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Das Jahr 1866 in der deutschen und europäischen Geschichte | APuZ 24/1966 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 24/1966 Das Jahr 1866 in der deutschen und europäischen Geschichte Preußen und das Jahr 1866 Die Politik Österreichs bis zum Ausbruch des Krieges im Jahre 1866

Das Jahr 1866 in der deutschen und europäischen Geschichte

Theodor Schieder

In wenigen Wochen jährt sich zum hundertsten Male die militärische Entscheidung von Königgrätz, die die folgenschwere politische Entscheidung des Kampfes um die Vorherrschaft in Deutschland zwischen der alten Hegemonialmacht Österreich und dem vorwärtsdrängenden Preußen brachte. Die Geschichte ist über die Ergebnisse von 1866 hin-weggegangen. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb erkennen wir heute, in welchem Maße 1866 ein Epochenjahr in der Geschichte gewesen ist, wie sehr die Ereignisse dieses Jahres die Folgezeit bis in unsere Gegenwart hinein bestimmt haben.

Diese Ausgabe enthält eine Gesamtbetrachtung von Theodor Schieder sowie Analysen der preußischen Politik von Walter Bußmann und der österreichischen von Hugo Hantsch. In der nächsten Ausgabe folgen Beiträge zur Politik der deutschen Mittelstaaten und zum Ende des Deutschen Bundes von Ernst Deuerlein und ein Aufsatz von Werner Pöls über die Gründung des Norddeutschen Bundes.

Zwiespältige Empfindungen

Unter den großen Daten der nationalstaatlichen Einigungsgeschichte Deutschlands nimmt das Jahr 1866 eine eigentümliche Stellung ein: Auf 1848 blicken wir in unserem Jahrhundert mit einer Mischung von Bewunderung und Trauer als auf ein Jahr großer, im letzten gescheiterter Möglichkeiten; das Jahr 1870/71 steht vor uns als das Datum der endgültigen Entscheidungen, die die kommende nationale Geschichte der Deutschen bestimmt haben.

Das Jahr 1866, zwischen 1848 und 1870/71, bleibt der Moment, in dem Möglichkeit und Wirklichkeit merkwürdig gemischt erscheinen, vieles noch undeutlich hervortritt und doch eine Entscheidung fällt, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigläßt. Wir befinden uns gleichsam auf der Peripetie des Dramas, auf die noch die Lösung folgt. Aber wie wird diese Lösung sein? Hier bleiben noch eine Reihe von Möglichkeiten offen, wenn auch einige endgültig ausgeschieden sind.

Das Jahr 1866 — die Schlacht von Königgrätz, das Ringen Bismarcks mit dem König in Nikolsburg um den Frieden, der Friede von Prag, das tragische Ausscheiden Österreichs aus dem engeren Verband Deutschlands, die Begründung des Norddeutschen Bundes — ist kein Datum, an dem die nationalen Emotionen sich unmittelbar entflammt haben und entflammen — anders als 1813 oder 1870 —, es seien denn zwiespältige Gefühle, in denen sich Trauer über den „Bruderkrieg" mit dem fatalistischen Bewußtsein mischen, einer unabänderlichen Entwicklung gegenüberzustehen. Dennoch sind in diesem Jahre gewaltige Stimmungsumbrüche vor sich gegangen, wie kaum in so kurzer Zeit in der deutschen Geschichte.

Walter Bußmann Preußen und das Jahr 1866 .................. S. 19 Hugo Hantsch Die Politik Österreichs bis zum Ausbruch des Krieges im Jahre 1866 . . S. 29 Gesinnungen wandelten sich von heute auf morgen, viele Zeitgenossen wurden vom Saulus zum Paulus, andere glaubten den Untergang der Zeiten unmittelbar bevorstehend nach dem bekannten Wort des Kardinalstaatssekretärs Antonelli „II mondo casca". Viele fanden aus völliger Ratlosigkeit zu einer neuen Ansicht der Dinge und des nationalen Schicksals, und niemals schienen Erfolg und Opportunität so großgeschrieben worden zu sein wie in diesem Augenblick.

Der Sieg der Realitäten der Macht über die Ideen und Ideale, den manche zu erleben glaubten, deutete auf mehr als auf Erscheinungen des Augenblicks. Hinter ihm stand eine Verwandlung der Geschichte und der geschichtlich wirksamen Kräfte, die über den Moment hinauswies. War sie nicht einer der tiefsten Einschnitte in der inneren Geschichte der Deutschen? Hat sich das Deutschland des liberalen und nationalen, des humanitären Denkens nicht damals sichtbar in das Deutschland des machtpolitischen und wirtschaftlichen Kalküls, der organisierten Technik und der rationalen Wissenschaft gewandelt? War der größte Staatsmann der Zeit, Otto von Bismarck, nicht zugleich der Schöpfer dieser Wende und ihr stärkster geistiger und politischer Repräsentant? 1866 ist zunächst eine, wohl die wichtigste Etappe auf dem Wege Deutschlands zum nationalen Staat in seiner kleindeutschen Begrenzung und enthält alle die verschiedenen Möglichkeiten, die für diesen nationalen Staat bestanden. 1866 ist zugleich ein inneres Ereignis für Deutschland, ein Umbruchsjahr, in dem durch eine rein politisch-militärische Entscheidung das Denken sich verändert. 1866 ist schließlich ein europäisches Ereignis, auch darin, daß es eine auf Mitteleuropa, auf Deutschland und Italien, begrenzte Krise darstellt, die in ihren Wirkungen jedoch weit über Mitteleuropa hinausweist. Wir wollen die Bedeutung dieses Jahres in diesen seinen drei Dimensionen aufzuhellen versuchen.

Vom Deutschen Bund zum kleindeutschen Nationalstaat

Das Jahr 1866 als Etappe auf dem Wege Deutschlands zum nationalen Staat, das bedeutet auf der einen Seite Abschluß und Ende der deutschen politischen Gesamtform seit 1815, des Deutschen Bundes und Beginn der neuen nationalstaatlichen Ordnung mit dem Norddeutschen Bund von 1867. Für ein halbes Jahrhundert — von einem kurzen Zwischenspiel abgesehen — hatte die gesamtdeutsche Politik im Zeichen des Deutschen Bundes gestanden, dem von den Nationalen und Liberalen gelästerten und verdammten, von den Konservativen und den Anhängern der Restauration als notwendige und unvermeidliche Kompromißlösung begrüßten politischen Gebilde. Er setzte mit seinen staatenbündischen Zügen das alte Römische Reich gesteigert fort, verzichtete aber auf jede zusammenhaltende Klammer und Spitze, nachdem Österreich die Wiederaufnahme des römischen Kaisertums abgelehnt hatte.

Der neue Staatenbund knüpfte auch sonst nicht einfach an die Territorial-und Macht-ordnung des alten Reiches an, sondern brachte erhebliche Verschiebungen namentlich im Verhältnis der Großmächte: Österreich zog sich von der Verteidigung des Rheins zurück und Preußen rückte in dieser Funktion an seine Stelle; dieses umfaßte mit seinem Besitz jetzt das Gebiet von der Memelmündung bis zum Niederrhein, allerdings ohne einen durchgehenden territorialen Zusammenhang. Die Rheinbundstaaten, das heißt die um mediatisierte und säkularisierte Gebiete vergrößerten Mittelstaaten vor allem Süddeutschlands hatten sich erhalten und traten in den Bund als eine neue Kategorie von Staaten ein, die gegenüber dem alten Reich ein neues Element darstellten.

Das Deutschland des Bundes blieb zwar in seiner Ausdehnung dem Reich gleich, aber seine innere Struktur war völlig verändert. Man könnte von einem dualistischen System mit polyzentrischen Elementen sprechen, das heißt von zwei rivalisierenden Großmächten mit mehreren mittleren und kleinen Staaten, die sich gegenseitig im Gleichgewicht hielten. Dieses System funktionierte nur unter einer Bedingung, die schon Wilhelm von Humboldt als das ganze Heil des Bundes bezeichnet hatte, nämlich der Bedingung, daß sich die beiden Großen über alle ihre Schritte in der Bundespolitik vorverständigten. Dies ist bis 1848 in der Regel geschehen und konnte deshalb geschehen, weil die beiden Großmächte mit ihrer Bundespolitik nur begrenzte Ziele verfolgten: Österreich die Sicherung gegen die liberale und nationale Bewegung und die Festigung seines Einflusses auf die Mittel-und Kleinstaaten; Preußen die vorsichtige Eindämmung des österreichischen Primats bei gleichzeitigem Verzicht darauf, den Bund zu stärken und zu aktivieren, während es durch unmittelbare Verhandlungen mit einzelnen deutschen Staaten Vorteile suchte und sie zum Beispiel in der Zollvereinigung erreichte.

