existenz der deutschen Staatenwelt als historisches und politisches Faktum gebührend und mit der gebotenen Rücksicht in Rechnung zu stellen. Es war ein politisches Argument, wenn der König hinzufügte, „der vollendetere Ausbau desselben (des Verfassungs-Entwurfs) kann alsdann getrost dem ferneren erneuten Wirken der deutschen Fürsten und Volksstämme überlassen bleiben" Es hatte zunächst nicht den Anschein, daß der Reichstag den Ermahnungen des Monarchen zu folgen bereit war. Bereits die ersten De-batten zeigten mit großer Eindringlichkeit das Prinzipielle in den gegensätzlichen Auffassungen. Daß zudem die Gefahr einer Verbindung zwischen den unzufriedenen partikularen Gewalten und der parlamentarischen Opposition bestand, macht deutlich, welche gefahrvolle Wegstrecke zu durchlaufen war, um das Einigungswerk zu vollenden. Die Möglichkeit, mit Hilfe des Reichstags eigene Wünsche gegen Preußen zu fördern, wurde von einzelnen Bundesstaaten durchaus erwogen und hat die Verhandlungen mehr als einmal gefährdet.

Dieser Sachverhalt änderte sich allerdings sehr bald. Bereits nach den ersten Verfassungsdebatten stellte sich heraus, daß die über den Verfassungs-Entwurf hinausgehenden Vorschläge des Reichstags in eine unitarische Richtung auf Kosten der kleineren Staaten drängten. Damit war jene Situation erreicht, die Otto Becker als das gemeinsame Anklammern an Preußen bezeichnet hat. Indem Preußen den verbündeten Regierungen Beistand leistete, war es zugleich in der Lage, die erforderliche gemeinsame Front der verbündeten Regierungen zu bilden und gleichzeitig die oben bezeichneten Gefahren einzudämmen. Auf der Basis dieser Gemeinsamkeit kam es zu dem — von Bismarck schon vor dem Zusammentritt des Reichstags konzipierten — Geheimvertrag vom 31. März 1967, der die Maßnahmen der Verbündeten bei einem Scheitern des Verfassungswerkes im Reichstag vertraglich festlegte. Für diesen Fall sah der Vertrag die Auflösung des Reichstags und die Erhebung des Verfassungs-Entwurfs zu „einem definitiven unanfechtbaren Staatsvertrag" zwischen den Bundesgliedern vor. Aber auch diese Maßregeln waren als äußerstes Mittel gedacht, ebenso wie Bismarck ja während der Verhandlungen mit den Verbündeten über den Verfassungsentwurf mit dem Gedanken an ein Zusammengehen mit dem Reichstag gegen die Regierungen gespielt hat. Eins aber wird aus allen solchen Vorkehrungen für den besonderen Fall deutlich: dem preußischen Staatsmann ging es in diesem Spiel mit allen taktischen Mitteln darum, den auf ihn selbst zurückgehenden Verfassungsentwurf in seinen Grundideen unverändert durchzubringen. Die folgenden Auseinandersetzungen im Reichstag haben gezeigt, wie wenig an diesen Grundsätzen zu rütteln war.

Am 4. März 1867 legte Bismarck im Namen der verbündeten Regierungen dem Reichstag den Verfassungsentwurf vor. Damit wurde eine auf hohem Niveau stehende Diskussion eingeleitet, wie der Norddeutsche Reichstag überhaupt, was Sachkenntnis und Arbeitsdisziplin anlangt, deutsche Parlamentsgeschichte schlechthin gemacht hat. Es spricht für sich, daß eine so schwierige Materie wie die Beratung einer Verfassung im Plenum stattfinden konnte.

Schon vom ersten Tage der Debatten an wurde deutlich, daß der Reichstag seine Aufgabe mit großem Ernst wahrnahm und daß er — auch in seinen im Grundsätzlichen positiv zu der neuen politischen Wirklichkeit stehenden Kräften — durchaus nicht bereit war, den Regierungen unbedingt zu folgen. Immer wieder hat die Debatte kritische Situationen heraufbeschworen, und mehr als einmal hing das Damoklesschwert der Auflösung mit den oben bereits beschriebenen Konsequenzen über dem Parlament.

Bundesstaat oder Einheitsstaat?

