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Preußen und das Jahr 1866 | APuZ 24/1966 | bpb.de

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APuZ 24/1966 Das Jahr 1866 in der deutschen und europäischen Geschichte Preußen und das Jahr 1866 Die Politik Österreichs bis zum Ausbruch des Krieges im Jahre 1866

Preußen und das Jahr 1866

Walter Bußmann

Weder Entrüstung noch Begeisterung ergeben realistisches Geschichtsbild

In der Erinnerung der Nachlebenden liegen die Jahre 1866 und 1870/71 nicht nur zeitlich dicht nebeneinander. Die Annahme einer scheinbar folgerichtigen, zielstrebigen Politik, in deren Verlauf die gesamtdeutsche Geschichts-und Lebensgemeinschaft zerbrach und die hegemoniale Stellung Preußens begründet wurde, kann sowohl dem Gefühl moralischer Entrüstung als auch dem Pathos der Begeisterung entstammen. Für beide Verhaltensweisen ließen sich historiographische Beispiele anführen, aber beide entsprechen nicht der historischen Wirklichkeit. Eine ästhetisierende Geschichtsschreibung mochte noch dazu neigen, in den Kriegen der Reichsgründungsepoche die Akte eines einheitlichen Dramas wiederzuerkennen

Die Zeitgenossen einer Epoche wie die Nach-lebenden stellten immer wieder die Frage nach den Kausalitäten; sie suchten nach den Ursachen für das, was sie als Glück oder Unglück empfanden. Sie sannen über die angeblich „falschen" Weichenstellungen nach, die den geschichtlichen Gang seither bestimmt hätten. Eine Gestalt wie Bismarck und die Entscheidungen des Jahres 1866 sind besonders geeignet, eine solche Betrachtungsweise anzuregen. Man durchdachte die Alternativen zwischen den Chancen, die eine liberale Politik gehabt haben würde, und der preußischen Politik unter Bismarck. Im Zusammenhang solcher Überlegungen gibt es zu denken, wenn Franz Schnabel in einer sehr kritischen Betrachtung über Bismarck feststellt: „In der Tat fürchtete man in den Kabinetten mehr die Ideologie der deutschen Liberalen und Demokraten als die Machttendenzen des preußischen Staatsmannes." Dieser Sachverhalt kann nicht nur am Gang der auswärtigen Politik Preußen-Deutschlands unter Bismarck, sondern an der preußischen Geschichte im 19. Jahrhundert überhaupt beobachtet werden.

Im preußischen Liberalismus, nicht in der konservativen Staatspolitik lagen Elemente, die dahin drängten, Preußen nicht nur mit freiheitlichen Institutionen zu versehen, sondern auch stark und eroberungsfähig zu machen. Die Liberalen im allgemeinen Sinne des Wortes waren ebenso mit der konservativ-reaktionären Innenpolitik wie mit der stagnierenden Außenpolitik unzufrieden. Das zentrale europäische Ereignis des Krimkrieges in der Mitte des Jahrhunderts läßt den Zwiespalt zwischen der bei mannigfachen Schwankungen doch auf Bewahrung des Friedens gerichteten amtlichen Politik und den liberalen Zielsetzungen des Liberalismus deutlich erkennen. Ein liberaler Kreuzzug gegen Rußland wäre damals populär gewesen, und ein solcher Krieg gehörte, selbstverständlich in wechselnder Stärke, zum außenpolitischen Konzept des Liberalismus wie später des Sozialismus.

Keine aggressive Außenpolitik Preußens zwischen 1763 und 1863

Ein Blick auf die Geschichte bestätigte durchaus die Auffassung von einer „tatenlosen" preußischen Außenpolitik. Preußen hatte zwischen 1763 und 1863 keine aggressive Politik getrieben. Die wenig großmächtige Politik Preußens in den fünfziger Jahren veranlaßte das Weltblatt „Times" zu folgendem Urteil: „Preußen muß immer sich an irgendwen anlehnen, es sucht immer nach fremder Hilfe, aber will selbst niemandem beistehen. Preu-ßen wird immer verhandeln, aber es findet nie einen Entschluß. Es findet sich gern auf Kongressen ein, aber es fehlt auf den Schlachtfeldern . .., es ist immer bereit, eine Menge von Idealen und Gefühlsmomenten vorzubringen, aber seine Politik scheut zurück vor allem, was nach Realität und Aktualität schmeckt. Preußen besitzt eine starke Armee, aber diese ist bekanntermaßen nicht in der Lage zu fechten. Niemand zählt mit Preußen als Freund, niemand fürchtet es als Feind. Wie Preußen zu einer Macht wurde, erzählt uns die Geschichte; wie es eine bleiben will, kann niemand sagen. . . . Ohne fremde Unterstützung kann Preußen weder den Rhein noch die Weichsel gegen seine ehrgeizigen Nachbarn verteidigen."

Es hing selbstverständlich jeweils mit dem politisch-weltanschaulichen Standpunkt der Zeitgenossen zusammen, ob sie über den historischen Befund, den die „Times" beschrieb, befriedigt waren oder nicht und ob sie einem solchen Urteil zustimmten oder nicht. Wenn das Urteil der englischen Zeitung, dem die zeitgeschichtlichen Erfahrungen der fünfziger Jahre zugrunde lagen, zutreffend war, so bedeutete es, daß die mehr zitierte als wirklich verstandene friderizianische Tradition des Staates erloschen war.

Wiederaufnahme der „friderizianischen Tradition"?