Man darf nun nicht übersehen, daß dieses fein abgewogene politische System nicht nur eine deutsche, sondern vor allem eine europäische Funktion haben sollte. Es war geschaffen, um die europäische Mitte so stark zu machen, daß sie die kontinentalen Mächte Frankreich und Rußland auseinanderhielt und ihren Zusammenstoß verhinderte, aber nicht so stark, daß der Bund eine eigene politisch ins Gewicht fallende Macht entwickelte. Er sollte der Friedensstaat von Europa sein, als den ihn der Historiker A. H. L. Heeren gerühmt hat, aber kein den Frieden durch eigene Macht sichernder Staat, sondern ein in sich ruhendes, ausgewogenes System, das keinen Druck ausüben, aber Druck von außen auffangen sollte.

Nationale Frage und Rivalität der beiden Großmächte

Seit den revolutionären Erschütterungen von 1848— 1850 ist dieses System nicht mehr funktionsfähig gewesen. Es verlor auch nach seiner Wiederherstellung seine ursprüngliche Sicherheit, auf wie schwachen Grundlagen diese auch beruht haben mochte. Womit hängt dies zusammen?

Es sind im wesentlichen zwei Gründe: Der erste besteht darin, daß seit 1848 die nationale Reform Deutschlands eine Macht geworden war, die auch nach ihrem Scheitern fortwirkte als eine zunächst potentielle Größe, aber als eine die wiederhergestellte alte Ordnung ständig bedrohende Gefahr. Sie war, seitdem es die Frankfurter Nationalversammlung gegeben hatte, größer als alle Bedrohungen der zwanziger und dreißiger Jahre.

Der zweite Grund war die durch die Abwehr der nationaldeutschen Bewegung erwachte Rivalität der beiden Großmächte, die sich nicht mehr in die alte Ordnung fügen wollte. Aus dem Heil des Bundes, wie es nach 1815 in der Vorverständigung Österreichs und Preußens bestanden hatte, war das Unheil des Bundes, der Macht-und Rivalitätskampf der beiden Großen geworden. Noch war es für diese wichtig, sich der Anhängerschaft der Mittel-und Kleinstaaten zu versichern, aber wichtiger wurde es auf die Dauer, bei der nach und nach aus ihrer Betäubung erwachenden nationalen Partei Popularität und Sympathien zu erhalten. Dies war ein völliges Novum gegenüber der Zeit vor 1848.

Preußen in seiner nationalen Struktur schien dies objektiv leichter zu vermögen als das multinationale Österreich, das vergeblich nach einem Ausgleich der nationalen Kräfte und Gruppen suchte. Für Preußen gab es zwei Wege, sich der nationalen Bewegung zu nähern, sie sich im geringerem oder stärkerem Maße dienstbar zu machen. Den einen Weg proklamierten die Liberalen, wenn sie von den moralischen Eroberungen sprachen, die Preußen in Deutschland zu machen habe: Es sollte sich also liberalisieren, den Weg zum liberal-konstitutionellen Verfassungsstaat fortschreiten und auf diese Weise die politische Führung in Deutschland ergreifen. Der andere Weg war der machtpolitische der Ausdehnung der Macht Preußens und der Einverleibung Deutschlands in seine Interessen-sphäre, vielleicht auch unmittelbar in seinen Staat. Deutschland wäre dann mit einem Groß-preußen zusammengefallen, es wäre nichts anderes als Großpreußen geworden.

Einer radikalen Lösung der Krise entgegen

Es versteht sich von selbst, daß beide Wege im letzten zu einer Auseinandersetzung mit Österreich führen mußten, das sich weder einer moralischen noch einer machtpolitischen Führung Preußens unterordnen konnte. Österreich mußte dann aus Deutschland weichen. Aber konnte es dies auf Grund seines Prestiges, seiner Lebensinteressen jemals freiwillig tun? Es geht hier nicht an zu verfolgen, wie sich diese Probleme seit 1850 zugespitzt haben. Im Keime vorhanden sind sie seit den Tagen von Olmütz, seit dem Zurückweichen Preußens und seiner nationalen Unionspolitik vor dem groß-österreichisch-mitteleuropäischen Machtwillen Österreichs und seines Staatsmannes Fürst Schwarzenberg.

Der preußische Bundestagsgesandte in Frankfurt, von Bismarck, trat in eine von vornherein gegebene Situation ein, die er nicht geschaffen, sondern nur durch seine Energie und Vitalität, durch seinen unbändigen Macht-und Kampfwillen aufs äußerste verschärft hat. Hat er, der als Freund Österreichs, und zwar als legitimistisch-konservativer Freund Österreichs galt, als er nach Frankfurt ging, seit den Tagen von Frankfurt den Willen zur militärischen Entscheidung über den deutschen Dualismus als einzige Möglichkeit verfochten oder ließ der preußische Machtwille noch andere Wege offen, wie zum Beispiel die Teilung Deutschlands durch die beiden Großmächte an der Mainlinie, eine friedliche Lösung des Du-alismus also, wie sie schon Heinrich von Sybel in seinem Werk über die Reichsgründung für möglich gehalten hatte? Damit stehen wir schon mitten in der Problematik der Vorgänge des Jahres 1866 und der Ereigniskette, die ihnen vorausging.

Der Krieg von 1864 hatte beide rivalisierenden Mächte noch einmal, zum letztenmal, zusammengeführt. Die gemeinsame Beute, die Herzogtümer Schleswig-Holstein, brachte sie auseinander und wurde die Ursache des unheilbaren Zerwürfnisses, das dann gleich auf die Lösung der deutschen Frage hinübersprang. Bismarck trieb eine Politik, die dieses Zerwürfnis von Tag zu Tag verschärfte; aber er schien immer wieder, zuletzt in Gastein 1865, zu einem friedlichen Dualismus zurückzukehren. Im Frühjahr 1866 war auch dieser letzte, in sich selbst schon fragwürdige Ausgleichsversuch als gescheitert anzusehen. Bismarcks Methoden näherten sich jetzt mehr und mehr einer radikalen und revolutionären Lösung der Krise. Der Bund mit Italien von April 1866 und der fast auf den Tag gleichzeitige Antrag auf Bundesreform mit einem Parlament aus allgemeinen Wahlen sind die beiden die Habsburger Monarchie erschütternden Stöße, aus denen der Krieg wie ein unabwendbares Schicksal hervorging. Dieser entzündete sich dann an der Scheswig-Holstein-Frage. Der Deutsche Bund, ein Staatenbund, der den Krieg unter seinen Gliedern ausschließen sollte, zerbrach. Die Entscheidung fällt, nachdem die „verwegene Größe der Heerführung Moltkes" (Ziekursch) die getrennt operierenden preußischen Heere in Böhmen zum gemeinsamen Schlagen zusammengeführt hatte, bei Königgrätz.

Politische Entscheidungsmöglichkeiten nach Königgrätz

Die Frage nach dem Maß und der Richtung des politischen Sieges folgt dem militärischen Sieg auf dem Fuße, als Bismarck für einen raschen, den Feind schonenden Frieden eintritt, während die Militärs für die Verfolgung des Feindes bis in das Zentrum seiner Macht plädieren und der König auf die Bestrafung des geschlagenen Gegners dringt. Damit waren die politischen Probleme der Krise so aktuell wie vor ihrer militärischen Entladung, und die Frage ist berechtigt, welche politischen Entscheidungsmöglichkeiten das Krisenjahr 1866 überhaupt enthielt, um welche Alternativen es in ihm ging.

Diese Frage ist im allgemeinen Geschichtsbewußtsein und auch in der Forschung sehr verschieden beurteilt worden. Für das populäre kleindeutsch-preußische Geschichtsbild bestanden kaum Zweifel an einem beinahe teleologischen Ablauf der Dinge, an Bismarcks seit Jahren feststehendem Plan, Österreich durch Krieg aus Deutschland zu entfernen und ein preußisch geführtes Kleindeutschland herzustellen. Nachdem die Quellen zu Bismarcks deutscher Politik genauer und vollständiger bekannt geworden waren, geriet diese Anschauung in eine Krise und jetzt trat ein anderes Konzept hervor, das eine klare Alternative zum klein-deutsch-nationalen Programm darstellte: der friedliche Dualismus mit einer Abgrenzung der Machtsphären zwischen Preußen und Österreich etwa am Main, jedenfalls im klaren Widerspruch zu jeder nationalen Lösung. Rudolf Stadelmann war der wichtigste Vertreter dieser Auffassung. Schließlich hat Otto Becker in einem nachgelassenen Werk im Gegensatz zu Stadelmann die Meinung vertreten, es habe sich bei Bismarck nicht um zwei polar entgegengesetzte Systeme gehandelt, ein kleindeutsches, das des Bündnisses mit Italien und der Revolution bedurfte, und ein konservativ ausgerichtetes dualistisches, das bereit war, für die Machterhöhung der Hohenzollernmonarchie auf eine nationalstaatliche Einigung für immer zu verzichten. Vielmehr handelte es sich nur um verschiedene Mittel und Wege einer Politik, die von der Überzeugung der Identität der Interessen Preußens und des deutschen Volkes ausging und deren Richtung immer die gleiche blieb.