Eine Kernfrage in den Auseinandersetzungen war die der Staatsform. Die Vertreter einer unitarischen Lösung forderten mit großem Nachdruck den norddeutschen Einheitsstaat auf dem Wege der Annexion aller norddeutschen Staaten. Politisch habe Preußen durch seine militärischen Siege nicht nur die Möglichkeit, sondern auch das Recht zu einem so weitreichenden Schritt erworben. Es ist bemerkenswert, daß hinter solchen Forderungen eine historische Argumentation mit ausdrücklichem Hinweis auf den alten Deutschen Bund stand. Das Ziel dieser Gruppe, deren Anhänger hauptsächlich in der Fortschrittspartei zu suchen sind, war eine Staatsneugründung unter alleiniger preußischer Führung ohne historische Reminiszenzen. Dieser Gruppe gegenüber standen die Vertreter einer partikularistischen Lösung mit der Forderung vollständiger einzelstaatlicher Unabhängigkeit. Sie knüpften durchaus an das überlieferte staatenbündische Verhältnis nach dem Vorbild des Deutschen Bundes an.

Bismarck ist beiden Gruppen entschieden entgegengetreten, indem er sich gegen die einheitsstaatlichen Tendenzen mit dem Hinweis auf die preußische Vertragstreue als Grundlage des Bundesverhältnisses wandte. „Die Basis soll das Vertrauen zu der Vertragstreue Preußens sein, und dieses Vertrauen darf nicht erschüttert werden, solange man uns die Vertragstreue hält", hat er in seiner großen Rede vom 12. März 1867, nicht ohne einen Seitenblick auf die süddeutschen Staaten, ausgeführt Er wandte sich an die Vertreter beider Gruppen mit der Erklärung, daß es nicht darauf ankommen könne, „ein theoretisches Ideal einer Bundesverfassung herzustellen, in welcher die Einheit Deutschlands einerseits auf ewig verbürgt werde, auf der anderen Seite jeder partikularistischen Regung die freie Bewegung gesichert bleibe . . . einer solchen Quadratur des Zirkels um einige Dezimalstellen näher zu rücken, ist nicht die Aufgabe der Gegenwart". Es gehe darum, „ein Minimum derjenigen Konzessionen zu finden, welche die Sonderexistenzen auf deutschem Gebiet der Allgemeinheit machen müssen, wenn diese Allgemeinheit lebensfähig werden soll"

Mit Hilfe einer freikonservativ-nationalliberalen Mehrheit ist die Kompromißlösung des Verfassungsentwurfs im Reichstage angenommen worden. Die Argumentation dieser Mehrheit aber ist bezeichnend. Miquel hat sich in seiner großen Rede vom 9. März 1867 grundsätzlich auf den Boden des Verfassungsentwurfs gestellt, und zwar im Sinne praktischer Politik, denn er entspreche „der politischen Basis, auf der er entstanden ist", er befriedige zwar weder ein politisches Ideal noch ein theoretisches Ideal, er entspreche auch keinem historischen Vorbild; „der Entwurf gewährt keinen Einheitsstaat, keinen Bundesstaat und keinen Staatenbund, der Entwurf ist völlig originell, wie die politische Lage originell ist, die er formulieren soll." Er, Miquel, gehe nicht mit historischen Reminiszenzen oder theoretischen Idealen an die Verfassung, sondern er betrachte den Entwurf als „ein praktisches Werk“, an das er nur „die Kritik der praktischen Brauchbarkeit legen" wolle

Parlamentarische Verantwortlichheit?

Auf dieser Basis ist das Verfassungswerk von 1867 zustande gekommen. Zwar kam es über eine Reihe von Sachfragen noch zu harten Auseinandersetzungen, so etwa über die Frage des Bundespräsidiums, das die Nationalliberalen lieber mit allen Attributen eines wirklichen Staatsoberhauptes mit dem Titel Kaiser ausgestattet gesehen hätten, oder über die Stellung des Bundesrates, in dem die einen die preußische Vorherrschaft mit seinem Stimmenanteil von zwei Fünfteln aller Bundesratsstimmen zu stark betont sahen, während den Vertretern mit stärkerer einheitsstaatlicher Tendenz die Stellung Preußens im Bundesrat zu schwach war. Die Debatten über die Kompetenzen des Bundesrats stießen allerdings stärker ins Grundsätzliche vor. Die Frage nach der parlamentarischen Verantwortlichkeit stand im Hintergrund, als die Doppelfunktion des Bundesrats als dem Reichstag gleichberechtigtes Organ der Legislative und als oberster Träger der Exekutive zur Sprache kam. Von der Fortschrittspartei wurde in diesem Zusammenhang die Frage eines verantwortlichen Bundesministeriums angeschnitten. An diesem Punkte sollten sich die Debatten noch einmal bis zu krisenhafter Zuspitzung erhitzen.