Vielleicht hängt die Erschütterung des Jahres 1866 mit der Erfahrung oder dem Glauben der Zeitgenossen in und außerhalb Preußens zusammen, diese sogenannte friderizianische Tradition sei wieder aufgelebt. Wir wollen an dieser Stelle die Problematik wie die Realität dieser Tradition dahingestellt sein lassen, aber wir müssen doch die Feststellung bekräftigen, daß sie in der Gegenwart des Jahres 1866 leidenschaftlich diskutiert wurde.

Die Zeitgenossen und die nachsinnenden Historiker glaubten, entweder den Bazillus des Friderizianismus wieder in seiner Virulenz beobachten zu können oder den Flügelschlag einer verschütteten friderizianischen Vergangenheit zu vernehmen. Für die eine Auffassung kommt dem weifischen Historiker Onno Klopp, der nach der Annexion Hannovers Geschichtslehrer des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand wurde, repräsentative Bedeutung zu. Er hat sich des Ausdrucks „Friderizianismus" bedient und ihn so erläutert: „Es ist nach außen das Streben der Eroberung, welches keine Grenze findet an einem moralischen Wollen, sondern lediglich an dem physischen Können. Es ist nach innen das Prinzip des militärischen Absolutismus, als der steten Bereitschaft zum Eroberungskriege." Onno Klopp ist eine Fundgrube für Argumente, die gegen den preußischen Staat seither geltend gemacht wurden. Auf der anderen Seite schwankten im liberalen Lager die Meinungen hin und her. In diesem Meinungsstreit halten sich die positiven wie die negativen Erinnerungen an Friedrich den Großen gleichsam die Waage. Die Liberalen wünschten sich den Glauben an „einen vernünftigen Zusammenhang der Begebenheiten", an eine „stille Entwicklung", an eine friedliche Vereinigung zwischen Nord-und Süddeutschland zu erhalten. Es gab in ihrem Lager aber auch Stimmen, die nach dem „großen Manne" riefen und die an Friedrich den Großen erinnerten. Sobald sich diese Männer davon überzeugten, daß Bismarck in seiner „Eisen und Blut" -Rede nicht etwa nur renommiert hatte, fanden sie — wenn auch in schweren inneren Auseinandersetzungen — den Weg zur Aussöhnung mit ihm. Der demokratische Politiker Franz Ziegler sprach in einem Brief einen Gedanken aus, den manche Gesinnungsfreunde mitdachten, aber als unvorsichtige Wahrheit nicht auszusprechen wagten: „Man ginge gerne durch den Cäsarismus, wenn ein Cäsar da wäre". Er konnte nur so schreiben, weil er über keine praktischen Erfahrungen mit dem „Cäsarismus" verfügte und weil er — wie die Mehrzahl der Liberalen und Demokraten — vom Glauben an die sich stets wiederherstellende Rechtsordnung erfüllt war.

Zerreißung des gesamtdeutschen Lebens-und Geschichtsgefühls

Zu den Männern, die damals einen erregenden und leidenschaftlichen Konflikt zwischen Recht, Sittlichkeit und der Bejahung einer preußischen Machtpolitik ausfochten, gehörte Heinrich von Treitschke. Er lehnte es ab, die Kriegsmanifeste im preußischen Hauptquartier zu schreiben: . ich konnte nicht mich einer Politik verpfänden, deren letzte Ziele nur ein Mann kennt, deren Sünden zu bessern ich keine Macht besitze; ich konnte nicht um eines sehr zweifelhaften Erfolges willen meinen ehrlichen Namen aufs Spiel setzen." An Treitschke, der auf verschiedenen Stationen seiner Laufbahn kräftig auf die öffentliche Meinung eingewirkt hat, kommt die Zerreißung eines gesamtdeutschen Lebens-und Geschichtsgefühls deutlich zum Ausdruck. Er sah im habsburgischen Kaiserreich politisches und geistiges Ausland, ja Feindesland, und er hat auf diese Weise zur geistigen Kriegsbereitschaft gegen Österreich nicht unerheblich beigetragen. Für ihn wie für andere Historiker und Publizisten verstand sich die Trennung von Österreich gewissermaßen von selbst, da ihrer Ansicht nach die Dreiheit von Protestantismus, Idealismus und Liberalismus die Grundlage eines nationalen Lebens darstellte. Solche Anschauungen machen das Erschrecken des deutschen Katholizismus über die Entscheidungen des Jahres 1866, über das Ausscheiden Österreichs verständlich. Je mehr sich der Gedanke eines kleindeutschen Reiches — der seit 1848 gängige Ausdruck ist nicht glücklich gewählt — unter Führung Preußens durchsetzte und schließlich durch Bismarcks überlegene Staatskunst verwirklichte, desto schärfer wurde die konfessionelle Unterscheidung empfunden.

über den Inhalt der „nationalen Frage" und über das, was eigentlich „national" sein sollte, gingen die Meinungen weit auseinander. Vor der steigenden Flut des Liberalismus zog sich der deutsche Katholizismus in eine Defensive zurück, in der — das muß sogleich hinzugefügt werden — sein Verständnis für die moderne Kultur und für die industrielle Entwicklung nicht wachsen konnte. Für die Stellung der deutschen Katholiken wurde es außerdem folgenreich, daß der neue preußisch-deutsche Staat im geistigen Bündnis mit dem Liberalismus entstanden war. Daß ein solches Bündnis Bismarcks Grundüberzeugungen wenig entsprach, stellt ein Problem dar, auf das hier nicht eingegangen werden kann. Unter den Faktoren, die zur Isolierung des Katholizismus beitrugen, hat der in sich noch so heterogene Liberalismus einen wesentlichen Anteil gehabt, aber das Verhalten der deutschen Katholiken selbst hat den Erfolg solcher Isolierung nur erleichtern können. Die Essenz der liberalen Aussagen lag letztlich in dem Anspruch, zu bestimmen, was deutsch und nichtdeutsch, bzw. was national und nichtnational sei.