Damit wäre wieder eine Annäherung an die herkömmliche These von der beinahe providentiellen Einheit der preußischen und deutschen Geschichte vollzogen, mit der man sich heute nicht mehr zufrieden geben kann. Sicher ist nur, daß in der Lage Deutschlands und Europas um 1866 kaum mehr eine andere als eine gewaltsame Lösung der deutschen Frage denkbar war, wenn man einmal die Realität der großstaatlichen Machtinteressen und des nationalen Prinzips in der öffentlichen Meinung in Rechnung stellt. Aber dies heißt nicht, daß die Entscheidungen von 1866 so und nicht anders haben ausfallen müssen. Es gab auch im System des gewaltsam gelösten Dualismus noch eine Fülle von offenen Entscheidungs-möglichkeiten.

Hätten sich für das Verhältnis zu Österreich schon 1866 Formen der Verbindung denken lassen, die an Bismarcks spätere Idee vom ver-fassungsmäßig gesicherten Bündnis erinnern? Der Gedanke wäre faszinierend. Indessen war dafür sicher die Stunde verfrüht und die Bereitschaft auf beiden Seiten nicht vorhanden; war es doch schwierig genug, König Wilhelm von der Idee eines Straffriedens abzubringen.

Preußens Annexionen in Norddeutschland

Anders ist es mit den norddeutschen Annexionen, also jenem Griff Preußens nach Thronen und Ländern seiner Nachbarn, die sich quer zwischen Preußens Staatsgebiet im Westen und Osten legten und damit eine Hemmung für die Macht Preußens darstellten: Hannover, Kurhessen, Nassau, Frankfurt. Ihre Annexion erinnerte an Vorgänge der Rheinbundzeit und erschütterte das monarchisch-konservative Bewußtsein aufs schwerste; aber es lag eine Tendenz der deutschen Geschichte darin, die seit dem 16. Jahrhundert mit dem Mittel der Säkularisierung und Mediatisierung gearbeitet hatte, um den Staatsbildungsprozeß seiner größeren Territorien zu fördern. Es lag aber auch eine Tendenz der preußischen Geschichte darin, den eigenen Staatsbildungsprozeß mit dem gesamtdeutschen zu verbinden.

Dieser Gedanke war zuerst im Zusammenhang mit der Annexionsfrage der Eibherzogtümer aufgetreten, als Treitschke die Formel fand, der Preußische Staat werde durch das Gesetz seines Lebens gezwungen, für Deutschland zu sorgen. Piemont, das in Italien aufging und an das sich die italienischen Staaten in einer gewaltigen Volksbewegung anschlossen, mag hier Vorbild gewesen sein. Man mußte jedoch sofort darauf stoßen, daß es sich hier um einen plebiszitär begründeten Vorgang und nicht einfach um Annexionen gehandelt hat. In der Form, in der sie sich vollzogen, waren die preußischen Annexionen für den Weg zum deutschen Nationalstaat unnötig, ja in mancher Hinsicht ein Hemmnis.

Die preußischen Annexionen von 1866 zeigen an, daß die stärkste Macht der Zeit der preußische Machtstaat mit seiner Staatsräson, seinen politischen Bedürfnissen und Notwendigkeiten gewesen ist. Und doch ist es gerade diese preußische Staatsräson, die auch unter Umständen andere Wege offen gelassen hätte. Bismarck hat auch hier keineswegs doktrinäre Meinungen vertreten, sondern sich nach der politischen Lage gerichtet. So ließ er noch in der Instruktion für den Botschafter Grafen Goltz in Paris vom 9. Juli durchblicken, daß die Annexionen an sich, sollte sich gegen sie unüberwindlicher Widerstand des französischen Kaisers zeigen, nicht das eigentliche und letzte Ziel der preußischen Politik waren: „Meinesteils finde ich", lesen wir hier, „den Unterschied zwischen einer uns günstigen Bundesreform und dem unmittelbaren Erwerb jener Länder praktisch nicht groß genug, um dafür das Schicksal der Monarchie von neuem aufs Spiel zu setzen. Unser politisches Bedürfnis beschränkt sich auf die Disposition über die Kräfte Norddeutschlands unter irgendeiner Form".

Freilich, als Kaiser Napoleon auch die Annexionen hinzunehmen bereit schien, setzte sie Bismarck durch. Er nimmt auch den Einbruch in die monarchische Legitimität, die Abschrekkung vieler mittelstaatlicher und kleinstaatlicher Deutscher und vieler bürgerlicher Liberaler durch das brutale Vorgehen gegen Frankfurt in Kauf in der Ansicht, daß in einer revolutionären Situation radikales Handeln geboten sein müsse. So trat er auch dem König entgegen, der den Sieg über Österreich und seine Bundesgenossen durch ein System von Teilabtretungen der Unterlegenen zu krönen wünschte und sich gegen alles, was darüber hinausging, wie volle Annexion, oder was darunter blieb, wie volle Unversehrtheit, auflehnte. Bismarck hielt solche Verletzungen für gefährlicher als alle anderen Lösungen.

Hat ihm die Geschichte in allen seinen Über-legungen recht gegeben? Sicherlich höchstens darin, daß im Sturm des Umbruchs von 1866 die Aufmerksamkeit auf andere Ereignisse gerichtet sein würde und dadurch die Ungeheuerlichkeit einer Revolution, vollzogen durch eine konservative Macht und einen konservativen Staatsmann, weniger auffällig sein würde, aber sicher nicht darin, daß in den betroffenen Ländern die Erinnerung an diesen gewaltsamen Umsturz jemals ganz in Vergessenheit geraten würde. Das nationale Bürgertum hat ihn nur als einen Akt der nationalen Politik Preußens verstehen wollen; wer sich dieser Deutung nicht anschließen wollte, für den blieb das Geschehen von 1866, vor allem ein so spektakuläres Ereignis wie die Vergewaltigung Frankfurts, unannehmbares Unrecht.

Noch in den neunziger Jahren bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts hat eine kleine, einflußlose hessische Rechtspartei die Forderung nach einer Wiederherstellung des hessischen Landes erhoben; in Hannover bildete sich die viel stärkere Bewegung der Weifenpartei; im Jahre 1892 wurde der Versuch unternommen, eine Deutsche Rechtspartei vor allem aus den partikularistischen Gruppen in Hannover, Kur-hessen und Mecklenburg zu begründen. Dies alles waren keine großen politischen Aktionen, hinter denen große Massen standen, aber Symptome dafür, daß es noch Kräfte gab, die 1866 nicht vergessen hatten, als das Reich längst auf den Bahnen der Weltpolitik wandelte. Sie kamen nicht zum Zuge, weil der preußische Annexionismus von 1866 in der Entwicklungslinie zum Nationalstaat, der nationalen Revolution von oben stand, mindestens in sie hineingestellt wurde und in ihm eine mögliche Annäherungsform an den preußisch geführten Nationalstaat gesehen werden konnte, nicht mehr die Verwirklichung einer souveränen, auf sich allein gestellten preußischen Staatsidee, die etwa bei der Eroberung Schlesiens Pate gestanden hatte.

Entscheidung über den deutschen Nationalstaat fiel 1866

Aber die Bedeutung des Jahres 1866 für die deutsche Geschichte erschöpft sich nicht in den preußischen Annexionen. Zu ihm gehört auf der anderen Seite der Verzicht Preußens auf die volle Annexion Norddeutschlands und der Verzicht auf die volle Angliederung Süddeutschlands. Beides ist zunächst aus der taktischen Lage des leitenden preußischen Staatsmanns im Jahre 1866 zu erklären, vor allem aus dem Zwang, der von der französischen Intervention ausging und Bismarck an die Zustimmung des Kaisers Napoleons III. band.