Diese Debatten entzündeten sich an einem Komplex, von dem man es am wenigsten erwartet hatte, an der Stellung des Bundeskanzlers. Der Entwurf hatte ihn als den Leiter der Bundesratsgeschäfte vorgesehen, der dem Leiter der auswärtigen Politik Preußens weisungsgebunden unterstand. So wäre er dem Einfluß und der Kontrolle des Parlaments vollständig entzogen gewesen und hätte seine Funktionen nur auf C-und von Instruktionen wahrnehmen können. Gegen diese Stellung erhob sich sofort heftiger Widerstand, und die Linke stieß in dieses Vakuum erneut mit dem Vorschlag der Einsetzung eines parlamenta-risch verantwortlichen Bundesministeriums. Die eigentliche Krise wurde heraufbeschworen, als sich die Nationalliberalen diesem Standpunkt mehr und mehr näherten, weil damit die Gefahr einer unerwarteten Reichstagsmehrheit bestand. Rudolf von Bennigsen hatte einen Antrag eingebracht, in dem er neben dem Amt des Bundeskanzlers die Schaffung von „Vorständen der einzelnen Verwaltungszweige" forderte. Eine solche Forderung lief praktisch auf ein verantwortliches Bundesministerium hinaus und berührte damit die Grundkonzeption des Verfassungsentwurfs. Es war also einer jener Punkte, an dem sich die Krise zur Katastrophe ausweiten könnte. Am 26. März 1867 lehnte eine Mehrheit von 127 gegen 126 Stimmen den Antrag Bennigsens ab. Bennigsen gab sich aber noch nicht geschlagen und unternahm einen erneuten Vorstoß, indem er auf die Schaffung von Vorständen verzichtete, dafür aber „die Gegenzeichnung des Bundeskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt", forderte, und zwar für alle „Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidii", die „im Namen des Bun-des" erlassen werden Bennigsen ist mit diesem Antrag, der wörtlich mit einem Antrag des Altliberalen von Sänger abgestimmt wär, durchgedrungen und hat damit einen entscheidenden Einbruch in das Bismarcksche Verfassungswerk erzielt. Das Amt des Bundeskanzlers hatte eine wesentliche Kompetenzerweiterung erhalten, indem es unmittelbares oberstes Bundesorgan wurde, denn „der Substanz nach ging die Bundesexekutive auf den Bundeskanzler über", während der Bundesrat „ein nur mitwirkendes und kontrollierendes Exekutivorgan" blieb

Aber Bennigsens Antrag hat nicht nur die — dann ja in der politischen Praxis unbedeutende — parlamentarische Verantwortlichkeit begründet, sondern er hat zugleich die starke Stellung des Bundeskanzlers mit seiner doppelten Abhängigkeit vom Bundespräsidium und — wenn auch rein fiktiv, aber mit taktischen Möglichkeiten — vom Reichstag begünstigt. Huber hat in seiner „Deutschen Verfassungsgeschichte" mit Recht darauf hingewiesen, daß der Kanzler sich gerade durch diese Zwischenstellung die Freiheit des selbständigen Handelns schuf. „Gegenüber dem Parlament war der Bundeskanzler stark, da nur das Bundespräsidium ihn ernennen und entlassen konnte; gegenüber dem Bundespräsidium war er nicht weniger stark, da er sich gegenüber den präsidialen Weisungen auf seine Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament berufen konnte."