Kleindeutsch-protestantischer Liberalismus — großdeutscher Katholizismus

Die Gleichsetzung von liberal und deutsch führte zu einer Verengung des nationalen Selbstverständnisses, erreichte im Jahre 1866 einen Höhepunkt und wirkte fort in einer Geschichtsschreibung, deren Spuren lange nicht verwischt wurden. Der Sieg von Königgrätz wurde als Sieg eines kulturell verstandenen Protestantismus über den römischen Katholizismus gepriesen — in dieser literarischen Interpretation, der Bismarck selbst fern stand, lag ebensoviel Entstellung wie idealistisches Pathos. Solche Interpretation konnte indes die deutschen Katholiken nicht unberührt lassen, zumal die Entscheidung des Jahres 1866 die bisherige Konstellation der Konfessionen in Deutschland und in Europa entscheidend verändert hatte. Der politische Katholizismus von großdeutscher und föderalistischer Gesinnung gehörte mit zu den Besiegten von 1866. Wenn es sich auch sehr rasch erwies, daß von der gelegentlich auftauchenden Vokabel „evangelisches Kaisertum" auf die Dauer keine werbende Kraft ausging, so muß gleichwohl die Beunruhigung des katholischen Kirchenvolkes ernst genommen werden.

Die Herkunft aus großdeutscher Gesinnung konnte die Distanz zum werdenden und sich begrenzenden nationalen Staat unter preußischer Hegemonie nicht verringern. Auf diese Weise wurde ein Prozeß fortgesetzt, der bereits in den fünfziger Jahren eingesetzt hatte, als das kleindeutsch-protestantische Lager die wirkungsvollsten Geister versammelte und als die großdeutsch-katholische Geschichtsschreibung den kleindeutsch-protestantischen Historikern keine ebenbürtige Kraft entgegensetzen konnte. Es sollte jedoch daran erinnert werden, daß noch im Epochenjahr 1859 die groß-deutsch-katholische Stimmung entflammt war, im Süden Deutschlands selbstverständlich mehr als im Norden. Die Stimmung breiter Kreise hatte damals in Ludwig Bauers Lied „O Deutschland hoch in Ehren" Ausdruck gefunden, das im Ersten Weltkrieg zu einem vielgesungenen Lied wurde und das die Stimmung für Österreich in den Versen widerspiegelt: „Lasset hoch das Banner wehn /Lasset uns kühn und treu /Mit den Völkern Österreichs gehn.“ Diese Stimmen waren längst verklungen, und auch der österreichische Bundesreformplan des Jahres 1863 — in dem die der kriegerischen Auseinandersetzung von 1866 vorausgehende Reformbewegung gipfelt — vermochte die Empfindungen nicht zu verändern.

Man darf wohl sagen, daß der Deutsche Bund unter österreichischer Führung einem großen Teil der Menschen, die sich politisch oder literarisch zu Wort meldeten, kein politisches Heimatgefühl vermittelt hatte. Die Zeitgenossen des Deutschen Bundes waren außerdem von semer Verteidigungsfähigkeit durchaus nicht überzeugt. Ein Urteil über die Entwicklungsfähigkeit des Bundes ist damit allerdings noch nicht gefällt.

Oppositionelle Strömungen in Preußen gegen die Politik Bismarcks

Indes — die Liberalen, von denen bislang die Rede war, repräsentierten ja nicht die öffentliche Meinung in Preußen schlechthin, auch wenn sie glaubten, diesen Anspruch begründen zu können. Daß die preußischen Konservativen trotz der Heeresorganisation, deren Erfolg der Ministerpräsident durch seine Politik ermöglicht hatte, eine Zuspitzung der Beziehungen zu Österreich fürchteten, versteht sich fast von selbst, über den Bekenntnissen der Altkonservativen zu einem Zusammengehen mit Habsburg darf aber nicht vergessen werden, daß der in sich keineswegs einheitliche preußische Konservativismus ebenfalls von einem tiefen Mißtrauen gegen das katholische Österreich erfüllt war. Hinzu kam ein soziales Unterlegenheitsgefühl des preußischen Kleinadels gegenüber der österreichischen Aristokratie.