Aber genügt dies für eine Erklärung? Bismarck war wie immer in seinen Entschlüssen so auch jetzt ein auf den Moment gerichteter Taktiker und zugleich ein von allgemeinen Gesichtspunkten ausgehender politischer Stratege. Er hat die bundesstaatliche Form Norddeutschlands bei stärkstem hegemonialen Übergewicht Preußens der reinen annexionistischpreußischen vorgezogen, weil sie ihm den Bedürfnissen Kleindeutschlands, das jetzt von Preußen geführt wurde, besser zu entsprechen schien. Er hat also von Anfang an an einen Brückenschlag über den Main gedacht und die Selbständigkeit Süddeutschlands nur für einen befristeten Zeitraum hingenommen.

Die Rücksicht auf Süddeutschland entschied aber über die Form Norddeutschlands. Nur als Bundesstaat konnte der Norden trotz des seit den Annexionen übermächtigen Preußens auf den Süden Anziehungskraft ausüben, Vorbehalte zurückdrängen, Rücksichten auf das staatliche Selbstbewußtsein bei den Südstaaten nehmen. Die Norddeutsche Bundesverfassung sagt es in ihrem Artikel 79 selbst, daß an einen Eintritt der süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund gedacht war und daß das Verharren der preußisch-nationalstaatlichen Reform am Main sicher nicht mehr aus einem Festhalten Bismarcks an dualistischen Lösungen begründet werden kann, für die seit dem Ausscheiden Österreichs aus der engeren deutschen Politik auch der Partner fehlte.

Bismarck hat 1866 das dualistische System mit Österreich zerschlagen. Er wollte an seine Stelle kein dualistisches System mit den Süd-staaten setzten, sondern ein hegemonial-preußisches, gemildert durch föderalistische Elemente, vorbereiten. Die Beschränkung der politischen Neuorganisation auf den Norden war nur der außenpolitische Preis, der Napoleon neben der niemals verwirklichten Forderung nach einem international unabhängigen Süd-bund gezahlt werden mußte. Die süddeutschen Länder, formal in diesem Augenblick im Besitze einer fast unbeschränkten Souveränität ähnlich wie nach dem Zusammenbruch des alten Römischen Reiches deutscher Nation, waren tatsächlich mehr gebunden als vor der Entscheidung von Königgrätz: Es sei dem Genie des Grafen Bismarck vorbehalten geblieben, den Friedensvertrag mit Österreich und seinen Vereinbarungen über den unabhängigen Süden anticipando zu verletzten, indem die süddeutschen Staaten durch die geheimen Schutz-und Trutzbündnisse militärisch eng an Preußen und die preußische Militärverfassung gefesselt wurden, hat der sächsische Minister Beust später gesagt.

Wirtschaftlich und zollpolitisch ist diese Abhängigkeit durch die neuen Zollvereinsver-träge von 1867 und die Einrichtung von politischen Organen wie Zollbundesrat und Zoll-parlament noch erheblich verstärkt worden. Das Wesentliche dieser neuen Ordnung bestand darin, daß das wirtschaftliche Klein-deutschland, dem früher keine analoge staatliche Organisation entsprach, jetzt ein Glied eines politisch-militärischen Systems geworden war. Tatsächlich war also 1866 das preußisch geführte Kleindeutschland in weit höherem Maße verwirklicht, als dies der Friedensvertrag mit Österreich allein erkennen ließ.

Der Sieg über Österreich hatte eine Dynamik entfesselt, die nicht mehr aufgehalten werden konnte. So ist die wichtigste Entscheidung über Deutschland und seine nationalstaatliche Form schon 1866 und nicht erst 1870/71 gefallen. Daran können auch die retardierenden, ja widerstrebenden Kräfte in den süddeutschen Ländern nichts mehr ändern, die in der Übergangszeit zwischen 1867 und 1870 noch einmal, vor allem in Bayern, zum Zuge gekommen sind.

Entscheidung gegen den liberalen Verfassungsstaat

Königgrätz war in der deutschen Geschichte die Entscheidung für die preußische Lösung der deutschen Frage, war die Entscheidung gegen jeden Dualismus, gegen einen lockeren großdeutschen Bund, für einen engeren staatlich zusammengefaßten Bundesstaat, war die Entscheidung auch gegen ein liberales-bürgerliches Deutschland. Auch dieser letzte Gesichtspunkt darf nicht übersehen werden: denn mit Königgrätz geht der große preußische Verfassungskonflikt zu Ende.

Die Liberalen sind nicht einfach die Unterlegenen. Sie dringen mit ihren Wirtschaftsprinzipien, ihrem Nationalgedanken in den preußischen Staat ein, aber es gelingt ihnen nicht, die Führung an sich zu reißen. Die neue Verfassung des Norddeutschen Bundes, so wenig sie ohne die liberale Mitwirkung im Norddeutschen Konstituierenden Reichstag zu denken ist, bringt doch alles andere als den liberalen Verfassungsstaat mit parlamentarisch verantwortlicher Regierung; sie enthält liberale und auch parlamentarische Elemente, aber sie bleibt doch an einen Kompromiß mit den mächtigen Realitäten des militärisch-monarchischen Staates gebunden, der auf seine Überlegenheit über das liberale Bürgertum seit den großen militärischen und politischen Erfolgen von 1866 pochte, die zwei Männer der konservativen Oberschicht, Moltke und Bismarck, errungen hatten.

Wie fand sich der nationale Liberalismus, das liberale und nationale Bürgertum, die deutsche Nation überhaupt mit diesem Ergebnis ab? Diese Frage enthält noch die andere nach der Bedeutung des Jahres 1866 für die geistige Entwicklung der deutschen Nation, die wir uns noch stellen wollten. Im politischen Geistesleben Deutschlands, seiner Publizistik und seinem politischen Schrifttum gab es vor 1866 eine Vielfalt von Tendenzen, Meinungen und Richtungen. Dem wiedererstarkten nationalen Liberalismus mit seiner preußisch-protestantischen Tendenz standen die verschiedensten Tönungen des großdeutsch-universalen mitteleuropäischen Denkens gegenüber, zum Teil unter katholischem Einfluß, zum Teil einfach von den jeweiligen politischen Interessen der Mittel-und Kleinstaaten oder Österreichs bestimmt.

Es gab Publizisten vom Format Edmund Jörgs, des Herausgebers der Historisch-Politischen Blätter, die auf diesem Boden standen; es gab Staatsmänner wie den bayrischen Ministerpräsidenten Ludwig v. d. Pfordten, der nationales Denken mit großdeutscher, aber auch bayrisch-mittelstaatlicher Nuancierung vertrat. Es gab die starke Gruppe der preußischen Liberalen, die im Konflikt mit dem Ministerium Bismarck seit 1864 die innere Sicherheit in der Bekämpfung des verhaßten Ministers zum Teil schon verloren hatten und Heinrich von Treitschke in der Befürwortung der schleswig-holsteinischen Annexion zu folgen begannen.

Die Schleswig-Holstein-Frage, die lange den Vereinigungspunkt der liberalen Gruppen aller Richtungen gebildet hatte, wurde damit zu einem Ferment der Auflösung des politischen Liberalismus. Gegenüber der von der preußischen Regierung ausgehenden Aktivität, die ihre Faszination auch auf viele Liberale nicht verfehlte, so viele sie nach wie vor verabscheuten, war das Bürgertum, aber ebenso wie dieses auch die mittelstaatliche Führungsschicht in eine immer verzweifeltere Situation der Unsicherheit, Verlegenheit, ja Ratlosigkeit geraten. Alle Positionen, auch die liberale im Verfassungskonflikt, hatten an Festigkeit verloren. Die öffentliche Meinung in Deutschland stand dem sich anbahnenden Konflikt zwi-schen Preußen und Österreich mit wachsendem Entsetzen, aber ohne eine wirkliche Alternative gegenüber. Ein bayrischer Liberaler gab dieser Stimmung mit den Worten „Jeder Sieg eine Niederlage" prägnanten Ausdruck.

Kapitulation des nationalliberalen Bürgertums vor dem Erfolg?