Mit diesem so gearteten, mit einer großen Machtfülle ausgestatteten Amt des Kanzlers war zugleich die lange offene Frage der Besetzung praktisch gelöst. Es spricht vieles dafür, daß Bismarck selbst — mindestens seit der Einführung der Mitzeichnungspflicht in den Beratungen der Regierungen — dieses Amt zu übernehmen wünschte. Schon während der Beratungen hatte er gelegentlich geäußert, daß „der Bundeskanzler entweder der Untergebene des preußischen Ministers des Auswärtigen sein oder dieser zugleich selbst Bundeskanzler sein müsse" Nachdem das Amt in dieser Weise verfassungsmäßig begründet war, konnte es „nach seiner singulären Bedeutung nur Bismarck als preußischem Ministerpräsidenten und Außenminister übertragen werden"

Etappe auf dem Wege zur politischen Einheit

Mit der so ins Grundsätzliche geratenen Debatte über Amt und Stellung des Bundeskanzlers war die letzte große Krise in den Reichstagsverhandlungen abgeschlossen. In anderen Fragen, besonders in denen des Budgetrechtes, ist Bismarck dem Parlament weit entgegengekommen, so daß der Reichstag nach etwa sechswöchigen Beratungen am 16. April 1867 zur Schlußabstimmung kam. Mit 230 gegen 53 Stimmen wurde der Verfassungsentwurf der verbündeten Regierungen mit den vom Reichstag angebrachten Modifizierungen angenommen. Noch am gleichen Tag trat die Konferenz der am Verhandlungsort in Berlin verbliebenen Bevollmächtigten der norddeutschen Bündnispartner zusammen, und in ihrem Auftrage konnte Bismarck am 17. April 1867 dem Reichstage die Zustimmung der verbündeten Regierungen erklären „mit dem Hinzufügen, daß die Hohen Verbündeten Regierungen die Bundesverfassung in dieser Gestalt nach Maßgabe der in den einzelnen Ländern bestehenden Verfassungen zur gesetzlichen Geltung bringen werden"

Zwischen dem 21. und 27. Juni 1867 setzten die einzelnen norddeutschen Regierungen durch Verkündung in ihren Gesetzblättern mit Wirkung vom 1. Juli 1867 die Verfassung in Kraft. Am gleichen Tage traten die verfassungsgemäß vorgesehenen Institutionen rechtmäßig in Wirksamkeit. Das Bündnisverhältnis der norddeutschen Staaten, wie es am 18. August 1866 begründet worden war, ging über in ein staatsrechtlich gesichertes Bundesverhältnis. Als Bismarck mit seinen Bemühungen um Bundesreform die „Grundzüge" vom 10. Juni 1866 ankündigte, schrieb er — wenn auch in einer anderen Situation — an den national gesinnten Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha Worte, die über dem Staatsgründungswerk des Norddeutschen Bundes stehen könnten: „Die in dem Entwurf enthaltenen Vor

Schläge sind nach keiner Seite hin erschöpfend, sondern das Resultat der Rücksicht auf die verschiedenen Einflüsse, mit denen compromit-tiert werden muß, intra muros et extra. Können wir sie aber zur Wirklichkeit bringen, so ist damit immer ein gutes Stück der Aufgabe, das historische Grenznetz, welches Deutschland durchzieht, unschädlich zu machen, erreicht, und es ist unbillig, zu verlangen, daß Eine Generation oder sogar Ein Mann, sei es auch mein Allergnädigster Herr, an Einem Tage gut machen soll, was Generationen unserer Vorfahren Jahrhunderte hindurch verpfuscht haben. Erreichen wir jetzt, was in der Anlage feststeht, oder Besseres, so mögen unsere Kinder und Enkel den Block handlicher ausdrechseln und polieren."

Gewiß, wir dürfen ein solches Zeugnis auch und gerade im Hinblick auf den Adressaten nicht wörtlich nehmen, denn mit diesen Worten hat Bismarck geworben, und zwar, wie wir wissen, mit Erfolg. Aber bereits ein Jahr später war politische, für die Zeitgenossen überwältigende Wirklichkeit, was hier mit großem Ernst ausgesprochen worden ist. Die deutsche Staatenwelt war auf dem Wege, eine politische Einheit zu bilden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Auswärtige Politik Preußens 1858— 1871, Bd. III, Oldenburg i. O. 1932, S. 784 und S. 803.

  2. Walter Bußmann, Das Zeitalter Bismarcks, 3. Auf!., Konstanz o. J., S. 71.

  3. Heinrich Ritter von Srbik, Deutsche Einheit, Bd. IV, München 1942, S. 76.

  4. Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I., Bd. IV, München und Leipzig 1889, S. 261.

  5. Bußmann, a. a. O., S. 85.

  6. Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. V, 3. Ausl., Berlin o. J. (1928), S. 397 f.