Die „eingeweihten Kreise" der preußischen Diplomatie waren besonders mißtrauisch gegen einen Mann, der ohne Vorbereitung 1851 einen der höchsten diplomatischen Posten erhalten hatte und der auch durch die Erfolge in Schleswig-Holstein kaum an beruflicher Glaubwürdigkeit gewonnen hatte. Sie vermißten an ihm — ähnlich wie die Liberalen, wenn auch in anderer Weise — das „Stetige", „das Kontinuierliche“, den „vernünftigen Plan". Ein beträchtlicher Teil sowohl der Gesandten als auch des diplomatischen Personals im Auswärtigen Amt selbst suchten in der kriegsreifen Situation nach Mitteln, den Krieg zu verhindern. Sie konnten nicht glauben, „daß etwas anderes als vollständige Unterwerfung vor den Gegnern angenommen werden würde", und sie fragten sich, wie Preußen „einen solchen Vernichtungskampf ohne Frieden im eigenen Lande, gegen den Willen der ungeheuren Mehrheit des eigenen Volkes, mit der widerwilligen und großenteils widerspenstigen Landwehr und Reserve bestehen solle" Die Gesandten auf auswärtigen Posten mit ihrem ererbten Mißtrauen gegenüber der Zentrale malten sich eine Konferenz aus, auf der der preußische Vertreter „Europa gegenüberzutreten" die Aufgabe habe. Die ironische Frage des preußischen Ministerpräsidenten: „Who is Europe?", hatte sich sicherlich ebenso herumgesprochen wie die Antwort des britischen Botschafters: „Eine Reihe großer Staaten". Die Sorge über die Zuverlässigkeit der Bevölkerung und vor allem der Reserve herrschte übrigens nicht nur in den — wie wir sagten — „eingeweihten Kreisen", sondern sie wurde auch von aufmerksamen Beobachtern des Zeitgeschehens geteilt. So schrieb der bereits erwähnte Franz Ziegler: „. . . Es geht alles aus den Fugen; wenn man das Betragen der eingezogenen Reservisten und Landwehrmänner sieht und ihre Redensarten hört, so begreift man nicht, wie die Offiziere sie noch überhaupt führen sollen." Die Feststellung einer geistigen Kriegsbereitschaft, von der vorhin die Rede war, muß also durch die Beobachtung ergänzt werden, daß die Preußen offensichtlich nicht fröhlich „zu den Fahnen eilten". Die diplomatische Opposition sah sich in den Tagen der Kriegsvorbereitung wie der Mobilmachung auf die Aufgabe beschränkt, „aufmerksam den Gang der Dinge zu verfolgen, sorgfältig Buch zu führen über die Mißgriffe und Sünden des Systems, um, wenn der Tag der Abrechnung gekommen sein wird, das gesammelte Material zu einem segensreichen Umschwünge bestens zu verwerten, vor allen Dingen aber die Zukunft vor jeder Solidarität mit der Gegenwart möglichst zu bewahren." Es sind Gedanken, die uns aus unseren eigenen jüngsten zeitgeschichtlichen Erinnerungen und Erfahrungen merkwürdig vertraut erscheinen.

Der letzte Kabinettskrieg

Die Urteile der. preußischen Diplomatie stimmen mit denen der ausländischen verblüffend überein. Es sei nur im Vorübergehen darauf hingewiesen, daß die politisch-diplomatische Urteilsbildung in der Kriegskrisis von 1870 vollkommen anders und zwar zugunsten Preußen-Deutschlands ausgefallen ist. Wenn wir den Kreis, in dem politisch gedacht, gesprochen und agiert wurde, noch weiter ziehen und die deutschen Fürstlichkeiten mit berücksichtigen würden, so träfen wir auf ähnliche Stimmungen und pessimistische Prognosen. Wir müssen aber auch den Umschlag, der mit dem Sieg von Königgrätz stattfindet, beobachten. Am 4. April schrieb die preußische Kronprinzessin ihrer Mutter von dem „bösen Manne", nämlich Bismarck, der zum Kriege treibe. Am 16. Juli betrachtet sie den Krieg noch immer als einen Fehler, aber ist doch gleichzeitig stolz, „eine Preußin zu sein". „Ich muß sagen, die Preußen sind eine überlegene Rasse, was Intelligenz und Humanität, Erziehung und Herzensgüte anbetrifft — und deshalb hasse ich die Menschen um so mehr, die durch ihre schlechte Regierungsweise und Verwaltung etc. die Nation der Sympathien berauben, die sie verdiene."

Wenden wir uns aber dem Gang der Ereignisse in Berlin selbst zu, die in eine kriegs-reife Situation hineingeführt haben. Graf Moltke, der Chef des Generalstabs, hat die Verursachung des Krieges von 1866 folgendermaßen beurteilt: „Der Krieg von 1866 ist nicht aus der eigenen Existenz entsprungen, auch nicht hervorgerufen durch die öffentliche Meinung und die Stimme des Volkes; es war ein im Kabinett als notwendig erkannter, längst beabsichtigter und ruhig vorbereiteter Kampf, nicht für Ländererwerb, Gebietserweiterung oder materiellen Gewinn, sondern für ein ideales Gut — für Machtstellung. Dem besiegten Österreich wurde kein Fußbreit seines Territoriums abgefordert, aber es mußte auf die Hegemonie in Deutschland verzichten."

In der klaren Sprache des Generalstabs wird ein historischer Befund beschrieben: Der Krieg von 1866 wurde noch als Kabinettskrieg geführt; ja in kriegsgeschichtlichem Zusammenhang beschließt er die Reihe der Kabinetts-kriege; denn der Krieg von 1870/71 hat in seinem Verlauf bereits die Stufe des Nationalkrieges erreicht und läßt am Aufstand der Kommune schon eine Bürgerkriegssituation erkennen. Der Kabinettskrieg gehörte überdies zum Erfahrungsbereich der damaligen Generation. Daß Machtstellung ein ideales Gut sei, bildete eine unbestrittene Überzeugung der Menschen, die entweder Politik machten oder über sie nachdachten und sie beschrieben.