Aus dieser völligen Ratlosigkeit ist die Stimmung durch die Schlacht von Königgrätz und die sich daran anschließenden Ereignisse jäh und unvermittelt, im einzelnen mit beängstigender Plötzlichkeit in ihr Gegenteil umgeschlagen. Der „abenteuerliche Spieler" in Berlin hatte das Spiel gewonnen und hatte damit mit einem Mal die Meinung vieler für sich, die vorher als seine entschlossensten Gegner aufgetreten waren. Sucht man die Stimmen zu ordnen und diejenigen auszusondern, die so unvermittelt zu Bismarck übergingen, so wird man auf das nationalliberale Bürgertum verwiesen, das mit seinen Repräsentanten in der Rechts-und Geschichtswissenschaft die bürgerliche Meinung weithin seit 1848 beherrscht hatte. Ihm ist daher der Vorwurf der Macht-anbetung gemacht worden, die von jetzt ab das politische Denken in Deutschland beeinflussen sollte. Es habe vor die Wahl zwischen Macht und Recht gestellt, für die Macht optiert und in der Gewährung der Indemnität an die Regierung für die Politik des Verfassungskonflikts geradezu die Kapitulation vor der Macht vollzogen.

Hier wird ein Vorwurf erhoben, der weit über das Jahr 1866 hinausgeht und geradezu zeitgeschichtliche Bedeutung gewinnt. Nach vielen Erfahrungen sind wir hellhörig geworden für solche Kritik, die auch eine Kritik an späteren Beispielen der Erfolgsanbetung und eines kurzschlüssigen Opportunismus enthält. Was ist an ihr richtig? Wer sie aufgreift, wird sich zunächst vor Verallgemeinerungen hüten müssen und nicht von einer durchgehenden Tendenz der Glorifizierung des Erfolgs Bismarcks sprechen dürfen. Vielmehr haben die letzten Forschungen über die nationalpolitische Publizistik zwischen 1866 und 1870 doch auch eine Fülle von Gegenstimmen und manchen Ausdruck der Empörung und des Entsetzens zutage gefördert. Man braucht nur etwa einen Blick in die Historisch-Politischen Blätter zu werfen und die Artikel von Edmund Jörg mit ihrem an Weltuntergangsstimmung grenzenden Tenor zu lesen. Aber eines bleibt doch richtig: die Übereinstimmung der Zeitstimmung und ihrer herrschenden Tendenzen mit der Bejahung von Macht-und Realpolitik.

Karl Georg Faber hat soeben die Ereignisse seiner großen Arbeit über die nationalpolitische Publizistik ausgewertet und dabei viele Zeugnisse für eine Gesinnung gefunden, die man kaum anders denn als politischen Darwinismus bezeichnen kann. Für ihn war mit der Macht des Stärkeren auch das Recht. So schrieb der Geograph Oskar Peschel im Oktober 1866 in einem „Rückblick auf die jüngste Vergangenheit", daß der geschichtliche Erfolg stets dem Starken gehöre, und er zitiert ausdrücklich Darwin: „Ein Naturforscher wie Darwin würde auch in der Geschichte den Kampf ums Dasein wiederfinden, ein Chemiker sähe darin einen Wechsel der Stoffe. . . Auch wir in Deutschland sollten die neueste Geschichte wie einen gesetzmäßigen Entwicklungsprozeß betrachten und uns nach dem englischen Sprichwort gewöhnen, zwischen den Begebenheiten und ihren Urhebern zu unterscheiden. Bei solchen großartigen Vorgängen handelt es sich nicht mehr um Recht oder Verschuldung, sondern es ist ein Darwinscher Kampf ums Dasein, wo das Moderne siegt und das Veraltete hinabsteigt in die paläontologischen Grüfte."

Sieg des nationalen über das konstitutionelle Prinzip in Deutschland

Indessen ist die Frage damit nicht vollständig beantwortet, warum der preußische Sieg von 1866 einen so großen Erdrutsch der Meinungen hervorgerufen hat. Die Gründe liegen doch noch tiefer. Der Wandel einer idealistisch geprägten Politik zu einer sogenannten Real-politik, das heißt einer Politik mit realen Größen der Macht und der Wirtschaft liegt für den deutschen bürgerlichen Liberalismus schon viel weiter zurück. Er ist im Grunde das Fazit aus der fehlgeschlagenen Revolution von 1848 gewesen. Schon 1857 hatte der Literaturhistoriker Rudolf Haym in seinem Hegel-Buch das Stichwort von der Wandlung des Lebenslaufs des Absoluten in den Prozeß der lebendigen Geschichte gegeben. Lebendige Geschichte hieß aber nicht Verharren in der Kontemplation, sondern Erfüllung des deutschen Geistes im Realen, das bedeutet: im konkreten, erst noch zu schaffenden Staat, für den es vor allem andern Hand anzulegen galt. Das von August Ludwig von Rochau in den gleichen fünfziger Jahren geprägte Wort von der Realpolitik meinte in ähnlichem Sinne den Primat des Handelns vor dem Denken, der Praxis vor der Theorie.

Der deutsche Liberalismus brauchte nicht erst einen Sündenfall vor der Macht und dem Staat Bismarcks zu tun, er trug das Bild eines starken, machtvollen Staates im Geiste Hegels in sich und mußte im Jahre 1866 nur zu seinen ursprünglichen staatsidealistischen Grundsätzen zurückkehren, um in gleicher Weise zu sich selbst und zum starken preußischen Nationalstaat zu finden. Das war seine Größe und das war gleichzeitig seine Schwäche; denn die im westeuropäischen Liberalismus angelegte humanitär-naturrechtliche Politik war im deutschen Liberalismus nur sehr partiell lebendig. Fand man sie bei Rotteck und Welcker, so doch sicher nicht mehr bei Dahlmann, Sybel, Droysen und Treitschke, den geistigen Repräsentanten des nationalen Liberalismus in Deutschland. Erst jüngst ist dies an dem Frühwerk Sybels über Politik und in seinem Vergleich mit Sybels späteren Phasen dargelegt worden. Was bei oberflächlicher Betrachtung als opportunistische Selbstpreisgabe der Liberalen gegenüber Bismarck erschienen ist, war in Wahrheit die Konsequenz sehr viel älterer liberaler Vorstellungen, die allerdings die Gefahr des Verlustes aller liberal-ethischer Normen in sich barg. Das konnte tatsächlich zu einer Tragödie des deutschen Liberalismus führen, wie das Friedrich Sell gemeint hat, wenn im Liberalismus jede Erinnerung an seine freiheitlich-individualistische Wurzel verloren ging, wie das im Verlaufe der historischen Entwicklung nach 1878 zeitweise tatsächlich geschehen ist.

Das Jahr 1866 führt hier in tiefe Gründe des deutschen politischen Geisteslebens. Es ist nicht einfach der Moment einer geistigen Kapitulation vor der Macht und sicher kein Vorläufer späterer Katastrophen, höchstens eine Schrecksekunde im deutschen politischen Denken. Dies trifft auch auf die Kräfte zu, die den Untergang des alten Deutschland in seiner universalen Verflechtung mit dem Reich der Habsburger als das Ende der Zeiten empfunden haben, mit den Worten Edmund Jörgs als eine Zerstörung der politischen Basis und der eingewöhnten Lebensbedingungen der Deutschen wie seit tausend Jahren nicht. In dieser Auffassung lag insofern sicher etwas Richtiges, als das Ende eines älteren Deutschland mit seinen starken Bindungen an die universale Welt des Reiches und die geistige Welt der deutschen Klassik und Romantik mit dem Ende des Deutschen Bundes, dem Ausschluß Österreichs aus dem engeren Deutschland und dem Aufstieg des machtintensiven Staates Preußen gekommen war. Die säkulare Bedeutung dieser Ereignisse ist von den Gegnern der preußischen Machtbildung eher in ihrer ganzen Tragweite erkannt worden als von denen, die mit Preußen sympathisierten und in diesem Prozeß nur ein Werk der Notwendigkeit sahen.

In seinem großen Kapitel über die historischen Krisen hat ein Außenstehender, der Schweizer Jacob Burckhardt, in seinen Vorlesungen über das Studium der Geschichte, den später so genannten „Weltgeschichtlichen Betrachtungen", die Krisis von 1866 als die große deutsche Revolution bezeichnet. „Dies war eine abgeschnittene Krisis ersten Ranges. Ohne dieselbe wäre in Preußen das bisherige Staatswesen mit seinen starken Wurzeln wohl noch vorhanden, aber eingeengt und beängstigt durch die konstitutionellen und negativen Kräfte des Innern; jetzt überwog die nationale Frage die konstitutionelle bei weitem. Die Krisis wurde nach Österreich hineingeschoben, welches seine letzte italienische Position verlor und mit seiner polyglotten Beschaffenheit gegenüber von allem Homogenen, zumal von Preußen, in eine immer gefährlichere Stellung geriet". Hier ist in der distanzierten Sprache des unbeteiligten historischen Analytikers das Wesentliche über die säkulare Bedeutung des Ereignisses von 1866 für die deutsche Geschichte hervorgehoben.