  7. Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. II, Stuttgart o. J. (1964),

  8. Zitat nach Bußmann, a a. O., S. 90.

  9. Bußmann, a. a. O., S 91.

  10. Erinnerung und Gedanke, in: Otto v. Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. XV, 2. Ausl., Berlin o. J. (1932), S. 273

  11. Erinnerung und Gedanke, a. a. O., S. 272.

  12. Erinnerung und Gedanke, a. a. O., S. 278.

  13. Text nach Johannes Hohlfeld, Dokumente der deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart, Bd. I, S. 168 f.

  14. Hohlfeld, a. a. O„ S. 168.

  15. Bußmann, a. a. O., S. 92.

  16. Huber, Dokumente, Bd. II, S. 218.

  17. vom Verfasser hervorgehoben.

  18. Huber, Dokumente, Bd. II, S. 219.

  19. Otto Becker, Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung, hrsg. und ergänzt von Alexander Scharff, Heidelberg o. J. (1958).

  20. Bußmann, a. a. O., S. 93.

  21. Bußmann, a. a. O., S. 93.

  22. Rede abgedruckt bei Hohlfeld, a. a. O., S. 178.

  23. In der Rede über den Entwurf einer Verfassung des Norddeutschen Bundes am 9. 3. 1867.

  24. Bußmann, a. a. O., S. 94.

  25. Wilhelm Mommsen, Deutsche Parteiprogramme, München o. J. (1960), S. 142.

  26. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, Stuttgart o. J. (1963), S. 645.

  27. Huber, Dokumente II, S. 225.

  28. Becker, a. a. O., S. 237.

  29. Becker, a. a. O., S. 238.

  30. Becker, a. a. O., S. 256.

  31. Zitat nach Becker, a. a. O., S. 219.

  32. Becker, a. a. O., S. 219.

  33. Becker, a. a. O., S. 279.

  34. Becker, a. a. O., S. 279.

  35. Brief an Curtius; zitiert nach Becker, a. a. 0., S. 287.

  36. Huber, Dokumente II, S. 225.

  37. Zitate nach Becker, a. a. O., S. 291.

  38. Becker, a. a. O„ S. 292 f.

  39. Aus der Denkschrift des sächsischen Staats-ministers von Falkenstein vom 22. 12. 1866; Zitat nach Becker, S. 303.

  40. Becker, a. a. O., S. 303.

  41. Vgl. dazu Becker, a. a. O., S. 305 f.

  42. Kronprinz Friedrich Wilhelm an seine Mutter am 14. 12. 1866; zitiert nach Becker, S. 289.

  43. Becker, a. a. O., S. 318.

  44. Becker, a. a. O., S. 354.

  45. Der Verfasser ist mit der Ausarbeitung einer ausführlichen Studie über den Norddeutschen Reichstag im Sinne einer Parlamentsgeschichte beschäftigt und hofft, darüber bald weiteres sagen zu können.

  46. Erich Marcks, Der Aufstieg des Reiches, Bd. II, Stuttgart und Berlin o. J., S. 278.

  47. Hohlfeld, a. a. O„ S. 182.

  48. Ebenda, S. 183.

  49. s. Anm. 43.

  50. Erlaß Bismarcks an den preußischen Gesandten in Dresden, in: Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. VI, 3. Ausl., Berlin o. J. (1929), S. 273.

  51. Rede zitiert nach Hohlfeld, a. a. O., S. 193.

  52. Rede zitiert nach Hohlfeld, a. a. O., S. 192.

  53. Ebenda, S. 184 f.

  54. Art. 17 der endgültigen Verfassung.

  55. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III,

  56. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, S. 660.

  57. Zitat nach Bußmann, a. a. O., S. 97.

  58. Bußmann, a. a. O., S. 97.

  59. Zitat nach Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, S. 667.

  60. Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. V, a. a. O., S. 533.

Weitere Inhalte

Werner Pöls, Dr. phil., Akademischer Oberrat an der Freien Universität Berlin, geb. 15. März 1926 in Manker, Kreis Ruppin. Veröffentlichungen: Sozialistenfrage und Revolutionsfurcht im Zusammenhang mit den angeblichen Staatsstreichplänen Bismarcks, in: Historische Studien, Bd. 377, Hamburg und Lübeck 1960; Staat und Sozialdemokratie im Bismarckreich, in: Jahrbuch für die Geschichte Ostund Mitteldeutschlands, Bd. 13/14; zusammen mit Georg Kotowski und Gerhard A. Ritter: Das Wilhelminische Deutschland, Frankfurt 1965.