Ambivalenz der Bismarckschen Politik

Es ist gleichwohl aufschlußreich, die nachträgliche lapidare Feststellung Moltkes in seinen Denkwürdigkeiten mit seinem wie mit dem Verhalten der preußischen Führungsspitze in der Krisis des Jahres 1866 zu vergleichen. Ein kurzer Hinweis auf einen preußischen Kronrat vom 29. Mai 1865 soll zunächst gegeben werden Die Frage der vollen Annexion Schleswig-Holsteins stand damals zur Diskussion. Der König neigte inzwischen dieser Lösung genauso zu wie die anwesenden Militärs. Moltke gab der Überzeugung Ausdruck, „daß zur Erreichung dieses Zieles Preußen auch einen Krieg gegen Österreich nicht zu scheuen haben würde". Er glaubte sagen zu dürfen, daß diese Ansicht auch „von der Armee" geteilt werde. Der oftmals gebrauchte Begriff „Armee" konnte im militärischen Sprachgebrauch nur den Kreis der Kommandierenden Generäle bedeuten. Seine persönliche Aufzeichnung enthält über das militärische Urteil hinaus den seinen Rechtssinn kennzeichnenden Vermerk, daß der wichtige Punkt, „wie man den begründeten Ansprüchen Österreichs gerecht werden wolle", im Verlauf der Sitzung nicht besprochen worden sei. Der militärische Ratgeber des Königs dachte über das Recht des Rivalen nach! Unter den Teilnehmern dieses Kronrats widerriet indessen gerade der Ministerpräsident von Bismarck einer Entscheidung, die einen Krieg gegen Österreich zwangsläufig herbeiführe —• auch wenn „der gegenwärtige Moment zu einem kriegerischen Zusammenstoß mit Österreich, welcher bei der traditionellen preußenfeindlichen Politik des Wiener Kabinetts früher oder später doch kaum zu vermeiden sein werde, günstigere Chancen darbiete".

Es wird eine kaum eindeutig zu beantwortende Frage bleiben, ob und wie lange sich Bismarck zu jenem Zeitpunkt den Weg eines Ausgleichs mit Österreich auf der Grundlage eines Hegemonieanspruchs über Norddeutschland noch offen halten zu können glaubte bzw. wünschte oder ob er diesen Krieg bereits damals für unvermeidlich hielt. Seine Politik der sechziger Jahre läßt sich nicht nach Maßgabe einer einheitlichen Konzeption oder eines Systems begreifen. Seine politische Zielsetzung blieb damals in jedem Falle auf die Erweiterung der preußischen Großmachtstellung bezogen. Diplomatische Maßnahmen, die eine günstige Ausgangsstellung für einen eventuellen Krieg vorbereiten sollten, ergänzten oder wechselten ab mit Aktionen, die auf Verständigung mit dem politischen Konkurrenten gerichtet waren. So läßt die Vorgeschichte des Krieges von 1866 eine Ambivalenz der preußischen, das heißt der Bismarckschen Politik durchaus erkennen. Vom Standpunkt preußischer Interessenpolitik hielt sich der Ministerpräsident sowohl für ein sachliches Arrangement als auch für eine kriegerische Auseinandersetzung mit dem österreichischen Rivalen bereit. In der gedanklichen Verarbeitung der politischen Erfahrungen der letzten Jahre hatte sich der Kriegsgedanke sicherlich immer stärker durchgesetzt, aber die Bereitschaft zu einem friedlichen Ausgleich auf der Grundlage befriedigter preußischer Interessenpolitik bis in den Mai 1866 blieb gleichwohl erhalten und bedeutete durchaus nicht nur Taktik. Wenn die Darstellung solcher Ambivalenz widersprüchlich ausfällt, so entspricht sie eben einem historischen Sachverhalt, der in sich selbst widersprüchlich war.

Preußische Machtpolitik beginnt sich der nationalen Motive zu bedienen

Moltke hatte in seiner Darstellung die Summe aus der diplomatisch-militärischen Vorgeschichte des Krieges gezogen: Preußen war nicht bedroht, sondern — um den wichtigsten Satz noch einmal zu wiederholen — „es war ein im Kabinett als notwendig erkannter, längst beabsichtigter und ruhig vorbereiteter Kampf ..." Diese Aussage entspricht sicherlich dem Ergebnis eines anderen Kronrats, der am 28. Februar 1866 stattfand* Er stellte die entscheidende Frage nach Krieg oder Frieden und gelangte zu dem Ergebnis, dem für unvermeidbar gehaltenen Krieg nicht auszuweichen, ohne indessen seinen Ausbruch bewußt herbeizuführen. Der Verlauf dieses Kronrats ließ keinen Zweifel darüber, daß in der erwarteten kriegerischen Auseinandersetzung „nicht bloß um die Herzogtümer, sondern auch um Preußens Stellung in Deutschland", das heißt mindestens um die preußische Hegemonie über das nördliche Deutschland gekämpft werden würde. Dieser Kronrat hat die diplomatische Vorbereitung des Krieges, also die „Gewinnung auswärtiger Bundesgenossen", eingeleitet.

Es ist überaus fesselnd zu beobachten, wie in die damalige Kabinettspolitik, vornehmlich in ihrer Begründung, gerade solche Vorstellungen eindringen, die der Chef des Generalstabs in seiner historischen Rechtfertigung aus-schließt. In einer für Moltke aufgesetzten Verhandlungsinstruktion hieß es bezeichnenderweise, daß „wir die Holsteinische Angelegenheit lediglich als eine Episode der großen deutschen Frage zu behandeln und letztere in den Vordergrund zu stellen haben werden“. Es handelt sich um preußische Großmachtspolitik, die für sich die Identität mit den „deutschen Interessen“ in Anspruch nimmt. Auf dieser Stufe der Entwicklung spielt das „nationale Motiv" noch keine Rolle. Es erweist sich aber als eine sehr brauchbare Waffe im Kampf gegen das Vielvölkerreich der Habsburger Monarchie und auch im Kampf um die öffentliche Meinung. Der Sinn des „nationalen Motivs" oder der „deutschen Frage" liegt zunächst in der taktischen Verwendbarkeit; indem das „Nationale" aber einmal verwendbar geworden war, entfaltete es gewissermaßen eine selbständige und eigene historische Wirkungskraft, der sich selbst derjenige, der sich seiner nur bis zu einer gewissen Grenze zu bedienen gedachte, auf die Dauer nicht entziehen konnte.