1866 als europäisches Ereignis

Der Krieg von 1866 war ein deutsches Ereignis, der letzte Krieg deutscher Territorial-staaten untereinander und schon im Geiste des neuen Nationalbewußtseins ein deutscher Bruder-oder Bürgerkrieg, an dem die Nation selbst allerdings kaum innerlichen Anteil hatte. Aber er war auch ein europäisches Ereignis: ein Kabinettskrieg unter Großmächten der Pentarchie wie vorher der Krimkrieg, ständig in der Gefahr schwebend, daß noch weitere Großmächte in ihn eingriffen. Als europäisches Ereignis aber stellte der Krieg die ganze Ordnung des Kontinents seit 1815 in Frage und kann daher nur mit dem Maßstab eines Ereignisses von erster historischer Bedeutung gemessen werden. Um es in seinem ganzen Gewicht würdigen zu können, müssen wir weiter zurückgreifen und das politische System von 1815 zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen nehmen.

In diesem System war von Anfang an ein latenter Dualismus zwischen den konservativen Ostmächten, den Mächten der Heiligen Allianz im engeren Sinne, und den liberalen Westmächten lebendig, die nach 1830 sich stärker ideologisch abzusetzen begannen, Auf dem Zusammenwirken der drei Ostmächte beruhten im Grunde auch noch die außenpolitischen Ereignisse von 1848— 1850 trotz mancher Spannungen unter ihnen und trotz der Gefahr, daß 1850 die beiden deutschen Führungsmächte in einen Krieg gerieten. Die Punktation von Olmütz hat diesen Krieg vermeiden lassen, und man muß dabei im Auge behalten, daß es Rußland gewesen ist, das den Zusammenstoß der deutschen Mächte mit seinem ganzen diplomatischen Einsatz verhinderte. Im Rahmen des funktionierenden Systems der konservativen Ostmächte schien also ein Krieg dieser Mächte untereinander oder zweier von ihnen unmöglich. Das System beruhte geradezu auf der Solidarität der Mächte der Legitimität und hatte daher neben seiner machtpolitischen auch noch eine sehr ausgeprägte ideologische Seite.

Erst der Krimkrieg hat damit ein Ende gemacht, und man kann nicht genug betonen, welch entscheidende Bedeutung ihm als vorbereitendem Ereignis für das Jahr 1866, für den deutschen Führungskrieg und den kriegerischen Dualismus Preußens und Österreichs zukommt. Im Krimkrieg ist die alte trialistische Ordnung der Heiligen Allianz zerbrechen. Die „diplomatische Revolution", die die österreichische Politik einleitete, indem sie sich an die Westmächte band und damit in Gegensatz zu Rußland trat, zerstörte die innere Gemeinsamkeit Rußlands und Osterreichs und löste damit das Zusammenwirken der Ostmächte überhaupt auf. Preußen, das sich trotz mancher Verlockungen und Versuche der österreichischen Politik nicht einseitig gegen Rußland einsetzen ließ, sondern sich neutral verhielt, erhielt sich damit die russische Freundschaft; Österreich verlor sie. Damit waren die Konstellationen für einen preußisch-österreichischen Zusammenstoß gegenüber 1850 wesentlich verändert. Rußland stellte sich nicht noch einmal vor die österreichische Politik, sondern gab Bismarck freie Hand.

Fiasko der französischen Hegemonialbestrebungen

Die eigentliche Gefahr einer Intervention drohte diesmal vom Westen, von Frankreich. Das entscheidende Problem für die Politik Bismarcks war es, Napoleon III. von einem Eingreifen zugunsten Österreichs abzuhalten. Die französische Neutralität erreicht zu haben, ohne daß er sich dem französischen Kaiser gegenüber zu einer Gegenleistung verpflichtete, war ein diplomatisches Meisterstück Bismarcks, das ihm in langen, den Partner hinhaltenden Verhandlungen bis unmittelbar in die Tage der militärischen Entscheidung gelungen ist. Napoleons Haltung in diesem Spiel war der Phantasie und Folgerichtigkeit ihres Gegners weit unterlegen. Sicher war ihm bewußt, daß eine starke Machtvergrößerung Preußens auch mit den Mitteln nationaler Politik den Interessen Frankreichs widersprach, aber er vermochte sie nicht zu verhindern. Auf territoriale Kompensationen für Frankreich bedacht, hat er diese doch nicht rechtzeitig offen zu formulieren gewagt.

Primär ging es ihm wohl um Gleichgewichts-politik, das heißt um Festigung der französischen Position gegenüber den rivalisierenden deutschen Großmächten, und erst in zweiter Linie um „Rheinpolitik" im Sinne ausgedehnter Gebietserwerbungen. Jedenfalls stand diese immer im Dienste jener und kann nicht isoliert betrachtet werden. Daß er solche im Auge hatte, zumindest die „Grenzen von 1814" und den Gewinn des Saargebiets und Landaus, daneben auch Luxemburgs, hat er dann in den Verhandlungen von Ende Juli deutlich zu erkennen gegeben. Schließlich ist auch von Belgien die Rede gewesen. Doch diese Forderungen hatten jetzt einen ganz anderen Sinn, als sie ihn unter anderen militärischen und politischen Voraussetzungen hätten haben können: Sie bedeuteten auch als „Kompensationen" in einem großen politischen Tauschgeschäft, wie es der Kaiser einst mit Cavour betrieben hatte, höchstens eine kärgliche Abfindung für die Einbuße, die die Aufrichtung der preußischen Macht darstellte.

Was Napoleon sich von den Ereignissen in Wirklichkeit erwartet hatte, geht aus dem Neutralitätsvertrag hervor, den er kurz vor den entscheidenden Geschehnissen am 12. Juni mit Österreich geschlossen hatte. Hier war nicht nur von einem von vornherein gegebenen Verzicht Österreichs auf Venetien die Rede, sondern noch davon, daß Frankreich eine territoriale Ausdehnung Österreichs in Deutschland nur insoweit zulassen wollte, als das Gleichgewicht in Europa nicht durch eine Hegemonie Österreichs über Gesamtdeutsch-land gestört würde. Politisch gravierend, wenn auch rechtlich nicht bindend, war eine Zusage Österreichs, gegen eine territoriale Umgestaltung Deutschlands keinen Einwand zu erheben, welche Sachsen, Württemberg und Baden auf Kosten mediatisierter Fürsten vergrößern und aus den Rheinprovinzen einen neuen deutschen unabhängigen Staat machen würde. Napoleon glaubte damit seine Mitbestimmung in Deutschland über Österreich erreichen zu können. Diese Mitbestimmung ließ als Ziel in Umrissen erkennen, daß sich hier alte Vorstellungen eines Trias-Deutschlands mit starkem französischen Einfluß am Rhein verbanden. Das Spekulative dieser Pläne liegt auf der Hand. Sie hatten in der fortgeschrittenen nationalstaatlich orientierten Welt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine rechte Basis mehr, aber immerhin waren sie im Spiel. Die Entscheidung von Königgrätz war damit auch die Entscheidung gegen jede Form einer französischen Hegemonie. Sie war ein politisches und militärisches Fiasko des französischen Kaisers. „Der Fehler der Regierung", schrieb der französische Publizist Edgar Quinet, „der Einigung Deutschlands Vorschub geleistet zu haben, ist eine seit drei Jahrhunderten nicht dagewesene Monstrosität. Man hat Deutschland entfesselt, und Deutschland, ich kenne es, wird nicht stehen bleiben, es wird groß werden, es wird seine Kräfte fühlen, sie uns fühlen lassen; es wird streben, an unsere Stelle zu treten, uns herabzudrücken, auszulöschen, zu erniedrigen; und alles dies wird das antifranzösische, antinationale, ich könnte sagen antinapoleonische Werk der bewußten Leute sein."

Preußische Staatsräson verlangt Erhaltung Österreichs

Das Jahr 1866 hat in mancher Hinsicht im Verhältnis des werdenden deutschen Nationalstaats zu Frankreich Ergebnisse vorweggenommen, die erst in einer späteren Phase der preußisch-nationalen Politik endgültig gesichert wurden, als die Rache für Sadowa in der Schlacht von Sedan in ihr Gegenteil umschlug. Es war auch eine der Folgen von Königgrätz, Nikolsburg und Prag für die europäische Politik, daß diplomatische Gegenwirkungen im großen nicht mehr geglückt sind. Der Versuch, ein nach Revanchepolitik strebendes Österreich auf die Seite Frankreichs zu ziehen und ein Bündnis zu zweien mit Österreich oder schließlich zu dreien mit Österreich und Italien zu schaffen, mußte mißglücken. Die gemeinsamen Interessen der drei Mächte gegenüber Preußen waren nicht stark genug, um ihre eigenen politischen Divergenzen zu überwinden. Dazu wirkte sich jetzt Bismarcks österreichische Politik von 1866 aus. Der preußische Staatsmann war in der großen Krise bereit, mit allen Mitteln die Lunte ans Pulverfaß zu legen und schien selbst entschlossen, die nationalrevolutionäre Bewegung in Ungarn und in Böhmen zu entfesseln. In der äußersten Gefahr, das heißt im Falle einer französischen Intervention hätte er die Existenz der Monarchie ohne jeden Zweifel in Frage gestellt.