Zu den nationalen Gesichtspunkten, die in den Mittelpunkt der Argumentation geschoben wurden, kamen noch europäische Rücksichten hinzu. An der Verbindung werden die Zeichen eines Epochenwandels sichtbar. Jene Instruktionen, die davon überzeugen sollen, dieser Kabinettskrieg werde letztlich nur zur Verteidigung von „Vitalinteressen" geführt, lenken auf beide Komplexe die Aufmerksamkeit: „Die öffentliche Meinung Europas ist in dieser Beziehung empfindlich ... So zwingend und vor dem eigenen Forum gerechtfertigt auch die inneren Gründe einer solchen Aggression sein möchten: die öffentliche Meinung bedarf einer Rechtfertigung, um den scheinbaren Friedensstörer nicht zu verdammen". Das Wort „Aggression" ist gefallen und sollte für die Beurteilung der Vorgeschichte des Krieges von 1866 nicht übersehen werden, damit der Stil-wandel der preußisch-deutschen Politik seit 1871 richtig gewürdigt werden kann. „Vitalinteressen" erhielten nach der Gründung des deutschen Reiches einen ganz anderen Inhalt und eine andere Bedeutung. Das „Lebensinteresse", eine gängige und ernst zu nehmende Vokabel in der politischen Sprache der siebziger und achtziger Jahre, deckte die Erhaltung des Besitzstandes in den Grenzen von 1871 sowie den Bestand des habsburgischen Verbündeten. „Vitalinteressen" Preußens umschloß vor 1866 — jedenfalls in der Interpretation Bismarcks — die noch zu erobernde Machtstellung Preußens in Deutschland.

Krieg wurde gegen die öffentliche Meinung vorbereitet

Das Ziel solcher Machtstellung mochte wechseln zwischen der Idee der Gleichberechtigung mit Österreich im Bunde und einer hegemonialen Stellung Preußens nördlich der Mainlinie, wobei stets die Frage offen blieb, ob die jeweils erreichte Machtstellung nur die Vorstufe zu einer noch höheren preußisch-deutschen Machterweiterung gewesen wäre. Diese Frage wirkte begreiflicherweise sowohl in der öffentlichen Meinung als auch in der europäischen Diplomatie nach 1871 fort. Der Übergang von einer Politik, die das europäische Staaten-system revolutioniert und Preußen-Deutschland in drei siegreichen Kriegen erheblich vergrößert hatte, zu einer konservativen Politik, der nur an der Erhaltung des Gewonnenen und an der Aufrechterhaltung des Friedens lag, gab den Beobachtern Rätsel auf und konnte nicht von vornherein glaubwürdig erscheinen.

Der angedeutete Vergleich zwischen Bismarcks Begründung des Krieges von 1866 im Stadium der Vorbereitung und Moltkes allerdings nach-träglicher Erläuterung sollte noch durch eine Bemerkung abgeschlossen werden. Moltke leugnet mit Recht irgendeine Bedeutung, die der „öffentlichen Meinung" oder der „Stimme des Volkes" in der kriegsreifen Situation zugekommen wäre. Und doch stand gerade er selbst, der Chef des Generalstabs, anders als der preußische Ministerpräsident, in enger Fühlung mit den Bedürfnissen der öffentlichen Meinung, sofern sie jedenfalls die Sehnsucht nach einem nationalen Staat zum Inhalt hatte. Die Sympathien, die ihm frühzeitig die liberale öffentliche Meinung entgegenbrachte, hängen mit diesem Sachverhalt zusammen. Bismarck hatte hinreichend gezeigt, wie sehr er in der Lage war, die öffentliche Meinung zu verachten und gegen sie Politik zu machen. Und doch erkannte der Staatsmann in einer gewandelten Zeit gleichwohl ihre Bedeutung. So hielt er es aus Gründen der Staatsräson und um der Reputation willen für notwendig, auf diese öffentliche Meinung Rücksicht zu nehmen. Es verbiete sich nämlich, daß Preußen „vor den Augen Europas durch einen willkürlichen Angriff auf Österreich als Aggressor und Friedensbrecher dastehe". Die alte Beobachtung kann wiederholt werden: Die Zeichen des Übergangs werden an dieser Politik des Jahres 1866 sichtbar: Der Krieg wurde gegen die öffentliche Meinung vorbereitet, und doch wurde die Beziehung zwischen Politik und öffentlicher Meinung erkannt und bereits ernst genommen.

Es wurde schon der Versuch gemacht, die preußischen Kreise, in denen eine Meinungsbildung erfolgte, zu beschreiben. Es wäre noch auf die zahlreichen Friedenspetitionen, die den König erreichten und unbeantwortet blieben, hinzuweisen. Volksversammlungen, Handelskammern und Stadtparlamente beschlossen solche Adressen und wollten „das unermeßliche Unglück eines Bürgerkrieges” vermeiden. Die Urwählerversammlungen der vier Wahlbezirke Berlins sprachen sich gegen den Krieg aus. Die Friedensadressen stammen nicht nur aus den Städten der Rheinprovinz und Westfalens, sondern auch von den Stadtverordnetenversammlungen der östlichen Provinzen.

Es könnte zum Nachdenken anregen, weshalb sich gerade in Breslau eine Kriegsstimmung nachweisen läßt. Der bereits erwähnte Franz Ziegler, der weder durch persönlich erlittenes Unrecht noch durch das gegenwärtig schlechte Regierungssystem in Berlin am „wahren Preußen" irre wurde, rief einer erregten Volksversammlung in Breslau am 17. April 1866 zu: „Das Herz der Demokratie ist überall da, wo die Fahnen des Vaterlandes wehen." In solchem Ruf erklingt die militante Gesinnung preußischer Demokratie, die nicht nur, aber vornehmlich durch Bismarcks politische Erfolge sowie durch die Siege der reorganisierten preußischen Armee zurückgedrängt wurde, über Ziegler heißt es in dem auch heute noch lesenswerten, 1925 erschienenen Buch von Johannes Ziekursch über die Reichsgründung, er sei „ein die lebendige Erinnerung an den Alten Fritz im Herzen tragender Altpreuße“ gewesen. Die Adresse des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung in Breslau vom 15. Mai 1866 hatte folgenden Wortlaut: „Wir sprechen es aus und glauben hierin der Zustimmung unserer Mitbürger sicher zu sein, daß wir, wenn es die Macht und Ehre Preußens, seine Stellung in Deutschland und die mit dieser Stellung in notwendigem Zusammenhänge stehende Einheit unseres Vaterlandes gilt, den Gefahren und Nöten des Krieges mit derselben Opferwilligkeit und Hingebung entgegengehen, wie die schlesischen Männer es unter der Führung von Eurer Majestät hoch-seligem Vater getan. . . Schlesien wird lieber alle Lasten und Leiden des Krieges auf sich nehmen, als die Lösung der historischen Aufgabe Preußens, die Einigung Deutschlands wieder auf Jahrzehnte hinausrücken zu lassen." Die Stimme aus dem Grenzland Schlesien hatte sicherlich keine repräsentative Bedeutung. Charakteristischer für die allgemeine Stimmung war die Frage, die der „Kladderadatsch" nach Bekanntgabe des preußischen Bundesreformantrages am 9. April 1966 stellte: „Das Ministerium Bismarcks appelliert an die Nation und stützt sich auf das Volk. . . Wer lacht da? Ganz Europa und die angrenzenden Weltteile." Wir sind allerdings bei der geringen Entwicklung des Nachrichtenvertriebes zu jenem Zeitpunkt nicht in der Lage, die Empfindungen und Meinungen solcher breiten Kreise zu erfassen, die auf dem platten Lande oder in den Hinterhäusern der Städte lebten und noch unorganisiert waren. Die überlieferte königstreue Gesinnung trifft sicherlich auf die große Masse der Landbevölkerung zu.

Preußen will Krieg zur Veränderung Österreich zur Aufrechterhaltung des Status quo

Es kam indes letztlich gar nicht auf die „öffentliche Meinung", sondern auf die Entschließungen der Regierungen an. Sie sollten — wenn man nach Absichten und Motiven fragt — aber nicht nach Maßgabe „deutscher" oder „undeutscher Politik" beurteilt werden. Man darf jedoch nach den Qualitätsunterschieden der Diplomatie fragen, und man kann ferner die Frage nach der Einordnung des Geschehens in den Zusammenhang der Epoche stellen. Seit dem Krimkrieg hatte die habsburgische Diplomatie ihre großen und widersprüchlichen Aufgaben kaum noch meistern können. So groß auch die diplomatische Fronde im Auswärtigen Amt der Wilhelmstraße war, so zeigte sich die Berliner Politik doch der Wiener Diplomatie gegenüber überlegen. Gewiß hat die Geschichtsschreibung zu wenig beachtet und gewürdigt, daß der Deutsche Bund den österreichischen Antrag vom 11. April auf Mobilisierung der sieben nichtpreußischen Armeekorps des Bundesheeres „zum Schutz der inneren Sicherheit Deutschlands und der bedrohten Rechte der Bundesglieder" nicht in der von Wien beantragten Form und vor allem auch nicht die österreichische Motivierung akzeptiert hat; aber diese Korrektur eines bundesrechtlichen Verfahrens vermochte den von beiden Seiten, von Preußen und Österreich, in diesem Augenblick gewünschten Krieg nicht mehr zu verhindern. Es muß ferner zugegeben werden, daß Preußen auch bei einem anderen Abstimmungsergebnis am 14. April entschlossen war, den Bund zu sprengen. Die preußische Politik wünschte den Krieg, und in Wien war man „zum Kriege resigniert", wie Kaiser Alexander II.den politisch-seelischen Zustand des inneren Führungsringes der habsburgischen Monarchie treffend gekennzeichnet hat.

In der Vorgeschichte des Krieges von 1866 stellt Preußen ohne Zweifel die Macht dar, die das Bestehende zu seinen Gunsten überwinden will. Es ist bereit, den Status quo notfalls mit Hilfe des Krieges zu verändern. So repräsentierte Bismarck — und damit werden die Gedanken der Einleitung wieder ausgenommen — die militärisch-friderizianisdie Tradition seines Staates. Er hat sie zudem in seiner Selbstauffassung repräsentiert und bejaht. In den Überlegungen beider Seiten, sowohl Preußens als auch Österreichs, spielt der Krieg eine durchaus ähnliche Rolle. Der Ansicht der preußischen Führungsschicht, um die Verbesserung der Stellung Preußens in Deutschland, das heißt mindestens um die preußische Hegemonie über das nördliche Deutschland, kämpfen zu sollen, entsprach die Überzeugung Wiens, die überkommene Stellung des Kaiserstaates selbst auf die Gefahr eines gleichzeitigen Krieges mit Italien mit den Waffen verteidigen zu müssen.