Niemals war er den revolutionären, vor allem nationalrevolutionären Ideen des Jahrhunderts so nahe wie in den Tagen des Bündnisses mit Italien, des Antrags auf ein deutsches Parlament, der Verbindung mit den Rebellen in der Monarchie. Aber ein Sieg dieser Prinzipien hätte nicht seinen tiefsten Überzeugungen von der Notwendigkeit der Monarchie für das europäische Gleichgewicht, für das trotz aller Erfolge gefährdete, auf den Bahnen der Nationalpolitik befindliche Preußen entsprochen. Österreich blieb ihm ein „Stein im europäischen Schachbrett", das allein für Bismarck das Feld seiner Entscheidungen und Entschlüsse bildete; Österreichs Auflösung könnte, so hat er sehr weise und prophetisch gesagt, nur Bildungen von „dauernd revolutionärer Natur" Raum geben. Auf der Höhe der Erfolge, unmittelbar nach Königgrätz, verlangte die von ihm vertretene Räson der preußischen Politik die Erhaltung und Schonung des österreichischen Reiches.

In dem berühmten Kapital „Nikolsburg" seines Erinnerungsbuches hat er die Auseinandersetzung mit dem König dramatisch geschildert, der den Geschlagenen bestrafen und ihm eine empfindliche Landabtretung auferlegen wollte. „Der Hauptschuldige", so berichtet Bismarck von der Meinung des Königs, „könne doch nicht ungestraft ausgehen, die Verführten könnten wir dann leichter davonkommen lassen, sagte er, und bestand auf den schon erwähnten Gebietsabtretungen von Österreich. Ich erwiderte: Wir hätten nicht eines Richter-amtes zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben; Österreichs Rivalitätskampf gegen uns sei nicht strafbarer als der unsrige gegen Österreich; unsere Aufgabe sei Herstellung oder Anbahnung deutsch-nationaler Einheit unter Leitung des Königs von Preußen."

Mögen sich die prinzipiellen Gesichtspunkte in der Darstellung dieser Vorgänge beim alten Bismarck stärker in den Vordergrund geschoben haben als die taktischen Rücksichten auf die Gefahr eines französischen Eingreifens, so steht doch fest, daß der Friede von 1866 einer der letzten Friedensschlüsse der europäischen Geschichte ist, bei denen das nach der politischen Vernunft gemessene Maß der Forderungen und nicht ein Rausch des Siegers den Frieden bestimmt haben. Es schmälert auch nicht die politische Leistung des Siegers, daß sein Handeln weniger von Großmut als von politischem Kalkül bestimmt wurde.

Doppelmonarchie als Folge des Verlustes der deutschen Position

Aber war der Österreich zugemutete Verzicht auf Mitbestimmung, Mitwirkung in Deutschland im gleichen Augenblick, in dem die letzte Position in Italien mit Venedig verloren ging, nicht schon eine Forderung, die über die Fassungskraft der Monarchie und ihrer führenden Schichten hinausging? Österreichs politische Existenz war durch den Ausschluß aus Gesamt-deutschland doch weit mehr getroffen, als es dem preußischen Sieger von 1866 bewußt war. Der innere Weg Österreichs hatte in den Verfassungsexperimenten seit 1860 immer mehr den Rückhalt der Regierung auf das deutsch-liberale Bürgertum der „Verfassungspartei" neben der deutsch-geführten Armee und Bürokratie eingeschränkt. Der erzwungene Rückzug aus der deutschen Politik nahm den deutschen Liberalen einen guten Teil ihrer politischen und geistigen Kraftreserven. Es erwies sich, in welchem Umfange das eigentümliche Gebilde Österreich seine Lebensmöglichkeit in der gesamtdeutschen Welt des Deutschen Bundes besaß, die für Österreich die richtige Mitte zwischen nationaldeutscher Verbindung und staatlich-österreichischer Selbständigkeit dargestellt hatte. Die Wendung von 1866 mußte daher notwendig zu einer Strukturänderung des österreichischen Staates, einem stärkeren Hervortreten aller nicht-deutschen Elemente in ihm führen; im letzten wurde damit der endlose Weg einer dauernden Krise eingeleitet, die von jetzt an die Monarchie nicht mehr verlassen sollte.

Daß dieser Prozeß verfassungspolitisch bis zum Ende der Monarchie nie über den privilegierten Status der magyarischen Nation hinausgekommen ist, ist die Folge bestimmter geschichtlicher Umstände gewesen, wie sie sich gerade um 1866 herausgebildet hatten. Im September 1865 war das deutsch-zentralistische Februarpatent von 1861 sistiert worden, das von den nicht-deutschen Nationen boykottiert worden war. Die ungarische Mittelpartei erstrebte nun von sich aus einen Ausgleich und erklärte schon im Februar 1866, also noch vor Königgrätz, ihre Bereitschaft, über Vorschläge zu beraten, die sowohl der staatsrechtlichen Selbständigkeit Ungarns wie den Lebensbedingungen der Gesamtmonarchie gerecht würden. Da die Deutschen durch die Verfassungssistierung fürs erste tatsächlich ausgeschaltet waren, sind die Ungarn in der kritischen Zeit von 1865/66 die einzigen Verhandlungspartner der Krone in den Beratungen über den Umbau der Monarchie gewesen.

Unter dem Eindruck der großen Niederlage in der deutschen Politik hat sich diese Lage für die Ungarn nur noch gebessert, als dann der ehemalige sächsische Ministerpräsident Freiherr von Beust als österreichischer Reichskanzler diese Verhandlungen im Jahre 1867 durch die sogenannten Ausgleichsgesetze zu Ende führte. Diese Gesetze stellten zuerst die Wiederherstellung des Königreichs Ungarn fest und enthielten erst dann Vereinbarungen zwischen dem Kaiser und Vertretern Ungarns über gemeinsame Institutionen der beiden Reichshälften, von denen die ungarische in stärkerem Maße Staatscharakter besitzt als die „cisleithanische", die nicht einmal einen eigenen Namen führt. Die österreichisch-ungarische „Doppelmonarchie" muß in ihrer eigenartigen, jedem staatsrechtlichen Schematismus widerstrebenden Form neben den neuen Norddeutschen Bundesstaat als Ergebnis der deutschen Krise von 1866 gestellt werden; während in diesem die zentrifugalen Kräfte von einer starken einheitlichen Staatsbildung aufgefangen wurden, haben sie dort auflösend und komplizierend gewirkt. Die Intensivierung der Staatsmacht im werdenden kleindeutschen Nationalstaat mußte um den Preis einer Auflokkerung an der Peripherie erkauft werden. Die Problematik dieser Auflockerung bestand in der inneren Unmöglichkeit, in dem neuen Doppelreich die dualistische Struktur, die den multinationalen Charakter des Gesamtreiches mehr verdeckte als offenlegte, zugunsten einer trialistischen oder noch weiter gehenden zu modifizieren.

Die Machtstellung der ungarischen Nation war eine unbeabsichtigte und eigentümliche Wirkung der deutschen Niederlage Österreichs 1866 und der ihr vorausgehenden Politik. Daß ihr Ergebnis sich sozusagen versteinerte, hat den Untergang des Habsburgerreiches ganz wesentlich gefördert. Es gehört damit zu den Ergebnissen des Jahres 1866, daß in der österreichischen Politik keine Kraft zur Umkehr mehr lebendig zu sein schien. Ebensowenig wie die Ausschaltung der deutschen Österreicher aus der engeren deutschen Politik jemals mehr rückgängig gemacht werden konnte — abgesehen von der kurzen Frist von 1938 bis 1945, für die besondere politische Bedingungen zugrunde gelegt werden müssen — ist auch die dualistische Struktur von 1866/67 jemals mehr ernstlich beseitigt worden. Österreich, das seine Positionen in Deutschland und Italien verloren hatte, verblieb als einziges Ausdehnungsfeld der Balkan, eben der Boden, durch dessen Nationalitätskämpfe ihm schließlich der Untergang bereitet werden sollte.

So ist für die europäische Politik die Erschütterung Österreichs die stärkste und nachhaltigste Fernwirkung von Königgrätz gewesen. Der Durchsetzungsprozeß der nationalstaatlichen Bewegung in Mitteleuropa, für den in Deutschland und in Italien das Jahr 1866 ein wichtiges Datum gewesen ist, schien zunächst das überlieferte Staatensystem der Pentarchie nicht von seinen Fundamenten her zerstören zu wollen: Der Schwächung des einen, Österreichs, entsprach die Stärkung des anderen, Preußens.

Die Geschichte ist über 1866 hinweggegangen

Das System selbst blieb fürs erste intakt. Auch das Aufkommen einer hegemonialen Macht stand zunächst noch nicht zur Debatte, solange Frankreich, wenn auch in seinem Selbstbewußtsein schwer getroffen, noch standhielt. Erst seit 1870/71 ist die Frage einer deutschen Hegemonie aufgetaucht; Bismarck hat sie in seinem Sinne beantwortet und vor einer offenen Hegemonie angesichts der prekären Lage Deutschlands gewarnt. Aber dies alles lag noch im Schoß der Zeiten. Königgrätz war eine wichtige Etappe, aber es war doch im ganzen, wenn man seine europäische Bedeutung zu ermessen sucht, ein Durchgang zu Späterem, Kommendem. Der preußische Sieg entfesselte eine ungeheure Dynamik, durch die Altes von der politischen Bildfläche weggespült wurde, Neues, noch Unfertiges, Undeutliches an seine Stelle trat.

Heute, nach hundert Jahren, sind unsere Maßstäbe andere geworden. Unter den großen Schlachtenentscheidungen der deutschen Geschichte steht für unser Bewußtsein nicht mehr Königgrätz, ja auch nicht mehr Sedan voran, sondern Verdun oder Stalingrad. Die Ergebnisse des preußischen Sieges und der österreichischen Niederlage sind beide von der Geschichte weggefegt worden: Von den ver-tragsschließenden Staaten des Jahres 1866 existiert weder Preußen noch das alte Österreich mehr, von den kleineren nur noch die süddeutschen Länder in einer völlig veränderten Welt und in veränderter Gestalt die 1866 annektierten, nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererstandenen Staaten als Glieder eines verkleinerten, geteilten Deutschlands. In paradoxer Umkehrung sind die alten Grenzen der 1866 von Preußen annektierten Staaten — Hannovers, Kurhessens und teilweise auch Schleswig-Holsteins — ein Stück der Grenzen der deutschen Teilung seit 1945, War 1866 Großdeutschland in der Gestalt des Deutschen Bundes zerstört worden, so ist seither auch Kleindeutschland, geschaffen zwischen 1866 und 1871, ein Opfer der geschichtlichen Nemesis geworden.

Das deutsche Reich von 1871 ist gespalten. Die Orte der Entscheidungen von 1866, Königgrätz, Nikolsburg, Prag liegen im Bereich der kommunistischen Welt. Nicht nur Österreich mußte 1918 seine Stellung in Böhmen räumen, seit 1945 sind auch die letzten deutschen Bewohner von dort vertrieben worden, nachdem eine deutsche Herrschaft von brutaler Härte über Böhmen und Mähren zusammengebrochen war.

Was hat darum die Erinnerung an Ereignisse zu besagen, die nicht nur durch ein Jahrhundert von uns getrennt sind, sondern deren Schauplatz uns ferner gerückt ist, als er es jemals zuvor war? Diese Frage muß gestellt werden, ja sie betrifft überhaupt den ganzen Ereigniskomplex unserer nationalstaatlichen Einigungsgeschichte, die heute wie ein ungeheures Trümmer-und Ruinenfeld vor uns liegt. Zu feierlicher Begehung von Zentenartagen ermuntert das nicht, aber zu ernster Nachdenklichkeit und Besinnung. Ein Volk bereitet sich seine Geschicke selbst, aber es tut dies nie allein auf sich gestellt, es sieht sich immer in der Mitte zwischen andere Völker, andere Staaten gestellt, und wir Deutschen sind dies noch in einem besonderen Maße. Die Erinnerung an unsere Einigungsgeschichte ist daher eine ständige Mahnung, sich dieser Verstrikkung in unserer Umwelt bewußt zu werden, das Bewußtsein zu stärken, daß wir auf. andere angewiesen bleiben, auch dann, wenn wir unser eigenes Schicksal in die Hand nehmen. Die großen Momente unserer Geschichte haben ihre Faszinationskraft verloren, aber sind sie deshalb nicht nach wie vor ein Teil des historischen Schicksals, das wir uns geschaffen haben und das uns geschaffen wurde?

Verlorene gegen neu gewonnene Werte

Was im allgemeinen gilt, trifft auch für eine historische Stunde wie die von 1866 zu. Sie hat uns auf die Wege der starken Staatsmacht geführt und sie hat uns auf der anderen Seite ärmer gemacht. Sie war ein Sieg des politisch-staatlich bestimmten Nationalprinzips, wie es das Jahrhundert geformt hat, über das volks-nationale großdeutsche Prinzip ebenso wie über die universale Reichsidee, die im Deutschen Bunde fortgelebt hatte. Viele deutsche Überlieferungen und Werte sind in ihr zugrunde gegangen, ein großer Reichtum und eine Vielfalt des deutschen Geistes gingen verloren. Deutschland ist seither uniformer geworden, uniformer unter dem Gesetz eines Staatswesens, das mit rationaler Präzision seine Ziele zu verfolgen strebte. Der Ausfall Österreichs hat uns um viele Nuancen des deutschen kulturellen Lebens, um manche Leichtigkeit und Eleganz des Lebensstils beraubt. Die süddeutschen Staaten, ohne den Rückhalt an Österreich, konnten kein volles Gegengewicht gegen diese Entwicklung bilden. Aber von Preußen ging der Erfolg der deutschen Wissenschaft aus, die „im Gleichschritt und in Wechselwirkung" mit staatlicher Macht emporgekommen sei, wie Max Lenz in seiner Geschichte der Berliner Universität es darzustellen versuchte. Dem Geist der Objektivität, ruhiger Betrachtung, vorurteilsloser Forschung habe der Nationalstaat freie Bahn gemacht. So stehen verlorene Werte gegen neu gewonnene, und der Historiker wird sich hüten, nur von den gewonnenen oder den verlorenen zu sprechen. Er hat vor allem darauf hinzuweisen, daß es zum Wesen der Geschichte gehört, daß sie nicht zurückgedreht werden kann. 1866 ist deutsches Schicksal auch dadurch geworden, daß hundert Jahre in seinem Zeichen verflossen sind. Wir können nicht in ein Deutschland vor 1866 zurückstreben, aber wir können wohl fragen, ob dieses ältere Deutschland Werte und Traditionen enthält, die für unsere Zukunft Bedeutung erlangen können: so die größere Universalität des Geistes, die Weltläufigkeit, ja Weltdienstbarkeit eines gesamtdeutschen Staatsgebildes, wie es der Deutsche Bund war, die Rücksicht auf regionalistisehe Empfindungen, die sich in föderalistischen Ordnungen niedergeschlagen haben. Das alles erscheint uns aus der Distanz, aber auch in der inneren Verbundenheit mit unserer Geschichte liebenswert, nachahmenswert, wenn wir auch nicht vergessen können, daß der Nationalstaat seit 1866/71 unser Geschick als Industrienation, als Machtgebilde in der Welt, als Schicksalsgemeinschaft in guten und bösen Tagen geprägt hat. Das Gedenken an das Jahr 1866 führt uns auf diese Weise zum alten und zugleich zum neueren Deutschland zurück. Es bleibt ein inhaltsreiches, bedeutungsschwangeres, aber problematisches Datum in unserer Geschichte.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Theodor Schieder, Dr. phil., o. Prof, für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Köln, Herausgeber der Historischen Zeitschrift Seit Frühjahr 1957, geb. 11. April 1908 in Ottingen/Schwaben. Veröffentlichungen u. au Die Probleme des Rapallo-Vertrages, Köln 1956; Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 1958; Hundert Jahre Historische Zeitschrift, 1859— 1959 (Hrsg, mit eigenem Beitrag), München 1959; Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln 19611 Begegnungen mit der Geschichte, Göttingen 1962; Nietzsche und Bismarck, Krefeld 1963; Geschichte als Wissenschaft, München 1965.