War der Führungsanspruch Österreichs noch gerechtfertigt ?

Der Historiker darf vor solcher Konfliktssituation wohl die Frage stellen, ob Österreichs rechtlich begründeter Anspruch auf politische Führung durch die zeitgemäßen Bedingungen in Deutschland und durch die Leistungsfähigkeit des Kaiserstaates noch gerechtfertigt war. Es soll ferner noch einmal darauf hingewiesen werden, daß der noch im Kabinett vorbereitete Krieg zum Erfahrungsbereich der damaligen Generation gehörte. Bismarck kann außerdem nicht die Auflösung des Staaten-systems zugeschrieben werden; denn dessen Solidarität war in den Kämpfen auf der Krim längst zersetzt. Bismarck hat diesen Prozeß nicht etwa eingeleitet, aber er hat in einer erregenden geistigen Auseinandersetzung mit den Anhängern einer konservativen Ideologie — die zugleich seine Freunde und Standes-genossen waren — aus der Beobachtung dieses Prozesses die Konsequenzen gezogen. Zum politischen Stil der Zeit gehört die „temporäre Unterbrechung" der Politik durch den Krieg.

Im Jubel Preußens über den Sieg bei Königgrätz am 3. Juli 1866 hat ein Teil der Zeitgenossen kaum noch die großdeutsche Stimme vernommen und den größeren Zusammenhang des deutschen Geschichts-und Lebensbereiches fast ganz vergessen. Wenn wir inzwischen auch gelernt haben, die Geschichte nicht nur nach Maßgabe des Erfolges zu beurteilen und das Anliegen der Besiegten nicht als eine nebensächliche Angelegenheit zu betrachten, so erkennen wir gleichwohl in den 1866 gefallenen Entscheidungen die Voraussetzung zu einer neuen nationalen Lebensgemeinschaft im Rahmen eines europäischen Staatensystems. Wir sind weit von dem Hochmut entfernt, als ob es nur diesen Weg zur Lösung der deutschen Frage gegeben hätte. Es liegt im Wesen des Menschlichen, die geschehene Geschichte nach Maßgabe von Wunschvorstellungen zu prüfen und zu beurteilen, und wir werden nicht aufhören, verschiedene Vorstellungen über die geschichtlichen Gestaltungsmöglichkeiten zu hegen. Wir sollten uns allerdings hüten, Begriffe, wie etwa „Deutscher Bund", die an eine bestimmte Epoche gebunden sind und einen bestimmten politisch-sozialen Gehalt enthalten, auf eine vollkommene veränderte Situation anzuwenden. Eine leichtfertige Übernahme von Begriffen und Worten kann eine verhängnisvolle Lagebeurteilung hervorrufen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Aufsatz enthält gelegentlich und ohne Vermerk Gedanken und Formulierungen, die in gedruckten Arbeiten des Verfassers enthalten sind; vgl. W. Bußmann, Das Zeitalter Bismarcks, 3. durchgesehene und ergänzte Ausl., Konstanz 1965; Europa und das Bismarckreich, in: Die deutsche Einheit als Problem der europäischen Geschichte, hrsg. v. Otto Hinrichs u. Wilhelm Berges, Stuttgart o. J.; Otto von Bismarck, Geschichte — Staat — Politik, hrsg. v. Institut für Europäische Geschichte Mainz, Wiesbaden 1966.

  2. Franz Schnabel, Das Problem Bismarck, in: Hochland, Jg. 42, 1949, S. 7.

  3. Onno Klopp, Der König Friedrich II. von Preußen und die deutsche Nation, Schaffhausen 1860, 2. Ausl. 1867, S. 541.

  4. Vgl. dieses Zitat bei Siegfried A. Kaehler, Studien zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1961, S. 348.

  5. Heinrich v. Treitschke, Briefe, Bd. 2, S. 478.

  6. Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode, Robert Heinrich Graf von der Goltz, Oldenburg 1941, S. 432 ff.

  7. Zitiert nach Ludwig Dehio, Die deutsche Demokratie und der Krieg von 1866. Aus dem Briefwechsel von Karl Rodbertus und Franz Ziegler, 1927, S. 240.

  8. Letters of the Empress Frederick, hrsg. v. H. Ponsonby, London 1928, S. 58 ff. u. S. 64 f.

  9. Stolberg-Wernigerode, a. a. O., S. 418 f.

  10. Graf Helmut v. Moltke, Geschichte des deutschfranzösischen Krieges, 18912, S. 426, in: Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten, 3. Bd.

  11. Protokoll des Kronrats, in: Auswärtige Politik Preußens, Bd. VI, Nr. 100, S. 174 ff.

  12. Protokoll des Kronrats, a. a. O., Nr. 499, S. 611 ff.

  13. Siehe Walter Bußmann, Europa und das Bismarckreich, a. a. O., S. 159.

  14. Zit. n. Johannes Ziekursch, Die Reichsgründung, 1925, S. 155.

Weitere Inhalte

Walter Bußmann, Dr. phil., o. Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Direktor des Friedrich-Meinecke-Instituts, geb. 14. Januar 1914 in Hildesheim. Veröffentlichungen u. a.: Treitschke — Sein Welt-und Geschichtsbild, Göttingen 1952; Das Zeitalter Bismarcks, in: Handbuch der deutschen Geschichte, 3. durchgesehene und ergänzte Auflage, Konstanz 1965; Staatssekretär Graf Herbert von Bismarck. Aus seiner politischen Privatkorrespondenz, Göttingen 1964.